Rückblick auf offensivere Zeiten der Arbeiterbewegung: „Bescheiden sind wir geworden“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein Rückblick und aktuelles zu SYRIZA:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/961970.bescheiden-sind-wir-geworden.html
Auszüge:

Der Wahlsieg von SYRIZA, ein Rückblick auf offensivere Zeiten der Arbeiterbewegung und ein internationaler Solidaritätskongress als nächster Schritt

Tsipras2015Soliaktion mit SYRIZA am Samstag in Rom – Foto: AFP/TIZIANA FABI

Um es vorneweg zu sagen: Der Wahlsieg von SYRIZA in Griechenland ist großartig und eröffnet der Linken in Europa völlig neue Perspektiven.
Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten ist es einer linkssozialistischen Partei gelungen, die neoliberale Hegemonie im Ansatz zu brechen.
Ordnet man allerdings den Wahlsieg SYRIZAs in einen historischen Kontext ein, so sind die Vorhaben der Regierung eher bescheiden.

Im Grunde genommen will SYRIZA einen Status wie vor Beginn der Krise 2009 wieder herstellen. Ein Stopp von Privatisierungen, zum Beispiel, bedeutet ja nicht, dass Verstaatlichungen ausgeweitet werden, sondern nur, dass die von der neoliberalen Vorgängerregierung getroffenen Maßnahmen angehalten werden.
Man muss heute schon älter als 50 sein, um sich zu erinnern, dass es auch andere Zeiten gegeben hat, in denen die Linke und die Arbeiterbewegung nicht aus der Defensive operierten, sondern offensiv ihre Forderungen vortrugen.

In dem wunderbaren Film »The spirits of ’45« beschreibt Ken Loach die exzessiven Verstaatlichungsmaßnahmen der Labour-Regierung in den Jahren zwischen 1945 und 1948.
Im Mai 1968 kam es in Frankreich zum größten Generalstreik nach Kriegsende. Zehn Millionen Streikende brachten sechs Wochen lang das bürgerliche Regime De Gaulles an den Rand des Abgrunds. Der Generalstreik endete mit dem Abkommen von Grenelle, in dem Unternehmer, Gewerkschaften und die Regierung die Erhöhung der Mindestlöhne um 35 Prozent festschrieben und den Gewerkschaften und Betriebsräten starke Mitbestimmungs- und Kontrollrechte in den Betrieben einräumten.
Für die radikale Linke in Europa war das Abkommen von Grenelle zu diesem Zeitpunkt ein Verrat an den Möglichkeiten des Mai ’68.

Von 1969 bis 1975 eroberten sich italienische Arbeiter im sogenannten »schleichenden Mai« ausgedehnte Kontrollrechte und massive Lohnsteigerungen in den italienischen Fabriken.
In Portugal stand 1974/75 nicht die Wiedereröffnung eines geschlossenen staatlichen Senders auf der Tagesordnung (wie bei ERT in Griechenland) – stattdessen besetzten Arbeiter und Studenten kurzerhand den Radiosender der katholischen Kirche, Radio Renascenza, und funktionierten ihn zum Sprachrohr der Revolution um. Arbeiterkontrolle in den großen Fabriken, aber auch in Banken und staatlichen Institutionen waren an der Tagesordnung.

Die gesamte Periode von 1968 bis 1975 war geprägt von einem Offensivgeist der Arbeiterklasse und der Jugend – aber auch vom Aufstieg reformistischer Parteien, die, wie zum Beispiel in Italien, beeindruckende Wahlresultate erzielen konnten.
Spätestens seit dem Sieg Margaret Thatchers über die Bergarbeiter in Großbritannien 1984 begann eine nunmehr 30-jährige Periode der Konterreformen, die die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften in eine starke Defensive gedrängt haben.

Der Sieg SYRIZAs ist ein erster und wichtiger Schritt, diese neoliberale Hegemonie zu brechen. Aber eben nur erster Schritt.
Die Maßnahmen, die SYRIZA vorschlägt, sind in diesem beschriebenen historischen Kontext nicht besonders ausufernd. Trotzdem schöpfen die Menschen in Europa Hoffnung und vieles erscheint möglich.

Die Regierung mit der ANEL – wirklich kein Problem?

Aufgrund der parlamentarischen Konstellation glaubte die SYRIZA-Führung, dass es keine andere Möglichkeit gebe, als die reaktionäre, rassistische und antisemitische ANEL-Partei mit ins Koalitionsboot zu holen. Die Begründung hierfür liegt in der Antimemorandumshaltung der ANEL.
Die ANEL ist nicht nur eine rassistische und antisemitische Partei, sondern auch eine Agentur des kleinen und mittleren national gesinnten Kapitals in Griechenland. In der Tat scheint es so, als ob es SYRIZA bisher gelinge, die ANEL in Schach zu halten.
Auch gegen die bisherigen Maßnahmen der SYRIZA-Regierung, den Flüchtlingen weitergehende Rechte einzuräumen, hat die ANEL keinen Widerspruch eingelegt.

Das Problem besteht also nicht im Hier und Jetzt, sondern wird sich mit der Zuspitzung der Klassenwidersprüche in Griechenland entfalten, wenn es wirklich an die Substanz der Interessen des Kapitals geht. Hier geht es noch nicht einmal um potenzielle Enteignungen oder den Stopp von Privatisierungen, sondern zum Beispiel um die Frage, wie die ANEL auf die vorgesehene Besteuerung der reichen Reeder reagieren wird.
Immerhin ist der Chef der ANEL-Partei mit einer der reichsten Reederinnen verheiratet. Man wird sehen, ob die ANEL genau in diesem Moment die Notbremse zieht und sich als trojanisches Pferd eben jener Kapitalfraktionen entpuppt.

Nicht zu unterschätzen ist außerdem, dass die ANEL mit der Kontrolle über das Militär einen wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Staates kontrolliert. Sich bei zugespitztem Klassenkampf auf die Loyalität des Militärs zu verlassen, ist ein schwerer Fehler, den schon Allende 1973 mit seinem Leben bezahlen musste. Ebenso wird interessant sein, wie die ANEL reagiert, wenn sich Formen der Selbstorganisation in den Stadtteilen und den Betrieben etablieren und gegebenenfalls die Regierung herausfordern.

Probleme der Solidarität

Klar ist: Ohne die Unterstützung der Arbeiterbewegung und der Linken in Europa steht die SYRIZA-Regierung und die griechische Bevölkerung à la longue auf verlorenem Posten.
Gerade der deutschen Linken kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Deutschland ist das wichtigste kapitalistische Land Europas und ohne den notwendigen Druck wird es jede Linksregierung in Griechenland schwer haben, auch nur die bescheidensten Reformen durchzusetzen.

Die Solidaritätsbewegung mit Griechenland ist hierzulande klein, und fängt gerade erst an, über die innersten Kreise der Linken hinaus in bescheidenem Umfang zu wirken. Was wir aber brauchen, ist eine breite Kampagne zur Unterstützung der griechischen Bevölkerung.
Jeder, der die Umfragen kennt, weiß, dass die griechische Position in Deutschland in einer Minderheit ist. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Kurs von Schäuble und Merkel. Dies ist genau das Problem – unter anderem für die Linkspartei.

Die Linkspartei weiß, dass Griechenland kein »Gewinnerthema« ist. Deswegen ist die Unterstützung für die griechische Bevölkerung zwar verbal vorhanden, nimmt aber in der Politik der Linkspartei selber einen geringen Stellenwert ein.
Was aber Not tut, ist eine von allen Linken und Gewerkschaften getragene Kampagne der Aufklärung, zum Beispiel über die Frage, wohin die sogenannten Hilfsmilliarden eigentlich geflossen sind. Aufzuklären ist, dass 90 Prozent der Hilfsgelder an die Banken selber geflossen sind, und aufzuklären ist, dass die Verarmung breiter Teile der griechischen Bevölkerung ohne Beispiel seit 1945 ist.
Dazu ist es notwendig, dass wir an jedem Ort, in jeder Stadt, also überall wo es möglich ist, gemeinsame Kundgebungen und Aufklärungsveranstaltungen organisieren.

Die Freunde von der Interventionistischen Linken und Blockupy setzen ein gutes Signal, wenn sie am 18. März zur Blockade der EZB in Frankfurt aufrufen. All dies ist aber nicht ausreichend.
Nur wenn es uns gelingt, die zehn, zwanzig oder dreißig Prozent der Bevölkerung, die gegen den harten Kurs von Schäuble und Merkel sind, zu mobilisieren, kann die griechische Bevölkerung auf Entlastung ihrer eigenen operativ schwierigen Lage hoffen.
Notwendig ist außerdem eine breite Kampagne aller linken Kräfte in Europa zur Unterstützung der griechischen Bevölkerung gegen die Politik der jetzt nicht mehr so genannten Troika, um den Druck auf die jeweiligen Regierungen zu verstärken und der griechischen Bevölkerung Spielräume zu eröffnen.

Deswegen wäre als erster Schritt ein großer internationaler Solidaritätskongress wünschenswert.
Wir wollen unseren kleinen Beitrag dazu leisten, dass das griechische Experiment nicht in einer neuen fundamentalen Niederlage endet.

Michael Prütz ist aktiv in der Neuen Antikapitalischen Organisation NAO

Anmerkung: Genauso schlimm finde ich die Verweigerung der anderen beiden Linksparteien in Griechenland, die der SYRIZA schließlich keine Alternative boten.

Jochen

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