Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN
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Auszüge:
Was heute fehlt, ist eine kraftvolle Friedensbewegung, die mglichst unideologisch und nicht in Grabenkämpfen verstrickt eine einfache, klare Forderung formuliert: Wir haben die Nase voll von Säbelrasseln ().
Das sagt die Autorin und Journalistin Gabriele Krone-Schmalz im NachDenkSeiten-Interview. Krone-Schmalz, die viele Jahre als ARD-Korrespondentin in Russland gearbeitet hat, zeigt sich hochgradig besorgt über die aktuellen Entwicklungen zwischen der NATO und Russland. Im Interview erklärt Krone-Schmalz, was die Grnde dafür sind, dass es keine neue Ostpolitik gibt, und beleuchtet die geostrategischen Hintergrnde im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt. Von Marcus Klöckner.
Erweiterung am 1.3.2022: Zur aktuellen Situation nach dem Einmarsch russischer Truppen nimmt Frau Krone-Schmalz am Ende dieses Artikels Stellung !
Frau Krone-Schmalz, seit Monaten geht es in den Medien verstärkt darum, ob es einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben wird.
Selbst die Frage, ob daraus ein Krieg entstehen knnte, in den dann auch die NATO involviert wre, ist auf dem Tisch. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Hochgradig besorgt. Ständig liest man Meldungen wie: Der amerikanische Präsident Biden warnt vor einem unmittelbar bevorstehenden russischen Einmarsch.
Die baltischen Staaten bereiten sich auf einen russischen Angriff vor etc. etc. Man bekommt den Eindruck, einigen Journalisten kann es gar nicht schnell genug gehen mit dem Krieg. Am 4. Februar setzte die amerikanische Agentur Bloomberg eine Eilmeldung auf ihre Webseite: Live: Russland marschiert in die Ukraine ein.
Diese Falschmeldung konnte man dort immerhin 30 Minuten lang lesen. Ich finde den Vorgang bezeichnend für die hysterische und sensationslüsterne Stimmung in manchen Medien.
Warum befasst man sich nicht mit den Dingen, die greifbar sind, statt sich in immer wilderen Spekulationen über mögliche Entwicklungen zu verlieren? Der russische Truppenaufmarsch, die westliche Reaktion, die Forderungen Russlands in Zusammenhang mit Sicherheitsinteressen, die westliche Antwort bzw. westliche Vorschläge, die diplomatischen Aktivitäten mit der genauen Wiedergabe und Analyse dieser Dinge sind wir gut beschäftigt.
Das Wort Krieg geht vielen Medien erstaunlich schnell von der Hand. Auch wenn die Frage vielleicht banal klingt: Was heißt Krieg?
Ich habe das Glück, selbst nie Krieg erlebt zu haben, im Gegensatz zu meinem Mann und meinen Eltern. Und ich habe das Glück, dass ich mit allen dreien darüber habe reden können. Krieg ist Horror und nicht nur aseptische Joystick-Aktivität in durchgestylten IT-Räumen. Aber offenbar reicht bei vielen weder die Bildung noch die Fantasie aus, um sich die Schrecken des Krieges vorzustellen. Anders kann ich mir das Verhalten nicht erklären.
Willy Brandt hat einmal gesagt: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
In den Medien gibt es kaum Zweifel daran, wer gut, wer böse ist, also von wem die Aggression ausgeht. Was ist die Realität?
Mit der Realitt ist das so eine Sache. Von Geraldine Chaplin stammt der Satz: Wahrheit ist selten so oder so, meistens ist sie so und so. Unabhängig von Lügen, die es natrlich auch gibt, haben verschiedene Narrative durchaus ihre Berechtigung. Bei der Betrachtung existenzieller Fragen empfiehlt sich immer ein Perspektivwechsel. Nur aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet, wird es schwer, Lösungen zu finden, von denen alle Seiten profitieren. Und die simple Unterteilung in gut und böse habe ich in meinen Büchern immer wieder aufs Korn genommen. Denn so einfach ist es meistens nicht.
Nehmen Sie nur die Berichterstattung über Minsk 2. Wer sich mit dem Abkommen nicht auskennt, muss den Eindruck bekommen, es seien vor allem Russland und die Separatisten, die blockieren. In Wahrheit setzt aber auch die Ukraine zentrale Teile des Abkommens nicht um, weil es in einem Moment der militrischen Schwäche ausgehandelt wurde und Kiew auf einen besseren Deal hofft.
Der Begriff geostrategische Interessen wird in deutschen Medien oft nur im Zusammenhang mit dem Handeln der russischen Regierung betrachtet. Aber viele Länder haben geostrategische Interessen. Und ein Bündnis wie die NATO ist auch nicht befreit davon. Was sind die geostrategischen Interessen der USA, der NATO in diesem Konflikt mit Russland?
In der Tat kann man bei manchen Äußerungen den Eindruck gewinnen, als denke man nur noch in Moskau in geopolitischen Einflusszonen. Doch wie glaubwürdig ist das? Etwa, wenn man sich die amerikanische Politik im Nahen Osten anschaut.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflsung von Warschauer Pakt und Sowjetunion waren die USA die alleinige Supermacht *), und eine Zeitlang sah es so aus, als könnten sie ihre Ordnung weltweit durchsetzen. Das geopolitische Interesse der USA war es seitdem, dafür zu sorgen, dass kein Rivale auf der Weltbühne auftaucht, der sie in derselben Weise herausfordern könnte, wie die Sowjetunion es getan hatte.
Eine solche kritische Masse könnte erreicht sein, wenn es Russland gelänge, Weißrussland und die Ukraine zu schlucken, so stand es 1992 in Papieren des Pentagon, die mageblich Paul Wolfowitz entworfen hatte, später stellvertretender Verteidigungsminister unter George W. Bush. Der heutige Konflikt ist sicher vielschichtig. Aber ich wäre sehr überrascht, wenn diese Hintergründe nicht auch eine Rolle spielen wrden.
Und welche geostrategischen Interessen sind auf russischer Seite auszumachen?
Russland hat den Anspruch, ein eigenständiger Pol der Weltpolitik zu sein und zu bleiben. Dafür ist zum Beispiel die Möglichkeit, eine Blockade des Schwarzen Meeres durch die NATO verhindern zu können, von elementarer Bedeutung.
Nur wer sich diesen geostrategischen Zusammenhang vergegenwärtigt, versteht die Bedeutung der Krim sowie die von Abchasien in Georgien.
Wenn die NATO unmittelbar an russische Grenzen heranrückt, dann schränkt das den geopolitischen Spielraum Russlands ein, genau wie es Washington vermutlich auch beabsichtigt. Aber es geht auch generell darum, auf internationalem Parkett als ein solcher unabhängiger Pol wahrgenommen und respektiert zu werden.
Dass Russland dafr auf militärische Drohungen zurckgreifen muss, ist eher ein Zeichen von Schwäche als von Stärke und auch bezeichnend dafür, wie der Westen viele Jahre mit Russland umgegangen ist.
All das, was Sie ausführen, ist im Grunde genommen ja nicht neu. Wohl die meisten Beobachter, die auf den Ukraine-Konflikt blicken, wissen, dass es im Kern um massive geostrategische Interessen auf beiden Seiten geht. Und trotzdem hält sich das Bild in den Medien von Russland, das angeblich als Aggressor handelt und der Westen das Unschuldslamm ist. Wenn westliche Staaten der Ukraine beistehen, dann nur aus den edelsten Motiven.
Sind wir damit dann inmitten der Propaganda oder gar einer kriegsvorbereitenden Propaganda?
Ich finde es in der Tat problematisch, wenn sich Länder so bedingungslos auf eine Seite stellen, statt die Chance zu ergreifen, bei einem Konflikt zu vermitteln.
Man kann Vieles kritisieren mit Blick auf russische Politik, aber das wird nicht glaubwürdiger dadurch, dass man beide Augen zudrückt, sobald es sich um die Ukraine handelt. Die Art, wie zurzeit der ukrainische Botschafter in Deutschland sowohl von der Politik als auch von den Medien hofiert wird, finde ich mehr als befremdlich, und sein Auftreten bei allem Respekt unverschämt. Man stelle sich vor, der deutsche Botschafter in Kiew ruft die ukrainische Bevölkerung auf, endlich ihrer Regierung nachdrücklich deutlich zu machen, was sie zu tun hat, um sich nicht dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung auszusetzen.
Noch mal: Im Grunde genommen ist der Konflikt zwischen der Ukraine, Russland und der NATO nicht so schwer zu durchschauen. Man muss sich nur vorstellen, was wre, wenn Russland versuchen würde, beispielsweise Mexiko immer näher auch miliätrisch an sich zu binden.
Und dennoch zeichnen Medien ein sehr einseitiges Bild dieses Konfliktes. Ist das Vorsatz?
Ich glaube, mit eindimensionalen Erklrungen kommt man nicht weit. Es hat ja Gründe, warum diese Mechanismen und das Entstehen von Freund-Feind-Bildern immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind.
Einseitige Bilder werden dadurch begünstigt, dass komplizierte Zusammenhänge in kurzer Zeit einfach und verständlich erklärt werden mssen.
Das Bewusstsein, auf der guten Seite zu stehen, verbunden mit missionarischem Eifer, spielt sicher auch eine Rolle.
Und schließlich darf man die Techniken von Staaten und Thinktanks nicht unterschätzen, die Deutungshoheit über die Bewertung politischer Entwicklungen zu erlangen. Das funktioniert überall.
Deshalb ist es so wichtig, in der Journalistenausbildung nicht nur Handwerk zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, gegen alle Widerstände Verantwortung zu übernehmen und sich den Blick durch nichts und niemanden verengen zu lassen.
Medien haben sich die Tage darber echauffiert, dass Deutschland nur 5000 Helme an die Ukraine liefern werde. In der liberalen Zeit fragt ein Kolumnist allen Ernstes: Was ist los mit Deutschland?
Lächerlich ist nicht die Lieferung der 5.000 Helme, wie überall gensslich zitiert und berichtet wird. Lächerlich ist der Vorgang. Nach meinem Kenntnisstand hat die Ukraine ganz allgemein nach Helmen und Schutzwesten gefragt für all die Zivilisten, die jetzt den Krieg proben. Und zwar ohne eine konkrete Zahl zu nennen.
In Deutschland konnte man offenbar auf Anhieb 5.000 Helme entbehren und hat sie sofort auf die Reise geschickt. Erst dann tauchte die Zahl von 100.000 Helmen auf, um die die Ukraine gebeten habe. Dagegen wirken die 5.000 Helme natürlich etwas albern.
Der ukrainische Botschafter, der am 6. Februar in der Talkshow von Anne Will saß, ist der Frage nach der Chronologie der Geschichte ausgewichen und leider nicht gedrängt worden zu antworten. Der Schenkelklopfer wird uns also wohl erhalten bleiben.
Kann es sein, dass manche Journalisten in Deutschland schlicht im Geschichtsunterricht nicht anwesend waren?
Wie kann man als Journalist alleine schon aufgrund der historischen Hintergründe allen Ernstes wollen, dass sich Deutschland an einer Aufrüstung eines Landes gegen Russland beteiligt?
Manche stellen sich ja auf den Standpunkt, die Ukraine habe es im Zweiten Weltkrieg mindestens so hart getroffen wie Russland ähnlich wie Weirussland, denn beide Länder muss man ja erstmal durchqueren, bevor man in Russland ankommt, und leiten daraus ganz im Gegenteil die Verpflichtung Deutschlands ab, der Ukraine jetzt zu Hilfe zu kommen. Damit werden die verschiedenen Opfergruppen gegeneinander ausgespielt. Ich kann dem nicht folgen.
Es ist und bleibt eine Tatsache, dass es Frieden in Europa nur mit Russland geben kann und nicht ohne, schon gar nicht gegen. Es sollte also auch im Interesse der Ukraine liegen, auf jeden Fall einen Krieg zu vermeiden, und das erreicht man, wie die Geschichte zeigt, nicht durch Aufrüstung, sondern nur durch Diplomatie.
Wir reden jetzt viel ber die Medien. Vielleicht ja auch zu viel. Aber mein Eindruck ist, dass bestimmte Medien und Journalisten sich nicht im Ansatz darber im Klaren sind, was sie mit ihrer zündelnden Berichterstattung anrichten. Wie sehen Sie das?
Eine Kollegin in Washington hat das (am 7.2.) in ihrer Berichterstattung über den Besuch des deutschen Bundeskanzlers Scholz beim amerikanischen Präsidenten Biden sehr gut auf den Punkt gebracht. Sie hat gesagt: Die wahre Nagelprobe wird nicht das Gesprch mit Biden sein, sondern hinterher die Fragen der Journalisten.
Da kann man nur noch den Kopf schütteln. Vielen Journalisten passt offenbar nicht, dass die Bundesregierung, übrigens im Verbund mit Frankreich, nicht völlig auf die Position der Scharfmacher in Washington, London, Warschau und den baltischen Staaten einschwenkt. Und sie haben beschlossen, nicht locker zu lassen, bis der Kanzler einknickt.
Doch welche Legitimation haben Journalisten eigentlich, auf diese Weise selbst Politik zu machen? Wer hat sie gewählt? Vor wem mssen sie sich rechtfertigen, wenn es schiefgeht?
Und es ist schon abenteuerlich, wie sehr die eigene Regierung da manchmal herabgewrdigt wird. Von Jesuslatschen ist zu lesen, auf denen der Kanzler unterwegs sei, seine Politik sei blamabel, peinlich und dergleichen. Damit beschädigt man im Endeffekt auch unsere demokratischen Institutionen.
Was msste aus Ihrer Sicht passieren, damit es nicht zu einem Krieg kommt?
Journalisten sollten parteipolitische Spielchen entlarven, statt sie mitzuspielen, und endlich damit aufhören, Horrorszenarien zu entwerfen, mit denen sie Politikern möglichst markige Worte dazu abnötigen, was sie alles im Kcher haben, wenn
Das ist die eine Seite.
Politiker sollten sich nicht kirre machen lassen, sondern das durchziehen, wofür sie schließlich auch Verantwortung bernehmen mssen.
So etwas wie Helsinki 2.0, also eine große Sicherheitskonferenz, wäre ganz bestimmt hilfreich. Das kann aber nur gelingen, wenn Verhandeln und Kompromiss nicht als Schwäche ausgelegt werden, und um auf die Journalisten zurückzukommen, wenn Journalisten endlich aufhören, Fragen zu stellen wie: Wer hat gewonnen, wer verloren, was ist mit dem Gesichtsverlust? Etwas Unwichtigeres kann ich mir zurzeit kaum vorstellen.
Warum ist es so schwer, eine Art neue Ostpolitik aufzuziehen?
Wo sind deutsche Politiker, die dazu sowohl fähig wären?
Weil es in den Leitmedien nicht mehr zu Debatten kommt und alles abgebügelt wird, was nur nach Verständigung mit Russland riecht. Auch die neue Ostpolitik Anfang der 70er Jahre wurde als Vaterlandsverrat diffamiert und deren Vertreter als Fünfte Kolonne gebrandmarkt. Heute erledigt man das mit Begriffen wie Russlandversteher, Putinversteher und Verschwörungstheoretiker.
Leitmedien haben die Deutungshoheit übernommen und wer da vorkommen will, muss mit den Wölfen heulen.
Was heute fehlt, ist eine kraftvolle Friedensbewegung, die mglichst unideologisch und nicht in Grabenkämpfen verstrickt eine einfache, klare Forderung formuliert: Wir haben die Nase voll von Säbelrasseln, egal auf welcher Seite, wir wollen Entspannungspolitik und die Ideen dazu überall lesen, hören und sehen, damit wir uns damit auseinandersetzen können.
Lesetipp: Krone-Schmalz, Gabriele: Respekt geht anders. Betrachtungen über unser zerstrittenes Land. C.H. Beck Paperback, 16. Oktober 2020. S. 174. 14,90 Euro.
Um die Friedenspolitik kraftvoller zu machen, gibt es auf diesem Blog etliche Aufrufe, auch zum Online-Unterschreiben, z.B.
https://josopon.wordpress.com/2022/02/08/online-aufruf-ukraine-krise-friedenspolitik-statt-kriegshysterie-bitte-unterzeichnen/
https://josopon.wordpress.com/2022/02/07/verhandeln-statt-schiesen-aufruf-des-netzwerks-friedenskooperative/
https://josopon.wordpress.com/2020/08/29/online-petition-aufruf-aus-der-friedensbewegung-an-die-partei-die-linke-oskar-lafontaine-fragt-wer-ist-regierungsf-ahig/
https://josopon.wordpress.com/2020/04/21/online-petition-an-rolf-mutzenich-vorsitzender-der-spd-bundestagsfraktion-atombomber-nein-danke/
*:Amerikanischer Exzeptionalismus, siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2020/11/20/was-wir-von-der-biden-prasidentschaft-im-nahen-osten-erwarten-konnen/
Und hier die aktuelle Stellungnahme:
https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/putin-kennerin-gabriele-krone-schmalz-ich-habe-mich-geirrt-li.214288
„Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Nicht nur mit Blick darauf, was jetzt an Leid und Verwüstung folgt, bin ich fassungslos, sondern auch angesichts dieses Schlags ins Gesicht all derjenigen, die sich – teilweise gegen große politische Widerstände im eigenen Lager – auf den Weg nach Moskau gemacht haben, um diplomatische Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Probleme zu finden. Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.
Habe ich mit meinen Positionen dazu beigetragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, wie jetzt manche behaupten? Bin ich für den russischen Einmarsch mitverantwortlich? Es wäre schrecklich, wenn es so wäre. Doch überzeugend finde ich diesen Vorwurf nicht. Er setzt voraus, dass die Idee der Verständigung, der Entspannungspolitik grundverkehrt war, und dass eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können. Beide Punkte halte ich nicht für richtig. Denn zum einen haben sich die Entspannungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik eher nicht durchsetzen können. Ich möchte die Worte von George Kennan ins Gedächtnis rufen, dem Architekten amerikanischer Eindämmungspolitik. Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. „Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben“, so Kennan, „und dann werden sie (also die NATO-Erweiterer) sagen: So sind die Russen, wir haben es Euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.“
Und zum anderen scheint mir, dass jeder Versuch, die Ukraine nach 2014 in die NATO mit aufzunehmen, die jetzt erfolgte Intervention nur beschleunigt und nicht verhindert hätte. Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet und sich auch so verhält. Ich teile nicht die These, dass Putin schon immer der gewesen sei, der er jetzt ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.
Aber letztlich ist es müßig, noch über die Vergangenheit zu streiten. Die Verständigungspolitik, deren Sinnhaftigkeit ich mit meiner Arbeit immer versucht habe zu erklären und journalistisch zu begleiten, liegt in Trümmern. Putin hat die Hand verdorren lassen, die zwar reichlich später, aber dann doch ausgestreckt war.
Nach allem was man hört, waren selbst einige russische Regierungsmitglieder von der Entscheidung ihres Präsidenten überrascht, den Einmarschbefehl zu geben, noch dazu in dieser Situation: unmittelbar vor weiteren geplanten Gipfeltreffen. Das macht die Lage nicht einfacher.
Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Jetzt kann es nur darum gehen, möglichst sichere Wege zu finden die aus dieser Katastrophe herausführen. „Diplomatische Anstrengungen müssen erneut beginnen.“ Das hat Klaus von Dohnanyi jetzt gefordert, wobei auch ihm die Zumutung klar ist, die darin besteht, mit einem Gegenüber zu verhandeln, das dreist gelogen hat. Aber Zumutung, Gesichtsverlust und ähnliches sind keine akzeptablen politischen Kategorien, wenn es darum geht, einen Krieg zu beenden.
Was entspannungspolitisch alles möglich ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Das war der Beginn der sogenannten Ostpolitik, die auf lange Sicht für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht hat. Humanitär und wirtschaftlich.
An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.“
Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.