Gründungstagung des Netzwerkes Kritische Kommunikationswissenschaft

Hier findet sich die echte kritische Medienwissenschaft zusammen, NICHT gesponsert durch die Atlantik-Brücke oder andere USA-gestützte Think Tanks. Einige der Teilnehmer wurden auch hier schon mehrfach zitiert.

Gründungstagung, 30.11.-1.12.2017

Auszüge:

Die mehr als sechzig Teilnehmenden spürten das Bedürfnis nach einem neuen gemeinsamen Ort für unterschiedliche kritische Stimmen in den Kommunikations- und Medienwissenschaften (KoWi). Ein Motto dieser Tagung war „Einheit in der Vielfalt“. Nach eineinhalb Tagen intensiven Austausches und reichlich positivem Feedback können wir berichten, dass der erste Schritt in diese Richtung gelungen zu sein scheint. Gleichwohl wachsen und verfeinern sich die Bedürfnisse.

Auftaktveranstaltung (Donnerstag, 30. November 2017)

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Michael Meyen bei der Anmeldung zur Tagung

Die Eröffnung der Tagung erfolgte am Donnerstagabend durch Annelie Boros‘ und Felix Hultschkritische Kurzfilme „Fuck White Tears“ und „Voicemail“.  In “Fuck White Tears” reflektiert Boros eindrucksvoll ihre Rolle als weiße, aus dem Westen stammende und mit guten Bildungschancen ausgestattete Regisseurin, die sich mit marginalisierten Gruppen in Südafrika solidarisch zeigen will: Dennoch muss sie feststellen, dass sie von den Betroffenen als Teil des Problems gesehen wird. Der Film gab uns einerseits sehr direkt einen Einblick in den von Rassismus geprägten Alltag und problematisierte andererseits die Rolle einer bloßen, wenn auch solidarischen, Berichterstattung.

„Voicemail” konfrontiert uns mit der Rücksichtslosigkeit eines auf Sensation zielenden journalistischen Systems und schildert plastisch die durch (aufmerksamkeits-) ökonomische Zwänge entfachte Amoralität derjeniger, die versuchen in diesem System erfolgreich zu sein.

Kaum war der Abspann zu Ende und das Licht wieder an, sprudelten aus dem Plenum Fragen an die beiden Filmschaffenden zu ihren ethischen Standpunkten, Produktionsbedingungen und nicht zuletzt zur Beziehung zwischen ihrer Arbeitspraxis und kritischer Wissenschaft.

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Plenumsdiskussion mit Annelie Boros und Felix Hultsch – moderiert von Dimitrij Umansky und Marlen van den Ecker

Tagung (Freitag, 1. Dezember)

Am nächsten Tag begann die Tagung mit einem Solidaritätsaufruf, Keynotes und Responses im ersten Teil des Tages und wurde am Nachmittag mit einem Barcamp und Workshops im zweiten Teil fortgesetzt. Der erste Teil wurde live übertragen und steht jetzt online zur Verfügung (Zeitübersicht siehe Videobeschreibung).

Solidaritätsaufruf, Keynotes und Responses

Noch vor der ersten Keynote rief Eylem Çamuroğlu Çığ zur Solidarität mit den Academics for Peace in der Türkei auf. Diese haben einen Friedensaufruf in der Türkei unterzeichnet und viele von ihnen wurden seitdem entlassen, verhaftet und oder an der Ausreise gehindert. Es wurde deutlich, dass kritische Wissenschaft ein erstes Opfer staatlicher Repression sein kann. Der Aufruf stieß auf breite Zustimmung, die einige Stunden später in einem  Foto zur gemeinsamen Solidaritätsbekundung festgehalten wurde.  

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Solidaritätsaufruf „Academics for Peace“

 

Für unsere Keynote-Vorträge am Freitag gab es einen Livestream, den Sie sich auf YouTube erneut anschauen können: KriKoWi-Livestream

Michael Meyen zeigte in der ersten Keynote die bisherige Marginalisierung kritischer Kommunikationswissenschaft mit Hilfe Bourdieus Praxistheorie auf. Vor allem betonte er die (Vernetzungs-) Defizite bei jenen, die im Ausgang der 68er-Bewegung kritisch forschten und mit dazu beitrugen, dass ihre Etablierung bislang scheiterte. Darüber hinaus machte er deutlich, dass es eine kritische Kommunikationswissenschaft auch zukünftig nicht leicht haben wird.

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Der erste Keynote-Vortrag von Michael Meyen – „Die konservative Wende der Kommunikationswissenschaft“

Zlatka Pavlova und Jochen Hoffmann forderten in ihren Responses „Diskursanwälte“ für „chancenschwache Ansätze“ und methodisch kritische „Meta-Analysen von Meta-Analysen“ ein.

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Response von Zlatka Pavlova „Diskursiver Journalismus als Gegenstand der kritischen Kommunikationswissenschaft“
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Jochen Hoffmann bei seinem Response-Vortrag „Kritische Kommunikationswissenschaft als Nestbeschmutzer – ein Plädoyer für Meta-Analysen von Mainstream-Forschung“

 

Rudolf Stumberger schloss das Panel mit persönlichen Erfahrungen zu seiner Zeit am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München der 1980er Jahre und sprach sich für eine materialistische Medientheorie aus:

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Rudolf Stumberger in seinem Response „Anmerkungen zur materialistischen Medientheorie und der Kommunikationswissenschaft in München der 1980er Jahre”

 

Manfred Knoche ordnete in der zweiten Keynote kritische Ansätze anhand ihrer Kritikverständnisse und ihrer „Nutzbarkeit“ für das Establishment. Um kritische/r Wissenschaftler/in zu sein, nicht nur mit dem Ziel, in den Kreis der Etablierten aufgenommen zu werden, müsse man „mutig“ sein, denn die eigene Existenzsicherung stehe hier (noch immer) auf dem Spiel.

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Manfred Knoche in seinem Keynote-Vortrag: „Kritische Kommunikationswissenschaft mit Kritik der Kommunikationswissenschaft: Wer ist wie kritisch unter welchen Bedingungen?”

Knoche schloss mit Empfehlungen, wie institutionelle Bedingungen für marxistische Ansätze verbessert werden können:

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Manfred Knoches Bedingungen für Kritik an Universitäten

 

Uwe Krüger erwiderte mit einem Plädoyer für einen gemeinsamen Diskurs von Vertretern verschiedener Kritikverständnisse und Theorierichtungen.

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Uwe Krüger: „Wann ist Kommunikationswissenschaft kritisch? Die Kritische Theorie, ihr Kritikbegriff und ihre Probleme mit den Maßstäben”

 

Im Anschluss demonstrierte Christian Fuchs die Aktualität eines dezidiert marxistisch orientierten Ansatzes der Kritik der Politischen Ökonomie der Medien für das Verständnis der Entwicklung neuerer Kommunikationstechnologien.

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Christian Fuchs bei seiner Keynote „Die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien Kommunikation: Ein hochaktueller Ansatz”

 

Renatus Schenkel ging darauf mit persönlichen Beispielen kritisch-psychologischer Forschung (Holzkamp-Schule) ein, deren kommunikations- und medienwissenschaftliches Potenzial bis heute nicht eingelöst sei.

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Renatus Schenkel in seiner Response-Rede: „Aktuelle Erkenntnispotenziale historisch-materialistischer und marxistischer Ansätze in der Kommunikationswissenschaft”

 

Abschließend stellte Mandy Tröger in ihrer Keynote die Chancen und Schwierigkeiten einer Institutionalisierung kritischer Kommunikationswissenschaften am Beispiel des Institute of Communications Research an der Universität Illinois dar. Sie erteilte, aus der Perspektive einer neuen Generation kritischer Kommunikationswissenschaftler/innen, Grabenkämpfe innerhalb einer kritischen KoWi eine Absage und plädierte für einen konstruktiven Pluralismus.

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Mandy Tröger (University of Illinois at Urbana-Champaign): „Über die Chancen und Schwierigkeiten kritischer Kommunikationswissenschaft – eine transatlantische Perspektive“

 

Zum Abschluss des ersten Teils der Tagung argumentierte Hektor Haarkötter für die Stärkung hermeneutischer Methoden in den Kommunikationswissenschaften.

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Hektor Haarkötter von der HMKW Köln: „Die Kommunikationswissenschaft und das richtige Leben – Eine Kritik der kritischen Kritik”

Ein inputreicher erster Teil ging so zu Ende, wobei die Zeit für einen intensiven Austausch mit den Zuhörer/innen angesichts der sehr grundlegenden und provokanten aufgeworfenen Fragen zu kurz kam. Eine Kritik, die Eingang in die kommenden Konferenzplanungen finden wird. Kritische Anmerkungen zu den Keynotes und Responses hinterfragten u.a. die „Opferrolle“ kritischer Kommunikationsforschender. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass es Institutionalisierungs-Erfolge jenseits marxistisch inspirierter Ansätze gäbe und dies ein anzuerkennender Fortschritt sei.

Barcamps und Workshops

Im zweiten Teil der Tagung wurde dem entfachten Gesprächsbedarf mit diskursiveren Formaten entsprochen. Im Barcamp ‘pitchten’, d. h. präsentierten Max Braun und Lena Hübner, Valentin Dander, Aljoscha Paulus, Gabriele Sprigath sowie Dimitrij Umansky knapp und pointiert für die thematische Relevanz ihre Einreichungen für die KriKoWi.

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Aljoscha Paulus bei seinem Barcamp-Vortrag „Organisiert euch?! Zu aktuellen und alternativen Ansätzen kollektiver Interessenorganisation in Medienwirtschaften (und -wissenschaften)”

Aufbauend darauf wurde dann in kleinen Gruppen über Lehrschulen der Kommunikationswissenschaft, kritische Medienpädagogik, Interessenorganisationen in Medienwirtschaften (und –wissenschaften), Ethik in der Forschungspraxis sowie Beschleunigung in Medien und Gesellschaft diskutiert.

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Beim gemeinsamen Kaffeetrinken wurde fleißig weiterdiskutiert.

Auf die Barcamps folgten Workshops zur Kritik der Politischen Ökonomie, zu Gesellschaftstheorien in der KoWi sowie zur Kritik des Journalismus mit kurzen Impulsvorträgen von Eylem Çamuroğlu Çığ & Ünsal Çığ, Friederike von Franqué, Katrin Fritsche, Martin R. Herbers, Heiko Hilker, Detlev Kannapin, Sebastian Köhler, Mandy Tröger und Marlen van den Ecker.

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Workshop zur Kritik des Journalismus, u. a. mit Friederike von Franqué, Katrin Fritsche, Heiko Hilker, Sebastian Köhler und Detlev Kannapin
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Workshop zur Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation, u. a. mit Eylem Çamuroğlu Çığ, Ünsal Çığ und Mandy Tröger
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Workshop zur Gesellschaftstheorie in der Kommunikationswissenschaft, u. a. mit Marlen van den Ecker und Martin R. Herbers

Nach den Impulsvorträgen schloss sich eine Diskussion an, die vielfach zur Gründung von festen Arbeitskreisen des Netzwerkes führte.

 

Abschluss

Mit rauchenden Köpfen und voller Motivation resümierten die Teilnehmenden nun die Gründungstagung. Im Zentrum stand ein Wohlgefühl, einen gemeinsamen Ort der kritischen Hinterfragung der KoWi gefunden zu haben und der Wunsch diesen weiter mit Leben zu füllen. Natürlich blieben am Ende Differenzen bezüglich der Kritikverständnisse, der Organisation des Netzwerks und zukünftiger Tagungen bestehen. Inwiefern gehören Marxismus, Poststrukturalismus, Feminismus, Cultural Studies, Colonial Studies und weitere Denkrichtungen gleichberechtigt zur KriKoWi? Ist Pluralismus ein normatives oder ein strategisches Ziel? Inwiefern kann er am Anfang des Austausches stehen oder muss erst von einem Standpunkt aus erarbeitet werden? Ist nicht alle Wissenschaft eigentlich kritisch? In welchem Verhältnis steht politischer Aktivismus zur KriKoWi? Inwiefern soll sich KriKoWi innovativer / alternativer Formate bei Einreichungen und Tagungsformaten bedienen?

Es wurde deutlich, dass das Ende der Tagung gleichzeitig ein neuer Beginn ist. Aber die Fragen sind gestellt und zwar voller Motivation. Antworten müssen nun erarbeitet und Impulse gemeinsam konkretisiert und verstetigt werden.  

Dank

Großer Dank gilt dem Gastgeber Michael Meyen und den Förderern, dem Verein zur Förderung und Lehre am Institut der Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München e.V., dem transcript-Verlag, Heiko Hilker vom Dresdner Institut für Medien Bildung und Beratung.

Einen großen Dank auch an das Organisationsteam vor Ort mit Kerem Schamberger, Natalie Berner, Janina Schier, Zlatka Pavlova und Sylvia Krampe.

Wir freuen uns schon auf die nächste Tagung 2018! – Ihr Organisationsteam (Sevda Can Arslan, Marlen van den Ecker, Uwe Krüger, Melanie Malczok, Kerem Schamberger, Sebastian Sevignani, Dimitrij Umansky)

(Der Bericht wurde von verfasst von von Dimitrij Umansky.)

Hier möchte ich auf den aktuellen Beitrag von Noam Chomsky verweisen: https://josopon.wordpress.com/2017/12/12/das-geschaft-mit-der-wahrheit-wie-medien-gesteuert-werden-noam-chomsky-und-edward-s-herman/

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