Ukraine: Das Drehen an der Eskalationsspirale geht weiter

Nachrichten einer Leuchtturmwärterin

Siehe petraerler@substack.com

Ukraine: Das Drehen an der Eskalationsspirale geht weiter

Die Risiken steigen, jetzt auch noch im Umgang mit China

Am 5. Dezember 2022 berichte dasWall Street Journal, die USA hätten die an die Ukraine gelieferten Himars manipuliert, um deren Reichweite zu verringern. Russisches Territorium sollte nicht erreichbar sein.
Zur Begründung hieß es, dass sei eine notwendige Maßnahme, um eine Kriegsausweitung zu verhindern.

https://www.wsj.com/articles/u-s-altered-himars-rocket-launchers-to-keep-ukraine-from-firing-missiles-into-russia-11670214338

Das ganze Jahr 2022 war davon geprägt, dass die Unterstützung für die Ukraine auf keinen Fall dazu führen sollte, dass aus dem Stellvertreterkrieg eine direkte militärische Konfrontation mit Russland wird.
Diejenigen, die dieses Mantra wie eine Standarte hochhielten, erzählten allerdings auch, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Sie versicherten, dass die NATO der Ukraine „nur“ mit Aufklärung half und wiesen die Idee, mit Soldaten in die Kampfhandlungen einzugreifen, weit von sich. Falls sich westliche Militärs in die Ukraine verirrten, dann allenfalls als Söldner oder Freiwillige.
Nun aber ist die Katze aus dem Sack: Die Ukraine ist nicht auf dem Siegespfad, sondern auf der Verliererstraße, und das Oberkommando der US-Armee weiß das.
Denn das war der Adressat der geheimen Dokumente, die plötzlich in die Öffentlichkeit gelangten.
Dort war auch bekannt, dass es „boots on the ground“ gibt, in der Mehrzahl britische, aber Amerikaner sind auch dabei.
Offenbar weiß das auch der demokratische Gegenkandidat von Joe Biden, Kennedy, denn dessen Sohn war erklärtermaßen dabei.
Das Durchsickern der Kriegsrealität ist immer ein gefährlicher Augenblick. Wie geht man damit um, dass der „Siegfrieden“ nicht erreichbar scheint?

Die Versuchung scheint sehr groß, an der Eskalationsspirale weiter zu drehen.

Plötzlich erklärt der NATO-Generalsekretär ohne Not, der legitime Platz der Ukraine sei in den euro-atlantischen Strukturen.
Aktuell von der FAZ:
https://www.youtube.com/watch?v=LPQ5YoRtRsE&utm_source=substack&utm_medium=email&ab_channel=faz

Frau Nuland enthüllte schon vor einigen Wochen anlässlich einer Veranstaltung der Carnegie Stiftung, dass die USA von militärischen Anlagen auf der Krim wüssten. Das seien legitime militärische Ziele für die Ukraine. Die USA würden Angriffe darauf unterstützen. Der Kyiv Independent berichtete umgehend:
https://kyivindependent.com/nuland-us-supports-ukraine-striking-targets-in-crimea/

Nun hat offenbar auch der deutsche Verteidigungsminister gar kein Problem mehr, wenn es um tiefe militärische Schläge auf russisches Territorium geht, solange es nur keine Zivilisten trifft.
Alle wundern sich, wenn Medwedjew in gewohnt aggressiver Tonlage zurückschlägt.
Niemand wundert sich, wie es sein kann, dass alle möglichen westlichen Politiker in Kiew herumspazieren können, völlig ungefährdet. Keine einzige russische Waffe schlägt auch nur irgendwo in der ukrainischen Hauptstadt bei politischen Besuchsterminen ein, keine einzige Waffe wurde auf den Präsidentensitz, den Regierungssitz oder das ukrainische Parlament gerichtet.
Nur vom „Überraschungsbesuch“ des US-Präsidenten ist bekannt geworden, dass Washington und Moskau das vorher koordinierten und Moskau eine Sicherheitsgarantie aussprach. Man muss annehmen, dass es nicht die erste und nicht einzige blieb.
Auch in Syrien gab es Absprachen zwischen den USA und Russland, um zu verhindern, dass man versehentlich in eine direkte Konfrontation verstrickt ist.
Anscheinend ist das dem deutschen Verteidigungsminister nicht klar.
Ihm scheint offenbar auch nicht klar, dass eine Kriegsausweitung auf das Territorium des russischen Bären durch die Ukraine nicht aus eigenen militärischen Beständen geleistet würde. Die sind erschöpft. Die Ukraine könnte eine derartige Kriegsausweitung nur mit westlichem Gerät bewältigen, einschließlich solchem aus deutschen Lieferungen. Nimmt er das billigend in Kauf?
Selenskyj_beggingDer nimmermüde Melnyk hat das Kiewer Dilemma nun auf den Punkt gebracht: Die Ukraine brauche zehn Mal mehr westliche Militärhilfe, um die russische Aggression in diesem Jahr beenden zu können
Nach der Melnyk-Rechnung wären das 500 Mrd. Dollar Militärhilfe noch in diesem Jahr:
https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-samstag-271.html

Melnyk mahnte den Westen, die „Dimension des Krieges“ zu begreifen. Was Kiew will, wäre schließlich nicht so teuer wie der Zweite Weltkrieg.
Ist das so?
Dass in Kiew gewusst wird, wie verzweifelt die Lage ist, war spätestens im Herbst 2021 eindeutig, als Präsident Selenskyj nach einem nuklearen Erstschlag der NATO auf Russland rief. Vermeintliche Sieger in einer Schlacht rufen nicht nach der Zerstörung des Gegners durch Dritte und schon gar nicht nach einem Atomkrieg.
Nur die Einsicht in eine drohende militärische Niederlage erklärt, warum ein „verirrter“ Einschlag einer angeblich russischen Rakete auf polnischem Territorium zur sofortigen präsidialen Feststellung in Kiew führte, nun sei der NATO-Bündnisfall gegeben.
Inzwischen berichtete die Washington Post, Kiew hätte bis Dezember 2022 auch mit dem Gedanken gespielt, in Syrien die Kurden zu benutzen, um die gegen Russland in Syrien in Stellung zu bringen.
Die Kurden hätten von Kiew allerdings die Ausbildung an den dafür notwendigen Waffen verlangt und Geheimhaltung.

https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/20/russia-ukraine-war-syria-attacks/

Die Kurden dementierten alles. Aber irgendjemand hat der Washington Post so viele geheime Dokumente gegeben (300) und der/ die hat sich etwas dabei gedacht. Offenbar nahm die Washington Post an, auch dieses Dokument wäre echt. Sonst wäre nicht berichtet worden.
Die Washington Post ist überhaupt nicht verdächtig, pro-russisch zu sein. Ihr wird manchmal eine Nähe zur CIA unterstellt. Sei es wie es sei, es ist ein abenteuerlicher Gedanke, nun den Stellvertreterkrieg auf Syrien auszuweiten. Das hätte wie ein Sprengsatz in der NATO gewirkt, denn in der Frage der syrischen Kurden sind die USA und die Türkei schwer über Kreuz.
So muss man hoffen, dass der deutsche Verteidigungsminister auch wieder auf dem Boden der Realität landet.

500 Milliarden, die ein Sieg in diesem Jahr bräuchte – woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Die NATO hat das Kriegsgerät nicht, dass sie der Ukraine liefern könnte, und was sie liefern könnte, könnten die Ukrainer nicht bedienen. Also muss man es als Ruf nach einem direkten Aufmarsch der NATO an der Seite der Ukraine betrachten. Oder als Teil einer Schuldzuweisung, wer am Ende den Krieg verlor, die Ukraine oder die NATO.
Es gibt kein deutsches Interesse, den Ukrainekonflikt zu einem Dritten Weltkrieg ausarten zu lassen.
Die Pistorius-Aussage lässt nur den Schluss zu, dass dem Mann die deutschen Interessen offenbar unklar sind, er das nachplappert, was einige Kreise in Washington und London vorplappern
Die Gefährlichkeit dieser Kreise ist nicht zu unterschätzen, denn die haben Selenkyj an ihrer Leine.
Die wissen am besten, dass sich das Fenster der Gelegenheit schließt (oder möglicherweise längst geschlossen hat), Russland ein für alle Mal „zu ruinieren“.
Das hat mit den Sanktionen leider nicht geklappt, trotz der Versicherung von Biden, der Rubel wäre demnächst nur noch „rubble“ (Schutt/Müll).
Das hat nicht mit der militärischen Unterstützung für die Ukraine geklappt.

Was fällt denen nun als Nächstes ein?

Es ist ja nicht nur die Ukraine, wo alle schönen Vorherrschaftsträume platzen. Eine ganze Welt ist in Bewegung geraten, in einer Weise, wie sich manche das nicht vorstellen konnten.
Russland und China sind verbündet. Keines der Länder ist isoliert. Der Nahe und Mittlere Osten befriedet sich selbst, unter russischem und chinesischem Einfluss.
Der französische Präsident will ein Verbündeter der USA bleiben, aber kein Vasall in Sachen Taiwan werden.
Das Theater um unlimitierte ukrainische Getreideexporte nach einigen mitteleuropäischen EU-Staaten, die deren lokale Märkte zerrütten, zeigt vor allem, dass in bestimmten sensiblen Sektoren die EU einen freien Handel mit Ukraine (trotz der des Krieges massiv eingeschränkten Kapazitäten) nicht verkraften kann, was eine zügige EU-Mitgliedschaft der Ukraine schon aus ökonomischen Gründen in weite Ferne verschiebt.
Das Diskussionsniveau (Dieser Streit freut Putin bzw. hoffentlich werde die polnische Regierung abgewählt, zeigt nur, dass Nachdenken rar geworden ist.)
Die viel beschworene Einigkeit der NATO ist mehr als brüchig, wie die unmittelbaren Reaktionen auf Stoltenbergs Ausführungen zu einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft zeigten.
Aus Berlin verlautete, das komme zu Unzeit und Budapest tweetete „What?

https://www.politico.eu/article/viktor-orban-hungary-ukraine-nato-membership-aspirations-twitter/

Und wie gesagt, da ist immer noch Macron, über den sich nun alle herzlich empören, auch wenn alle inzwischen wissen müssten, dass Macron seine Geistesblitze hat, aber nie nachhaltig agiert.
Aktuell erinnerte sich Macron, dass Taiwan nicht unabhängig ist, sondern anerkanntermaßen Teil von China.
Offenbar kennt er die offizielle US-Linie, wonach sie keine Unabhängigkeit Taiwans anstrebten, allerdings erwarten, dass alle (innerchinesischen) Konflikte friedlich gelöst werden.

https://www.state.gov/u-s-relations-with-taiwan/

Und schon „weiß“ jeder, Macron ist den Chinesen auf den Leim gegangen. Die lachen sich ins Fäustchen, wenn in der EU Streit herrscht, so wie die Russen angeblich auch immer den Dissens organisieren.
Tatsächlich verbalisierte Macron, dass es nicht im europäischen Interesse liegt, in einen tiefen Konflikt mit China zu stürzen. Denn die EU hat keine globale Machtambition. Das unterscheidet sie von den USA.
EU-KniefallDie USA haben weltweite Interessen und fühlen sich berechtigt, sie weltweit geltend zu machen. Seit längerem lassen die USA jeden wissen, dass sie die vorherrschende Macht im asiatisch-pazifischen Raum sind und bleiben wollen.

Taiwan ist nur die Strohpuppe.

Gemäß der Resolution 2758 der UN-Vollversammlung aus 1971 ist in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen der einzig legitime Vertreter Chinas die Chinesische Volksrepublik.

https://digitallibrary.un.org/record/192054

Insofern gibt es im Fall Taiwans Parallelen zur Ukraine, nur mit umgekehrten Vorzeichen. So wie die Ukraine zum Nagel im Fleisch Russlands erkoren wurde, ist es Taiwan im Fall Chinas.
Aus der Sicht Pekings ist Taiwan abtrünnig, aus der Sicht Kiews ist es der Donbass. In dem einen Fall erfolgen US-Militärhilfen nach Taiwan, im anderen gab es seit 2016 US-Militärhilfen zum Kampf gegen den Donbass. Das Ganze hat sich, wie jeder weiß, zu einem veritablen Stellvertreterkrieg ausgeweitet, der in einem Dritten Weltkrieg münden kann.

Und was macht die deutsche Außenministerin im Jahr 2023 in Peking?
Statt Peking zu versichern, Deutschland werde auf keinen Fall ein weiteres Drehen der Konfliktspirale mit China befürworten, sondern entschieden auf langfristige friedliche Kooperation und friedliche Streitbeilegung setzen, erklärte sie, man würde in Sachen Taiwan „keine Eskalation hinnehmen.“
Was heißt das denn?
Man kann es bedauern oder nicht, im Völkerrecht gibt es keinerlei rechtliche Grundlage für die Umsetzung solcher Drohgebärden. Was der Westen machen sollte, wäre die Versöhnung innerhalb China zu befördern, Aber das ist nicht der Plan.
Ein direkter Eingriff zugunsten Taiwans, wie ihn die USA immer wieder androhen, wäre völkerrechtswidrig.
Aber wen schert schon das Völkerrecht, wenn es um geopolitische Interessen der USA geht, bei denen Deutschland keinen Blumentopf zu gewinnen, aber alles zu verlieren hat.
Glücklicherweise gibt es in Deutschland innerhalb der SPD, aber auch in der Wirtschaft, noch Stimmen, die das begreifen. Dazu muss man nicht „vom Völkerrecht kommen“.
Es reicht, zu wissen, dass Konflikt und Konfliktanheizung in gerader Linie zum Zusammenbruch alles Vertrauens führen, was eine Grundlage des friedlichen Zusammenlebens von Staaten ist.
2004, als die große EU-Erweiterung erfolgte, fand es Deutschland wichtig, festzustellen, dass wir nunmehr nur noch von Freunden umgeben sind. Das ist Teil unserer nationalen Sicherheit.
Danach strebt jeder Staat. Jeder Staat hat das Recht dazu.
Es reicht, sich den Krieg in Europa vor Augen zu führen, um zu wissen, dass ein solcher Krieg im Ergebnis steht, wenn man durch die Welt trampelt wie ein Elefant im Porzellanladen, nur das Eigeninteresse vor Augen, nie um Ausgleich und schon gar nicht um Freundschaft besorgt.
Wir können uns noch so oft erzählen, alles wäre unprovoziert gewesen, an allem wäre nur das aggressive, imperiale Russland schuld. Das ist schlichte Selbsttäuschung.
Wir werden aus dem Fahrstuhl der Konflikteskalation nie aussteigen können, wenn wir die Täuschung nicht beenden.
2011 hat der inzwischen verstorbene Russlandexperten Cohen, der nie zu den „Falken“ in Washington zählte, in den USA die russische Sichtweise erklärt. Damals hat kaum einer zugehört.
Vielleicht könnte die deutsche Politik, die kürzlich in Kanzlergestalt versprach, ein bisschen mehr anderen zuhören zu wollen, das nunmehr nachholen und anfangen nachdenken.
Denn alles begann mit einem gebrochenen Versprechen im deutschen Einigungsprozess.

https://www.youtube.com/watch?v=mciLyG9iexE

Ulrike_Guérot-Oskar _LafontaineNoch als Nachtrag ein Hinweis auf eine hervorragende Videodiskussion vom 27.03.2023:

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Sahra Wagenknecht im NachDenkSeiten-Interview: „Natürlich ist auf unserer Kundgebung in Berlin jeder willkommen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute ganz aktuell und ausführlich. Gut, dass es die NachDenkSeiten gibt.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=94067
Auszüge:

Sahra Wagenknecht stellt sich den Fragen unserer Leser. Im Interview spricht sie über das Zustandekommen des Manifests, die „armselige Debattenkultur“ in Deutschland und stellt klar, dass sie sich nicht, wie zuvor kolportiert, für einen Ausschluss von AfD-Mitgliedern bei der geplanten Friedenskundgebung am 25. Februar vor dem Brandenburger Tor ausgesprochen hatte.
Zudem geht sie auf die Kritik ein, das Manifest für Frieden würde die Vorgeschichte des Konfliktes ausblenden und Russland einseitig als Aggressor darstellen und skizziert ihren Ansatz für einen ersten Waffenstillstand.
Abschließend beantwortet sie die Frage, die uns in Dutzenden Leserbriefen erreichte: Wann sie plane, ihre eigene Partei zu gründen. Das Interview führte Florian Warweg.

Frau Wagenknecht, Sie haben kürzlich zusammen mit der Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer das „Manifest für Frieden“ initiiert und rufen gemeinsam zur Friedenskundgebung am 25. Februar um 14 Uhr vor dem Brandenburger Tor auf. Können Sie uns verraten, wie es zu dieser Zusammenarbeit kam und wer da auf wen zugegangen ist?

Ich habe mit Alice Schwarzer seit knapp einem Jahr Kontakt. Ich hatte ihr damals geschrieben und mich für ihren Offenen Brief an Scholz bedankt, über den ich unglaublich froh war.
Wir haben uns danach hin und wieder geschrieben, und im Januar, als die Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern hochkochte, kam Alice Schwarzer auf mich zu und sagte: Wir müssen etwas machen. Da war ich natürlich sofort dabei.

Der Spiegel kürte Sie beide zu „Verliererinnen des Tages“ und erklärt, Ihr Aufruf lese sich, als käme er direkt aus der Feder des Kreml-Pressesprechers. In eine ähnliche Kerbe haut die FAZ, dort ist das Manifest eine „Propaganda-Hilfe für Putin“, in der taz wird Ihr Anliegen als „politobszön“ und „amoralisch“ bezeichnet, in der Süddeutschen war mit Verweis auf den Politologen Herfried Münkler von „Komplizenschaft mit dem Aggressor” die Rede.
Die Reaktion von CDU- und Ampel-Vertretern war ähnlich vernichtend, auch aus der eigenen Partei hagelte es massive Kritik.
Wieso reagiert Ihrer Meinung nach der mediale und politische Mainstream mit so viel Häme und geradezu Hass auf eine Petition, die sich für Friedensverhandlungen und einen Stopp der „Eskalation der Waffenlieferungen“ ausspricht, also noch nicht einmal einen generellen Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordert?

Ja, das Niveau der politischen Debatte in Deutschland ist wirklich armselig und die Konformität der großen Medien in dieser Frage einer Demokratie unwürdig. Warum sind sie so?
Die ZDF-Sendung Die Anstalt hatte vor längerer Zeit mal eine sehr aufklärende Sendung über die engen Verbindungen zwischen einflussreichen deutschen Journalisten und U.S.-Think-Tanks.
Und selbst, wo es keine solchen Bande gibt: Die meisten Journalisten leben in der grünen Blase, in der Kriegsbesoffenheit aktuell en vogue ist.

Jetzt sind Sie und Frau Schwarzer ja bei weitem nicht die Einzigen, die derzeit verbal dermaßen angegangen werden, weil sie sich für Friedens-Verhandlungen aussprechen. Man denke nur an die hysterischen Kampagnen gegen Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guérot.
Wie erklären Sie sich diesen zunehmenden Drang in Politik und Medien, Menschen mit anderen Meinungen und Einschätzungen zum Umgang mit dem Ukraine-Krieg nicht nur zu kritisieren, sondern sie bewusst moralisch abzuwerten? Was bedeutet das für die Debattenkultur in unserem Land?

Wer keine guten Argumente hat, muss es mit Emotion und Moralisierung versuchen. So funktioniert die Cancel Culture ja auch auf anderen Gebieten. Und wie mit den mutigen Frauen Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guérot umgegangen wird, schafft ein Klima der Einschüchterung.
Tatsächlich haben uns ja auch Einige, die wir als Erstunterzeichner angesprochen hatten, mehr oder minder deutlich gesagt, dass sie zwar unser Anliegen teilen, sich diesem öffentlichen Shitstorm nicht aussetzen möchten. Interessant ist aber, dass trotz des Hasses und der Häme, die über uns ausgekippt wurden, in nur einer Woche eine halbe Million Menschen unser Manifest unterzeichnet haben.
Das übertrifft alle Erwartungen. In Umfragen ist eine Mehrheit für Verhandlungen und gegen die Ausweitung der Waffenlieferungen.
Die Menschen lassen sich von der medialen Propaganda – so muss man es ja leider nennen – Gott sei Dank immer weniger beeindrucken.

Neben der schon erwähnten Kritik, die Ihnen „Kreml-Propaganda“ vorwirft, gibt es auch eine ganz anders geartete Kritik, die der Petition vorwirft, einseitig Russland als Aggressor zu benennen und dabei die Vorgeschichte zu ignorieren, angefangen vom Maidan-Putsch, über den jahrelangen massiven Beschuss ziviler Ziele im Donbass ab 2014 durch die ukrainische Armee bis zur massiven Präsenz von NATO-Beratern und dem Eingeständnis Angela Merkels, Minsk II sei nur Mittel zum Zweck gewesen, um die Ukraine gegen Russland aufzurüsten.
Wie bewerten Sie diese Kritik und mit welchen Argumenten würden Sie diejenigen versuchen zu überzeugen, die erklären, dass sie diesen „grundsätzlich guten Aufruf“ deswegen nicht unterzeichnen können, dies doch noch zu tun?

Wir wissen um die Vorgeschichte des Krieges und ich selbst habe sie öffentlich immer wieder thematisiert. Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen und Teile des politischen Establishments der USA haben es geradezu darauf angelegt, dass der Konflikt militärisch eskaliert.
Es war immer klar, dass Russland nicht hinnehmen wird, dass die Ukraine ein militärischer Vorposten der Vereinigten Staaten wird und dann möglicherweise Raketen an der russischen Grenze stehen, die Moskau in fünf Minuten erreichen können.
Trotzdem ist es meine tiefe Überzeugung: Krieg ist nie eine Lösung. Mit dem Befehl zum Einmarsch hat die russische Führung Völkerrecht gebrochen und sich schuldig gemacht. Das muss man ohne jede Einschränkung verurteilen. Es gibt immer auch andere Wege.
Aber selbst wer das anders sieht: Es geht doch jetzt darum, alle Kräfte zu bündeln, um Druck für einen schnellen Verhandlungsfrieden auszuüben.
Da sollten wir an einem Strang ziehen und brauchen jede Unterschrift – und jeden Kundgebungsteilnehmer am 25. Februar in Berlin.

Kommen wir auf die von Ihnen geplante Friedenskundgebung am 25. Januar vor dem Brandenburger Tor zu sprechen.
Es wird kolportiert, dass Sie AfD-Mitglieder und -Wähler von der Teilnahme an der Kundgebung ausgeschlossen haben. Können Sie das so bestätigen?
In diesem Zusammenhang erreichten uns auch zahlreiche Leserzuschriften, die die Gretchenfrage in Bezug auf die Teilnahme von AfD-Mitgliedern stellen und ganz grundsätzlich fragen, ob es in dieser existenziellen Frage von Krieg oder Frieden nicht geboten sei, mit den Kräften aller politischen Lager zusammenzuarbeiten, ohne dabei alle sonstigen politischen Differenzen zu verschweigen. Was ist Ihre Haltung dazu?

Natürlich ist auf unserer Kundgebung jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und gegen Waffenlieferungen demonstrieren möchte.
Was wir nicht dulden werden, sind rechtsextreme Flaggen, Embleme und Symbole. Dass so etwas auf einer Friedenskundgebung nichts zu suchen hat, sollte sich eigentlich von selbst verstehen.
Immerhin steht der Rechtsextremismus in der Traditionslinie eines Regimes, das den schlimmsten Weltkrieg seit Menschheitsgedenken vom Zaun gebrochen hat.
Zu der schwachsinnigen Debatte, wir seien „rechtsoffen“, fällt mir ansonsten nur der Hinweis ein, dass nicht der Ruf nach Frieden, sondern die bei vielen unserer Kritiker zu beobachtende Unterstützung von Militarismus und Krieg seit ewigen Zeiten Kennzeichen rechter Politik ist. In diesem Sinne haben wir leider eine „rechtsoffene“ Regierung und die Grünen sind die Schlimmsten darin.

Da wir gerade von Allianzen sprachen. Deutschland ist zweifelsfrei das Schlüsselland in Europa in der Frage Krieg oder Frieden mit Russland.
Gab es beim Verfassen des Manifests aber auch die Überlegung, dieses auf andere europäische Staaten auszuweiten und nicht nur an Olaf Scholz zu richten?
In Frankreich hätte das Manifest beispielsweise vermutlich auch viel Unterstützungspotenzial. Gab es schon Gespräche in diese Richtung, etwa mit Jean-Luc Mélenchon, zu dem Ihr Mann gute Verbindungen unterhalten soll?

Wir haben Mitte Januar zum ersten Mal darüber nachgedacht, eine solche Initiative zu starten, am 10. Februar wurde das Manifest mit 69 prominenten Erstunterzeichnern veröffentlicht, seither tun wir alles, um die Kundgebung auch ohne starke Organisationen im Rücken solide vorzubereiten.
Wir haben in dieser Situation noch keine Möglichkeit gehabt, an einer europaweiten Vernetzung zu arbeiten. Aber es ist eine wichtige Anregung, die wir in Zukunft gern umsetzen werden.

Mehrere Leserzuschriften haben uns erreicht, die sich hilfesuchend an Sie wenden und um Argumentationshilfe für Diskussionen im Bekannten- und Freundeskreis bitten, was denn konkret umsetzbare Vorschläge für einen aktuellen Verhandlungsfrieden zwischen der Ukraine (plus westliche Unterstützer) sowie Russland wären. Was antworten Sie diesen Lesern?

Nach übereinstimmender Aussage des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennet und des türkischen Außenministers gab es im Frühjahr bereits Gespräche und eine so starke Annäherung zwischen Moskau und Kiew, dass ein Friedensschluss in greifbarer Nähe war. Verhindert wurde er damals durch London und Washington.
Kern des Ukraine-Konflikts war immer die Frage einer NATO-Mitgliedschaft, die Frage möglicher westlicher Militärbasen und Raketenrampen.
Im Frühjahr waren die Russen offenbar bereit, sich für ein Zugeständnis in dieser Frage hinter die Linien des 24. Februar 2022 zurückzuziehen. Ob das heute noch möglich wäre, weiß ich nicht.
Mit der Annexion der Regionen Luhansk und Donezk hat Putin Fakten geschaffen, hinter die er kaum zurückgehen wird.
Aber das zeigt doch wieder: Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird ein Kompromiss. Aktuell sehe ich eigentlich nur den Weg, die Frontlinie zunächst einzufrieren und später ein UN-beaufsichtigtes Referendum in diesen Gebieten durchzuführen.

seymour hersh

seymour hersh

In den letzten Tagen sorgte die Recherche des renommierten US-Investigativ-Reporters Seymour Hersh für Furore, in welcher er erklärte, Nord Stream sei auf direkten Befehl des US-Präsidenten Joe Biden gesprengt worden.
Bereits vor der Hersh-Veröffentlichung war offensichtlich geworden, dass die Bundesregierung keinerlei Interesse zeigt, die mutwillige Zerstörung eines der größten und teuersten Infrastrukturprojekte Europas wirklich aufklären zu wollen.
Was ist Ihre Einschätzung der Lage? Kennt die Bundesregierung den Täter, traut sich aber aus diversen Gründen nicht, dies öffentlich kundzutun?

Die Bundesregierung gibt jedenfalls selbst zu, dass sie mehr weiß, als sie öffentlich sagt. Kollegen im Bundestag und auch ich selbst haben sie mehrfach dazu befragt und immer wurde die Antwort verweigert, nicht, weil man vorgab, nichts zu wissen, sondern „aus Gründen des Staatswohls“.
Wer eins und eins zusammenzählen kann, dürfte keinen großen Zweifel daran haben, wer die Pipeline gesprengt hat. Zumal Biden das ja faktisch in der Pressekonferenz mit Scholz angekündigt hat.
Die russisch-deutschen Pipeline-Projekte waren den Amerikanern immer ein Dorn im Auge, schon zu Beginn der Zusammenarbeit in den achtziger Jahren.
Und tatsächlich gibt es auch nur einen großen Profiteur: Alle Experten sind sich einig, dass das nunmehr aus Europa verbannte preiswerte russische Gas in Zukunft nahezu vollständig durch das sehr viel teurere US-amerikanische Flüssiggas ersetzt wird.

Im Zusammenhang mit Nord Stream, dem Sanktionsregime und dem Krieg in der Ukraine erreichten uns viele Leserzuschriften mit einer Frage an Sie, die sich so zusammenfassen lässt:
Wie können wir, Deutschland und EU, uns aus der desaströsen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Hörigkeit und Abhängigkeit von den USA lösen?
Was bräuchte es, um dies überhaupt zu einem realistischen Szenario zu machen?

Also, in erster Linie bräuchte es einen Bundeskanzler mit Rückgrat. Und Koalitionspartner, die ihn dabei unterstützen.
Auf europäischer Ebene sollte die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit Ländern wie Frankreich suchen, die sich traditionell ein unabhängigeres, souveränes Europa wünschen.

Die wohl unangenehmste Frage für Sie haben wir uns in alter Tradition für den Schluss aufgehoben. Wie bereits erwähnt, hatten wir im Vorfeld des Interviews unseren Lesern angeboten, uns Fragen an Sie zuzuschicken.
Die Reaktion war geradezu überwältigend, uns erreichten über 350 Fragen. 84 davon, also 24 Prozent der eingegangenen Zuschriften, hatten folgendes Thema in unterschiedlichen Frage-Formulierungen zum Inhalt: „Wann gründen Sie endlich Ihre eigene Partei?“, „Warum haben Sie noch keine eigene Partei gegründet?“, „Was hindert Sie daran, eine neue Partei zu gründen?“, „Wird zu den Europawahlen eine neue Bewegung/Partei unter Mitwirkung von Ihnen antreten, die sich kompromisslos gegen Waffenlieferungen und Sanktionen stellt, oder bleibt es beim Schaulaufen?“.

Das ist eine wichtige Frage, über die ich natürlich, wie viele andere, nachdenke. Es ist ja tatsächlich so, dass es eine riesige Leerstelle im politischen System gibt.
Die Linkspartei fällt als relevante Kraft für Frieden und Gerechtigkeit nach dem Urteil vieler Wähler aus, seit die Parteispitze die woken Grünen kopiert und bei wichtigen Themen Angst vor der eigenen Courage hat.
Insofern wäre da schon Bedarf für eine neue Partei, die rund 30 Prozent der Menschen endlich einmal wieder eine Stimme gibt.
Aber es ist in Deutschland nicht leicht, eine neue Partei zu gründen. Es gibt viele Fallstricke. So ein Projekt ohne solide Vorbereitung zu beginnen, hätte wenig Aussicht auf Erfolg.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Jürgen Kuczynski – Ein Jahrhundertleben

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine schöne Reminiszenz über den Wuppertaler in der jungen Welt, der mich nochmal dazu ermuntert hat, das Buch: „Gespräche mit meinem Urenkel“ in die Hand zu nehmen:
https://www.jungewelt.de/artikel/431948.ddr-%C3%B6konom-ein-jahrhundertleben.html
Auszüge:

Am 6. August 1997 starb Jürgen Kuczynski. Noch leben Schülerinnen und Schüler von ihm. Immer wieder, wenn sie sich treffen, tauschen sie sich über ihn aus. Es ist zu hoffen, dass sie es nicht dabei belassen, sondern Erinnerungen an ihn aufschreiben.
Ich selbst halte mich an diese meine Aufforderung und berichte im Folgenden u. a. auch von lehrreichen Begegnungen aus den 17 Jahren zwischen 1980 und 1997, in denen ich – wie viele andere ja auch – die Freude hatte, ihn persönlich zu kennen.
Wichtiger aber ist wohl, Tatsachen wieder hervorzuheben, die zwar früh bekannt waren, aber in der öffentlichen Wahrnehmung vergessen oder als nicht so wichtig wahrgenommen, ja verworfen wurden.

Das theoretische Fundament

Hierher gehört das theoretische Fundament von Jürgen Kuczynskis riesigem Werk »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«. 1926 bis 1929 arbeitete er in den USA für die Gewerkschaft American Federation of Labor (AFL). Auf der Überfahrt dorthin stellte der 22jährige Überlegungen zum Relativlohn an. Was war das?

Den Begriff des relativen Lohns hatte Karl Marx 1849 einmal im Vorübergehen erwähnt, sich aber dann nicht weiter damit befasst. Das ist kein Wunder, denn sein Hauptwerk heißt ja »Das Kapital« und nicht »Das Proletariat«. Letzteres spielt die zentrale Rolle in Marx’ politischen Schriften, aber nicht in seinen ökonomischen.
Das Proletariat ist Produkt des Kapitals, auch wenn es dieses durch seine Arbeit aus sich hervorbringt, ein klarer Fall von Dialektik.
Im Buch »Das Kapital« muss sich Marx den Kopf der Kapitalisten zerbrechen, und was diese, die Unternehmer, zu interessieren hat, ist die Rendite = der Profit. Als dessen Kern identifiziert Marx den Mehrwert, also den Teil des Werts der Ware, der nicht den Lohn- oder Gehaltsabhängigen, sondern den Kapitalisten zufließt. Teilt man ihn durch den Lohn, ergibt sich die Mehrwertrate.

Auf die sind die Unternehmer(innen) scharf. Was aber interessiert die Arbeiter(innen)? Antwort: der Reallohn, das, was sie sich für ihren Lohn kaufen können.
Der junge Jürgen Kuczynski fragte darüber hinaus noch nach etwas anderem: eben nach dem Relativlohn und seiner Rate. Die ergibt sich, wenn wir den Lohn über den Bruchstrich, in den Zähler, setzen, und darunter, in den Nenner, den Gewinn. Dann wird wieder dividiert. Heraus kommt das Umgekehrte der Mehrwertrate, eine Lohnrate, die er anders nannte, nämlich den Relativlohn.

Jürgen Kuczynski stellte also gleichsam das Kapital und dessen Analyse, das Buch »Das Kapital« von Karl Marx, vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf, wie man will, jedenfalls vom Mehrwert auf den Relativlohn.
Die uns geläufigere Lohnquote ist etwas anderes: Sie ist der Anteil von Löhnen und Gehältern am gesamten Volkseinkommen.

Vorstehendes kennen wir aus den »Kapital«-Lesekreisen, sozusagen der Klippschule. Es wird hier wiederholt, weil es heute wohl nicht mehr so häufig gelernt wird.
Dann muss auf Altbekanntes neu geblickt werden – wie jetzt auch wieder auf die Erkenntnisse des Jürgen Kuczynski in Zeiten wachsender Ungleichheit, in denen die Verbraucher(innen), in der Mehrheit Lohn- und Gehaltsabhängige, die Profite von Erdgas- und -ölimporteuren per Umlage stützen müssen und gleichzeitig die Gewinne der Energieunternehmen durch die Decke gehen.

Mit seinen Überlegungen zum Relativlohn hatte Jürgen Kuczynski das Thema seines wissenschaftlichen Lebens gefunden: »Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«, und zwar im Verhältnis zum Reichtum der Kapitalistenklasse. Dies war ein gewaltiges Programm, das ihn in den nächsten viereinhalb Jahrzehnten beschäftigen sollte. Am Ende standen die 40 Bände seines Werks über die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus.

Politik

Sofort nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1930 wurde er Redakteur der Roten Fahne, ihres Zentralorgans.
Ab 1933 war er im Widerstand, und zwar mit den Mitteln eines Statistikers und Sozialwissenschaftlers. Er sammelte Daten über die Lage der breiten Volksmassen im Reich, und seine Berichte fanden den Weg zu einem TASS-Korrespondenten, zur sowjetischen Botschaft oder zur Handelsvertretung der UdSSR.

In der Emigration (seit 1936) gründete Jürgen Kuczynski 1943 den »Initiativausschuss für die Einheit der deutschen Emigration«. Er war in der Leitung der KPD im britischen Exil und arbeitete für den Deutschen Freiheitssender 29,8.
Im Krieg war er in US-amerikanischer Uniform als Statistiker bei der Auswertung der Folgen der Bombenangriffe beschäftigt.

Das ist seit langem bekannt. Undeutlicher blieb in der Überlieferung eine Aktivität, mit der Jürgen Kuczynski nachgerade an der ganz großen Politik beteiligt war:
Er brachte seine Schwester Ursula, die für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete, mit dem Physiker Klaus Fuchs zusammen. Dieser war im US-amerikanischen Manhattan Project an der Entwicklung der US-amerikanischen Atombombe beteiligt. Sie wurde dessen Führungsoffizierin.
Ihr übergab Fuchs seine Informationen über die US-amerikanische Atombombe, wodurch das Kernwaffenmonopol der Vereinigten Staaten gebrochen wurde.
Näheres findet sich in einem 2020 erschienenen Buch, dessen deutsche Übersetzung für Oktober 2022 angekündigt ist¹ und das in diesem Punkt über ihre eigene Darstellung mit dem Titel »Sonjas Rapport«, die sie 1977 unter ihrem Schriftstellerinnennamen Ruth Werner veröffentlichte, hinausgeht.

Nachdem Jürgen Kuczynski als Oberstleutnant der US-Armee 1945 nach Deutschland zurückgekehrt und im selben Jahr in die sowjetische Besatzungszone hinübergewechselt war, bekleidete er dort bzw. in der 1949 gegründeten DDR höhere politische Funktionen. Nach der Vereinigung von KPD und SPD im Osten zur SED 1946 gehörte er dieser an.
Noch 1945 war er Präsident der Zentralverwaltung für Finanzen geworden. Das endete im gleichen Jahr mit seiner Berufung zum Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.
Ab Juni 1947 stand er an der Spitze der »Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion«, aus der später die »Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft« hervorging. 1950 verlor er dieses Amt als Fernwirkung einer antisemitischen Welle in der UdSSR.
Aber im selben Jahr wurde er in die Volkskammer gewählt.

Einen Knick erfuhr sowohl seine Hochschul- als auch seine politische Laufbahn 1956/1957. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU hatte Jürgen Kuczynski versucht, Irrtümer zu korrigieren und auch in der Geschichtswissenschaft eingefahrene Ansichten zu lockern. Eine seiner Publikationen hatte mit seinem Spezialgebiet, den Volksmassen, zu tun. Er äußerte die Ansicht, dass die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag am 4. August 1914, als sie den Kriegskrediten zustimmte, sich nicht im Widerspruch zur Mehrheit der Mitglieder befand, diese seien vielmehr selbst vom nationalistischen Taumel ebenso gepackt gewesen wie die Bürger und Kleinbürger. Er billigte dies nicht.
Denn er war mittlerweile nicht nur Marxist, sondern auch Leninist und der Ansicht, Aufgabe der Leitung einer Partei sei nicht, hinter ihrer Basis herzulaufen, sondern sie zu führen und rechtzeitig zu erziehen, damit so etwas nicht passieren könne. Zugleich musste er doch konstatieren, dass es anders war, als es die parteioffizielle These vom Verrat an der Basis bisher propagiert hatte.

Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn 1956 war es mit dem Tauwetter vorbei, und Jürgen Kuczynski wurde Ziel einer Kampagne, an der sich auch Historiker der jüngeren Generation beteiligten. Er sollte aus der Liste der Mitglieder der SED gestrichen werden. Das wäre für ihn schlimmer gewesen als ein Ausschluss, denn er wäre dann so behandelt worden, als sei er nie Mitglied gewesen.

Eine Zeitzeugin berichtete Jahrzehnte später mündlich folgendes aus einer Sitzung einer Parteigruppe: Ein Angriff nach dem anderen sei dort gegen ihn vorgetragen worden. Er wurde zu Stellungnahme und Selbstkritik aufgefordert. Schließlich erhob er sich von seinem Platz und ging nach vorn, in der Hand ein Blatt Papier. Es war ein Brief aus dem Kieler Weltwirtschaftsinstitut und enthielt das Angebot an ihn, dorthin überzuwechseln. Man kenne seine Arbeiten und würde sich freuen, wenn er sie im Westen fortsetzen werde. Jürgen Kuczynski las das vor, teilte mit, dass er dieser Einladung nicht folgen würde, ging an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.

Letztlich hatte er in der Krise von 1956/1957 Glück im Unglück. Aus der Mitgliederliste der SED wurde er nicht gestrichen. Es kam zu einem Arrangement, wonach er keine Vorlesungen mehr hielt und sich darauf konzentrierte, seine Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, von der es ja schon umfangreiche Einzelbände als Vorstudien gab, niederzuschreiben.
Er vermutete, man habe ihn damit nicht nur frei-, sondern auch stillstellen wollen, denn man habe angenommen, mit dieser Arbeit werde er zu seinen Lebzeiten nicht fertig werden. Was seine Kontrahenten nicht wussten, war: Er hatte seine Stoffsammlungen schon so weit vorangetrieben, dass er die 40 Bände bis 1972 abschließen konnte. Allerdings bedauerte er, dass er keinen unmittelbaren Kontakt zur heranwachsenden Generation der Studierenden mehr haben konnte.

Wirkungen im Westen

In der Öffentlichkeit blieb Jürgen Kuczynski dennoch präsent, und zwar in Ost und West. Internationales Ansehen hatten das von ihm geleitete Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und dessen Jahrbuch.
1964 trat er im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Gutachter der Nebenklage auf und belegte die Zusammenarbeit zwischen IG Farben und der SS. Er erhielt Einladungen zu Vorträgen und Gedankenaustausch in der Bundesrepublik sowie in anderen Ländern und konnte diesen folgen, insbesondere nach seiner Emeritierung.
In den Bibliotheken der BRD und insbesondere in deren historischen Seminaren beobachteten die Studierenden, wie die Regale, in denen seine »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« stand, sich im Laufe der Jahre Band um Band füllten.
Sehr populär wurden die fünf, dann sechs Bände der »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« *)

Ergebnisse seiner überbordenden Produktivität drangen schon vor 1989 auch in das Kapillarsystem des intellektuellen Alltags in der Bundesrepublik ein.
Hierfür ein Beispiel: 1974 berichtete der Spiegel amüsiert, wie die CDU Wahlkampf zu machen versuchte, indem sie ihn als Gottseibeiuns präsentierte.
Springers Welt hatte kurz vorher enthüllt, dass in Materialien für den Sozialkundeunterricht, die das Hessische Kultusministerium den Lehrerinnen und Lehrern an die Hand gab, auch Quellen enthalten waren, die Jürgen Kuczynski in seiner »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« erstmals veröffentlicht hatte. Es handelte sich um Originaltexte zur Situation von Kindern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Allerdings hatten die Beamten des Kultusministeriums verschwiegen, wo sie zuvor gedruckt worden waren. Deshalb angegriffen, verteidigten sie sich so: »Es sollte verhindert werden, dass die Diffamierung des Fundorts der Quellen von vornherein die Diskussion um ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit blockiert.«²
Die hessische CDU, die sich im Landtagswahlkampf 1974 befand, machte daraus einen Fall von kommunistischer Unterwanderung und verlor.

Verwunderungen über J. K.

1976 lud das Institut für wissenschaftliche Politik in Marburg Jürgen Kuczynski zu einem Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstags von Wolfgang Abendroth ein.
Da war er verhindert.
1979 gab es einen Riesenkrach unter den Historikern der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik. Sein Gegenstand war ein Buch »Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung«, verfasst von Lehrenden und Lernenden an der Marburger Universität.³
Man warf uns, den Herausgebern, Einseitigkeit der Kritik am Verhalten von SPD und Gewerkschaften zu Beginn des Ersten Weltkriegs und am Ende der Weimarer Republik vor. Fast die gesamte einschlägige Historikerzunft stand gegen uns. Wir suchten Verbündete und wandten uns an Jürgen Kuczynski mit der Bitte um eine Stellungnahme.
Er lehnte ab und begründete dies so: Wenn ausgerechnet ein Historiker der DDR uns verteidige, gerieten wir letztlich noch mehr unter Beschuss.

Dass unsere Bitte ungeschickt, ja sogar taktlos war, hätten wir bei etwas mehr Sachkenntnis selber merken müssen: 1956/57 hatte Jürgen Kuczynski ja seinerseits Schwierigkeiten bekommen, weil er die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 anders erklärt hatte als die offizielle Geschichtsschreibung der DDR.
Wenn er sich uns nun angeschlossen hätte, konnte es sein, dass man seine Arbeit von damals gegen uns und ihn selbst in Stellung brachte.

Immerhin waren wir nun in Kontakt und luden ihn zu einem Vortrag nach Marburg ein. Dieser erste Besuch im Juni 1980 war für mich voller Überraschungen.
Mit großer Schärfe urteilte er über die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Nein, hier werde Parteilichkeit über die Wahrheit gestellt, und das gehe überhaupt nicht.

Nach seinem Vortrag in einem überfüllten Hörsaal über die »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« sprach sich herum, dass zur gleichen Stunde im selben Gebäude der Universität der Dichter Erich Fried eine Lesung hatte. Für Jürgen Kuczynski gab es kein Halten mehr. Er eilte durchs Haus, bis er ihn gefunden hatte. Die beiden begrüßten sich sehr herzlich. Sie kannten sich aus der britischen Emigration.
1977 war Rudolf Bahro verhaftet und 1978 in der DDR zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Erich Fried hatte sich an einer Solidaritätsbewegung für ihn beteiligt und sich scharf von der DDR distanziert. Die Bahro- und die Biermann-Frage waren damals Themen einer unerbittlichen Fraktionierung zwischen Kommunisten, Nichtkommunisten und Antikommunisten in der westdeutschen Linken. Dass man danach wieder unbefangen miteinander reden könne, schien ausgeschlossen. Jetzt aber große Freundlichkeit.

Ich lernte an diesem Abend bei Jürgen Kuczynski eine imponierende Art von Souveränität kennen. Er wusste, wohin er gehörte und wem seine Solidarität galt, auch in den vielfältigen Fraktionskämpfen der damaligen Zeit. Zugleich war er Mitglied einer wissenschaftlichen und zivilisierten Ökumene, einer Linken im darüberhinausgehenden Sinn, für die das tagespolitische Hin und Her nur eine Abfolge von Episoden war. Nach diesem ersten Besuch in Marburg 1980 kam Jürgen Kuczynski immer wieder nach Marburg, zuletzt 1992.

Aus seinen Äußerungen bei diesen Besuchen ließen sich Wandlungen in der DDR und in seiner Haltung zu ihnen erfahren. 1983 führten wir in seinem Haus in Berlin-Weißensee ein Interview mit ihm, das ein Jahr später als Buch erschien.⁴
Gleich zu Anfang sagte er, in seiner Jugend sei er sicher gewesen, dass der Sozialismus zwangsläufig kommen werde. Heute wisse er, dass dies lediglich ein Glaube gewesen sei. An dessen Stelle sei nun lediglich Hoffnung getreten, aber keine wissenschaftlich errechenbare Unvermeidlichkeit mehr.
Wörtlich sagte er, dass er »bis zum Zweiten Weltkrieg, bis ich begriff, was ein Nuklearkrieg bedeutet, nicht optimistisch war, sondern sicher war, dass der Sozialismus siegen wird. Kein Mensch ist optimistisch in bezug darauf, ob sich das Fallgesetz durchsetzt, und ebensowenig war ich optimistisch in bezug darauf, dass der Sozialismus, trotz großer Schwierigkeiten und gelegentlich auch Niederlagen, siegen wird und für die Menschheit ein, wie es der Dichter Erich Weinert einmal ausdrückte, zweites Kapitel der Weltgeschichte beginnen wird (…) Heute habe ich nun Optimismus, d. h. nicht mehr die Gewissheit, dass ein Gesetz sich durchsetzt, sondern die ganz starke Hoffnung, dass die Menschheit in Frieden überleben und sich weiterentwickeln wird.«

gorbatschow

Gorbatschow

Ab 1985 setzte er große Erwartungen in die Politik Michail Gorbatschows. Wenn er in dieser Zeit an die Lahn kam, konnte es geschehen, dass er vorab darum bat, die deutsche Ausgabe einer so­wjetischen Zeitschrift zu besorgen, die wieder einmal nicht in der DDR ausgeliefert worden war.
Im Juni 1989 stellte er in Marburg sein Buch »Das Jahr 1903« vor – über das letzte Jahr vor seiner Geburt also, vor 1904. Das war originell und ließ schließen, dass er nebenbei zeigen wollte, wie ein Lebenskreis sich schloss. Ebenfalls 1989, gleichsam zu seinem 85. Geburtstag, veröffentlichte er das Buch »Alte Gelehrte« – eine Lobpreisung des Alters. Alles sah nach einem goldenen Lebensabend aus.

Es kam anders. Während er in Marburg war, Anfang Juni 1989, wurden die Proteste am Tiananmen-Platz in Beijing niedergeschlagen. Jürgen Kuczynski war kaum vom Radio wegzubekommen. In der Universität hielt er auch einen Vortrag über die wirtschaftliche Lage in der DDR. Ich sehe ihn noch auf dem Podium im Hörsaal sitzen und höre ihn sagen: »So kann es nicht weitergehen.«
Verblüfft stellte er fest, dass ihm nach Abschluss seines Buchs über das Jahr 1903 kein Thema für ein neues mehr einfiel. Das war ihm noch nie passiert. Der Stoff schien ihm ausgegangen. Das änderte sich innerhalb weniger Monate. Mit dem Ende der DDR hatte er mehr zu analysieren und zu schreiben, als ihm lieb war.

Nach 1989

Kuczynski_UrenkelIn seinem 1977 geschriebenen, aber erst 1983 veröffentlichten Buch »Dialog mit meinem Urenkel« hatte Jürgen Kuczynski 1977 zu wissen gemeint, was die DDR war: eine im Ganzen gute Sache mit 1.000 Fehlern. 1996, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte er einen Nachfolgeband. Sein Titel: »Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel«. Hier kam er zu dem Ergebnis, die DDR sei ein missglückter Staat mit 1.000 großen Leistungen im kleinen gewesen. Sich selbst warf er Blindheit vor.
In seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist er, so scheint es, nicht mehr fertig geworden. Man könnte auch sagen: Das war ja nicht sein wissenschaftliches Spezialgebiet, sondern der Kapitalismus, und dieses Thema beherrschte er. Hier hatte er einen Vorteil vor denjenigen seiner Kolleginnen und Kollegen, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren waren, irgendwann nach 1945 gleichsam in den Sozialismus der DDR hineingewachsen waren, nichts anderes kannten und denen alternativlos eine Welt zusammenbrach.
41 Jahre, von 1904 bis 1945, hatte er im Kapitalismus gelebt, 44 Jahre, von 1945 bis 1989, erst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR. Es folgten knapp acht Jahre, von 1989 bis 1997 in einem Landstrich, der in den Kapitalismus zurückgekehrt war. Da kannte er sich aus wie vor 1945, und er nahm eine Arbeit wieder auf, die er ja auch in der DDR nie aufgegeben hatte.
Im Institut für Wirtschaftsgeschichte hatte er den Kapitalismus bearbeitet, für die sozialistische Wirtschaft waren andere zuständig gewesen und hatten gute Arbeit geleistet, vor allem sein 36 Jahre jüngerer Kollege Jörg Roesler. Jürgen Kuczynski aber wurde wieder, was er am Anfang der 30er Jahre gewesen war: ein scharf analysierender Zeitgenosse des aktuellen Kapitalismus und ein politischer Journalist.
Er war sich nicht zu fein, auch für kleinste sozialistische Blätter, wie sie teils – arg geschrumpft – weiter bestanden, teils neu gegründet wurden, zu schreiben. Das kannte er von seiner Zeit bei der Roten Fahne.

Nur wenige Jahre hatte sein Publikum sich von ihm abgewandt. War man ihm bis 1989 für seine Kritik an Fehlentwicklungen in der DDR dankbar gewesen, so warfen ihm diejenigen, die sich bis dahin an ihm aufgerichtet oder auch nur hinter ihm versteckt hatten, nun vor, nicht unverblümt genug gewesen zu sein und in seiner Eigenschaft als – wie es hieß – »linientreuer Dissident« sogar auf diesem Umweg Loyalität erzeugt zu haben.
Das ging auch anderen so, Volker Braun, Stephan Hermlin und Christa Wolf.

Nach einiger Zeit legte sich das. Auf Jürgen Kuczynski wurde wieder gehört, weil er seinen zunächst so euphorischen ostdeutschen Landsleuten in der früheren DDR zeigen konnte, was das für eine Gesellschaft war, in die sie nun hineingekommen waren. Und auch im Westen steckte er vielen ein Licht auf.
Thema seines letzten Vortrags in Marburg 1992 war die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland. Für einige besonders groteske Beispiele von Deindustrialisierung und Abwicklung hatte er einen Ausruf parat, der in jenen Jahren bei ihm häufig wurde: »sagenhaft«.
Nach dem Vortrag sagte er zu mir: »Das ist eine interessante Zeit. Viel zu aufregend zum Sterben.«

Als er fünf Jahre später dann doch starb, lagen auf seinem Schreibtisch drei fertig geschriebene Artikel, von drei verschiedenen sozialistischen Blättern bestellt und ihnen zugesagt, einer davon für die junge Welt. Sie mussten nur noch in Umschläge gesteckt und versandt werden, und sie erschienen in den nächsten Tagen und Wochen.

Marguerite Kuczynski starb am 15. Januar 1998. Sie und Jürgen Kuczynski hatten den René-Kuczynski-Preis für hervorragende Arbeiten auf dem Gebiet der internationalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte gestiftet.
Seit 1996 wird er wieder verliehen. Über das eigene Leben des Namensgebers und der Stiftenden hinaus soll so dazu beigetragen werden, dass ihr Werk fortgesetzt wird. Am 2. September 2015 wurde in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung in Weißensee ein Jürgen-Kuczynski-Park eingeweiht.

Es tut sich also etwas. Einiges wird wohl noch hinzukommen. Seine Korrespondenz und sein Nachlass sind bislang unerschlossen.

Anmerkungen

1 Ben Macintyre: Agent Sonya. The True Story of WW2’s Most Extraordinary Spy. Penguin Books, Dublin 2020

2 https://www.spiegel.de/politik/thema-familie-a-0bf46de6-0002-0001-0000-000041784630

3 Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Köln 1977

4 Ein Gespräch mit Jürgen Kuczynski über Arbeiterklasse, Alltag, Geschichte, Kultur und vor allem über Krieg und Frieden. Marburg 1984

*: Das Werk habe ich, es steht interessantes zum 30jährigen Krieg und der Umgebung von Nördlingen drin.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Historiker Götz Aly: Befreiung 1945 – Deutsche Ignoranz beleidigt Russland

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Guter Kommentar des aus ZDF-History bekannten Geschichtsforschers: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/das-dankesfest-am-89-mai-wie-aber-feiern-li.81632
Auszüge:

Es war die Sowjetarmee, die die Deutschen von den Nationalsozialisten befreit hat. Die deutsche Politik kann sich nicht überwinden, Russland zu danken. Das ist eine Schande.

Im Sommer 2019 besprachen Bundesregierung und Bundespräsidialamt vage, wie sie 2020 den 75. Jahrestag des Kriegsendes gestalten könnten. Mit der Koordination beauftragten sie den Innenminister, der irgendetwas mit ökumenischem Gottesdienst, Rede und Kranzniederlegung plante.
Als sich Die Linke im November nach dem Stand der Dinge erkundigte, antwortete die Regierung, sie werde „zu gegebener Zeit“ informieren (1).
Immerhin gab sie zu, dass Staatsministerin Grütters außer einer kleinen Sonderausstellung in Karlshorst keine Pläne hege und die Verteidigungsministerin keine „speziellen Veranstaltungen“ in den Kasernen der Bundeswehr vorsehe. Womöglich ist es ihr neu, dass Deutschland als Anstifterin des Zweiten Weltkrieges mehr als 18 Millionen deutsche Männer mobilisierte, die plündernd und zerstörend über Europa herfielen.

Ferner teilte die Regierung mit: Die russische Regierung habe die Kanzlerin und den Bundespräsidenten zur „Gedenkveranstaltung am 9. Mai in Moskau eingeladen“. Doch ließen die Eingeladenen, die historisch auch die einstigen Rassenkrieger repräsentieren, dazu lediglich verlauten: „Eine Teilnahme wird derzeit geprüft.“
Die russische Bevölkerung musste die Nichtantwort als ein „Ihr-könnt-uns-mal“ verstehen. Gewiss bleiben uns dank Corona auch einige Peinlichkeiten erspart.

Man mag von Präsident Putin halten, was man will, aber in diesen historischen Zusammenhängen vertritt er die Völker Russlands, die Familien, die Jungen und die Alten. In dieser Eigenschaft war er im vergangenen Juni absichtlich nicht zur Feier des 75. Jahrestags der Landung westalliierter Streitkräfte in der Normandie eingeladen worden.
Am 27. Januar 2020 hatte man ihn von der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz vorsätzlich ausgeschlossen. Und das, obwohl sowjetische Soldaten diese urdeutsche Mordstätte unter unermesslichen Opfern befreit hatten.

Neuerdings wird immer wieder gezielt gestreut, die „I. Ukrainische Front“ (der Sowjetarmee) habe sich nach Auschwitz vorgekämpft. Richtig!
Damit soll jedoch vorgegaukelt werden, hauptsächlich Ukrainer seien die Befreier gewesen. Lüge! Tatsächlich handelte es sich um Einheiten, die so benannt worden waren, weil sie zuvor die deutschen Völkermörder aus der Ukraine vertrieben hatten.
Im Gegensatz zu Wolfgang Schäuble kolportierte Bundespräsident Steinmeier am 29. Januar bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag die Mär von der „I. Ukrainischen Front“ (mit Betonungspause).
Sie beleidigt Russen und die anderen Völker der ehemaligen Sowjetunion.

Derzeit wird es am 8. und 9. Mai schwierig, denjenigen zu danken, die unsere Stadt befreiten. Von wem eigentlich? In unseren Gedenkstätten lesen wir „vom Naziregime“.
In Wahrheit mussten die meisten Deutschen von sich selbst befreit werden.

Liebe Leserinnen und Leser, schicken Sie uns bitte Ihre Ideen, wie es trotz der notwendigen Abstandsgebote gelingen kann, möglichst viele Blumen zu den Ehrenmälern der Roten Armee zu befördern – sei es im Tiergarten, im Treptower Park oder in der Schönholzer Heide.
Wie kann Berlin trotz aktueller Beschränkungen seinen Dank an die Anti-Hitler-Koalition in die Welt schicken und den Kindern und Kindeskindern der Soldaten mitteilen – in Wort und Bild, in Reden und Musik?
1: https://www.reguvis.de/fileadmin/Betrifft-Recht/Dokumente/edrucksachen/pdf/1915287.pdf

Auf dem Nördlinger Friedhof gibt es einen Gedenkstein, der an ermordete russische Kriegsgefangene erinnert.
Die Offene Linke Ries wird dort sicherlich eine kleine Gedenkveranstaltung durchführen.

Jochen

Die pro-israelische Linke Deutschlands hat ein neues Ziel im Fadenkreuz: Juden ! – Haben sich Rüstungslobby und israelische Regierungsbeamte erfolgreich mit kriegsfreundlichen Stadtpolitikern verabredet ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

paul findleydie israel lobby

paul findley die israel lobby

Das folgende lesend muss ich mich für etliche Parteigenossen schämen.
Es ist erschreckend, wie die neue „Sprachregelung“, jede Kritik der israelischen Regierung als Antisemitismus zu diffamieren, um sich greift.*)
Wer genau hinhört, findet diesen Tenor auch in der Rede des Bundespräsidenten zum Holocaust-Gedenktag.

Ebenso erschreckend, wie es mit Hilfe dieses Vorwurfs gelungen ist, die Münchner Friedenskonferenz zu torpedieren, obwohl dort das Thema Israelkritik nur ganz am Rande vorkam.
Die Veranstalter hatten den Vorschlag der Stadt für einen demagogischen, bellizistischen, opportunistischen Redner abgelehnt. Ganz zufälliger Weise war dieser Jude.
Sofort und unter EInschaltung der BILD-Zeitung und anderer Leim-Medien ging der Scheißsturm los.
Mir erscheint das als eine ganz perfide Inszenierung. Es ist erbärmlich, wie sich dieser Politiker hat vorschicken lassen, so spielt er den Kriegsplänen von NATO und Bundesregierung in die Hände.
Die Vermutung liegt nahe, dass sich da Rüstungslobby und israelische Regierungsbeamte erfolgreich mit kriegsfreundlichen Stadtpolitikern verabredet haben.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendjemand mit zufälligerweise jüdischer Religion heute beliebige Hetze und Lügen verbreiten darf, ohne dass ein Nichtjude es wagen darf, ihn zu kritisieren.
Mit dieser „Antisemitismuskeule“ ist die Unterdrückung jeder Diskussion möglich, die irgend einem Menschen jüdischen Glaubens nicht passt. Dazu habe ich hier bereits Stellung genommen: https://josopon.wordpress.com/2019/02/18/israelkritik-unerwunscht-meinungsfreiheit-in-deutschland-in-gefahr/ und hier:
https://josopon.wordpress.com/2019/12/17/antideutsche-propagandatruppe-ruhrbarone-starten-hetzkampagne-gegen-israelische-menschenrechtsanwaltin/

Und hier der Artikel

Aus Haaretz:

Die pro-israelische Linke Deutschlands hat ein neues Ziel im Fadenkreuz: Juden

Ideen und Meinungen, die in der israelischen Wissenschaft frei geäußert werden können, werden in Berlin unter Führung der Antideutschen Bewegung eine große Gegenreaktion auslösen.

Ofri Ilany

23. Januar 2020 15:07 Uhr

Demonstration in Berlin aus Protest gegen die Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung

Da die offizielle Veranstaltung in diesem Jahr voll und voller Sicherheitskräfte war, zog ich es vor, zur Protestkundgebung zu gehen, die auch interessanter klang. Sie wurde als eine antinationale Demonstration angekündigt, die vor den Gefahren eines patriotischen Diskurses über die „nationale Einheit“ warnte.
Aber als ich dort ankam, war ich überrascht zu sehen, dass viele der Protestierenden israelische Flaggen schwenkten. Thomas war einer von ihnen. Er rannte mit der blau-weißen Flagge durch die Straße.
Die Präsenz der israelischen Flagge hat mich verblüfft – schließlich war der deutsche Staat, gegen den er demonstrierte, jahrzehntelang einer der größten Unterstützer Israels gewesen.
Thomas erklärte: „Ich bin ein Antinationalist und hasse jede Flagge, außer der israelischen, weil Israel die Antwort auf den Faschismus ist“. Dann  schloss er sich den anderen Demonstranten an und brüllte: „Opa, Oma, hört auf zu jammern – ihr seid Kriminelle, keine Opfer.“

Das war meine Einführung in das politische Phänomen, das als AntideutscheAnti-Deutsche – bekannt ist.
Es begann in den späten 1980er Jahren als exotischer Ableger der maoistischen Linken, deren Mitglieder unter dem Slogan „Deutschland, nie wieder“ die eigentliche Legitimität einer deutschen Nation nach dem Nationalsozialismus verleugneten.
Aber in den letzten zwei Jahrzehnten hatten die Antideutschen vor allem eines im Blick: einen hemmungslosen Angriff auf jeden, der der israelischen Politik auch nur ein bisschen kritisch gegenübersteht.
Nach ihrer erstaunlich vereinfachten Herangehensweise ist der Antisemitismus die Quelle allen Übels, Israel ist die Antwort auf den Antisemitismus und damit das absolute Gut.
Daher gab es bei Demonstrationen und in Facebook-Posts dieser linken Gruppe sogar Aufrufe zum Abwurf einer Atombombe auf Gaza – also Aufrufe zum Völkermord.

Die Absurdität hört damit nicht auf. Selbst ein Aufruf zur Regulierung der deutschen Finanzmärkte stellt in den Augen der Antideutschen Antisemitismus dar, weil sie glauben, dass er auf eine Verschwörung von „jüdischen Bankiers“ und „internationalem Zionismus“ hindeutet.
Die Intellektuellen dieser Gruppe greifen auch die Meditationsversammlungen von Frauen an, bei denen die Teilnehmerinnen sich an den Händen halten und sich mit der Großen Mutter verbinden, und definieren sie als heidnische Riten, die gegen den jüdischen Monotheismus gerichtet sind.

Die hebräischsprachige Wikipedia bezeichnet die Antideutschen als „anti-nationalistische kommunistische Bewegung“. Aber es ist schwer, sie als Kommunisten zu definieren, geschweige denn als Antinationalisten.
Antideutsche kommen nicht nur von links; viele kommen von der neoliberalen Wirtschaftsrechten und einige sind sogar bereit, sich der rechtsextremen Partei AfD anzuschließen, weil sie Israel unterstützt.

All dies klingt wie die Beschreibung eines bizarren ideologischen Kultes. Tatsächlich zählt die Antideutsche höchstens einige tausend Aktivisten.
Aber im gegenwärtigen weltpolitischen Klima wird das Marginale zentral und das Zentrale marginal. Daher ist die von diesen Menschen vertretene Weltanschauung in den letzten Jahren zu einem Phänomen geworden, das über das Anekdotische hinausgeht.
Sie hat erheblichen Einfluss in der Zivilgesellschaft und in den Redaktionen der wichtigsten Zeitungen in Deutschland und nun auch in Österreich und der Schweiz. Insbesondere in Berlin, wo es eine besonders große Konzentration von Antideutschen gibt, wird es immer deutlicher. Thomas, der begeisterte Demonstrant, ist inzwischen Akademiker und Redakteur einer einflussreichen Kulturkolumne einer deutschen Zeitung geworden.

Antideutsche Sympathisanten sind heute die treibende Kraft hinter journalistischen und sozialmedialen Angriffen auf Berliner Institutionen, insbesondere auf solche, die sich mit jüdischer Geschichte und sogar mit Antisemitismusforschung befassen.
So wurde das Jüdische Museum Berlin zum Gegenstand einer besonders hässlichen Offensive. Der Direktor der Einrichtung, der Judaistiker Peter Schaefer, wurde von israelfreundlichen Aktivisten so verunglimpft, dass er im Juni letzten Jahres zurücktreten musste. Nachdem das Museum auf Twitter eine Geschichte gepostet hatte, die eine Unterstützung der BDS-Bewegung implizierte, wurde behauptet, Schaefer unterstütze den BDS persönlich und sei daher antisemitisch.

In der Folge konzentrierten sich die Anklagen auf eine andere hochrangige Beamtin der Institution, Yasemin Shooman, die beschuldigt wurde, es gewagt zu haben, antisemitische Angriffe mit Angriffen auf muslimische Migranten zu vergleichen.
Thomas Thiel
, ein leitender Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schrieb seinerseits einen Meinungsartikel, in dem er behauptete, Shooman habe das Museum, in dem Ausstellungen zur jüdischen Geschichte und zum Holocaust gezeigt werden, zu einem aktiven Zentrum des „politischen Islam“ gemacht.

Tatsächlich ist der intellektuelle und akademische Diskurs in Deutschland heute durchweg nach der israelischen Rechten ausgerichtet. Wenn es um Israel geht, veröffentlichen die renommiertesten Medien und wissenschaftlichen Plattformen Artikel, die aussehen, als ob sie von der israelischen rechten Seite Mida gekeult worden wären.
Auch das Zentrum für Antisemitismusforschung, eine der wichtigsten Einrichtungen dieser Art in Deutschland, ist in einen öffentlichen Sturm geraten und des Antisemitismus beschuldigt worden.

Die Antideutschen wollen, dass alles, was mit Antisemitismus zu tun hat, ihrer einheitlichen und dogmatischen Linie unterworfen wird.
Paradoxerweise schüren Ideen und Meinungen, die in der israelischen Wissenschaft ohne besondere Probleme geäußert werden können, in Berlin einen großen Krawall. Wütende Deutsche, die zum Teil von Nazis abstammen, zögern nicht, jüdische und israelische Linksradikale anzugreifen. Gelehrte, die ihr Leben den Judaistikern gewidmet haben, treten vorsichtig auf, aus Angst, dass sie etwas sagen, das nicht mit dieser absurden Vorstellung von der Realität übereinstimmt.

Es sieht so aus, als könne niemand den Wahnsinn der Antideutschen aufhalten, die an pro-israelische Evangelikale oder rechtsextreme Gruppen erinnern.
Die Dinge sind an einem Punkt angelangt, an dem – selbst wenn die israelische Regierung die Vertreibung aller Palästinenser oder die Annektierung des Libanon beschließen sollte – ihre standhaften Verteidiger in den deutschen Medien jegliche Kritik an diesem Schritt verhindern könnten.

Tatsächlich sind die deutschen Verteidiger Israels nicht wirklich an Israel interessiert: Der jüdische Staat scheint der Mittelpunkt ihrer Welt zu sein, aber ihre Kenntnisse über die israelische Politik und Gesellschaft sind in der Regel sehr begrenzt.
Was sie interessiert, ist die Kultivierung ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit, die schockierende Ausmaße annimmt. Da die Nazi-Vergangenheit und der Holocaust die Grundlage der deutschen Identität der Nachkriegszeit bilden, sind sie bestrebt, ihr Selbstbewusstsein auf die ganze Welt zu projizieren.

Die Atmosphäre, die heute in Berlin, der ehemaligen Hauptstadt des Dritten Reiches, herrscht, ist besonders lehrreich, wenn man über den Stand des Diskurses über den Antisemitismus 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nachdenkt. Die Verschmelzung von Israelkritik und Antisemitismus wird immer enger. Jede andere Sichtweise wird aggressiv abgelehnt.
Die Versammlung der führenden Politiker der Welt in dieser Woche in Jerusalem zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz verkörpert diese Wirklichkeitsauffassung, die Geschichte und Moral den heutigen Interessen der israelischen Regierung unterordnet. So wird der Holocaust-Tag zum „Iran-Tag“.
Nach der neuen Version des Holocausts war Hitler lediglich der Vorläufer von Ali Khamenei, und Benjamin Netanjahu ist die zeitgenössische Personifizierung von Anne Frank.

Aber Israel ist nicht die ganze Geschichte. Der neuen deutschen Ideologie liegt offenbar ein einziger Imperativ zugrunde, der von dem Philosophen Theodor Adorno stammt: die Verpflichtung, alles zu tun, um eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern.
Das klingt gut, aber in der heutigen Zeit erweist sich diese Notwendigkeit als ein schlechter Kompass – wer sich ihr anschließt, wird auf dem Weg dorthin stolpern. Wenn sich Ihre gesamte Weltsicht um das Bemühen dreht, ein Verbrechen nicht zu wiederholen – auch wenn es das schrecklichste Verbrechen der Geschichte ist -, dann werden Sie wahrscheinlich zu absurden Schlussfolgerungen kommen.

Es stellt sich heraus, dass es unter dem Banner des Kampfes gegen den Antisemitismus möglich ist, mörderische Handlungen zu rechtfertigen, die Meinungsfreiheit zu verletzen, Juden zu besudeln und vor allem die Vernunft zu verspotten.

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator

Anmerkung: Leider greift das, was hier für Berlin beschrieben wird, mittlerweile auch in München um sich.

Es gibt Beispiele dafür, dass „Linke“ aus ihrer verbreiteten Deutschfeindlichkeit insofern Kapital schlagen, dass sie daraufhin von Vertretern israelfreundlicher Vereine zu Veranstaltungen geladen werden.
*) Die Verspottung der Vernunft ist schon aus der neuen „Antisemitismus“-Definition der IHRA ersichtlich, die A. als eine Wahrnehmungsstörung identifiziert.

 

Jochen

70 Jahre Terror – Die blutige Historie der NATO

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die blutige Historie der NATO markiert einen Tiefpunkt der Weltgeschichte

https://www.rubikon.news/artikel/70-jahre-terrornein zur nato ddr1957

von Rudolf Hänsel
Auszüge:

Die NATO wird 70. Dieses Ereignis wird in den Medien und von der Politik breit zelebriert. In den letzten Jahrzehnten hat sich die NATO ihrem Selbstverständnis nach vor allem um den „Kampf gegen den Terror” bemüht.
Doch wenn man die Maßstäbe für Terrorismus an die NATO selbst anlegt, stellt man fest, dass es sich bei ihr ebenfalls um eine terroristische Vereinigung handelt. Treffend übersetzt wäre NATO also mit „North Atlantic Terrorist Organization”.
Es wird Zeit, dass die Weltgemeinschaft ihrem schlimmsten Tyrannen das Handwerk legt.

Die Charakterisierung der NATO als „Nordatlantische Terrororganisation“ entdeckte ich auf einer normalerweise gut informierten Webseite. Laut freier Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ ist eine terroristische Vereinigung eine auf längere Dauer angelegte Organisation mehrerer Personen, die durch schwere Straftaten wie Mord und Totschlag, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen oder Völkermord Schrecken erzeugen wollen und auf diese Weise versuchen, ihre Ziele zu erreichen.
Diese Definitionsmerkmale lassen sich auch auf die US-geführte NATO übertragen — denkt man an die Blutspur, die sich durch den Mittleren und Nahen Osten, Afrika, Lateinamerika und den Balkan zieht. Warum, so fragt man sich, wird die NATO dann nicht verboten beziehungsweise aufgelöst, wie vergleichbare Terrororganisationen auch?

„Terroristische Organisation“: Definition, Straftaten, Motive und Ziele

Wegen der Schwere der Anklage soll der Wikipedia-Eintrag zu „Terroristische Vereinigung“ wortwörtlich und ausführlich zitiert werden, damit sich die Leser eine eigene Meinung bilden können:

„Eine terroristische Vereinigung (deutscher Rechtsbegriff seit 1976) oder terroristische Organisation (Vereinte Nationen, Europäische Union) ist eine auf längere Dauer angelegte Organisation mehrerer Personen (Terroristen), die durch schwere Straftaten Schrecken (lateinisch „terror“) erzeugen wollen und auf diese Weise versuchen, ihre Ziele zu erreichen. Die Bildung terroristischer Vereinigungen ist in Deutschland und vielen anderen Staaten strafbar. (…)

Terrorismus ist nach der Definition der Verfassungsschutzbehörden (in Deutschland, R.H.) der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129a Absatz 1 Strafgesetzbuch genannt sind, oder durch andere Straftaten, die zur Vorbereitung solcher Straftaten dienen. (…)

Zu den Straftaten können Verbrechen wie Mord, Totschlag, Geiselnahme, erpresserischer Menschenraub oder sogar Völkermord zählen. Ferner können auch strafbedrohte gemeingefährliche Aktivitäten wie Brandstiftung, gefährliche Eingriffe in den Eisenbahn-, Schiffs- oder Luftverkehr, Piratentum zu Wasser oder in der Luft, Massenvergiftung, Herbeiführen lebensgefährlicher Überschwemmungen, Sprengstoff- oder Strahlungsverbrechen oder die Störung öffentlicher Betriebe Gegenstand der gemeinschaftlich oder von einem Anführer oder einem Führungskader geplanten Terrormaßnahmen sein. (…)

Die Motive terroristischer Vereinigungen können einen politischen, religiösen oder sozialen Hintergrund haben. Terroristische Aktionen zielen darauf ab, eine schwere oder lang andauernde Störung des öffentlichen Lebens oder dramatische Störungen im Wirtschaftsleben zu bewirken.
Sie werden mit dem Vorsatz begangen, entweder die Bevölkerung durch bedeutsame Schrecken einzuschüchtern und/oder Staaten, staatliche Stellen oder auch internationale Organisationen (beispielsweise die Vereinten Nationen oder die europäische Union) zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder internationaler Organisationen nachhaltig zu erschüttern oder zu zerstören“
(1).

Zur Veranschaulichung des Tatbestands „Terroristische Organisation“

Da ich erst vor kurzem an der internationalen Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag der NATO-Aggression gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (FRY) in Belgrad teilnahm („Never to forget“), stehe ich noch unter dem Eindruck der vielen Kongressbeiträge, in denen der mörderische Angriffskrieg der US-geführten NATO im Jahr 1999 und die schwerwiegenden Konsequenzen für das serbische Volk auf das Schärfste verurteilt wurden.
Als besonders verheerend für Mensch, Tier und Umwelt erwies sich damals der Einsatz hochgiftiger und radioaktiver Urangeschosse. In Serbien haben daraufhin multiple Krebserkrankungen ein epidemisches Ausmaß erreicht.
In mehreren Beiträgen in der „Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ)“, im „RUBIKON“, in „RT Deutsch“ und „Global Research“ habe ich dazu ausführlich Stellung bezogen.

Diese Art von Kriegsverbrechen und Völkermord der US-NATO haben auch viele andere Länder des Mittleren und Nahen Ostens, in Afrika und auf dem Balkan erlebt.
Hinzu kam die jahrelange Verhängung von Sanktionen, eine andere Art von Krieg. Im Irak starben damals 500.000 Kinder infolge der Sanktionen.
Nicht zu vergessen sind auch das andauernde Kriegschaos und die militärische Eskalation in Libyen. Sie sind eine direkte Folge des rechtswidrigen militärischen Eingreifens der NATO im Jahr 2011.

Besonders verwerflich und gefährlich sind die von der US-NATO seit Jahren betriebene Psychologische Kriegsführung und die Hochrüstung gegen Russland.

Die NATO-Länder lassen keine Gelegenheit aus, Präsident Putin zu dämonisieren und vor einem aggressiven, kriegslüsternen Russland zu warnen, gegen das man sich nur durch militärische Aufrüstung, wirtschaftliche Sanktionen und eine militärische Einkreisung des Riesenreiches wappnen könne.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unsere in der NRhZ und anderen Online-Zeitungen erschienene und viel beachtete „Öffentliche Erklärung vom 8./9. Mai 2018“: „Wir Europäer sagen NEIN zu einem Krieg gegen Russland!“ (2).

Auf die verhängnisvolle Neigung der Nordamerikaner zur Gewalt verwies der Journalist und USA-Kenner Rolf Winter in seinem Buch „Ami go home – Plädoyer für den Abschied von einem gewalttätigen Land“ Ende der 1980er-Jahre. Diese fatale Neigung sei verbunden mit der Überzeugung, in „God’s own country“ zu leben und einen Weltordnungsauftrag zu haben.
Winter hatte sich zuvor 25 Jahre publizistisch mit den Vereinigten Staaten beschäftigt und verwandte für sein Buch ausschließlich amerikanische Quellen (3).

US-Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof

Die Regierung der Vereinigten Staaten weiß selbstverständlich um die Kriegsverbrechen der von ihnen beauftragten Militärangehörigen. Deshalb will Washington seine Leute vor internationaler Strafverfolgung schützen.
Die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof, IStGH, Fatou Bensouda (Gambia), hatte im November 2018 um eine Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen in Afghanistan ersucht. In einem Bericht vom November 2016 beschuldigt sie US-Militärs und Mitglieder des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, Häftlinge gefoltert und brutal behandelt zu haben. Die Mehrheit der Vorfälle soll sich demnach zwischen 2003 und 2004 ereignet haben.

Die USA lehnen aber Untersuchungen, die sich gegen US-Bürger oder Verbündete der USA richten, vehement ab. Bereits im September 2018 drohte US-Sicherheitsberater John Bolton mit Konsequenzen.
Im März machten die USA schließlich ernst und verhängten erste Einreiseverbote gegen Mitarbeiter des IStGH, die mit den Ermittlungen zu den möglichen Kriegsverbrechen betraut sind. Vor kurzem haben sie nun der Chefanklägerin Bensouda das Einreisevisum entzogen (4).

Quellen & Anmerkungen

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Terroristische_Vereinigung
(2) NRhZ Nr. 657 vom 27.04.2018
(3) Winter, R. (1989). Ami go Home. Plädoyer für den Abschied von einem gewalttätigen Land
(4) https://www.tagesschau.de/ausland/usa-istgh-105.html

Rudolf Hänsel, Jahrgang 1944, ist promovierter Erziehungswissenschaftler, ehemaliger Lehrer und Schulberater sowie Diplom-Psychologe mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie, Pädagogische Psychologie und Medienpsychologie. Er ist Buchautor sowie Autor von Fachartikeln zu den Themen Jugendgewalt, Mediengewalt und Werteerziehung.

Nein zum Aachener Aufrüstungsvertrag ! Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien und ein Kommentar dazu auf Makroskop

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute 2 wichtige Artikel zu diesem Elaborat der Rüstungs- und Finanzlobby:
s_dagdelenA. von MdB Sevim Dagdelen:

Gastkommentar der abrüstungspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag

https://www.heise.de/tp/features/Nein-zum-Aachener-Aufruestungsvertrag-4283180.html
Dort auch über 90 sinnvolle Kommentare
Auszüge:

Am 22. Januar 2019 wird im Krönungsaal des Aachener Rathauses der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Erweiterung des Élysée-Vertrags von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron unterzeichnet.
Der Vertrag von Aachen soll „Begegnungen und den Austausch der Bürgerinnen und Bürger“ unterstützen und eine engere Abstimmung vor EU-Gipfeln auf den Weg bringen. Deutschland und Frankreich halten demnach „vor großen europäischen Treffen regelmäßig Konsultationen auf allen Ebenen ab und bemühen sich so, gemeinsame Standpunkte herzustellen und gemeinsame Äußerungen der Ministerinnen und Minister herbeizuführen“.

Dagegen scheint nichts zu sprechen. Doch der Vertrag hat es in sich. Anders als der Vorläufer, der Élysée-Vertrag von 1963, ist der Vertrag von Aachen im Wesentlichen ein binationaler Aufrüstungsvertrag. Denn das Kernstück des Vertragswerks sind die Aufrüstung im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und eine Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie, insbesondere durch noch schwammigere Rüstungsexportrichtlinien als die bisher geltenden. Und so liest sich denn der Vertragstext wie ein gemeinsamer Militarismus à la carte.

Auch in der Reihenfolge der Artikel sind die Militarisierungsbestimmungen ganz nach vorne gerückt. Umso bemerkenswerter übrigens, dass viele Medien sie nicht einmal erwähnen in der Berichterstattung.
Gleich in Artikel 1 wird erklärt, dass man sich für das Ziel einer „wirksamen und starken Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ einsetzt. Deutschland und Frankreich sollen ihre Zusammenarbeit gerade auch in Angelegenheiten der „Verteidigung“ sowie der „äußeren und inneren Sicherheit“ vertiefen. Die Passage gipfelt dann in der Willenserklärung zur gemeinsamen militärischen Intervention.

Man wolle die „Fähigkeit Europas stärken eigenständig zu handeln“, heißt es in Artikel 3. In der Überzeugung, dass „ihre sicherheitspolitischen Zielsetzungen und Strategien sich einander zunehmend“ (Artikel 4) annähern, wird eine engere militärische Kooperation beschworen.
Zugleich wird sich konkret zur Aufrüstung verpflichtet, um „Lücken bei den europäischen Fähigkeiten zu schließen und damit die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz zu stärken“ (Artikel 4).

Die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Militäreinsätzen soll gestärkt werden. Kern der künftigen Militärachse sollen aber gemeinsame „Verteidigungsprogramme“ sein und generell die Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie durch staatliche Maßnahmen.
Im Technokratensprech des Vertragstexts wird sodann als gemeinsames Ziel formuliert, „die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern“ (Artikel 4). Eine „engstmögliche Zusammenarbeit“ beider Rüstungsindustrien wird angestrebt.
Und auch bei Rüstungsexporten zur globalen Machtprojektion soll es künftig nur noch grünes Licht geben. „Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln“, heißt es in Artikel 4.

Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien

Wem das zu abstrakt ist, der konnte den Ausführungen von Bundeskanzlerin Merkel am Wochenende entnehmen, worum es konkret geht.
Merkel dringt auf eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik mit Frankreich. Auf dem CDU-Landesparteitag Mecklenburg-Vorpommerns hatte sie angekündigt, man werde gemeinsam ein neues Kampfflugzeug entwickeln.
„Aber wer mit uns gemeinsam ein Flugzeug entwickelt, der möchte natürlich auch wissen, ob er das Flugzeug mit uns gemeinsam verkaufen kann“, so die Kanzlerin. Es gehe nicht, dass man dann sage, dass die eigenen Schrauben und Teile nicht mitexportiert werden dürften.
„So können wir nicht zusammenarbeiten. Da werden wir Kompromisse machen müssen. Darüber sprechen wir im Augenblick“, fügte Merkel hinzu. Denn heute habe Deutschland sehr strenge Exportkontrollen, andere EU-Länder seien aber weniger streng.

Der Aachener Vertrag bedeutet also nichts weniger als einen Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien, so dass man künftig beispielsweise ein gemeinsames Kampfflugzeug auch an kriegsführende Staaten wie Saudi-Arabien rechtssicher exportieren können wird.
Dazu passt, dass die bis Ende 2018 im Koalitionsvertrag angekündigte Überarbeitung und „Schärfung“ der Rüstungsexportrichtlinien aus dem Jahr 2000 bisher ausblieb. Kurz vor Jahresende sagte Merkel bei einer Regierungsbefragung im Bundestag, die Regierung wolle damit erst im ersten Halbjahr 2019 fertig sein. Honi soit qui mal y pense – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Für die deutsche Rüstungslobby ist das quasi eine Lizenz zum Gelddrucken, die in Aussicht stellt, durch eine engere Kooperation mit Frankreich endlich die verbliebenen Restriktionen loswerden zu können.
Es ist ein unheimlich anmutender imperialer Gestus, in dem der neue Vertrag verfasst ist. Während die EU und die europäische Zusammenarbeit durch die neoliberale und undemokratische Orientierung in eine immer tiefere Krise geraten, wird allein schon durch die Wahl des Ortes Aachen, fernab im Übrigen von jeder deutsch-französischen Grenze und unter Bezug auf das Reich Karls des Großen (Stichwort: Staatsakt im Krönungssaal), die ganze Mottenkiste vordemokratischer Reichsmythen bemüht, um künftige binationale imperiale Größe heraufzubeschwören.
Als wäre die Schaffung eines imperialen Kerneuropas eine Lösung der Krise der EU und nicht ihre Zerstörung.

Verzicht auf parlamentarische Kontrolle

Wo aber, so könnte man fragen, sind bei diesem Festakt des Militarismus eigentlich die Parlamente geblieben?
Die bittere Antwort auf diese Frage ist, der Deutsche Bundestag hat sich schlicht selbst entmächtigt. Im Vertrag selbst wird eine parlamentarische Kontrolle für die enge deutsch-französische Kooperation nicht einmal erwähnt.

In Eigeninitiative hat nun der Bundestag ein Parlamentsabkommen zum Aachener Vertrag auf den Weg gebracht, das diesen Namen nicht verdient. Denn abgesehen von der militärischen Orientierung der Präambel des Parlamentsabkommen, in der die Bestimmung des Bestrebens verankert wurde, „eine Konvergenz der Standpunkte Deutschlands und Frankreichs auf europäischer Ebene zu erreichen, um die Integration innerhalb der Europäischen Union in allen Bereichen zu fördern“, also auch bei Militär und Rüstung, verzichtet man selbst großmütig auf den Anspruch einer parlamentarischen Kontrolle.
So will man lediglich darauf achten, dass die Bestimmungen des Aachener Aufrüstungsvertrags korrekt umgesetzt werden.

Im Parlamentsabkommen heißt es zu den Aufgaben der deutsch-französischen Parlamentarierversammlung: „Die Versammlung hat folgende Zuständigkeiten: – Sie wacht über die Anwendung der Bestimmungen des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963 und des Vertrages […] sowie über die Umsetzung und die Evaluierung der auf diesen Verträgen beruhenden Projekte“, also etwa über die Umsetzung des Rüstungsprojekts eines gemeinsamen Kampfflugzeuges.
Ein einziges Trauerspiel. Im Übrigen will man die Aktivitäten des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats „begleiten“. So würdigen sich die beiden Parlamente zum Begleitservice für die Exekutive herunter.

Das Europa Merkels und Macrons à la Aachener Vertrag ist eine bizarre Mischung aus Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie neoliberaler und autoritärer Orientierung im Namen der Völkerfreundschaft. Es verdient jeden Widerstand im Kampf um Frieden, soziale Gerechtigkeit und Internationalismus.
Sevim Dagdelen ist stellvertretende Vorsitzende und abrüstungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag.

B. https://makroskop.eu/2019/01/die-deutsch-franzoesische-achse-eiert/
Auszüge:

makroskopDie deutsch-französische Achse eiert

Von Peter Wahl

Der Elysée-Vertrag von 1963 war Symbol für eine historischen Wende. Der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag ist Ausdruck für das, was heute in den deutsch-französischen Beziehungen noch geht – sehr, sehr wenig.

Am 22. Januar 1963 schlossen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Elysée-Vertrag ab, der das Ende der Jahrhunderte alten „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland symbolisierte.
Auf den Tag genau 55 Jahre später unterzeichnen Merkel und Macron diesen Dienstag in Aachen einen neuen Vertrag.

Die Idee zu einem Elysée-Vertrag 2.0. stammt von Emmanuel Macron. Sie war Bestandteil seiner europapolitischen Reformvorschläge, die er in seiner vielgerühmten Rede an der Sorbonne im September 2017 ankündigte.
Er glaubte damals zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: die Eurozone wieder flott und gleichzeitig den Abstieg Frankreichs zum Juniorpartner der Deutschen mindestens wieder rückgängig, wenn nicht gar France great again machen zu können.
Der neue Freundschaftsvertrag war dafür als zusätzliches Gleitmittel gedacht.

Mit dem Versuch, die Eurozone wieder flott zu machen, ist Macron gescheitert. In erster Linie an der Bundesregierung. Das was von seinen Plänen übrig blieb, wurde in der Erklärung von Meseberg im Juni 2018 fixiert.[1]
Statt eines Eurozonenbudgets in Höhe von „mehreren Prozentpunkten des BIP“ wie er es sich gewünscht hatte, gibt es nur die Zusage, sich in den EU-Budgetverhandlungen für einen Sonderposten in unterer zweistelliger Milliardenhöhe einzusetzen.
Statt eines europäischen Währungsfonds wird der Krisenfonds ESM fest etabliert.
Statt eines Eurozonen-Finanzminister und -parlaments gibt es überhaupt nichts.
Und selbst bei der Bankenunion, die auch zehn Jahre nach dem Crash noch immer nicht vollendet ist, steht Berlin auf der Bremse.

Wenig ambitioniert

Um Macron nicht komplett hängen zu lassen, soll jetzt der neue Freundschaftsvertrag als Trostpflaster dienen. Dabei kann das Abkommen niemanden so richtig vom Sockel reißen. Le Monde bezeichnet es dann auch enttäuscht als „wenig ambitioniert.
Neben viel Europathos und blumiger Freundschaftsrhetorik enthalten die 28 Artikel viele Absichtserklärungen, aber kaum Konkretes.

Typisches Beispiel: die Außenpolitik soll enger abgestimmt werden, darunter in der UNO (Art. 8), wo Berlin derzeit einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat hat. Die Realität sieht freilich anders aus: so forderte Olaf Scholz im vergangenen November, Frankreich möge seinen ständigen Sitz und das dazugehörige Veto-Recht der EU zu Verfügung stellen – und damit natürlich auch entsprechenden deutschen Einfluss.
An den pikierten Reaktionen aus Paris wurde schnell klar, dass die französische Liebe weder zur EU noch zu Deutschland so groß ist, als dass man ausgerechnet auf einem der wenigen Terrains, wo man noch über Großmachtstatus verfügt, bereit wäre, auch nur ein Jota davon abzutreten.[2] Im Vertrag bleibt dann nur noch eine unverbindliche diplomatische Phrase:

„Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie.“

Dieser Stil zieht sich durch das ganze Dokument. Auch bei der militärischen Zusammenarbeit, wo es Macron vor allem darum geht, die Deutschen an den Kosten von Frankreichs Militäreinsätzen in seinen ehemaligen Kolonien zu beteiligen, während die militärpolitische Community in Deutschland ungeniert über die „atomare Teilhabe“ der Deutschen unter anderem an der Force de Frappe spekuliert,[3] sind die Interessen so unterschiedlich, dass der Vertrag vage bleibt.

Selbst bei eher harmlosen Themen, wie der Förderung des Schulunterrichts in der jeweils anderen Sprache, klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. So konnte noch unter Hollande nur mit Ach und Krach verhindert werden, den Deutsch-Unterricht an französischen Schulen drastisch zu reduzieren. Auch die französischen Kinder lernen heute lieber Englisch.

Andere Artikel des Vertrages bekräftigen nur, was auch ohne Freundschaftsvertrag bereits läuft, so zum Beispiel die Durchführung gemeinsamer Rüstungsprojekte und die Intensivierung der militärischen Kooperation im Rahmen der sogenannten Permanenten Strukturierten Kooperation (PESCO) der EU (Art. 3-5), oder die engere Kooperation bei der Entwicklung des digitalen Kapitalismus, bei künstlicher Intelligenz und digitaler Industrie (Art. 21).

Am weitreichendsten ist die Absicht, „die Integration ihrer Volkswirtschaften hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln“ zu entwickeln (Art. 20). Falls das tatsächlich ernsthaft in Angriff genommen würde, wäre es europapolitisch insofern interessant, als das auf das Konzept „Kerneuropa“ hinausliefe.
Macron hat sich ohnehin schon früher als Anhänger des „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ geoutet. Ein Kerneuropa würde die Ausdifferenzierung der Integration in die jetzt schon bestehenden vier oder fünf Geschwindigkeiten vertiefen und die zentrifugalen Tendenzen in der Gesamt-EU weiter verstärken.

Andererseits dürften die strukturellen Unterschiede zwischen dem exportgetriebenen Starkwährungsmodell der Deutschen und dem eher binnenmarktorientierten Schwachwährungssystem Frankreichs einer Integration der beiden Volkswirtschaften ziemlich enge Grenzen setzen.
Die jüngste Weigerung der Bundesregierung, dem französischen Vorschlag zur Einführung einer Digitalsteuer für die Internetgiganten zu folgen, spricht Bände.

Wirtschaftspolitische Bilanz Macrons mager

Auch aus Macrons Versprechen, die französische Wirtschaft anzukurbeln, ist nichts geworden. Das Wachstum ist von 2,2 Prozent in 2017 auf 1,7 Prozent in 2018 gesunken und liegt damit unter dem Durchschnitt der Eurozone (2,1 Prozent).[4]
Für 2019 und 2020 wird mit jeweils 1,6 Prozent gerechnet, die vorwiegend durch die Binnennachfrage erreicht werden. Die Arbeitslosenquote ist Ende 2018 knapp unter 9 Prozent gesunken. Auch das ist kein Ruhmesblatt.
Der Stand der öffentlichen Schulden lag 2018 bei 98,7 Prozent des BIP und soll bis 2020 nur geringfügig auf 97,2 Prozent sinken. Das Leistungsbilanzdefizit hält mit 0,6 Prozent des BIP unverändert an.
Der „Exportweltmeister“ hat demgegenüber einen Überschuss von 7,8 Prozent. Deutschland ist Frankreichs wichtigster Handelspartner, umgekehrt liegt Frankreich auf dem zweiten Platz der deutschen Partner.
Also auch hier ist Macron, der mit dem Anspruch einer „jupiterhaften“ Präsidentschaft angetreten war, auf menschliches Maß geschrumpft.
Die Operation Make France great again ist vorerst abgesagt.

Die Gelbwesten

Am härtesten aber wurde Macron von der Bewegung der Gelbwesten getroffen. Anfangs herrschte – bis in Teile der Linken hinein – Unsicherheit in der Bewertung der Proteste. Sie kamen buchstäblich aus dem Nichts und passten so gar nicht in das bekannte Schema sozialer Bewegungen. Weder die Sozialwissenschaften noch die Gewerkschaften noch linke Parteien hatten etwas gemerkt.
Die Protagonisten sind vorher nicht politisch aktiv gewesen. Sie erhoben den Anspruch, weder links noch rechts zu sein und wandten sich gegen die Vereinnahmung von außen. Zentrale Organisationsstrukturen und überregionale Repräsentation werden abgelehnt.

Von Regierungsseite wurde anfangs ein harter Konfrontationskurs eingeschlagen. Budgetminister Gérald Darmanin sprach von „brauner Pest.“ Aber bei aller Heterogenität der Bewegung stellte sich bald heraus, dass sich die konsensfähige Schnittmenge der Forderungen gegen die neoliberale Reformen Macrons richtete. „Es handelt sich in der Substanz also um eine anti-neoliberale Revolte.[5]
Deshalb bekam die Bewegung bald die Sympathie von zwei Dritteln der Bevölkerung und die Unterstützung der Mehrheit der französischen Linken.

Was den Gewerkschaften und der Linken bisher nicht gelungen war, schafften die Gelbwesten schon nach drei Wochen: Macron sah sich zu sozialpolitischen Zugeständnissen gezwungen. Die Benzinsteuererhöhung, Auslöser der Bewegung, wurde zurückgenommen und sozialpolitische Konzessionen mit einem Volumen von 10,3 Milliarden Euro verabschiedet.

Niemand kann wissen, wie die Bewegung weiter geht. Sie kann ermüden und zerfallen, es kann aber auch zu neuen Zuspitzungen, etwa einem Generalstreik, kommen. Wie auch immer, schon jetzt gibt es Effekte, die weit über das Sozialpolitische hinausgehen:

  • nachdem Merkel eine Lame duck ist, in London Chaos herrscht, die sozialdemokratische Minderheitsregierung in Madrid es nicht mehr lange machen dürfte und Italien nicht gerade vor europapolitischer Führungskraft strotzt, ist nun auch der europapolitische Hoffnungsträger aus Paris ausgefallen;
  • vor dem Hintergrund von Brexit, Trump, nachlassender Konjunktur und all der anderen ungelösten Probleme der EU wird deren europapolitische Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit weiter sinken;
  • ein weiter so mit Macrons Reformprogramm à la Hartz-IV dürfte nicht mehr möglich sein. Wenn er an seinem neoliberalen Kurs festhält, riskiert er noch massiveren Widerstand als jetzt;
  • die internen Spannungen in seiner République en Marche haben stark zugenommen. Der Präsident ist neuerdings in den eigenen Reihen nicht mehr unumstritten;
  • Frankeich wird die Maastricht-Kriterien mit voraussichtlich 3,2 Prozent des BIP reißen. Ohne Gegenfinanzierung sogar mit 3,4 Prozent. Vor den Protesten waren 2,8 Prozent geplant. Damit ist Macrons Standing gegenüber Berlin und den anderen Hardlinern beim Management der Euro-Krise ziemlich auf Null;
  • bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai droht Macron eine schwere Blamage. Sie werden – anders als alle anderen Wahlen – nach reinem Verhältniswahlrecht durchgeführt, das heißt, sie zeigen einigermaßen realistisch die tatsächlichen Kräfteverhältnisse an. In Umfragen liegt der „Retter Europas“ seit Monaten unter 20 Prozent. An der Spitze liegt Marine Le Pen, die nach ihrer Niederlage in den Präsidentschaftswahlen viele für politisch erledigt hielten. Auch wenn das EU-Parlament machtpolitisch nicht sehr relevant ist, so sind die bevorstehenden Wahlen doch von hoher symbolischer Bedeutung.

Der alte Vertrag von 1963 war Symbol für eine historischen Wende: das Ende der Jahrhunderte alten „Erbfeindschaft zwischen den beiden Ländern. Man muss das nicht verklären, es waren damals weniger hehre Gefühle aus der Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen, wie Versöhnung und Freundschaft, sondern knallharte geopolitische Fakten – wie die totale Niederlage Deutschlands und der Kalte Krieg –, die die Rahmenbedingungen des Elysée-Vertrags bildeten. Aber es war von historischer Tragweite.
Der neue Vertrag ist Ausdruck für das, was heute in den deutsch-französischen Beziehungen noch geht – nämlich sehr, sehr wenig.

Peter Wahl ist Vorsitzender der NGO WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung. Er hat Gesellschaftswissenschaften und Romanistik in Aix-en-Provence, Mainz und Frankfurt studiert und ist einer der Gründer von attac Deutschland. Seine Themenschwerpunkte: Europapolitik, Entwicklungspolitik und internationale Beziehungen.

[1] PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG. Erklärung von Meseberg. Das Versprechen Europas für Sicherheit und Wohlstand erneuern. 19.6.2018. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/2018/06/2018-06-19-erklaerung-meseberg.html

[2] Le Figaro, 30.11.2018; S.8

[3] Major, Claudia (2018): Germany’s Dangerous Nuclear Sleepwalking. Carnegie Europe.

http://carnegieeurope.eu/strategiceurope/?fa=75351&utm_source=rssemail&utm_medium=email&mkt_tok=eyJpIjoiTURFME1EaGxaRFE0Wm1ZeiIsInQiOiIzVm1ZY1g1NXBmUFp2Wm5YejMyYThnZGl3N1REM25VTVhQN2l5dHJQZ2tyZnlva2NuUzVXTUJvMmZLTURtOUZQdGEwXC9MbEsyejd6UTNBZlJQb3BTOERjWUx0RFZTYzJ4Q21HalRJMHhkMENVZDBneW5uM3d6Sjh5elBiNlF2TUwifQ%3D%3D

[4] Alle Zahlen in diesem Absatz nach: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages;  Referat PE 2 EU-Grundsatzangelegenheiten, Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion. Aktuelle wirtschaftliche Lage in Frankreich und Auswirkungen der Protestbewegung „gilets jaunes.” Stand: 11. Januar 2019

[5] Aus der knappen, aber ziemlich treffende Analyse der Bewegung (in deutscher Sprache) unter: https://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/Europa/Downloads/Attac_DE-Projektgruppe_Europa_-_Solidarita__t_mit_Gelbwesten_18jan2019.pdf

Militarisierung der EU – Jean-Claude Junckers „State of the Union“-Rede

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Schon am 13.9. hielt der EU-Präsident diese Erbauungsrede zur Ablenkung von den echten sozialen Spannungen, die leider nicht viele alarmiert hat:
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7720/

german foreign policy logo

Auszüge:

BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Die EU soll „weltpolitikfähig“ werden und als „Architekt der Welt von morgen“ auftreten. Dies hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch in seiner diesjährigen „State of the Union“-Rede gefordert, deren Bezeichnung der berühmten gleichnamigen Rede des US-Präsidenten vor beiden Kammern des Kongresses in Washington nachgebildet ist.
Juncker will dazu insbesondere die Militarisierung der Union und die Hochrüstung ihrer Außengrenzen forcieren.
Während der deutsch dominierte Staatenbund um jeden Preis zur Weltmacht aufsteigen will, nehmen die Spannungen im Inneren erheblich zu. Das gestern vom Europaparlament auf den Weg gebrachte EU-Verfahren gegen Ungarn, das seit Jahren demokratische Rechte abbaut, verschärft den Konflikt zwischen den westeuropäischen Machtzentren und dem Osten der Union.
Das krasse Wohlstandsgefälle zwischen dem Zentrum der EU und der verarmten Peripherie besteht ungebrochen fort.
Schwere Menschenrechtsverstöße vor allem gegen Flüchtlinge begleiten das globale Machtstreben der im Innern zerklüfteten Union.

Weltpolitikfähigkeit

Die Forderung nach einem geschlossenen, machtvollen Auftreten der EU in der Weltpolitik stand im Mittelpunkt der „State of the Union“-Rede, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch vor dem Europaparlament gehalten hat. Der Name „State of the Union“, der seit September 2010 für die jährliche Positionsbestimmung des Kommissionspräsidenten genutzt wird, entstammt dem Vorbild der berühmten US-amerikanischen „State of the Union address“, mit der der US-Präsident einmal im Jahr vor beide Kammern des US-Kongresses tritt. Juncker übernahm in seiner Rede teilweise wörtlich Formulierungen, mit denen deutsche Regierungspolitiker in den vergangenen Jahren für eine aggressivere deutsche Weltpolitik auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten geworben haben.[1]
So forderte er etwa, „Europa“ müsse sich „von den Außenlinien der Weltpolitik“ verabschieden; es dürfe kein „bloßer Kommentator des internationalen Geschehens“ bleiben.[2]
Vielmehr solle die EU endlich als „global player“ auftreten; es sei Zeit, dass sie endlich ihr „Schicksal in die eigenen Hände“ nehme.[3]
Die gewünschte „Fähigkeit, als Union eine Rolle bei der Gestaltung globaler Angelegenheiten“ zu spielen, bezeichnete Juncker, dafür den deutschen Begriff nutzend, als „Weltpolitikfähigkeit„; die EU solle „ein Architekt der Welt von morgen“ sein.

Faktor 20

Einen zentralen Platz nimmt in Junckers Plänen die Militarisierung der EU ein, die er freilich, wie er in seiner gestrigen Rede erklärte, nicht als Militarisierung verstanden wissen will. Juncker kündigte an, er werde „in den nächsten Monaten Tag und Nacht arbeiten“, um den EU-Militärfonds (European Defence Fund [4]) und die EU-Militärkooperation (Permanent Structured Cooperation, PESCO [5]) fortzuentwickeln.
Auch stellte er in Aussicht, „die Verteidigungsausgaben um den Faktor 20 zu erhöhen“.[6]
Ergänzend treibt die EU-Kommission die Hochrüstung der EU-Außengrenzen weiter voran. So soll die EU-Grenzbehörde Frontex bis 2020 massiv ausgebaut werden und 10.000 zusätzliche „Grenzschützer“ erhalten; sie sollen vor allem das Mittelmeer noch stärker als bisher gegen Flüchtlinge abschotten.
Darüber hinaus will der Kommissionspräsident die Abschiebung unerwünschter Flüchtlinge aus der Union beschleunigen; demnach wird die Kommission die Mitgliedstaaten dabei unterstützen.

Im Innern gespalten

Während Juncker, Träger mehrerer deutscher Verdienstorden und politisch der Bundesregierung gewöhnlich eng verbunden [7], den Ausbau der EU zur auch militärisch global operierenden Macht vorantreibt, nehmen die inneren Spaltungen in der deutsch dominierten Union unverändert zu.
Am gestrigen Mittwoch hat das Europaparlament ein Verfahren gegen Ungarn wegen dessen massiver Rechtsstaatsverstöße auf den Weg gebracht; es sanktioniert damit erhebliche Einschränkungen etwa der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen, zudem die Schwächung der unabhängigen Justiz durch die Regierung in Budapest.
Ein Verfahren wegen Schwächung der unabhängigen Justiz ist bereits gegen Polen in Gang gesetzt worden. Damit geht Brüssel inzwischen gegen zwei östliche EU-Mitglieder wegen der Aushebelung elementarer demokratischer Regelungen vor.
Die Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten der Union drohen sich zusätzlich dadurch zu verschärfen, dass der künftige EU-Haushalt die Aufnahme von Flüchtlingen finanziell belohnen soll; dies würde die östlichen Mitgliedstaaten, die so gut wie keine Flüchtlinge aufgenommen haben, deutlich schlechter stellen als die wohlhabende Bundesrepublik.
Erst kürzlich hat der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian – vor allem auf Polen und Ungarn gemünzt – gedroht, Frankreich werde keine Unterstützung mehr für Mitgliedstaaten leisten, die „grundlegende Prinzipien der EU nicht respektieren“: „Wir sind nicht bereit, für dieses Europa zu bezahlen“, sagte Le Drian auf der diesjährigen französischen Botschafterkonferenz.[8]

Menschenrechte

Tatsächlich nehmen gravierende Menschenrechtsverstöße nicht nur im Osten, sondern auch im Westen der EU zu. Dies betrifft vor allem das Vorgehen der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten gegen Flüchtlinge.
So bricht etwa die Sperrung der italienischen Häfen für sämtliche Schiffe, die Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, diverse internationale Übereinkommen.[9]
Weil an den EU-Außengrenzen weiterhin Tausende Flüchtlinge zu Tode kommen – mehr als an allen anderen Außengrenzen weltweit zusammengenommen -, laufen Menschenrechtsorganisationen Sturm; seit 2000 sind beim Versuch, nach Europa zu gelangen, mindestens 36.000 Menschen ertrunken oder verdurstet (german-foreign-policy.com berichtete [10]).
Auch die Abschiebepraxis der EU-Staaten ruft in wachsendem Maß Menschenrechtsorganisationen auf den Plan und verstößt zudem gegen Schutzrichtlinien der Vereinten Nationen. So schiebt beispielsweise Deutschland immer noch Flüchtlinge nach Afghanistan ab; seit Dezember 2016 wurden in 16 Sammelabschiebungen bereits 366 Afghanen zwangsweise in ihr Herkunftsland zurückgebracht.
Der jüngste Abschiebeflug startete am Dienstag – entgegen den neuen Richtlinien des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die Abschiebungen nach Afghanistan strikt ablehnen: Dem UNHCR zufolge ist der Alltag in Kabul, wohin Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben werden, lebensgefährlich.

Wohlstand und Armut

Während die inneren Spannungen in der EU wachsen, Menschenrechtsverletzungen zunehmen und überdies fast flächendeckend die extreme Rechte erstarkt (german-foreign-policy.com berichtete [11]), bleibt die materielle Ungleichheit innerhalb der EU beinahe konstant. So waren im Jahr 2016 laut offiziellen Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 117,5 Millionen Menschen in der Union von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – knapp ein Viertel der Bevölkerung (23,4 Prozent).[12]
Das entspricht ziemlich genau dem Wert des Jahres 2007, als Rumänien und Bulgarien der Union beitraten; die EU hat es nicht vermocht, die Armut vor allem an ihrer südlichen, südöstlichen und östlichen Peripherie zu reduzieren. Im Jahr 2016 waren in Spanien 27,9 Prozent, in Italien 28,7 Prozent, in Rumänien 38,8 Prozent und in Bulgarien 40,4 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht; in Griechenland stieg der entsprechende Bevölkerungsanteil wegen der von Berlin durchgesetzten EU-Kürzungsdiktate von 28,1 Prozent im Jahr 2008 auf 35,6 Prozent im Jahr 2016.
Die Konzentration der Ressourcen in den westeuropäischen Machtzentren und vor allem im deutschen Hegemonialpol trägt das Streben der EU nach „Weltpolitikfähigkeit“.

[1] State of the Union 2018. The Hour of European Sovereignty. By Jean-Claude Juncker, President of the European Commission. 12 September 2018.

[2] Die Begrifflichkeit hat der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Zeit als Außenminister gerne verwendet. S. etwa Der Weltordnungsrahmen.

[3] „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen“ (Angela Merkel, Mai 2017). S. dazu Das Ende einer Ära.

[4] S. dazu Milliarden für europäische Kriege (II) und Europas strategische Rüstungsautonomie.

[5] S. dazu Der Start der Militärunion und Die Koalition der Kriegswilligen.

[6] State of the Union 2018. The Hour of European Sovereignty. By Jean-Claude Juncker, President of the European Commission. 12 September 2018.

[7] S. dazu Deutschland besonders nahe.

[8] Michaela Wiegel: Kampf für Europa. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2018.

[9] S. dazu Amoklauf am Mittelmeer.

[10] S. dazu Amoklauf am Mittelmeer (II).

[11] S. dazu Auf dem Weg nach rechts.

[12] 17. Oktober: Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut. eurostat Pressemitteilung 155/2017. 16.10.2017. S. auch „Frieden, Freiheit und Wohlstand“.

Jochen

#Aufstehen: Keine deutsche Beteiligung an „Vergeltungsschlägen“ gegen Syrien! Kundgebung Brandenburger Tor Mo 17.9. um 18 Uhr (#Aufstehen Basisgruppe Berlin-Mitte)

CO-OP NEWS

Die #Aufstehen Basisgruppe aus Berlin-Mitte ruft auf zu einer Kundgebung:
#Aufstehen für Frieden mit Syrien und Russland!   
Keine deutsche Beteiligung an Kriegen! 
Keine deutsche Beteiligung an „Vergeltungsschlägen“ und Luftangriffen gegen Syrien!
 
Abrüsten statt Aufrüsten!
#Aufstehen für die Wiederaufnahme der Entspannungspolitik
#Aufstehen für ein Ende von Fluchtursachen, Kriegen und Kriegstreiberei, Ausbeutung, Rassismus 
#Aufstehen für weltweite, internationale Solidarität.
Kundgebung am Montag den 17. September 2018 von 18 -20 Uhr 
Pariser Platz am Brandenburger Tor
Angesichts der dramatischen Verschärfung des Krieges in Syrien wenden wir uns entschieden gegen eine weitere völkerrechtswidrige Beteiligung Deutschlands an den Luftangriffen in Syrien. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat jetzt festgestellt: „Im Ergebnis wäre eine etwaige Beteiligung der Bundeswehr an einer Repressalie der Alliierten in Syrien in Form von „Vergeltungsschlägen“ gegen Giftgas-Fazilitäten völkerrechts- und verfassungswidrig.“
Die Dämonisierung Syriens und damit auch Russlands ist eine Feindbildprojektion, die das eigene völkerrechtswidrige Handeln legitimieren soll. NATO-Staaten und ihre Partner haben durch ihren…

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Ein Blick aus der Schweiz: Berlin-Marzahn – Wo die AfD der Linken den Rang abläuft

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aufklärerisches aus der neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/international/wo-die-afd-der-linken-den-rang-ablaeuft-ld.1403444
Die neue Sammlungsbewegung *Aufstehen! will sich um die hier genau beschriebenen Defizite kümmern. Schon fürchten Pöstchenjäger, ihre Netzwerke könnten unbrauchbar werden.
Auszüge:

Im Osten Deutschlands sind die Rechtspopulisten oft da stark, wo auch die Linke ihre Hochburgen hat.

Dabei kämpfen beide insbesondere in den ehemaligen DDR-Plattenbauvierteln um die gleiche Wählerschicht: die Unzufriedenen. Um die, die sich abgehängt fühlen.

Dirk Auer

Ja, natürlich hat es geschmerzt. Und wenn man sieht, wie sich dabei das Gesicht von Wolfgang Brauer verzieht, wird klar: Das tut immer noch weh.wolfgang brauer marzahn

Wie auch nicht, wenn man von hier kommt und die Linke mit aufgebaut hat. Wenn man seit 1999 Direktkandidat war im Wahlkreis 1, in Marzahn-Nord, und all die Jahre Sieg um Sieg einfuhr.
Und dann tritt 2016 zum ersten Mal die AfD an, stellt mit Gunnar Lindemann einen Kandidaten auf, der von ihm, dem ehemaligen kulturpolitischen Sprecher der Berliner Linken, nicht mehr abweichen könnte: ein Zugezogener, ein Wessi, ein Eisenbahner, ein Rechter. Und aus dem Stand heraus holt dieser Kandidat bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 30 Prozent. Wie kann das nicht weh tun? Politisch und ja, natürlich, auch persönlich.

Wolfgang Brauer sitzt in einem Schnellrestaurant an der Havemannstrasse, der Hauptverkehrsader des Quartiers. Links und rechts stehen sechs- bis elfgeschossige Plattenbauten, dazwischen viel Grün, zwei Discounter.
Traditionell ist die Linke stark im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf mit seinen etwa 260 000 Einwohnern, wo Plattenbauten aus DDR-Zeiten das Stadtbild bestimmen.
Am stärksten war sie immer im sozial besonders schwachen Norden: einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigem Durchschnittseinkommen und Bildungsstand.
Da, wo sich die sogenannten Abgehängten sammeln, die Enttäuschten und Hoffnungslosen. Eine klassische Arbeitergegend, sagt Wolfgang Brauer. Und damit Stammland der Linken. Eigentlich.

Aber die Welt hat sich geändert. Seine Partei hat sich geändert. Und beides passt hier offenbar immer weniger zusammen in Marzahn-Nord. Die Linke, sagt Wolfgang Brauer, hat sich von ihrer sozialen Basis entfernt.
Links und sozialer Protest, das war hier eine weitgehende Einheit zuletzt, als die Linke noch PDS hiess und fest in den Vereinen und sozialen Hilfeprojekten verwurzelt war. Stichwort: Kümmererpartei.
Ihre Mitglieder halfen beim Ausfüllen von Formularen für die Rente, unterstützten bei Anträgen für Sozialhilfe und waren in Mieterinitiativen aktiv.
Und der Wähler dankte es: Auf dem Gipfel der Popularität, 2001, holte Wolfgang Brauer in seinem Wahlkreis 56 Prozent. Es war das Berlin-weit beste Ergebnis.

Aber dann passierte es, dass die Leute hier auf der Strasse wieder von «denen da oben» sprachen, und plötzlich war die Linke mit gemeint. Denn die sass seit 2002 mit der SPD in der Berliner Landesregierung. Und die Linke wurde für deren rabiaten Sparkurs mitverantwortlich gemacht.
Ihr hättet das verhindern müssen, musste sich Brauer immer wieder anhören, wenn er in seinem Wahlkreis unterwegs war.
Dazu gesellte sich eine schleichende kulturelle Entfremdung, als im Zuge ihrer Westausdehnung die Linke ihre Wähler zunehmend auch in den akademisch-mittelständischen Milieus der Innenstädte suchte.
Neue Themen kamen auf wie Antirassismus und Geschlechterfragen – um den Preis, so klagt der Kulturpolitiker Brauer, einer ideologisch zunehmend «verkopften Sprache» ), mit der sich die Partei von der hiesigen Lebenswelt entfernte. Dieses «ganze verschwiemelte Zeug» über die postindustrielle Gesellschaft etwa, dass es kein Proletariat mehr gebe. Und wenn selbst in der örtlichen Bezirkszeitung aus Arbeitern – politisch korrekt – «Arbeiterinnen» werden, dann könnten die meisten hier nur den Kopf schütteln: Ham die keine anderen Probleme?

Die Wahlen 2006 und 2011 brachten die Quittung. Und in Marzahn-Nord war der Fall besonders tief: Von 56 Prozent Erststimmen ging es runter auf 41, dann noch einmal auf 36 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag da bei nur noch knapp 40 Prozent – der niedrigste Wert in ganz Berlin. Die Frustrierten und sozial Abgehängten von Marzahn-Nord waren politisch heimatlos geworden.
Und dann kam die Flüchtlingskrise.

Eine neue Protestpartei

Zu dieser Zeit sitzt Gunnar Lindemann in seinem Plattenbau vor dem Fernseher und wird immer wütender. Schon die Griechenland-Rettung «mit deutschen Steuergeldern» hatte ihn auf die Palme gebracht, und nun auch noch der «unkontrollierte Zuzug» Hunderttausender Flüchtlinge.
Erst fünf Jahre zuvor war er aus Wuppertal ins Quartier gezogen. Die Wohnung lag in der Nähe des neuen Arbeitsplatzes, 20 Minuten mit der Strassenbahn ohne Umsteigen, drei Zimmer: 500 Euro warm. Alles prima, Marzahn sei schöner und besser als sein Ruf, findet er. Seine Frau war es dann, die ihn in die Politik drängte, weil sie sein blosses Meckern nicht mehr hören konnte.
Und so ist er bei der AfD gelandet, ist Direktkandidat geworden, weil es sonst niemand machen wollte – und die Unzufriedenen, die politisch heimatlos geworden waren, hatten eine neue Protestpartei als Angebot.

Irrational, denkt Wolfgang Brauer da noch. Was haben die schon zu bieten? Und eigentlich läuft es ja gar nicht so schlecht mit der Integration. Das Neben- und Miteinander von Kulturen ist auch in Marzahn-Nord nichts Ungewöhnliches. Schon seit Jahren leben auch Russlanddeutsche, Vietnamesen und Polen im Quartier. Dazu kommt seit einiger Zeit ein langsamer, aber stetiger Zuzug von Menschen aus der Innenstadt, die sich die hohen Mieten dort nicht mehr leisten können. Von ihnen haben viele einen Migrationshintergrund. Nennenswerte Konflikte gab es keine.

Aber die Flüchtlingskrise wirkte dann wie ein Katalysator für das schon vorhandene Gefühl, von der Politik vergessen worden zu sein. So wurden in Marzahn-Hellersdorf deutlich mehr Flüchtlinge untergebracht als in den West-Bezirken Berlins. Und die Unterkünfte, grosse Objekte mit ein paar hundert Plätzen, so Wolfgang Brauer, wurden dann genau in die Problemzonen «geknallt».
Die offizielle Begründung war: Da gibt es Platz, es sind landeseigene Flächen. Aber er glaubt, dass noch etwas anderes dahinterstand: Armut gehört zu Armut.
Und an den Rand der Stadt. Hier waren die Armenfriedhöfe, hier waren die Mülldeponien, hier wurden die Massenquartiere gebaut – dann ist hier auch der Platz für Flüchtlinge.
Dass der bürgerlich geprägte Süden des Bezirks verschont blieb, dafür hatte der örtliche CDU-Kandidat gesorgt.
Auch der Ost-West-Gegensatz habe eine Rolle gespielt: Die Wessis, die Reichen, entsorgen ihre Problem zu unseren Lasten. Das brachte die Leute auf die Palme.

Die Stimmung kippt

Die Nachricht, dass auch im Wahlkreis 1 eine Unterkunft gebaut werden sollte, platzte direkt in die Vorwahlkampfzeit. Es gab eine grosse Anwohnerversammlung im Stadtteilzentrum, ein paar hundert Menschen kamen.
Dass man Menschen unterbringen muss, war weitgehend Konsens. Aber die Leute stellten Fragen: Wie ist das mit der Sicherheit? Was genau soll gebaut werden? Stimmt es, dass hauptsächlich junge und alleinstehende Männer kommen?

Der Linke Wolfgang Brauer konnte die Aufregung nachvollziehen. Eine reine Wohngegend mit Kita und Grundschule, in der den Menschen ein Heim mit 500 Plätzen direkt vor die Nase gesetzt wird, das ist zumindest problematisch, dachte er.
Gar nicht viel anders hört sich der AfD-Mann Gunnar Lindemann an: «Massenhaft Flüchtlinge abkippen», wo die Menschen sowieso schon genug Probleme haben, das geht gar nicht.
Die AfD verknüpfte dann die Unterbringungsprobleme direkt mit den Nöten der Einheimischen: Für die Kinder hier fehlt das Geld, um die Heizung in der Schule zu reparieren, aber für 20 Millionen Euro wird ein Asylheim gebaut, hiess es. Dass das eine mit dem anderen wenig zu tun hat, dass es komplizierter ist: Natürlich, sagt Gunnar Lindemann. «Aber die Leute empfinden das eben so.»

Dann kam die Kölner Silvesternacht, die in ganz Deutschland die Stimmung zum Kippen brachte. Und der Wahlkampf wurde für Gunnar Lindemann zum Selbstläufer.
Er habe eben eine bürgernahe Politik gemacht, sagt er, das habe die Leute überzeugt. Praktisch hiess das: vorhandene Ängste aufnehmen und mit dem AfD-Lautsprecher verstärken – gegen «Islamisierung», «Asyl-Irrsinn», «Multikulti-Ideologie» und die «Einwanderung in die Sozialsysteme».
Der Herr Brauer, sagt Gunnar Lindemann, sei ja ein netter und sympathischer Mensch. Aber sein Fehler sei gewesen, dass er bei den Linken war und sich, zumindest damals, nicht kritisch äusserte.

Das habe er wohl, sagt Wolfgang Brauer. Probleme hatte er indes mit der eigenen Partei, die den Standort des Wohnheims verteidigte. Und auf Sorgen der Bürger sei «relativ rotzig» reagiert worden. Kritische Frager sahen sich dem unterschwelligen Verdacht ausgesetzt, etwas gegen Flüchtlinge zu haben – und von da war es nicht mehr weit zum Vorwurf des Rassismus, dem man Paroli bieten müsse.
Eine «grottige Überheblichkeit», findet Wolfgang Brauer, der eigentlich eine ordentliche Diskussion unter den Anwohnern erlebte. Doch am Ende sei alles auf die Frage hinausgelaufen: Bist du für Menschlichkeit oder dagegen?
Da fühlte er sich an die DDR erinnert, wo es eine ähnliche Disziplinierungsformel gab. «Frieden» lautete die offizielle Staatsdoktrin, und wenn es einmal nicht mehr weiterging, hiess es: Bist du für den Weltfrieden – oder etwa dagegen?
So war auch im Jahr 2016 in Marzahn-Nord kein Platz mehr für eine differenzierte Diskussion. Und die AfD-Parole war einfach: Wir wollen die hier nicht.

Bei der Wahl lagen Linke und AfD mit jeweils um die 30 Prozent fast gleichauf. 300 Stimmen fehlten ihm am Ende. Ein Witz, sagt Wolfgang Brauer, fast, als wolle er noch einmal beschwören, dass es letztlich auch ein bisschen Pech war.
Er wusste, dass es knapp wird. Dass Wahlkreise verloren gehen konnten angesichts der politischen Grosswetterlage, ja. Aber dieser? Doch nicht seiner. Nicht Marzahn-Nord.
Kurze Zeit später trat Wolfgang Brauer aus der Partei aus. Die Gründe seien vielfältig, betont er. Die verlorene Wahl war nur das fehlende i-Tüpfelchen.

AfD auf dem Weg nach oben

Der Wahlkreissieger Gunnar Lindemann beklagt derweil fehlende Mülleimer und kaputte Bänke; er sitzt im Elternausschuss und fordert mehr Sicherheitspersonal im öffentlichen Nahverkehr. Und die Asylunterkünfte sollen weg.
Dafür soll endlich ein öffentliches Freibad in Marzahn gebaut werden. Auch Vertreter von Vereinen ohne AfD-Sympathien anerkennen, dass Lindemann präsent ist. Mit einem mobilen Bürgerbüro tourt er auch ausserhalb des Wahlkampfs herum. «Der Kümmerer» hatte die linke Tageszeitung «TAZ» über ihn geschrieben. Das fand er gut.
Getragen vom deutschlandweiten Trend, hat die AfD nach letzten Umfragen bei den nächsten Wahlen gute Chancen, im Gesamtbezirk Marzahn-Hellersdorf stärkste Kraft zu werden.
Dann, sagt Gunnar Lindemann, ist Schluss mit dem «Asyl-Gedöns», mit Integrationskursen und Integrationsbeauftragten. Mit dem eingesparten Geld werde dann endlich was für die Leute hier getan.

Wie die Linke dagegenhalten kann? Schwierig, sagt Wolfgang Brauer, der heute wieder Lehrer an seiner alten Schule ist. Die soziale Frage müsse wieder in den Mittelpunkt, nicht nur deklarativ, sondern ganz konkret: Geht wieder in die Vereine, möchte er dem Nachwuchs seiner ehemaligen Partei zurufen. Mit politischen Sprüchen alleine, mit Ständen und Luftballons, das wussten die alten Genossen noch, kann man keinen Blumentopf gewinnen.
Brauer selbst ist immer noch Vorsitzender des Heimatvereins. Kein Traditionsverein, wie er betont. Es geht um Lokalgeschichte.
Noch so ein Fehler der Linken, sagt Wolfgang Brauer, den Heimatbegriff den Rechten überlassen zu haben.
Das Bedürfnis der Menschen, sich an einem bestimmten Ort verortet zu fühlen, selbst in Marzahn-Nord – was ist daran verwerflich?

Aber die AfD-Geister wird Wolfgang Brauer nicht los. Gegen den Trend konnte der Heimatverein in letzter Zeit einige Neueintritte verzeichnen, darunter die gesamte örtliche AfD-Spitze.
Und als der neue Vorstand gewählt wurde, mit Wolfgang Brauer erneut als Vorsitzendem, da hat auch Gunnar Lindemann per Tweet gratuliert. Und eine Art Mahnung hinterhergeschickt: «Heimat bedeutet auch ein Stück Identität.»

*)Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2018/08/24/identitatspolitik-und-entsolidarisierung-herkunft-ist-kein-ersatz-fur-zukunft/

Jochen