Online-Appell: Coronabonds gegen die Coronakrise

We move EU !Liebe Mitstreiterinnen, Freundinnen, Genoss*innen!
EIne Mitkämpferin von WeMove.EU schreibt:


Letzte Woche erhielt mein Bruder seine Kündigung. Sein Unternehmen ist während der Coronakrise geschlossen.
Meine Eltern können ihn nicht unterstützen, die Rente reicht einfach nicht – zum Glück kann ich einspringen.

In einer Gemeinschaft – ob Familie oder Freundeskreis – ist es selbstverständlich, dass wir einander helfen.
Das machen gerade Millionen Menschen so, in Spanien, in Deutschland, überall – leider können sich nicht alle auf Freunde und Verwandte stützen. Da braucht es Staaten, die zusammenhalten und gemeinsam helfen – auch damit die Wirtschaft möglichst wenig Schaden nimmt.

Um das zu schaffen, leihen sich die Mitgliedsländer der EU jede Menge Geld. Länder wie Deutschland zahlen dafür keine Zinsen, sie bekommen sogar noch Geld dazu. Andere, wie Spanien und Italien zahlen steigende Zinsen.
Für die wirtschaftlich Schwächeren wird die Krise also besonders teuer – und Kreditgeber verdienen an der Krise.

Die Lösung ist einfach: Alle Länder machen zusammen Schulden – Eurobonds (oder auch Coronabonds) genannt. Jedes Land würde seine Schulden alleine zurückzahlen, aber die gemeinsame Zinssätze wären für die Schwächeren viel niedriger. Die Starken helfen mit ihrer Kreditwürdigkeit.
Das ist einfach und in einer Krise selbstverständlich. Aber die Starken, voran Deutschland, die Niederlande und Österreich, verweigern sich. [1]*)

Am Dienstag treffen sich Kanzlerin Merkel, Premierminister Rutte und Kanzler Kurz mit den anderen Regierungschefs zum nächsten Krisengipfel. Das ist der Moment, zu dem wir gemeinschaftliches Handeln fordern – Coronabonds jetzt beschließen!

Appell jetzt unterzeichnen

Wir alle lesen täglich davon, wie sehr viele Menschen von der Krise erfasst werden. Weil sie krank werden, weil sie arm sind und keine Puffer haben oder weil sie ihren Job verlieren – etliche von uns sind selbst betroffen.

Und wir sehen alle, dass in allen Ländern die Gesundheitssysteme ihre Grenzen schnell erreichen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen können wir vorerst nur erahnen, aber sie werden gravierend sein.
Trotzdem gibt es Menschen und Unternehmen, die von der Krise profitieren. Es gibt Hedgefonds, die gegen schwache Länder und sinkende Kurse wetten und so Milliarden einsammeln.

Die Krise trifft alle gleichermaßen unverschuldet. Die Krise ist der Moment, zu dem die EU ihre Versprechen einlösen muss, eine Gemeinschaft zu sein, die solidarisch ist, wo die Stärkeren den Schwächeren beistehen.
Führende Ökonomen sind sich einig: Die Zeit für gemeinsame Schulden zu niedrigen Zinssätzen ist reif. Das kostet die Starken wenig, spart den Schwächeren viel und ist ein klares Zeichen an uns Menschen und an bedrohte Unternehmen: Wir stehen das zusammen durch. Es wäre auch ein Zeichen an die, die Profite machen: Eine Wette auf schwache Staaten lohnt sich nicht.

Appell jetzt unterzeichnen

Wir sehen Solidarität auf vielen Ebenen. Deutsche Krankenhäuser nehmen Kranke aus Italien und Frankreich auf. Auch wenn viele Grenzen geschlossen sind, kommen Hilfs- und Warentransporte weiter durch. Die Bilder der Nachbarschaftshilfe sind überwältigend.

Aber die Krise ist gigantisch – und da braucht es alle Kräfte gebündelt, um sie zu überstehen.

Mit freundlichen Grüßen

Virginia López Calvo (Madrid)
Jörg Rohwedder (Lübeck)
Marta Tycner (Warschau)
Alexandre Naulot (Marseille)
Giulio Carini (Rom)
für das gesamte WeMove.EU-Team

PS: Wenn die Starken glauben, sie kommen allein besser durch die Krise, dann vergessen sie eines. Wir sind ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, teilen eine Währung.
Wenn einige Länder in eine endlose Krise geraten, dann wird es auch die Starken treffen.

Solidarität hilft auch denen, die sie spenden.
Appell hier unterzeichnen.

Referenzen:
[1] Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Spanien, Portugal, Griechenland, Slowenien und Irland sind für Coronabonds, während Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland dagegen sind.
https://www.politico.eu/article/virtual-summit-real-acrimony-eu-leaders-clash-over-corona-bonds/

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In Zusammenarbeit mit:

Mein Kommentar dazu: Ähnliche Eurobonds hätten schon 2007 angesichts der Bankenkrise eingeführt werden müssen. Sie wurden in der EU gerade duch die Länder verhindert, deren Regierungen sehr stark und jahrzehnte lang durch große Banken korrumpiert worden sind.
*: Siehe dazu auch https://josopon.wordpress.com/2017/03/07/deutsch-eu-spalte-und-herrsche/

Höhere Löhne statt Nationalismus

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier setzte im Mai ein Experte noch Hoffnungen in die SPD. Seine wirtschaftspolitische Analyse kann ich teilen, es geht in die Richtung von Per Molander, „Die Anatomie der Ungleichheit“ *).

https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/hoehere-loehne-statt-nationalismus-3481/

Auszüge:

Wir brauchen nicht mehr nationale Identität, sondern eine Wirtschaftspolitik, die die Gesellschaft zusammenhält.

Nationalistische Anliegen haben in Deutschland wieder Konjunktur: Allenthalben heben linke Intellektuelle hervor, dass die Nation als Referenz für Solidarität besonderes Gewicht habe. Wenn liberale Eliten nicht mehr weiterwissen, werden sie patriotisch. Wie wäre es aber, wenn sie statt­dessen die Bekämpfung der wirtschaftlichen Missstände in Angriff nähmen, die hinter der Angst vor Zuwanderern stecken?
Stattdessen glauben sie zu wissen, dass die Beseitigung der Prekarität auf den Arbeitsmärkten nicht möglich ist.
Vollbeschäftigungspolitik durch Lohnsteigerung wird als populistisch abqualifiziert.
Und Keynesianismus kommt nur als Erhöhung von Staatsausgaben vor, die zu Schulden führt und damit zu Lasten zukünftiger Generationen geht.

Eine keynesianische Politik besteht aber nicht im Schuldenmachen. Schuldenfinanzierte Staats­ausgaben stehen nur dann auf der Tagesordnung, wenn neoliberale Wirtschaftspolitik das Wachs­tum durch Austeritätspolitik abgewürgt hat und eine Konsum-Krise bekämpft werden muss.

Wollen die Sozialdemokraten an Profil gewinnen, müssen sie über durchaus löbliche sozial­politische Forderungen hinaus ein Konzept vorlegen: eines, mit dem sie die Wirtschaft im Inter­esse der arbeitenden oder ins Prekariat gezwungenen Bevölkerung steuern können.
Allein die bisherige neoliberale Strategie zur Optimierung der Volkswirtschaft vermischt mit ein wenig Heilsarmee-Aktivität, um die Loyalität der eigenen Anhänger zu sichern, kann nicht überzeugen.

Zwei neoliberale Argumente dienen verlässlich als Speerspitze gegen eine andere Wirtschafts­politik.
Erstens: Profite sind notwendig, um Investitionen zu finanzieren, sonst fallen Arbeitsplätze weg.
Zweitens: Niedrige Löhne verbessern die internationale Wettbewerbsfähigkeit und schaffen damit Arbeitsplätze.

Dem widersprechen einige sehr einfache ökonomische Einsichten: In jeder Wirtschaftskrise gibt es hohe ungenutzte Kapazitäten und damit die Möglichkeit, Überschüsse zu produzieren, die inve­stiert werden könnten. Gleichwohl sinken in allen Krisen die Beschäftigung und die Investitionen.
Im Aufschwung dagegen steigen Investitionen sowie Profite und Beschäftigung – bis Vollbeschäf­tigung erreicht ist.
Empirisch spricht also nichts dafür, dass Investitionen vom Rückgang des Konsums abhängen.

Keynesianische Ökonomen haben dafür seit 70 Jahren eine überzeugende Begründung: Damit Unternehmen der Konsumgüterbranche überhaupt Profit machen und ihre Produkte zu höheren Preisen als ihren Kosten verkaufen können, muss es ausreichend Einkommen aus geleisteter Arbeit geben.
Der Arbeitslohn generiert zusätzliche Nachfrage und erlaubt die Entstehung von Profit.

Will man höhere staatliche Schulden vermeiden und zugleich auf permanente Exportüber­schüsse verzichten, weil sie Partnern die Möglichkeit zum Wachstum nehmen, dann müssten die Löhne in Deutschland kräftig steigen.

Denn die aus diesen höheren Löhnen generierte Nachfrage würde das Wachstum antreiben. Speziell die Produktion von neuen Investitionsgütern ist hier entscheidend.

Niemand kauft allerdings eine zusätzliche Maschine, wenn die Nachfrage nach den damit produ­zierten Konsumgütern nicht steigt.

Wenn die Löhne nicht ausreichend steigen, bleibt nur ein Aus­weg: Die zusätzlichen Güter müssen ins Ausland exportiert werden.
Die Exportüberschüsse ent­stehen also automatisch, wenn der Konsum im Inland zu gering ist.

Der neoklassische Mainstream glaubt, Kapitalismus sei ein Null-Summen-Spiel, bei dem man nur investieren kann, was man spart und daher nicht schon konsumiert hat. Deshalb lehnen sie stei­gende Löhne einfach ab.
Wenn Investitionen aber von steigender Nachfrage ausgelöst werden, bedeutet ein Befolgen dieser neoliberalen Rezepte wirtschaftliche Stagnation.

Es wird sogar noch schlimmer: Diese fehlgeleiteten Ökonomen fügen ihrer generellen Ablehnung von Lohnsteigerungen hinzu, dass diese zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt führen. Über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet aber vielmehr der Wechselkurs – denn die Lohnkosten werden international auf der Basis des Wechselkurses wirksam.
In der Zeit der nationalen Währungen im Euroraum wurde die D-Mark permanent aufgewertet, weil Deutsch­land so viel exportiert hat. Die Guthaben der Reicheren in dieser Republik nahmen aufgrund der Exporte zu.

Die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft wurde dadurch jedoch nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Aufwertung gefährdete die deutsche Wettbewerbsfähigkeit.
Das Beschäftigungs­wunder zu Anfang der rot-grünen Regierungszeit war Folge der Spekulation des internationalen Kapitals gegen den als krisengefährdet eingestuften Euro.
Der niedrige Eurokurs verbilligte die Preise deutscher Exportgüter auf dem Weltmarkt.

Forderungen nach einer Rückkehr zur nationalen Währungspolitik sind allerdings illusionär. Denn auch in der Zeit der freien und der regulierten Wechselkurse nach dem Zusammenbruch des Bret­ton-Woods-Systems hat die deutsche Regierung Aufwertungen so begrenzt, dass Deutschlands Wirtschaftspartner unter ihren Möglichkeiten blieben beziehungsweise stagnierten.

Innerhalb des Euro-Raumes ist die Lage anders, weil hier kein Wechselkurs ausgleichend wirken kann. Gerade hier hat die deutsche Lohnpolitik zu permanenten Exportüberschüssen des Landes geführt. Etwas höhere Löhne und höhere Investitionen und somit weniger deutsche Wettbe­werbs­fähigkeit aber würde den Partnern nützen und Deutschland nicht schaden, sofern die Binnen­nach­frage hierzulande ausreichend steigt.

Die Arbeiterschaft hat diese Politik des Exportüberschusses regelmäßig durch Lohnzurück­hal­tung unterstützt, weil sie glaubte, damit ihre eigenen Arbeitsplätze zu schützen.
Das hatte jedoch – ausgelöst durch die geringere Kaufneigung der Arbeiterschaft bei geringeren Löhnen – den Rück­gang der Beschäftigung in den binnenmarktorientierten Industrien zu Folge. Dessen ungeachtet loben einige der „neuen Nationalisten“ das als Überlegenheit eines deutschen Lohnfindungs­prozesses nach dem Motto: Sparen ist eine nationale Leistung.
Die deutschen Arbeitnehmer seien eben vernünftiger als die Arbeitnehmer in den Südländern der EU.

Wenn die Sozialdemokratie nicht dafür sorgen kann, dass durch steigende Löhne ein angemes­se­nes Nachfrageniveau in Deutschland entsteht, muss es anderswo entstehen: etwa durch Kreditauf­nahme im Süden der EU wie vor der Euro-Krise.
Die Krise hat aber gezeigt, dass eine solche Ver­schuldung der anderen Euro-Länder dauerhaft nicht möglich ist.
Es bleibt dann nur die Möglich­keit, den anderen EU-Partnern wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, um dort eine ausreichende Nachfrage zu erzeugen.

Auf europäischer Ebene können die Sozialdemokraten zwar auf kleine Kurskorrekturen hinwirken, zum Beispiel auf mehr Investitionen und eine Arbeitslosenversicherung. Diese Politik hat aber wegen des geringen Volumens solcher Programme eine begrenzte Wirkung.

Deutlich mehr können die Sozialdemokraten im nationalen Maßstab durch die Abkehr von ihren neoliberalen Trugbildern erreichen.

Dann sind die Stärkung der EU und die Erweiterung der Nachfrage in Deutschland nur zwei Seiten derselben Medaille.

Hartmut Elsenhans gilt als einer der führenden Theoretiker des globalen Keynesianismus.

Zuletzt lehrte und forschte er als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Politökonomie des Internationalen Systems sowie Entwicklungsstrategien und soziale Bewegungen im globalen Süden.

* Titel:gebrauchtes Buch – Molander, Per – Die Anatomie der Ungleichheit - Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Die Anatomie der Ungleichheit – Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Offene monetäre Finanzierung – Konzept für eine moderne Wirtschaftspolitik

Makroskop LogoEin nicht ganz leicht verständlicher Text im Makroskop, der aber die üblicherweise verbreiteten Grundannahmen über Volkswirtschaft (die Haushaltsanalogie) in Frage stellt und einen mir bisher unbekannten Denkansatz verfolgt – der allerdings zu zwei möglichen, aber schwierigen Alternativen führt: entweder die Demokratisierung und Sozialisierung der Institutionen der EU, incl. der EZB
oder der Austritt aus dem Euro, in dem, wie hier erklärt, die Lösung der volkswirtschaftlichen und ökologischen Zukunftsaufgaben nicht möglich ist. Von Thomas Fazi:

https://makroskop.eu/2018/10/konzepte-fuer-eine-moderne-wirtschaftspolitik/
Auszüge:

Wenn wir von einer „modernen Wirtschaftspolitik“ sprechen, sollten wir zunächst präzisieren, was wir damit meinen. Ich würde argumentieren, dass eine „moderne“ Wirtschaftspolitik in erster Linie eine „effiziente“ sein sollte – wobei die Effizienz nicht an Wirtschaftswachstum, Produktivität oder Gewinn, sondern an menschlichen und ökologischen Aspekten gemessen wird.

Ein effizientes Wirtschaftssystem

In diesem Sinne ist eine effiziente Wirtschaftspolitik aus progressiver Sicht eine, die die materiellen und psychologischen Bedingungen so vieler Menschen wie möglich verbessert, die den Einzelnen in die Lage versetzt, sein Potenzial voll auszudrücken und – angesichts der massiven ökologischen Herausforderungen – all dies mit dem weiteren Überleben des biologischen Lebens auf dem Planeten vereinbar macht.

Mit anderen Worten, eine effiziente Wirtschaftspolitik ist eine Politik, in der sich die Wirtschaft im Hinblick auf die Förderung des Gemeinwohls und die Maximierung des Potenzials für alle Bürger im Rahmen der ökologischen Nachhaltigkeit artikuliert. Das heißt, eine Wirtschaft, die uns und dem Planeten dient und nicht umgekehrt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem in all diesen Aspekten dramatisch versagt: Nicht nur, dass Millionen von Menschen weiterhin unter Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung leiden; schon das führt zu einer kolossalen Verschwendung des menschlichen Potenzials, selbst in den reichsten Ländern der Welt – insbesondere in Europa. Sondern es zerstört auch buchstäblich den Planeten, von dem unser Überleben abhängt.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum dies der Fall ist. Vor allem die Tatsache, dass es mächtige wirtschaftliche Interessen gibt, die vom derzeitigen System profitieren.
Ich werde mich jedoch auf einen anderen Aspekt konzentrieren, der mindestens ebenso wichtig ist: die Rolle der Mainstream-Ökonomie bei der Aufrechterhaltung und ideologischen Rechtfertigung des gegenwärtigen Systems sowie bei der Behinderung der Entwicklung radikaler Alternativen.

BBF-Ökonomie

Ein gutes Beispiel dafür ist eine Erklärung, die der Vizepräsident der Europäischen Kommission Valdis Dombrovskis vor einigen Wochen auf dem One Planet Summit on Climate Change in New York abgegeben hat.
Nachdem Dombrovskis die üblichen Bemerkungen darüber machte, dass die Welt um zwei Minuten vor Mitternacht stehe, diese „unsere letzte Chance“ sei, „unsere Kräfte zu bündeln“ im Kampf gegen den anthropogenen Klimawandel und Europa natürlich „den Kampf gegen den Klimawandel anführen“ wolle, kam er zum Punkt: Europa benötige, um seine Pariser Ziele zu erreichen, in den nächsten zehn Jahren rund 180 Milliarden Euro zusätzliche jährliche Investitionen. Deshalb äußerte er die Hoffnung, dass Privatkapital zur Finanzierung des Kampfes gegen den Klimawandel und des Übergangs zu einer grüneren Wirtschaft beitragen würde.

Es lohnt sich, sich eine Minute Zeit zu nehmen, um über die Erklärung von Dombrovskis nachzudenken. Denn sie fasst den pathologischen – und an dieser Stelle zivilisationsbedrohlichen – Charakter der Mainstream-Ökonomie im Allgemeinen und insbesondere ihrer extremen Form, die wir BBF-Ökonomie (Brüssel-Berlin-Frankfurt) nennen können, perfekt zusammen.
Dombrovskis sagt also, dass das Leben auf der Erde einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist – und der einzige Weg, diese Bedrohung abzuwenden, darin bestehe, dass Europa jährlich mindestens 180 Milliarden Euro investiert (obwohl das Ergebnis natürlich auch von dem abhängt, was andere Länder tun, aber das ist eine andere Sache). Und dass wir alle darauf vorbereitet sein sollten, dass Millionen von Menschen vertrieben werden, dass Tausende, wenn nicht sogar Millionen mehr an den Folgen von Dürren, extremen, Energiekriegen usw. sterben. Auf lange Sicht, so Dombrovskis, wird die Menschheit aussterben, wenn wir unsere Produktions- und Verbrauchssysteme nicht radikal verändern.
Doch wir würden wahrscheinlich nicht in der Lage sein, das Geld zu „finden“, das benötigt werde, um dieses dramatische Ergebnis zu vermeiden.

Ich kann mir kein besseres Beispiel für die Absurdität der Welt vorstellen, in der wir heute leben. Lassen wir die Rolle der Geldschöpfung für einen Moment beiseite, zu der ich in einer Minute kommen werde, und gehen sogar davon aus, dass die Regierungen nur durch die Ausgabe von Schuldpapieren an private Märkte die einzige Möglichkeit haben, dieses dringend benötigte Geld aufzubringen.
Nur um die Dinge ins rechte Licht zu rücken – die Regierungen der Welt haben in den drei Jahren nach der Finanzkrise zwischen 12 und 15 Billionen Dollar in das Finanzsystem injiziert.
Allein in der Europäischen Union wurden 6 Billionen Euro beigesteuert (allein Deutschland gab rund 500 Milliarden Euro zur Unterstützung seiner Banken aus).

So hat allein Europa nach der Finanzkrise rund 25 Mal so viel Geld ausgegeben, wie jedes Jahr in Europa benötigt würde, um den verheerenden Klimawandel abzuwenden. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten: 25 Mal mehr Geld für die Rettung der Banken ausgegeben, als jedes Jahr benötigt würde, um die Welt zu retten.

Nun wurde der größte Teil dieses Geldes – insbesondere in Europa – durch die Ausgabe von Schuldpapieren an die Kapitalmärkte aufgebracht, weshalb die öffentliche Verschuldung in fast allen Ländern explodierte. (Das war an sich schon surreal: Die Regierungen mussten Geld auf den Finanzmärkten beschaffen, um die Finanzmärkte zu retten – aber lassen wir dieses Problem beiseite).
Die Tatsache, dass die Staatsverschuldung viel höher ist als vor zehn Jahren, wird von Menschen wie Dombrovskis genutzt, um zu behaupten, dass die Regierungen heute viel weniger „Finanzraum“ hätten als damals.

Begrenzte finanzielle Ressourcen?

Tatsächlich macht diese Aussage keinen Sinn: nicht nur, weil der Begriff einer „übermäßigen“ Defizit-BIP-Ratio äußerst willkürlich ist. Sondern vor allem, weil die Vorstellung, dass Regierungen das Geld, das sie zur „Rettung der Welt“ benötigen, nur finden können, wenn sie mehr Schulden an private Märkte ausgeben (oder die Reichen besteuern), auf einer zutiefst fehlerhaften Vorstellung davon beruht, wie moderne Währungssysteme funktionieren.

Das heißt, sie basieren auf der falschen Vorstellung, dass Geld eine knappe Ressource sei, dass also Regierungen das notwendige Geld bevor sie es ausgeben können, „aufbringen“ müssen; entweder durch Steuern oder, wenn sie ein Haushaltsdefizit verzeichnen (d.h. wenn die Ausgaben die Einnahmen übersteigen), durch Schulden. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Regierungen „im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ leben müssen, da die anhaltenden Defizite zwangsläufig zu einer „übermäßigen“ Anhäufung von Schulden führen werden, von denen wiederum angenommen wird, dass sie auf lange Sicht „nicht nachhaltig“ sind.
Es wird davon ausgegangen, dass die öffentlichen Finanzen mehr oder weniger denen eines Haushalts oder eines Privatunternehmens ähneln.

Diese „Haushaltsanalogie“ geht ständig in Medien und Politik hausieren, weil es sich um eine sehr kraftvolle Erzählung handelt, die an unser intuitives, alltägliches Verständnis von Ökonomie appelliert.

Als Einzelpersonen und Haushalte sind wir uns also der Tatsache bewusst, dass wir erst nach Einkommen verdienen müssen, bevor wir etwas ausgeben können. Sicher, wir können uns etwas leihen, um vorübergehend mehr auszugeben, als wir verdienen, oder wir können unsere Ersparnisse herunterfahren oder unsere Vermögenswerte verkaufen. Aber letztendlich werden wir die Ausgaben reduzieren müssen, um unsere Schulden zurückzuzahlen.
So verstehen wir intuitiv, dass wir nicht unbegrenzt über unsere Verhältnisse leben können. Wir müssen buchstäblich jeden Euro, den wir ausgeben, „finanzieren“, und wir können genauso buchstäblich „kein Geld mehr haben“.

Das Problem mit der „Analogie des Haushaltsplans“ besteht darin, dass das Funktionieren der öffentlichen Finanzen sehr wenig oder gar nichts mit dem Funktionieren unserer eigenen Finanzen als Bürger und Unternehmer zu tun hat – wenn man zufällig ein Unternehmen besitzt.

Eine Welt von FIAT-Währungen

Seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1971 leben wir in einer Welt so genannter Fiat-Währungen – vom lateinischen Wort fiat („es soll sein“) –, weil der Wert unserer Währungen nicht durch ein staatliches Versprechen gestützt wird, unser Geld in Gold oder ein anderes Edelmetall einzulösen, wie es nach dem Goldstandard und dann dem Bretton-Woods-System der Fall war. Ihr Wert wird per Dekret verkündet: Die Regierung verkündet lediglich, dass eine Münze einen Euro wert ist, ohne eine Edelmetallreserve in Höhe eines Euro zu halten. Das bedeutet, dass, wenn Sie Ihre Münze zur Zentralbank bringen, Sie nichts im Austausch dafür bekommen werden.

Eine entscheidende Konsequenz des Fiat-Währungssystems ist, dass Regierungen, die ihre eigenen Währungen ausgeben – was wir monetär souveräne Regierungen nennen –, ihre Ausgaben nicht „finanzieren“ müssen.
Technisch gesehen müssen sie kein Geld durch Steuern aufbringen, bevor sie es ausgeben können. Sie können das nötige Geld „aus dem Nichts“ schaffen. Und das geschieht täglich.
Durch ihr Quantitative-Easing-Programm hat die Europäische Zentralbank zum Beispiel in wenigen Jahren aus dem Nichts mehr als 2 Billionen Euro geschaffen – genug, um zehn Jahre Anti-Klimawandelpolitik zu finanzieren.

Eine weitere Folge ist, dass monetär souveräne Regierungen, die Schulden in ihrer eigenen Währung begeben, niemals „das Geld ausgehen“ oder zahlungsunfähig werden können. Was heißt, die Länder können niemals mit der in ihrer eigenen Währung ausgegebenen öffentlichen Schuld in Verzug zu geraten. Denn sie können ihre Schulden immer überschreiben, indem sie dann neue Schulden aufnehmen, wenn die Altschulden fällig werden. Ein Vorgang, den die meisten Länder praktizieren. Sie können die Schulden sogar durch die Ausgabe von neuem Papiergeld tilgen, das heißt, indem sie die Schulden monetarisieren.

Dieses Verfahren wurde auch in einem jüngsten Bericht der EZB anerkannt, in dem es heißt, „dass sich die Währungsbehörde und die Steuerbehörde mit einer nationalen Fiat-Währung abstimmen können, um sicherzustellen, dass die auf diese Währung lautende Staatsverschuldung niemals ausfällt, weil fällige Staatsanleihen [immer] in eine Währung zum Nennwert konvertierbar sind“.

Zinsen werden durch Zentralbanken bestimmt

Das bedeutet, dass monetär souveräne Regierungen bei der Zinsfestsetzung nicht von privaten Anleihemärkten abhängig sind: Ist kein privater Investor bereit ist, die Anleihen zu dem von der Regierung festgelegten Zinssatz zu kaufen, kann die Zentralbank eingreifen und die Staatsanleihen selbst aufkaufen. Wie bereits erwähnt, ist das keine Theorie: So funktionieren die meisten Staaten täglich. Seit der Finanzkrise kaufen alle Zentralbanken große Mengen der Staatsschulden ihres Landes durch so genannte quantitative Lockerungen.

Hier liegt auch der Grund, warum Japan – das mit fast 250 Prozent des BIP die größte Schuldenquote der Welt hat – nicht nur keinen Spekulationen ausgesetzt oder als am Rande des Ausfalls betrachtet wird, sondern kürzlich sogar angekündigt hat, dass die Zentralbank die Staatsschulden des Landes auf unbestimmte Zeit aufkaufen wird, um die Zinsen so lange bei Null Prozent zu halten, wie sie es für notwendig hält. Und das, obwohl die japanische Zentralbank heute bereits rund 50 Prozent der Staatsschulden des Landes besitzt.

Schuldenquoten sind irrelevant

Wesentlich ist, dass heute im Falle Japans – das Gleiche gilt für alle monetär souveränen Regierungen – die Schuldenquote aus operativer Sicht weitgehend irrelevant ist. Wenn sich die Schulden größtenteils im Besitz der Zentralbank des Landes befinden (oder möglicherweise sein könnten), geschieht einfach folgendes: ein Arm des Staates verleiht im Wesentlichen Geld an einen anderen Arm des Staates, was offensichtlich keine Probleme der Nachhaltigkeit aufwirft, unabhängig von der Schuldenquote. Es ist ein einfacher Buchhaltungsabschluss. Es ist das, was wir „fiktive“ Schulden nennen könnten.

Tatsächlich müssen souveräne Regierungen aus steuerlicher Sicht nicht einmal Schulden aufnehmen, um staatliche Defizite zu finanzieren. Die Regierung kann einfach ausgeben, indem sie von der Zentralbank die Konten der Empfänger öffentlicher Ausgaben aufladen lässt und das Konto der Regierung bei der Zentralbank belastet.
In diesem Zusammenhang ist die Ausgabe von Staatsanleihen lediglich eine geldpolitische Entscheidung, die darauf abzielt, die aus den Defizitausgaben resultierenden Überschussreserven im Bankensystem abzubauen.
Diese Option wird als offene monetäre Finanzierung (OMF) bezeichnet.

Seit 2008, als Reaktion auf die globale Rezession nach der Krise, wird die Idee von einer Reihe namhafter Ökonomen unterstützt, darunter: Der Chefökonom der Citigroup, William Buiter; Richard Wood; Martin Wolf; Paul McCulley und Zoltan Pozsar; Steve Keen; Ricardo Caballero; John Muellbauer; Paul Krugman und andere.
Obwohl die meisten Autoren die monetäre Finanzierung als eine Möglichkeit betrachten, das Staatsdefizit direkt zu finanzieren, haben andere vorgeschlagen, die OMF zu nutzen, um neues Geld direkt auf die Bankkonten der Bürger zu überweisen *) und die Regierung insgesamt zu umgehen. Sogar der ehemalige Gouverneur der Federal Reserve, Ben Bernanke, forderte kürzlich das, was er als „geldfinanziert“ bezeichnet.

Das Fiscal Program, oder MFFP, beschreibt er als ein politisches Szenario, in dem die Staatskasse die Zentralbank einfach anweist, Bankkonten in ihrem Namen zu kreditieren (das heißt, ohne das Haushaltsdefizit mit Schulden, die an den nichtstaatlichen Sektor oder die Zentralbank ausgegeben werden, abzugleichen). Er stellt fest, dass dies eine attraktive Idee ist, da sie die Wirtschaft stimulieren würde, „auch wenn die bestehende Staatsverschuldung bereits hoch ist und/oder die Zinssätze Null oder negativ sind“.

Inflation und begrenzte Ressourcen

Sobald wir begreifen, wie moderne währungsausgebende Staaten funktionieren, können wir auch verstehen, dass der weit verbreitete Glaube, dass es den Regierungen an Geld mangelt, um hochwertige öffentliche Infrastrukturen, Arbeitsplätze oder massive Investitionen in ein ökologisches Übergangsprogramm zum Ausgleich des Klimawandels zu schaffen, schlicht lächerlich ist. Die einzigen Zwänge, denen monetär souveräne Regierungen ausgesetzt sind, sind:

1) Inflation (wenn die Staatsausgaben die Fähigkeit der Wirtschaft, sie aufzunehmen, übersteigen, obwohl dies ein unwahrscheinliches Szenario in Ländern mit hohem Arbeitsaufkommen und industrieller Unterauslastung ist);

2) reale Ressourcen. Dieser zweite Punkt bedeutet, dass die einzige wirkliche Einschränkung bei der Bewältigung der ökologischen Krise die personellen und materiellen Ressourcen sind, die zur Lösung des Problems erforderlich sind. Es ist die berühmte Antwort, die Keynes geben würde, als die Leute ihn fragten, wie er die großen Wohnprojekte, die er in den 1940er Jahren vorschlug, finanzieren wollte: Meinst du, dass es nicht genug Ziegel und Mörtel und Stahl und Zement gibt? Dass es nicht genug Arbeitskräfte gibt? Oder vielleicht, dass wir nicht genug Architekten haben?“. Das Gleiche gilt heute.

3 **)

Sonderfall Eurozone

Natürlich gilt dies nicht für Länder, die zur Eurozone gehören: Sie verwenden effektiv eine Fremdwährung (den Euro). Ähnlich wie eine Staatsregierung in den USA oder Australien verschulden sich die Länder der Eurozone in einer Währung, die sie nicht kontrollieren (sie können keine Zinssätze festlegen oder die Schulden mit neu ausgegebenem Geld überschreiben und sind somit im Gegensatz zu währungsausgebenden Ländern, die Schulden in ihrer eigenen Währung ausgeben, dem Risiko des Ausfalls ausgesetzt).

Wie aus einem aktuellen Bericht der EZB hervorgeht, „haben die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten des Euros trotz der Tatsache, dass der Euro eine Fiat-Währung ist, die Möglichkeit, nicht ausfallbare Schulden auszugeben, aufgegeben“. So ist die Ausgabenkapazität der Länder des Euro-Währungsgebiets in der Tat weitgehend abhängig von den Steuereinnahmen (und dem guten Willen der EZB) und ihrer Fähigkeit, Schulden auf den privaten Märkten aufzunehmen.
Diese Situation „erinnert an die Situation der Schwellenländer, die in einer Fremdwährung Kredite aufnehmen müssen“, stellte Paul De Grauwe vor einigen Jahren fest.

Dies liegt jedoch nicht an einem intrinsischen Wirtschaftsrecht, sondern an einem rein selbst auferlegten Zwang: der Mitgliedschaft in der Eurozone. Die EZB hingegen ist, wie jede andere Zentralbank, keinerlei finanziellen Einschränkungen ausgesetzt. Sie könnte den Ausgabenbedarf der Länder der Eurozone – oder eines noch zu erstellenden „europäischen Finanzministeriums“ – leicht decken, indem sie die notwendigen Mittel aus dem Nichts schafft (wie sie es bereits im Rahmen der quantitativen Lockerung tut). Dies würde jedoch eine tiefgreifende Demokratisierung der EZB und der Eurozone im Allgemeinen erfordern, die politisch unwahrscheinlich oder gar unmöglich sein dürfte.

Das ist also das Problem, mit dem wir heute in der Eurozone konfrontiert sind: Die Lösung der menschlichen und ökologischen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, erfordert 1) das Verständnis für das volle Potenzial monetär souveräner Regierungen und 2) die Nutzung dieses Potenzials, um eine massive sozial-ökologische Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft umzusetzen.

Umfassende Wirtschaftsplanung

Letzteres wiederum erfordert eine umfassende Wirtschaftsplanung, also eine drastische Ausweitung der Rolle des Staates – und eine ebenso drastische Verkleinerung der Rolle des Privatsektors – im Investitions-, Produktions- und Verteilungssystem.

Einfach ausgedrückt, ist es inakzeptabel, dass essentielle Entscheidungen über die Zukunft des biologischen Lebens auf der Erde – also was produziert und konsumiert wird und wie – im Wesentlichen dem Privatsektor und den Finanzmärkten überlassen werden.

Indem sich letztere wiederholt als unfähig erwiesen haben, die Preise effizient zu bestimmen und die Ressourcen auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren zu verteilen, haben sie das krebsartige Wachstum sozial und ökologisch destruktiver (aber sehr profitabler) Industrien und Praktiken befördert. Eine progressive Agenda für das 21. Jahrhundert samt einer modernen Wirtschaftspolitik muss daher zwangsläufig eine breite Renationalisierung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft und einen neuen und aktualisierten Planungsbegriff beinhalten.

Die Länder der Eurozone haben jedoch, wie bereits erwähnt, die Grundvoraussetzung für die Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen aufgegeben: die Währungssouveränität.
Damit haben sie sich auf den Status einer lokalen Behörde oder Kolonie reduziert, wie der britische Ökonom Wynne Godley vor Jahren schrieb. Daher fehlen ihnen die wirtschaftlichen Instrumente, um die von uns genannten Probleme grundsätzlich zu lösen.

Wir haben also zwei Möglichkeiten: die Demokratisierung der Eurozone und ihre schrittweise Reform, damit die volle Macht der EZB genutzt werden kann, um eine radikale Transformation der Wirtschaft durchzuführen;
oder den Ausstieg aus dem Euro und die Rückgabe der Währungssouveränität der Länder.
Ich persönlich halte die erstgenannte Option für politisch unmöglich, so dass nur noch die zweite Option bleibt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lösung der sozial-ökologischen Krise darin besteht, die volle Macht der Währungssouveränität zu nutzen, um ein massives Planungsprogramm durchzuführen.
Für die Länder des Euroraums bedeutet dies, dass sie den Euro verlassen müssen.

Thomas Fazi ist italienischer Schriftsteller, Journalist und preisgekrönter Filmemacher. Der Text ist eine Übersetzte Fassung eines Vortrags, den Thomas Fazi am 13. Oktober auf dem Makroskop-Kongress in Würzburg gehalten hat.

*: Sogenanntes Helikopter-Geld
**: Hier nicht erwähnt wird das Risiko des Wechselkursverfalls und des Devisenmangels. Eine solche Währung würde natürlich im Vergleich zu anderen abstürzen wie die Reichsmark unter Hjalmar Schacht, dem „genialen“ Finanzminister der Nazis. Bei einem Land mit so extremen Exportüberschuss wie Deutschland würde Devisenmangel aber keine Rolle spielen.

 

 

 

Madeleine Albright auf einem Auge blind: Der Faschismus der anderen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sehr interessanter Beitrag von Paul Schreyer auf Telepolis, dort auch viele interessante Kommentare:
https://www.heise.de/tp/features/Der-Faschismus-der-anderen-4170657.html
albright nato

Über diese Dame, die die Kriegsverbrechen der NATO in Jugoslawien mit eingestielt, eine eiskalte Exzeptionalistin, die Spitze der deutschen Grünen aufgekauft hat, habe ich auch schon geschrieben: https://josopon.wordpress.com/2014/03/24/kriegsverbrecher-schroder-fischer-scharping-clinton-albright-blair-chirac-u-a/ und
https://josopon.wordpress.com/2016/09/27/salven-aus-den-verlagshausern-der-anteil-der-medien-an-den-kriegen-des-westens/

Auszüge:

Über Madeleine Albright, den freien Westen und die Feinde der Demokratie

Madeleine Albright, die 81-jährige Ex-US-Außenministerin, ist beunruhigt über den Zustand der Welt. In ihrem neuen Buch Faschismus – eine Warnung sorgt sie sich um die Demokratie und malt ein dunkles Bild der „neuen Autokraten“ von Trump bis Putin.
Sie setzt deren Aufstieg in Verbindung zur Entstehung des Faschismus in den 1920er und 1930er Jahren.

Albrights Buch ist ein Medienereignis, ein internationaler Bestseller, in den USA landete es auf Platz 1 der New-York-Times-Liste, die deutsche Übersetzung schaffte es im August auf Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste. Übersetzungen ins Spanische und Holländische sind ebenfalls bereits erschienen.
Albright ist populär, auch in den Medien, sie gilt vielen als modern, liberal, ist bekannt für ihre uneitle Art und ihren Humor.
Doch wie schlüssig ist ihre These? Und wie definiert die Autorin eigentlich den Begriff Faschismus?

Für mich ist ein Faschist jemand, der sich stark mit einer gesamten Nation oder Gruppe identifiziert und den Anspruch erhebt, in deren Namen zu sprechen, jemand, den die Rechte anderer nicht kümmern und der gewillt ist, zur Erreichung seiner Ziele jedes Mittel zu ergreifen, einschließlich Gewalt.

Madeleine Albright

So schreibt es Albright gleich im ersten Kapitel – und da fangen die Probleme auch schon an. Denn nach dieser Definition könnte sie auch Barack Obama zum Faschisten erklären.
Unbestreitbar griff er zur Erreichung politischer Ziele zu extremer Gewalt, warf Bomben auf zahlreiche Länder und beanspruchte dabei immer wieder, im Namen einer überlegenen Nation zu sprechen.
So betonte er 2014, während seiner zweiten Amtszeit, in einer Rede vor Soldaten:1

Ich glaube an die amerikanische Außergewöhnlichkeit mit jeder Faser meines Wesens.

Barack Obama

Albrights Faschismusdefinition trägt nicht besonders weit, was darin gründet, dass die Politikerin noch ein weiteres Kriterium benutzt, welches sie in ihrem Buch aber nicht offen ausspricht.
Auf dem Weg zum Faschismus befinden sich für sie nicht bloß Staatsführer, die autoritär, nationalistisch und gewalttätig handeln, und die sich dabei auf breiten Rückhalt in der Bevölkerung stützen.

Das versteckte und entscheidende Kriterium liegt für Albright vielmehr darin, dass diese Staatsführer sich gegen das von den USA dominierte internationale Regelwerk wenden und der herrschenden Klasse – vor allem Amerikas – Paroli bieten.

Erst so gesehen ist die von ihr skizzierte Linie von Mussolini über Hitler bis hin zu Chavez, Erdogan, Orban, Putin und Trump wieder schlüssig:
Die Genannten hatten oder haben zumeist großen Rückhalt in der eigenen Bevölkerung und widersetzten sich in entscheidenden Fragen dem jeweils dominierenden Imperium.

Dieses verdeckte Kriterium wird besonders deutlich in den Auslassungen des Buches: Autoritäre, gewalttätige und nationalistische Regierungen, die mit den USA verbündet sind, kommen in Albrights eindringlicher Faschismuswarnung nämlich nicht vor.
Und so ist ihr Appell, trotz vieler kluger Beobachtungen, vor allem ein Lehrstück in Doppelmoral. Alle Ansätze ihrerseits, dieses Messen mit zweierlei Maß zu reflektieren, bleiben schon im Ansatz stecken.

Etwas versteckt in der Mitte ihres Buches findet sich eine Passage, wo die nahezu endlose Reihe rechtsradikaler Diktaturen erwähnt wird, die in den 1970er Jahren enge Partner der USA waren, oder, in Albrights präziseren Worten, „Partner der Regierung Nixon„: „Südkorea, die Philippinen, Indonesien, Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Zaire, Spanien, Portugal, Griechenland, Argentinien, Chile, Paraguay, Brasilien, ganz Mittelamerika mit Ausnahme Costa Ricas.“

Rhetorisch geschickt verknüpft die Autorin diese Sündenliste mit einem in Schande aus dem Amt gejagten US-Präsidenten.
Sie erweckt so den Eindruck eines historischen Sonderfalls – als sei nur ein berüchtigter, öffentlich überführter Politgangster wie Nixon zu solch unmoralischen Partnerschaften überhaupt in der Lage.

Albright kommentiert die Aufzählung der rechtsextremen (Ex-)Freunde der USA zwar mit dem Satz: „Eine beschämende Liste.“ Doch schließt sich an diesen kurzen Moment der Scham keinerlei weitere Analyse an.
Die Politikerin hat die böse Wahrheit kurz ausgesprochen, hat die „alte Sünde“ gebeichtet – das war’s.

Der festen, fast schon religiösen Überzeugung einer vermeintlich höheren Moral des „freien Westens“, kann dieses Bekenntnis offenbar nichts anhaben. Typisch katholisch könnte man das, mit einigem Sarkasmus, nennen, und in der Tat wurde Albright katholisch erzogen, nachdem ihre Eltern im Londoner Exil 1941 vom Judentum zum Katholizismus konvertiert waren.

Aus Albrights wechselvoller Lebensgeschichte und ihrem Image der ebenso kämpferischen wie humorvollen „sympathischen Oma“, deren frühe Kindheit in den dunklen Strudel der großen Politik geriet, bezieht das Buch einen großen Teil seiner moralischen Autorität. Dieser schwer geprüften Großmutter wollen viele Menschen offenbar gern zuhören – und auch gern glauben.

Gefördert von der Elite

Die ersten Seiten des Buches beginnen mit der Schilderung der Flucht ihrer Familie aus der Tschechoslowakei 1939 vor den Nazis nach London, und später, nach ihrer Rückkehr in der Folge des Zweiten Weltkriegs, ihrer zweiten Flucht, diesmal vor den Kommunisten, die 1948 in Prag die Regierung übernahmen.

Albrights Vater, Josef Korbel (1909-1977), bis zu seiner Flucht in die USA ein tschechischer Diplomat, hatte vor der Machtübernahme durch die Kommunisten gute Aussichten, Außenminister seines Landes zu werden.
In den USA wurde er bald zu einem einflussreichen Universitätsprofessor. Zu seinen Studenten zählte in den 1970er Jahren die spätere US-Außenministerin Condoleezza Rice.
Korbel gehört zur langen Reihe osteuropäischer Emigranten, die in den USA aus vollem Herzen die antikommunistische Staatsdoktrin unterstützten – hatten die Kommunisten sie doch aus ihrer Heimat und ihren beruflichen Positionen verdrängt.

Eine ähnliche familiäre Prägung erfuhr der mächtige Ex-US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski (1928-2017), dessen adliger polnischer Vater ebenso Diplomat war und der gleichfalls nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in seine Heimat zurückkehren konnte – eine der Quellen des militanten Antikommunismus der Brzezinskis. Madeleine Albright gehörte in den 1970er Jahren zum Team Brzezinskis im Nationalen Sicherheitsrat. Die vertriebenen Exilanten kennen sich – und ihren gemeinsamen Feind.

Sehr erhellend für das Verständnis dieses Milieus ist der mühelose Einstieg von Albrights Vater 1949 in die Elitestrukturen der USA. In ihrem Buch heißt es dazu nur knapp, dass der Vater „schon bald eine Stellung als Professor an der Universität Denver erhielt“ und dort „Bücher über die Gefahr der Tyrannei schrieb“.

Dass ein politischer Flüchtling kaum einfach so, ohne mächtige Hilfe und Protektion, eine begehrte Professorenstelle erhält, liegt auf der Hand. Recherchiert man an dieser Stelle, abseits von Albrights Buch, etwas weiter, dann stößt man auf das illustre Netzwerk, das diesen geschmeidigen Einstieg damals arrangierte.

Im Zentrum stand Philip E. Mosely (1905-1972), Mitglied der Rockefeller-Stiftung, später beim Council on Foreign Relations tätig, und in den 1950er Jahren enger Vertrauter von CIA-Chef Allen Dulles.
Vermittelt durch Mosely, finanzierte die Rockefeller-Stiftung den beruflichen Start von Albrights Vater in den USA.

Dokumentiert ist auch, wie Mosely – laut einer Journalistin der New York Times ein „Pate der osteuropäischen und russischen Emigranten in den USA“2 – sich in den 1950er Jahren regelmäßig mit CIA-Chef Dulles darüber beriet, welche Themen demnächst in Forschungsprogrammen untersucht werden sollten und welche Wissenschaftler man dafür auswählte.

CIAlogoDie CIA lenkte aktiv die politische Forschung in den USA mit. Wer welche Studie schreiben durfte, war Gegenstand geheimdienstlicher Erwägungen.

Albrights Vater wirkte hier als nützliches Rädchen in der großen Kampagne gegen den Kommunismus, mitfinanziert durch Stiftungen von Milliardären wie Rockefeller, die sich begründete Sorgen um den Fortbestand ihres gigantischen Reichtums machten, sollte der Kommunismus sich weiter ausbreiten.
Gern spendierten die Reichsten der Gesellschaft da ein paar Millionen, um genehmen Wissenschaftlern den Weg zu ebnen und es ihnen zu ermöglichen, „Bücher über die Gefahr der Tyrannei“ zu schreiben.*)

Das ist deshalb besonders verlogen, da in jener Zeit, Ende der 1940er Jahre, die CIA nicht nur damit begann, autoritäre und gewalttätige Rechtsextremisten in aller Welt zu fördern, solange sie nur den Kommunismus bekämpften (der das Privateigentum der Reichsten bedrohte), sondern selbst berüchtigte Nazis aktiv vor Verfolgung schützte und für sich arbeiten ließ.3

Albright knüpft mit ihrem aktuellen Buch nun nahtlos an die familiäre Traditionslinie an. Dazu kommt das Element des Opportunismus. Sie selbst schildert freimütig, wie sehr die Exilanten sich damals darum bemühten, nicht aufzufallen:

Ich tat alles, um mich anzupassen (…) Nachdem ich selbst eine Familie gegründet hatte, rief mich meine Mutter jedes Jahr am 4. Juli an, um nachzuprüfen, ob ihre Enkelkinder auch wirklich patriotische Lieder sangen und an der Parade teilgenommen hatten.

Madeleine Albright

Auch ihr Vater hatte sich in der neuen Heimat rasch perfekt angepasst. Als der jugoslawische Botschafter in Washington die USA 1950 des Imperialismus bezichtigte, bezeichnete Korbel das in seinem durch Rockefellers Geld ermöglichten ersten Buch als „taktlos“ – vor allem deshalb, weil sich die USA damals mit umfangreichen Geldflüssen um gute Kontakte zu Jugoslawien bemühten.4

Im Gegenzug, so darf man Korbel verstehen, kann von einem Geldempfänger wohl erwartet werden, dass er solche Kritik für sich behält.
Das ist pragmatische Diplomatie – aber doch etwas anderes als diejenige hohe Moral, die Korbel wie auch seine Tochter stets für sich reklamierten.

Abgründe von Morallosigkeit

Madeleine Albright ist nicht nur mitverantwortlich für die erste Bombardierung einer europäischen Hauptstadt nach 1945 (Belgrad 1999), sondern auch berühmt geworden für ihre 1996 getätigte Aussage, die US-Sanktionen gegen den Irak seien die 500.000 verhungerten Kinder dort „wert“ gewesen.

Eine weniger bekannte Episode ihrer Karriere veranschaulicht vielleicht noch deutlicher, dass diese Politikerin sich hinter den größten und bösartigsten Kriminellen der Gegenwart kaum zu verstecken braucht.

1997, sie war gerade Außenministerin unter Präsident Bill Clinton geworden, nahm sie an einem informellen Frühstück im Büro des Sicherheitsberaters teil.
Zu dieser Zeit führten die USA Überwachungsflüge über dem Irak mit U-2-Jets durch, die in großer Höhe operierten.

Albright nahm beim Frühstück den ranghöchsten US-Militär, den Chef des Vereinigten Generalstabs, Hugh Shelton, vertraulich zur Seite und machte ihm einen Vorschlag:
„Hugh, ich weiß, dass ich Sie das nicht fragen sollte, aber um in den Irak zu gehen und Saddam ausschalten zu können, brauchen wir ein wirklich extremes Ereignis – etwas, das uns in den Augen der Weltöffentlichkeit gut aussehen lässt. Könnten Sie dafür sorgen, dass einer unserer U-2-Jets ausreichend tief und langsam genug fliegt, um sicherzustellen, dass Saddam ihn abschießen könnte?“

Shelton schilderte diese Episode in seiner 2010 veröffentlichten Autobiographie, ohne Albrights Namen dabei direkt zu nennen. Aus dem Kontext heraus wird gleichwohl klar, dass es sich um die Außenministerin handelte.5
Shelton war, seiner Darstellung zufolge, erschüttert über diesen Abgrund von Kriminalität und Morallosigkeit und antwortete recht schlagfertig: „Natürlich können wir …“, worauf Albright erfreut gelächelt und sich aufgeregt vergewissert habe: „Wirklich?“
Shelton präzisierte seine vermeintliche Bereitschaft dann so: „Aber sicher. Sobald wir Sie zum Fliegen ausgebildet haben, werde ich Sie so tief und langsam fliegen lassen, wie Sie nur wollen.“
Albright darauf: „Ich wusste, dass ich Sie das nicht hätte fragen dürfen …“

Man sollte diesen außergewöhnlichen Dialog in Ruhe auf sich wirken lassen: Die amtierende US-Außenministerin wollte den ranghöchsten Militär für eine Verschwörung gewinnen, mit dem Ziel, die eigene Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit zu täuschen, um einen Krieg vom Zaun brechen zu können. Und die gleiche Person „warnt“ heute mit erhobenem Zeigefinger vor den Feinden der Demokratie. Absurder geht es kaum.

Nichtsdestotrotz wird ihr Buch in den großen Medien fast ausnahmslos gelobt: „Albright hat ein kluges Buch über populistische Strömungen weltweit geschrieben und erinnert in dunklen Tagen an ein besseres Amerika“, meinte etwa Dennis Scheck, wie ein Küken piepsend, im Tagesspiegel.**)

Doch dieses „bessere Amerika“, an das sich dieser Tage so viele gern erinnern möchten, gab es nie. Es ist eine Fiktion.

Wenn Albright ihr Buch mit einem ausführlichen – und durchaus kundigen Kapitel – zum Aufstieg Benito Mussolinis beginnt, dem Begründer des Faschismus, dann vergisst sie dabei, vielleicht nicht zufällig, zu erwähnen, dass Mussolini bereits 1917, damals noch Journalist und Herausgeber einer Zeitung, umgerechnet mehr als 300.000 Euro vom britischen Geheimdienst erhielt, um in Italien weiter für den Krieg zu trommeln und Friedensdemonstranten verprügeln zu lassen.
Die Geschichte des Faschismus ist komplex und der „liberale Westen“ auf vielfältige Weise darin verwoben.

Möglicherweise sympathisieren manche der heutigen Faschismus-Warner im Establishment insgeheim mit António Salazar.
Dieser faschistische Führer Portugals, (das unter seiner Herrschaft 1949 Gründungsmitglied der Nato war), hielt die Demokratie insgesamt für eine Einbildung. Überliefert ist sein Bekenntnis: „Ich glaube nicht an das allgemeine Stimmrecht, ich glaube nicht an die Gleichheit, ich glaube an die hierarchische Ordnung.

Und, so schrieb es der Spiegel anlässlich seines Todes 1970: „Er glaubte an die Macht.“

Auch wenn Albright kein Anhänger Salazars sein sollte – dass sie diesen Glauben mit ihm teilt, hat sie in ihrem Leben hinreichend bewiesen.

*) Zur „Großzügigkeit“ der Reichen vgl. hier: https://josopon.wordpress.com/2018/09/30/vorsicht-vor-reichen-weltverbesserern-sie-konnen-so-groszugig-wirken-bis-man-merkt-was-sie-u-ns-eigentlich-wirklich-verkaufen/

**) Das gehört zum regelmäßigen Piepsen der Küken in der ARD. Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2018/05/13/offener-brief-an-georg-restle/

Jochen

Maaßen wird Staats-Sicherheits-Sekretär – Hat die Speerspitze des Tiefen Staates ins Auge der Bundesregierung getroffen ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Mit einer aktuellen satirischen Ergänzung aus dem POSTILLON

Herr Maaßen hatte vor seinem Fall nach oben in der Öffentlichkeit behauptet:
„Wenn ich falle, fällt auch Seehofer !“
Was wusste der, das Seehofer in Verlegenheit hätte bringen können ?
Ist das mögliche, vom Steuerzahler aufzubringende Schweigegeld für die nächsten Jahrzehnte gut angelegt ?
Die Akten jedenfalls dürfen 12o Jahre lang weggesperrt werden

Es klingt nach Verschwörungstheorie, aber wenn ich vor der Enttarnung des NSU behauptet hätte, dass ein Trio junger Neonazis mindestens 9 feige Morde begeht und dabei jahrelang unter Beobachtung des BND und des Verfassungsschutzes steht und erst dann enttarnt wird, wenn eine Polizistin das Opfer wird, hätte mich Wikipedia garantiert unter diese Rubrik abgespeichert.
Aber es war so, und die Vertuschungsaktionen, während denen 3 aussagefähige Zeugen unter nicht aufklärbaren Bedingungen zu Tode kamen, machten alles noch schlimmer.
Eine Täterin hatte man noch zum Vorzeigen, obwohl ihr bei keiner der Morde die Anwesenheit nachgewiesen werden konnte.
In der JVA fühlt sie sich mittlerweile nach dem obigen Geschehen vermutlich sicherer als draußen. Sie hatte brav die zugewiesene Rolle gespielt.

Wolf Wetzel hat jahrelang recherchiert und auf den NachDenkSeiten kommentiert, dankeschön. Er hat auch untersucht, was aus den staatlichen Vertuschern wurde, u.a. einem Tatzeugen im staatlichen Dienst, für den sich schon die Reinemachefrau vom NDR eingesetzt hatte.
Weiter unten führe ich seinen Beitrag an und kann an den Parallelen zum Fall des Maaßen nicht vorbei schauen trotz meiner 64 Jahre alten Augen.
Siehe hier den sehr ausführlichen Beitrag vom 19. März 2018: https://www.nachdenkseiten.de/?p=43045
002 maassen bfv

Das „massive Behördenversagen“ in Sachen „NSU“ macht Karriere


der amtierende Chef des Inlandgeheimdienstes/BfV, Hans-Georg Maaßen, ließ 2015 die Öffentlichkeit wissen:

„Ich weise diese Kritik zurück; viele Vorwürfe sind unsachlich oder zu pauschal. Klar ist: Mein Amt war nicht zuständig für die Fahndung nach dem Trio. Das war Aufgabe der Polizei und der Staatsanwaltschaften. Damals sind schwere Fehler gemacht worden, aber ich verwahre mich dagegen, dies meiner Behörde zuzurechnen.“ (taz vom 11.2.2015)

Ein mehr als durchsichtiger Versuch, einen nicht gemachten Vorwurf mit Verve zurückzuweisen. Denn niemand erwartete vom BfV, dass es die Fahndung nach untergetauchten Neonazis selbst in die Hand nimmt, was ihm untersagt ist. Vielmehr lautet der vielfach belegte Vorwurf, den eigenen Vorgaben massiv zuwider gehandelt zu haben:
Informationen und Kenntnisse über die untergetauchten Neonazis an die zuständigen Polizeibehörden weiterzugeben, um schwere Straftaten zu verhindern bzw. an der Aufklärung einer begangenen Straftat mitzuwirken.
Genau dies ist nachweislich in unzähligen Fällen nicht passiert! Zahlreiche Festnahmemöglichkeiten wurden durch Interventionen von seiten des Verfassungsschutzes, dem sich das Innenministerium anschloss, verhindert:

„Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.“ (Frankfurter Rundschau vom 8.12.2011)

Dennoch erntete der neue Geheimdienst-Chef für diese Irreführung und Selbstamnestierung keine erbosten Gegenstimmen, keine Entrüstung aus dem parlamentarischen Raum.
Schon gar nicht antwortete man ihm mit Entlassung.

Bleiben wir einmal bei dieser Art der „Aufklärung“. Wenn zumindest viele „Einzelne“ gegen Strafgesetze und Dienstvorschriften verstoßen haben, dann müssten doch all jene „Einzeltäter“ mit straf- bzw. dienstrechtlichen Mitteln belangt worden sein. Das Ergebnis ist mehr als niederschmetternd.

Ich möchte dies an einigen herausragenden Personen nachzeichnen, die in exponierter Position dieses „massive Behördenversagen“ ermöglicht haben.

Andreas Temme, V-Mann-Führer im Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen

Andreas Temme war beim Mord an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel 2006 am Tatort gewesen. Er hatte sich dort unter falschem Namen eingeloggt und war der einzige Zeuge, der sich nicht gemeldet hatte.
Die Polizei ermittelte seine wahre Identität und führte ihn längere Zeit als Tatverdächtigen.
Nachdem alle ihm vorgesetzten Dienststellen das polizeiliche Ermittlungsverfahren torpedierten, wurde das Verfahren im Januar 2007 gegen ihn eingestellt.

Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen häuften sich disziplinarrechtliche „Vergehen“:

  • Er machte während seiner Einlassungen Falschaussagen.
  • Bei ihm wurden zahlreiche Waffen und Munition gefunden.
  • Er konsumierte faschistisches Propagandamaterial und Cannabis.

Man leitete ein Disziplinarverfahren ein – ohne jemals tatsächlich zu ermitteln. Ein Phantom-Verfahren oder eine „Farce“, wie es die SPD-Obfrau Nancy Faeser qualifizierte.

Der damit beauftragte Regierungsdirektor am Regierungspräsidium Darmstadt, Wolfgang V., erklärte im NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags am 30.9.2016, dass er nicht einmal Temmes Namen erfahren habe „und keine konkreten Vorwürfe“. (FR vom 4.10.2016). Am 26.2.2007 stellte er etwas ein, was nur dem Anschein dienen sollte.

Temme hat heute einen geruhsamen Job in der Rentenabteilung des hessischen Innenministeriums.

Michael Menzel, Einsatzleiter in Eisenach 2011, später Chef der SOKO „Capron“ und zugleich Leiter der Polizeidirektion in Gotha

Am 4. November 2011 soll die Polizei durch Zeugen auf einen Campingwagen in Eisenach aufmerksam gemacht worden sein, in den sich mutmaßliche Bankräuber geflüchtet haben sollen.
Man will zwei Schüsse gehört haben. Die Schüsse wurden nicht auf Beamte abgefeuert.
Laut Ermittlungsergebnis tötete Uwe Mundlos mit einer Pumpgun zuerst Uwe Böhnhardt mit einem Schuss in den Kopf.
Dann setzte er den Campingwagen in Brand, lud das ca. 80 Zentimeter lange Repetiergewehr nach, richtet den Lauf von unten gegen den eigenen Kopf und tötet sich selbst.
Wenig später war die Feuerwehr vor Ort, löschte den Brand und machte zu Dokumentationszwecken Fotos – auch vom Innenraum.

Entgegen dieser bis heute gültigen Version erzählte Michael Menzel, damaliger Leiter der für Eisenach zuständigen Polizeidirektion Gotha (später Chef der SOKO „Capron“), der BILD-Zeitung etwas ganz Anderes:
„Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. … “, sagte Menzel. (Bild.de vom 26.11.2011).

Wenn die bis heute gültige Version die richtige ist, dann hat der Leiter der Polizeidirektion Gotha eine Falschaussage gemacht!

Tatsächlich traf Michael Menzel knapp 30 Minuten nach Auffinden des Campingwagens am Tatort ein. Seine erste Amtshandlung bestand darin, die Kamera des Feuerwehrmanns zu beschlagnahmen.
Eine Amtsanmaßung, eine Straftat im Amt, denn es gab keinen einzigen dienstlichen Grund, die Fotos, die zu Dokumentationszwecken erstellt werden, zu kassieren.
Obwohl es zum Einmaleins der Ermittlungsarbeit gehört, bestimmte weder ein Notarzt vor Ort den Todeszeitpunkt, noch konnte die Gerichtsmedizin ihrer Arbeit nachgehen, anhand von Blutmusterbildern zu überprüfen, ob diese mit dem angenommenen Geschehensablauf übereinstimmen. Die Gerichtsmediziner wurden einfach weggeschickt.

Wenig später ordnete Michael Menzel an, den ausbrannten Campingwagen über eine 20 bis 30 Grad geneigte Rampe abzuschleppen, wodurch der mögliche Tatort im Polizeijargon „kontaminiert“, also für eine Spurenauswertung unbrauchbar gemacht, wurde. Eine Spurensicherung vor Ort wurde also unterlassen.

Damit wurden gängige und im Schlaf eingeübte Ermittlungsmethoden komplett ausgeschaltet, was zur Folge hat, dass alle „Ermittlungsergebnisse“, die später präsentiert wurden, wertlos sind, also einem Verwertungsverbot unterliegen müssten.

Eine Serie von „Pannen“ also, die auf systematische Weise die Rekonstruktion der tödlichen Ereignisse verhindert hatte. All dies ist unter Leitung und auf Anweisung des späteren Chefs der SOKO „Capron“ passiert. Hat man ihn wenigstens wegen der „Pannen“ gerügt oder sanktioniert?

Menzel ist derzeit im Thüringer Innenministerium Referatsleiter Verbrechensbekämpfung.“ (thueringer-allgemeine.de vom 18.11.2015)

Viel höher kann man nicht „fallen“. (mein Kommentar: doch, er könnte noch Nachfolger von Maaßen werden !)

Gordian Meyer-Plath | Verfassungsschutz in Brandenburg

Gordian Meyer-Plath war zeitweilig V-Mann-Führer des angeworbenen Neonazis Carsten Szczepanski mit Deckname „Piatto“:
„Von Januar 1997 bis Oktober 1998 war er VM-Führer von Piatto, zusammen mit einem zweiten VM-Führer, der bisher nicht eindeutig identifiziert ist. Meyer-Plath traf sich 37-mal mit Piatto, der bis zu 300 DM pro Treff als Honorar bekam, insgesamt 50.000 DM, zuzüglich Extraprämien für besonders wertvolle Informationen und Spesen.“ (Thomas Moser)

Der Neonazi und V-Mann Carsten Szczepanski ist zweifelsohne eine Schlüsselfigur im NSU-VS-Komplex:
„Der Mann war 1995 wegen versuchten Mordes an einem Nigerianer (Steve Erenhi, d.V.) zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Er wurde damals im Gefängnis zu einem Informanten der Behörde und lieferte auch Hinweise auf die Mitglieder der Zwickauer Terrorzelle.
Meyer-Plath hatte lange in der Verfassungsschutzabteilung des Brandenburger Innenministeriums gearbeitet und gehörte in den 90er Jahren zu den Führern des V-Mannes. Meyer-Plath betonte, ihm sei bekannt gewesen, dass der Mann ein führender und gefährlicher Rechtsextremist gewesen sei. Seine Vorgesetzten hätten sich aber aus strategischen Gründen für die Kooperation entschieden.
‚Ich habe die Früchte geerntet und das nicht hinterfragt‘, sagte er. (…) Der V-Mann lieferte 1998 auch Hinweise auf das gerade abgetauchte rechtsextreme Terrortrio NSU.“ (spiegel.de vom 15.4.2013)

Was 2013 noch nebulös als Hinweise umschrieben wurde, steht nun mehr als quellensicher fest. Der zweite V-Mann-Führer von „Piatto“ bestätigte am 2.3.2016 vor dem OLG in München genau das, was Recherchen bereits ans Licht gebracht hatten: Bereits 1998 habe ihm „Piatto“ erzählt, „die Unterstützer wollten Waffen für die drei besorgen und aus Konzerterlösen bezahlen. ‚Piatto’ habe ihm als Info-Quelle zwei Anführer der „Blood & Honour“-Gruppe genannt. Das war 1998 einer der wenigen Hinweise bundesweit auf den NSU.“ (pnn.de vom 3.3.2016)

Bei den „drei“ handelte es sich um die abgetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
Nach seiner Haftentlassung 1999 machte er sich als Neonazi und V-Mann an den Aufbau von Wehrsportgruppen und beteiligte sich aktiv daran, einen Ableger von „combat 18“ aufzubauen.
Nach vollbrachter staatlich geförderter Neonazitätigkeit wurde er ins Zeugenschutzprogramm genommen und vor rechtstaatlichen Ermittlungen abgeschirmt: Der Verfassungsschutz Brandenburg verhindert durch eine sogenannte Sperrerklärung, dass der Neonazi und V-Mann in Münchner NSU-Prozess umfänglich aussagt.

Ganz auf der Linie des Justiz- und Innenministeriums agierte auch Gordian Meyer-Plath. Am 22. April 2015 wurde er als Zeuge im NSU-Prozess in München gehört.
Sein Erinnerungsvermögen glich dem der Neonazis, die als Zeugen gehört wurden. In den allermeisten Fällen, vor allem dann, wenn es konkret wurde, konnte er sich nicht erinnern. Manchmal verwies er auch auf seine Aussagebeschränkung.

Was auch hier bestenfalls als „Panne“ bedauert wird, ist der Aufbau eines neonazistischen Untergrundes, seine Co-Finanzierung und die gezielte Unterlassung von Möglichkeiten, neonazistische Straftaten zu verhindern.

All das hat Gordian Meyer-Plath nicht geschadet: Er ist seit 2013 Präsident des Verfassungsschutzes in Sachsen.

Referatsleiter Axel M. | Deckname Lothar Lingen | Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV in Köln

Der Referatsleiter im BfV, mit dem Decknamen Lothar Lingen, „über Jahre verantwortlich für das Anwerben und Führen rechtsradikaler Spitzel, hat am Vortag (am 10.11.2011) um 10.25 Uhr per Mail den Auftrag erteilt, Dokumente zu sechs V-Männern aus Thüringen und einem aus Niedersachsen zu vernichten.
Die Akten zu den Fällen Tobago, Tusche, Treppe, Tonfarbe, Tacho, Tinte, Tarif würden ‚nicht mehr gebraucht‘.
Die Spitzel führte das Amt von 1999 bis 2003 – im Rahmen der ‚Operation Rennsteig‘.“ (Operation Konfetti, stern.de vom 16.10.2012)

Das Magazin Der Stern zeichnete die „Operation Konfetti“ wie folgt nach: „Am 4. November 2011 erschießen sich in einem Wohnmobil zwei Männer. In Zwickau explodiert ein Haus. Eine Mordserie endet. Seit Jahren bleiben Fragen unbeantwortet. (…) Köln, Bundesamt für Verfassungsschutz, 10. November 2011. Frau N., Sachbearbeiterin, gewissenhaft, fragt sicherheitshalber noch einmal nach.

“Was soll hier vernichtet werden?”
“Sechs Akten”, sagt der Referatsleiter M.
“Sind das denn V-Mann-Akten, oder sind das Werbungsakten?”
“Es sind V-Mann-Akten.”
“Die werden doch nicht vernichtet. Wieso sollen die vernichtet werden?”
“Tun Sie das, was ich sage.”
“Nein, das tue ich nicht. Geben Sie mir das schriftlich.”
Referatsleiter M. schickt eine E-Mail.

Einen Tag später, zwischen zehn und elf Uhr, schiebt Frau N., gewissenhaft und zusammen mit einem Kollegen, sechs Akten in den Schlund des gewaltigen Reißwolfs im Keller des Bundesamts.
Sechs Akten, auf die der Referatsleiter stieß, als er hektisch nach drei Namen suchte: Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt. (…)
Drei Namen, die den Verfassungsschützern seit einer Woche Sorgen machen, seit Maskierte eine Bank in Eisenach überfielen und ein Haus in Zwickau explodierte.
Namen, die schon bald mit einer Mordserie verbunden, zu Synonymen einer Staatsaffäre werden.“ (Stern vom 26.11.2014)

Nachdem dieser Vorgang nicht mehr als ganz normaler Vorgang im Rahmen gesetzlicher Löschfristen frisiert werden konnte, galt es einen hierarchiefreien Einzelgänger zu finden.
Genau dies tat der damalige Vize-Präsident Klaus-Dieter Fritsche in seiner Erklärung am 18.12.2012 vor dem PUA in Berlin wie folgt:

„Hiervon getrennt zu sehen ist der Sachverhalt der außerordentlichen Aktenvernichtung im BfV noch nach Bekanntwerden des NSU, über den ich erstmalig am 27.06.2012 Kenntnis erlangt habe und der mich fassungslos gemacht hat. Ich habe den damaligen Präsidenten des Bundesamtes unmittelbar aufgefordert, den Sachverhalt umfassend zu erheben und habe mir gleichzeitig disziplinarrechtliche Maßnahmen vorbehalten. (…) Ich möchte seinem heutigen Abschlussbericht in diesem Ausschuss nicht vorgreifen. Aber das offensichtlich bewusste, individuelle Fehlverhalten eines Referatsleiters hat dazu geführt, eine ganze Behörde in Verruf zu bringen.

Gehen wir auch hier davon aus, dass wieder einmal ein hochrangiger Beamter ganz eigensinnig und seiner inneren Stimme folgend, genau jene Beweismittel vernichtet hatte, die zuvor angefordert wurden.
Glauben wir weiterhin, dass ein solcher Beamter „eine ganze Behörde in Verruf“ gebracht hat, dann müsste es ihm in der Folge ganz schlimm ergangen sein!

Vor allem dann, wenn spätestens seit dem 24. Oktober 2014 mit seiner Vernehmung durch BKA-Beamte aktenkundig ist, dass weder Löschfristen, noch ein Versehen für die Vernichtung von V-Mann-Akten verantwortlich sind, sondern eine gezielte Vertuschung der Tatsache, dass der Verfassungsschutz zahlreiche V-Leute im Nahbereich des NSU hatte:

„Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen (…) in Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht mehr auftaucht“, sagte Lingen laut BKA-Protokoll. (FR vom 5.10.2016)

Der Referatsleiter des Inlandgeheimdienstes hat also nicht nur wichtige Beweismittel vernichtet, die den Staatsanteil im NSU-Komplex qualifizieren könnten.
Er hat darüber hinaus diese Straftat mit vorgetäuschten Amtshandlungen verdeckt. Welche Folgen hatte dieses „offensichtlich bewusste, individuelle Fehlverhalten eines Referatsleiters“?

Er wurde ins Bundesverwaltungsamt in Köln versetzt, „wo er unter anderem Personenvorschläge für Auszeichnungen durch den Bundespräsidenten erarbeitet“ (FR vom 5.10.2016), unter seinem echten Namen: Axel Minrath.

Alexander Eisvogel | Direktor im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV)

Alexander Eisvogel hatte von 2004 bis 2006 als Direktor beim Verfassungsschutz die damals neu gegründete Abteilung “Islamischer Extremismus und islamistischer Terrorismus” geleitet. Von seinem Amtskollegen im hessischen Verfassungsschutz bekam er die Anfrage, ein Gutachten anzufertigen, das den Schutz von V-Leuten unterstreichen sollte. Hintergrund dieses Ansinnens war, dass die ermittelnde Polizei im Mordfall Kassel 2006 den hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme als möglichen Tatverdächtigen führte. Dieser war zur Tatzeit anwesend und „führte“ u.a. den Neonazi Benjamin Gärtner, der zum NSU-Netzwerk gehörte, als V-Mann.
Da er am Tattag telefonischen Kontakt zu besagtem Neonazi und V-Mann hatte, wollten die Ermittler diesen Neonazi als Zeugen befragen.

Das beauftragte Gutachten kam zu dem Schluss, dass der Schutz von V-Leuten „unabdingbar“ sei und dies auch die „Sicherheitslage“ verlange.
Dank dieses Gutachtens wies der damalige Innenminister Volker Bouffier den Antrag auf Vernehmung dieses V-Mannes zurück.

Weniger als zwei Monate nach der Erstattung des Gutachtens wurde Eisvogel von Bouffier zum Präsidenten des hessischen Verfassungsschutzes ernannt.“ (FR vom 10./11.9.2016)

Auch das sollte noch nicht alles sein:

„Nach seiner Rückkehr zum BfV als dessen Vizepräsident leitete er zuletzt das Projekt zur Reform des Verfassungsschutzes.“ (n24. de vom 15.9.2013)

Klaus-Dieter Fritsche | Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz

Klaus-Dieter Fritsche war von Oktober 1996 bis November 2005 Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Im September 2003 verfasste er in dieser Funktion einen als geheim eingestuften Bericht, der die Frage nach einer „braunen RAF“, also nach terroristischen Strukturen und Verbindungen innerhalb der Neonaziszene, beantworten sollte.
Laut dem Magazin Stern kam der Bericht zu folgendem Ergebnis:

„Fritsche erinnerte die These von der braunen RAF an Berichte über ‚drei Bombenbauer aus Thüringen, die seit mehreren Jahren abgetaucht‘ seien. Dabei seien ‚diese Personen auf der Flucht‘ und hätten ‚seither keine Gewalttaten begangen‘. Ihre Unterstützung sei ‚nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität‘. Zudem seien ‚Absichten für einen solchen Kampf in der rechtsextremistischen Szene nicht erkennbar‘, ein ‚potenzielles Unterstützerumfeld‘ gebe es ‚nicht‘.“ (Operation Konfetti, stern.de vom 16.10.2012)

Von Dezember 2005 bis Dezember 2009 arbeitete Fritsche als Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt. Er hatte also leitende Funktionen inne, als das Totalversagen seinen Lauf nahm.
Und spätestens seit 2006 wusste er nicht nur, was im Bundesamt für Verfassungsschutz gemacht bzw. unterlassen wurde, sondern auch, was der Militärische Abschirmdienst/MAD dazu beigetragen hat.

Nachdem die Existenz des NSU nicht mehr zu verheimlichen war, versprach die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2011 der Öffentlichkeit und den Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors lückenlose Aufklärung.
Wie das gemeint war, bewies das Bundesamt für Verfassungsschutz zeitnah: Es wurde eine umfangreiche Vernichtung von V-Mann-Akten angeordnet, die im Nahbereich des NSU operiert hatten:

„Berlin, 14. November 2011, Bundesinnenministerium.
Ein Sachbearbeiter ist es, zuständig für Geheimschutz im Referat ‘S III 3‘, der einen vertraulichen ‚Vernichtungserlass‘ ans BfV abschickt. Es ist eine Weisung: Akten zu Abhörmaßnahmen müssten vernichtet werden, weil Löschungsfristen abgelaufen seien. Die ‚Sammelanordnung‘ betrifft auch sechs Ordner mit Abhörprotokollen von Rechtsextremisten.
Der Auftrag zum Schreddern kommt direkt aus dem Ministerium – aus einer Abteilung aus dem Bereich des Sicherheits-Staatssekretärs Fritsche.“
(Operation Konfetti, stern.de vom 16.10.2012)

Um zu klären, wie „versehentlich“ wichtige Akten von V-Leuten im Nahbereich des NSU vernichtet werden konnten, wurde Klaus-Dieter Fritsche am 18.10.2012 als Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Berlin befragt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Bediensteten dieser Behörde gab er sich mit Bedauern und Erinnerungslücken nicht ab.
Er machte klar und deutlich, warum es hier geht, warum seine Behörde so gehandelt hat, warum alles richtig war und ist:

Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz ‚Kenntnis nur wenn nötig‘. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive.
Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.“

Damit war die Frage beantwortet, warum über 300 Akten vernichtet worden sind, warum zahlreiche V-Mann-Akten nur geschwärzt einsehbar sind, warum der Tatanteil von V-Männern am Zustandekommen des NSU bis heute gedeckt wird. Die offene und unmissverständliche Ankündigung und Rechtfertigung, die juristische und politische Aufklärung zu sabotieren, hat auch diesem Mann nicht geschadet. Im Gegenteil: Er wurde dafür fürstlich belohnt.

Seit Dezember 2013 ist er Staatssekretär für die Belange der Nachrichtendienste im Bundeskanzleramt. Dieser Posten wurde von der Bundeskanzlerin Angela Merkel neu geschaffen.

Freispruch am laufenden Meter

Man muss den Ausgang im NSU-Prozess in München nicht abwarten, um mit dieser Art der „Aufklärung“ abzuschließen.
Denn lange bevor das Urteil in München gesprochen wird, wurden die an dem „massiven Behördenversagen“ Beteiligten mit diesen Belobigungen „gefeiert“.

Und es lässt sich ein mehr als düsteres Fazit ziehen:
Wenn all jene nichts zu befürchten haben, die den NSU ausgestattet haben, Festnahmemöglichkeiten verhindert hatten, V-Leute als Neonazis gewähren ließen, Akten vernichtet haben, die dies belegen würden – wenn diese vielmehr gedeckt, beschützt, belohnt und befördert werden, dann haben sie nichts falsch, sondern alles richtig gemacht.

Quelle: Eine sehr gute Zusammenfassung zur „Operation Konfetti“ findet sich hier (stern.de vom 16.10.2012)

Wolf WetzelDer NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2015/3. Auflage

https://www.der-postillon.com/2018/09/nahles-maassen-spd.html?m=1

Nahles verteidigt Maaßen-Deal: „Versager zu befördern hat eine lange Tradition in der SPD“

NahlesBerlin (dpo) – Nach scharfer Kritik durch Medien und Parteikollegen hat SPD-Chefin Andrea Nahles heute den Kompromiss der Großen Koalition zur Personalie Maaßen mit klaren Worten verteidigt.
„Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Versager zu befördern hat doch eine lange Tradition in der SPD“, so Nahles in einer Pressekonferenz. „Seit Jahrzehnten befördern wir Wahlverlierer und jene, die mit ihrer Politik für den Absturz unserer Partei verantwortlich sind, in immer höhere Positionen.“
So sei etwa Peer Steinbrück zur Belohnung für seine Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zum Finanzminister und später gar zum Kanzlerkandidaten befördert worden. Heiko Maas wurde nach seiner Niederlage im Saarland mit dem Posten als Justizminister belohnt. Frank-Walter Steinmeier, der die Bundestagswahl 2005 in den Sand gesetzt hat, sei inzwischen Bundespräsident. Selbst Kanzlerkandidat Martin Schulz sollte nach seiner krachenden Niederlage bei der Bundestagswahl 2017 mit dem prestigeträchtigen Amt des Bundesaußenministers belohnt werden.
„Da ist es doch völlig klar, dass wir einen Mann wie Maaßen, der gegen Journalisten wegen Landesverrats ermitteln ließ, zweifelhafte AfD-Kontakte pflegte, Snowden als russischen Agenten bezeichnete, über V-Leute im Umfeld des Terroristen Amri log und zuletzt Äußerungen zu Chemnitz tätigte, die er nicht belegen konnte, nicht einfach rausschmeißen, sondern in einen höheren Posten heben“, so Nahles.
„Auch ich wäre ohne dieses Prinzip nie Parteivorsitzende geworden. Ich meine, schauen Sie mich doch mal an! Aber nicht zu lange, sonst gibt’s auf die Fresse.“ Sie schaut kurz ernst und bricht dann in schallendes Gelächter aus.

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Jochen

Deutschland geht klauen – und bezahlt die Gewerkschaften der Plantagenarbeiter*innen!

Dieses YouTube-Video ist einfach sehenswert:

Am 28.02.2018 veröffentlicht

Warum geht Deutschland klauen?

Deutschland geht klauen. Die Discounter führen einen Preiskampf um die billigsten Lebensmittel und klauen dafür den Menschen, die die Produkte herstellen, ihre Würde.
Sie lassen unter menschenunwürdigen Bedingungen produzieren, sie lassen Menschen dafür leiden, damit wir als Konsumenten billig einkaufen können.

Deutschland geht klauen. Wichtigster Komplize von Rewe, Aldi, Edeka, Norma und Lidl ist die Bundesregierung.
Sie weigert sich, Gesetze zu erlassen, welche die Menschenrechte der Produzenten schützen und die Discounter zur Rechenschaft ziehen.

Deutschland geht klauen. Auch wir sind Komplizen.
Denn jedes Mal, wenn wir die Produkte der Discounter kaufen, machen auch wir Konsumenten uns schuldig.
Wir machen uns unschuldig schuldig, weil wir keine Wahl haben. Zwar können wir uns bei wenigen Produkten für die Fair-Trade-Variante entscheiden.
Doch das zeigt uns vor allem, dass die große Mehrheit unserer Konsumgüter, mit den Worten der UN gesprochen, auf moderner Sklaverei basiert.

Deshalb gehen wir jetzt richtig klauen. Für die Rechte der Menschen, die unsere Lebensmittel produzieren.
Das Geld, das wir dabei sparen, geben wir Gewerkschaften und Organisationen, die sich für die Rechte der Erzeuger einsetzen.

Denn das, was die Regierung hier zur Zeit tut, ist nicht genug. Der nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte setzt auf Selbstverpflichtung der Unternehmen und bleibt dabei unverbindlich.
Der Plan benennt zwar die Verantwortung der Unternehmen, verpflichtet sie aber nicht dazu, die Produktionsbedingungen zu verbessern. Demnach ist alles in Ordnung, wenn sich nur die Hälfte aller Unternehmen nicht an Menschenrechte halten und die andere Hälfte lediglich erklären kann, warum sie sich nicht daran hält. Super.

Deshalb treten wir den Rechtsstaat mit Füßen, bis er in die Pötte kommt. Wir müssen Unternehmen in Deutschland verklagen können, wenn sie uns Produkte anbieten, für die andere Menschen mit ihren Grundrechten bezahlen.
Eine entsprechende Gesetzesvorlage gibt es sogar bereits. Doch fehlt der Wille, sie umzusetzen. Dabei ist dies auch eine Chance, Fluchtursachen im Ursprungsland dieser Ursachen, in Deutschland, zu bekämpfen.

(Aus dem Neuen Deutschland:)
Peng
will mit ihrer neuen Aktion auf globale Ungleichheiten aufmerksam machen und zeigen: Für unsere niedrigen Preise zahlen andere einen hohen Preis.

»Die Supermärkte klauen jeden Tag auf legale Weise«, erklärt Schneider bei Bier und selbst gedrehten Zigaretten in einem Hinterzimmer der Kneipe.
Die heimischen Supermärkte seien direkt und indirekt an Menschenrechtsverletzungen im Ausland beteiligt.
Auf der Homepage des Kollektivs heißt es: »Die vier großen Discounter Lidl, Edeka, Aldi und Rewe bestehlen täglich ihre Produzent*innen, denn sie verhindern Gewerkschaften, zahlen Hungerlöhne und befördern die Verletzungen von Menschenrechten«. Ein Beispiel: Auf den Kakao-Farmen in Ghana, Kamerun und Elfenbeinküste arbeiten zwei Millionen Kinder. Sie schuften für unsere Schokolade.

In der Kreuzberger Bar wird ein Video an die Wand gestrahlt. Die Bilder zeigen einen Supermarkt irgendwo in Deutschland. Die Stimme aus dem Off sagt: »Dank der Plantagenarbeiter in Brasilien, die für sie auf ihre Arbeitsrechte verzichten, kostet das Kilo Orangen heute nur 99 Cent.«

Mit ihrer Aktion will Peng die »heilige Kuh des Eigentums« angreifen. Über rechtliche Konsequenzen haben sich die Künstlerinnen viele Gedanken gemacht.
Jurist
innen wurden zu Rat gezogen. Aber: »Wir stellen uns auf ein breites Spektrum von möglichen rechtlichen Konsequenzen ein.«
Die Berliner*innen hoffen, dass die Aktion als Kunst wahrgenommen wird. Ob das »Schutzschild der Kunstfreiheit« aber wirklich schützt, ist unsicher.
Für Menschen, die im Supermarkt klauen und erwischt werden, auf jeden Fall nicht! Peng schreibt, dass sie keine Kapazitäten hätten diese Menschen »rechtlich oder finanziell zu unterstützen«.

Jochen

Scholz‘ Sparhaushalt: Die Schwarze Magie der Schwarzen Null

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Paul Steinhardt auf Makroskop:
https://makroskop.eu/2018/05/die-schwarze-magie-der-schwarzen-null/

Man darf sich heute schon fragen, wie Herrn Scholz seine jahrelange Unterstützung krimineller Bankenkreise mal vergütet werden wird.
Wir werden die HSH-Nordbank-Affäre, die den deutschen Steuerzahler über 10Mrd.€ gekostet hat, nicht so schnell vergessen, und ihn weiter beobachten.
Er führt als Bundesfinanzminister das völlig korrupte System weiter, wie es Varoufakis so trefflich beschrieben hat.
Auszüge:

Öffentliche Investitionen sind das Gebot der Stunde. Die breite Kritik an Scholz‘ Sparhaushalt stimmen daher optimistisch.

Aber nicht nur Scholz, sondern auch die Aussagen viele Kritiker zeigen, wie zerstörerisch das Dogma der Schwarzen Null wirkt.

Olaf Scholz kann man nicht vorwerfen, seinen Worten keine Taten folgen zu lassen. Er bekennt sich nicht nur zur „Schwarze Null“, sondern will nun nach Angaben des Handelsblatts die öffentlichen Investitionen sogar bis 2022 zurückfahren, um Haushaltsdefizite zu vermeiden.

Das wird selbst dem Handelsblatt zu bunt und es verweist völlig zu Recht darauf, dass die in der Koalitionsvereinbarung angekündigten Investitionen in „die Bereiche Bildung, Forschung, Hochschulen und Digitalisierung“ zu unterlassen, „mittelfristig fatale Folgen“ haben wird.
Sie kritisiert, dass die „neue große Koalition genau dort weiter macht, wo die alte aufgehört hat“. Sie „schleift die […] Grundpfeiler, auf denen die Finanzierung des Sozialstaates steht, immer weiter ab“ (hier).

Ganz ohne Zweifel, ohne massiv steigende öffentlichen Investitionen ist es undenkbar, dass in Deutschland der „Kapitalstock“ so ausgebaut werden kann, dass ohne Einbußen für alle Erwerbstätigen für Kinder eine gute Bildung, für Rentner ein auskömmliches und faires Einkommen und für Kranke und Pflegebedürftigen eine erstklassige Versorgung gewährleistet werden kann.

Es ist eben gerade nicht so – wie einem unserer Leser vom „Referat für Bürgerfragen“ beim Bundesfinanzministerium auf seine Fragen beschieden wurde –, dass „für die Bewältigung langfristiger struktureller Veränderungen wie die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Renten- und Gesundheitssystem“ die „deutsche Schuldenbremse“ „eine sinnvolle Verfassungsnorm“ ist.

Wie sinnlos sie ist, zeigt gerade der Haushaltentwurf von Scholz. Wenn es in Deutschland selbst nach Meinung von Wirtschaftsliberalen an öffentlichen Investitionen massiv mangelt und dringend eine Korrektur angemahnt wird, um Deutschlands wirtschaftliche Zukunft nicht zu verspielen, dann müssen solche Investitionen, Schwarze Null hin oder her, schlicht getätigt werden.
Und dass sie problemlos getätigt werden können, daran hat bislang noch niemand ernsthaft gezweifelt – selbst vom IWF und der EZB werden sie empfohlen. Verhindert werden solche Investitionen tatsächlich nur durch den sehr deutschen Glauben, dass ein Staat wie ein Haushalt oder Unternehmen vergleichbaren Budgetbeschränkungen unterliegt.

Wie ich anderer Stelle argumentiert habe, muss dieser Glaube schnellstens als ein Mythos entlarvt werden, um die desaströse Wirtschaftspolitik Deutschlands zu beenden.
Aber ist meine These nicht durch die Kritik des ohne Zweifel wirtschaftsliberalen Handelsblatts an dem „Weiter-so“der Großen Koalition“ eindrucksvoll widerlegt? Kann man nicht doch beides haben, den Mythos der vor einer Anspruchsinflation schützt und am Bedarf orientierte öffentliche Ausgaben?

Nun glaubt das Handelsblatt ohne Zweifel an den Mythos. Die schwarze Null, sei „keineswegs ein Fetisch, sondern ein Erfolg“. Wer angesichts des öffentlichen Investitionsnotstands fordert, „jetzt Schulden [zu] machen, um mehr zu investieren“, sollte „seinen Keynes noch mal richtig lesen“, gibt man sich dort überzeugt.

Was aber sei zu tun, wenn man Keynes gelesen und ihn verstanden hat? Nun, man würde zunächst einsehen, dass es in einem konjunkturellen Hoch wie gegenwärtig keiner Haushaltsdefizite brauche, sondern lediglich einer Umschichtung, der eh schon viel zu hohen staatlichen Ausgaben: Weg vom Konsum, hin zur Investition:

„Denn schon seit 2014 haben die Sozialausgaben eine gefährliche Dynamik entwickelt. Inzwischen gibt der Bund mehr als jeden zweiten Euro für Soziales aus, Tendenz steigend. Gleichzeitig bleiben die Investitionen allenfalls stabil.“

Hier ist sie also wieder, die bei Wirtschaftsliberalen so beliebte Mär von der Notwendigkeit des Konsumverzichts, um Investitionen tätigen zu können. Nur stimmt der behauptete Zusammenhang schon nicht im Bezug auf den Privatsektor.
Wer seinen Keynes gelesen hat, der weiß, dass Konsumverzicht die effektive Nachfrage reduziert. Unternehmen aber, deren Produkte weniger nachgefragt werden, werden eben nicht investieren, sondern im Gegenteil versuchen, ihre Produktionskapazitäten der reduzierten Nachfrage anzupassen.
Die propagierte Senkung von „Sozialausgaben“ wird also nur dazu führen, dass die Nachfrage verringert, damit das BIP gesenkt und die Arbeitslosigkeit erhöht wird.

Es gibt auch keinen Grund, dass diejenigen, die zu Recht darauf hinweisen, dass die Sozialausgaben gemessen am objektiven Bedarf viel zu niedrig sind, statt der „Schwarzen Null“ an dieser Stelle reflexhaft nach Steuererhöhungen rufen.
Während es durchaus gute Gründe gibt, z.B. die obszön hohen Vermögen zu besteuern, so ist die Besteuerung keine Voraussetzung, um öffentliche Investitionen tätigen und gleichzeitig den Sozialstaat ausbauen zu können.
Wer diesen Eindruck erweckt, indem er für notwendige staatliche Mehrausgaben immer eine sogenannte Gegenfinanzierung präsentieren zu müssen glaubt, der erweist der wirtschaftspolitischen Vernunft einen Bärendienst.

Ein Blick auf die deutschen Finanzierungssalden genügt, um diese Aussage empirisch zu belegen. Wie wir schon oft dargelegt haben (z.B. hier), sparen in Deutschland Unternehmen und Haushalte.
Wenn aber Außenhandelsungleichgewichte für unsere Handelspartner schädlich sind, dann bedürfen die Einnahmeüberschüsse des Privatsektors logisch zwingend der Ausgabenüberschüsse des Staates.
Wer an dieser Stelle nun die Schuldentragfähigkeit des Staates ins Spiel bringt, zeigt nur eines: Er ist dem Bild der schwäbischen Hausfrau oder des ehrbaren Hamburger Kaufmanns auf den Leim gegangen.

Wie blind diese Ideologie macht, demonstriert Jan Dams in der Welt, der Olaf Scholz dafür lobt, dass er „das Geld der Steuerzahler zusammenhält“. Es seien nun einmal, keine „Baukapazitäten“ vorhanden, weil in der Vergangenheit „der Staat so stark gespart“ hat. Auf die Idee, dass der Staat auch in diese Baukapazitäten investieren könnte, kommt er aber nicht.

Es hilft nichts. Wem es um wirtschaftspolitische Vernunft im Interesse der Mehrheit der Menschen in unserem Gemeinwesen jetzt und in der Zukunft geht, darf sich nicht scheuen, immer und wieder zu sagen:

Staatliche Haushaltsdefizite sind Ausweis einer vernünftigen Finanzpolitik – und die Schwarze Null fügt unserem Gemeinwesen und unseren Nachbarn großen Schaden zu

Jochen

April 1998 – Als Gysi vor dem Euro warnte

Auszüge aus der Redaktion des Makroskops: https://makroskop.eu/2018/04/als-gysi-vor-dem-euro-warnte/

In heute geradezu verblüffender Klarheit skizzierte Gregor Gysi am 23. April 1998 im Bundestag, welche Folgen die bevorstehende Euro-Einführung für Europa haben werde. Genau 20 Jahre später wissen wir: Er sollte bis ins Detail Recht behalten.

An manchen Stellen glaubt man, es wäre der 1. Juli 2015 und Gregor Gysi würde seinen Redebeitrag zur Griechenland-Debatte des Bundestages halten. So zutreffend zumindest sind seine Prognosen, als ob er über jene Krise resümieren würde, die seit 2008 die gesamte Eurozone erfasst hat. Doch die Rede stammt vom 23.4.1998 und war Teil eines siebenstündigen Schlagabtausches im Bundestag über die Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung.

Dort gehörten Gysi und die PDS mit der Ablehnung des Euros, ohne ausreichende politische und wirtschaftliche Integration, zu einer Minderheit. Nur 35 Abgeordnete stimmten gegen das “Jahrhundertereignis” (Kohl), davon waren 27 Angehörige der PDS-Gruppe. Damit wurde gegen den Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit der Deutschen votiert. Neun Tage später, am 2. Mai 1998, wurde die Einführung des europäischen Bargeldes auch von den Staats- und Regierungschefs der EG beschlossen.

Doch dass die Minderheit mit ihren Warnungen in vielem Recht behalten sollte, zeigt sich nun im Kontext der nicht enden wollenden Eurokrise. Im Rückblick wird die Währungsunion weitgehend konsensual als Geburtsfehler ausgemacht. So bleibt die Rede Gysis ein hochaktuelles Dokument außerordentlichen politischen Weitblicks.

Der Text im Wortlaut:

Ein Kontinent ist nicht über das Geld zu einen

Dr. Gregor Gysi, Gruppe PDS, am 23.4.1998 im Deutschen Bundestag, zur Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst noch ein Wort an den Abgeordneten Hans-Dietrich Genscher: Sicherlich sind die politischen Unterschiede zwischen uns beiden, aber vor allem auch zwischen der Gruppe der PDS und der Fraktion der F.D.P. und den dahinterstehenden Parteien gewaltig, insbesondere wenn ich an die Wirtschafts- und Finanzpolitik denke. Das ändert aber nichts daran, daß wir diese Gelegenheit Ihrer Abschiedsrede im Bundestag nutzen möchten, um Ihnen unseren Respekt für Ihre Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten sowohl im Bundestag als auch in der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen.

Es war hier viel die Rede von europäischer Integration. Zweifellos ist die Einigung Europas ein großes politisches Ziel. Ich erinnere mich an die Tage, als die Mauer fiel, als die Diskussion um die Herstellung der deutschen Einheit begann und als die bange Frage gestellt wurde: Was wird das nun? Wird das ein deutsches Europa, oder wird es ein europäisches Deutschland? Diese Frage hat damals nicht nur die Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker in diesem Land und in anderen Ländern bewegt, sondern viele Menschen.

Die Frage, die sich bei der heutigen Debatte ergibt, ist meines Erachtens eine andere: Wie kommt man zu einer europäischen Integration? Kommt man tatsächlich zu einer europäischen Integration, indem man ein Europa der Banken schafft? Oder käme man nicht viel eher zu einer europäischen Integration, wenn man über den Weg der Kultur, wenn man über den Weg der Chancengleichheit in den Gesellschaften, wenn man über den Weg der Angleichungsprozesse und das Ziel der sozialen Gerechtigkeit ein solches Europa integriert?

Das ist unsere grundsätzliche Kritik an dem Vorhaben, über das es heute zu beschließen gilt. Man kann einen Kontinent nicht über Geld einen. Das hat in der Geschichte noch niemals funktioniert, und das wird auch hier nicht funktionieren. Sie, Herr Genscher, haben vor allem davor gewarnt, daß es schlimme Folgen hätte, wenn die Europäische Währungsunion scheiterte. Ich behaupte, sie kann auch scheitern, wenn man sie einführt, nämlich dann, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen.

Darüber müßte nachgedacht und, wie ich finde, auch länger diskutiert werden. Ich sage: Im Augenblick wird das ein Europa für erfolgreiche Rüstungs- und Exportkonzerne, für Banken, vielleicht noch für große Versicherungen. Es wird kein Europa für kleine und mittelständische Unternehmen, kein Europa für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, kein Europa für Gewerkschaftsbewegungen und auch kein Europa für die sozial Schwächsten in den Gesellschaften der Teilnehmerländer.

Wie verhält sich denn Deutschland zu diesem wirklichen europäischen Integrationsprozeß? Ist es nicht so, daß es die Union — auch unter Kritik der F.D.P. — vor kurzem abgelehnt hat, auch nur den Kindern von Eltern, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und die noch eine andere Staatsangehörigkeit haben, die deutsche Staatsangehörigkeit zu gewähren?

Wer dazu nein sagt, will doch gar keine Integration, zumindest nicht auf dieser kulturellen, auf dieser menschlichen Ebene, auf die es in diesem Zusammenhang ankäme.

Ich weise darauf hin, daß die Bundesregierung den Euro vehement gefordert und gefördert hat, es aber gleichzeitig abgelehnt hat, die Arbeitslosigkeit europapolitisch anzugehen. Von dem, der die Arbeitslosigkeit nicht europäisch bekämpfen will, behaupte ich, daß dessen Integrationswille nur auf einer Strecke ausgebildet ist, und zwar im Hinblick auf das Geld, aber nicht bezüglich der sozialen Frage, bei der dies wichtig wäre.

Wir alle wissen, daß wir es mit sehr ernstzunehmenden, auch rechtsextremistischen Erscheinungen in unserer Gesellschaft zu tun haben, daß Rassismus zunimmt, daß zum Beispiel in einem Land wie Sachsen-Anhalt das Ansehen rechtsextremistischer Parteien leider zunimmt. Das alles macht uns große Sorgen. Ich sage: Da ist eine richtige, eine die Menschen mitnehmende, an ihre sozialen Interessen anknüpfende europäische Integrationspolitik entscheidend. Wenn man sie unter falschen Voraussetzungen betreibt, dann wird sie der Keim zu einem neuen Nationalismus und damit auch zu steigendem Rassismus sein. Das ist unsere große Sorge, die wir hier formulieren wollen.

Hier ist gesagt worden, daß es in Europa ohne Euro keinen Abbau von Arbeitslosigkeit geben werde. Das verstehe ich überhaupt nicht. Täglich wird uns erzählt, daß in bestimmten europäischen Ländern Arbeitslosigkeit durch verschiedenste Maßnahmen erfolgreich abgebaut wurde, ohne daß es den Euro gab. Ich halte es immer für gefährlich, wenn scheinbar zwingende Zusammenhänge hergestellt werden, die in Wirklichkeit nicht existieren, nur um ein anderes Ziel damit begründen und erreichen zu können.

Im Gegenteil, der Euro birgt auch sehr viele Gefahren für Arbeitsplätze, und es bringt uns gar nichts, auf diese nicht einzugehen. Der Bundeskanzler ist heute mehrmals historisch gewürdigt worden. Ich werde mich an dieser Würdigung zu Ihrem Wohle nicht beteiligen, Herr Bundeskanzler.

Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so sehr in der Vergangenheit definieren lassen. Das birgt ja auch Probleme. Man kann natürlich leicht den Euro einführen, wenn man sagt: Es wird eine andere Regierung sein, die ihn auszubaden hat. Das ist natürlich auch ein Problem, vor dem wir hier stehen.

Ja, unterhalten wir uns über die Voraussetzungen. Fangen wir mit den Demokratiedefiziten an, die es in Europa gibt. So haben zum Beispiel sehr viele Juristen erklärt, ob wir heute im Bundestag ja oder nein zum Euro sagten, ob der Bundesrat morgen ja oder nein zum Euro sagen werde, sei unerheblich. Er werde in jedem Falle kommen, weil dies nämlich längst mit dem Vertrag von Maastricht ratifiziert sei und im Grunde genommen kein Weg daran vorbeiführe.

Am 2. Mai tagt das Europäische Parlament. Hat es in der Frage der Einführung des Euro, in der Frage der Herstellung der Währungsunion etwas zu entscheiden? Es hat nichts zu entscheiden. Es hat nur mitzuberaten. Selbst wenn dort eine große Mehrheit nein sagen würde, würde das an der Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 nichts mehr ändern. Da wird das gesamte Defizit deutlich, das dieser Vertrag in Fragen der Demokratie mit sich bringt.

Wir schaffen eine europäische Währung, haben aber keinen europäischen Gesetzgeber, keine europäische Verfassung, keine garantierten europäischen Rechte und verlagern die Funktionen vom Parlament auf die Exekutive in Brüssel. Das heißt, wir heben die Gewaltenteilung in der Gesellschaft schrittweise auf, damit sich dann die jeweilige Bundesregierung und auch die Regierungen der anderen Länder und deren Parlamente auf Brüssel herausreden und sagen können: Wir können in diesen Fragen gar keine nationale Politik mehr machen, weil uns die Möglichkeiten genommen sind. Aber wir haben eben kein demokratisches europäisches Äquivalent. Das ist ein Hauptmangel der Verträge von Maastricht und Amsterdam.

Ich behaupte, der Euro kann auch spalten; denn er macht die Kluft zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union und jenen, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, nicht kleiner, sondern größer. Der Weg gerade für die osteuropäischen Länder, für die sich Herr Genscher so eingesetzt hat, in die Europäische Union wird dadurch nicht leichter, sondern schwieriger werden. Er unterscheidet innerhalb der Mitgliedsländer der EU zwischen jenen, die an der Währungsunion teilnehmen, und jenen, die daran nicht teilnehmen. Das ist das erste Mal eine ökonomische und finanzpolitische Spaltung zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union.

Er unterscheidet aber auch und stärker die Euro-Länder. Ob Frau Matthäus-Maier, ob die Sprecherin der Grünen, ob CDU/CSU oder F.D.P., alle würdigen am Euro, daß sich die Exportchancen Deutschlands erhöhen würden. Wenn das dann so ist, dann müssen doch andere Produktionsunternehmen in anderen Ländern darunter leiden. Anders ginge es doch gar nicht.

Das heißt, wir wollen den Export Deutschlands erhöhen und damit die Industrie in Portugal, Spanien und anderen Ländern schwächen. Die werden verostdeutscht, weil sie diesem Export nicht standhalten können. Das ist eines der Probleme, das zu einer weiteren Spaltung innerhalb Europas führt. Das zweite ist: Es geht selbst innerhalb der verschiedenen Länder um unterschiedliche Regionen. Es haben doch nur die Regionen etwas davon, die in erster Linie vom Export leben. Was ist denn mit jenen Regionen auch in Deutschland, die kaum exportieren? Sie wissen, daß der Exportanteil der ostdeutschen Wirtschaft fast null ist. Sie hat überhaupt nichts davon. Im Gegenteil, die Binnenmarktstrukturen werden durch Billigprodukte und Billiglöhne systematisch zerstört werden.

Deshalb sage ich: Es ist ein Euro der Banken und der Exportkonzerne, nicht der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind, nicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Wir haben es mit einem weiteren Problem zu tun, nämlich dem, daß der Reichtum in diesem Europa wachsen wird, aber in immer weniger Händen liegen wird. Dafür ist Deutschland ein lebendiges Beispiel. Lassen Sie mich nur eine Zahl nennen. 1990, nach der Herstellung der deutschen Einheit, hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparvermögen von etwas über 3 Billionen DM. Das sind 3000 Milliarden DM. Ende 1996 hatten wir ein privates Sparvermögen von 5 Billionen DM, das heißt, von 5000 Milliarden DM.

Im Durchschnitt hat jeder Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparguthaben von 135 000 DM. Nun können sich die Bürgerinnen und Bürger einmal ausrechnen, wie weit sie unter diesem Durchschnitt liegen. Dieser Durchschnitt kommt dadurch zustande, daß in 10 Prozent der Haushalte der Reichtum so gewachsen ist.

Da sagt doch der Herr Merz von der CDU/CSU, daß es die größte Katastrophe wäre, wenn nach einem Regierungswechsel die Reformen rückgängig gemacht würden. Was heißt denn das? Wollen Sie ein Europa, einen Euro mit immer mehr Kürzungen des Rentenniveaus? Wollen Sie ein Europa mit immer mehr Zuzahlungen für Kranke bei Medikamenten und bei ärztlichen Behandlungen? Das waren doch Ihre Reformen. Wollen Sie ein Europa, in dem 10 Prozent der Bevölkerung sinnlos immer reicher werden und andere immer mehr draufzahlen müssen? Das ist das Ziel Ihrer Politik. Ich finde, diese Reformen müssen unbedingt rückgängig gemacht werden.

Was hat denn die Vermehrung des privaten Vermögens bei 10 Prozent der Bevölkerung um 2000 Milliarden DM in sechs Jahren — das muß man sich einmal überlegen — der Wirtschaft gebracht? Welche Investitionen sind denn davon getätigt worden? Welche Arbeitsplätze wurden denn geschaffen? Weder im Osten noch im Westen hat es etwas gebracht. Der wachsende Reichtum hat nur zu noch mehr Arbeitslosen geführt. Deshalb ist das der falsche Weg nach Europa.

Mit der Demokratiefrage hängt übrigens auch zusammen, daß Finanz- und Geldpolitik kaum noch möglich sein werden. Die Zuständigkeit hierfür wird an die Europäische Zentralbank abgegeben. Sie wird dadurch anonymisiert. Damit wird erreicht, daß sich die Regierungen herausreden können, indem sie es auf die Bank schieben und erklären können, daß sie keine politischen Spielräume haben, weil die Europäische Zentralbank bestimmte Vorgaben gemacht hat. Wer so eine Politik einleitet, zerstört Demokratie, denn Auswahl haben die Menschen nur in der Politik und nicht bei der Bank. Da haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft und auch in anderen europäischen Gesellschaften.

Unsere größte Kritik richtet sich aber auf einen anderen Punkt; das ist das Wichtigste: Wer europäische Integration will, muß europäische Angleichungsprozesse einleiten. Dazu würde gehören, die Steuern zu harmonisieren, die Löhne und Preise anzugleichen und auch soziale, ökologische und juristische Standards anzugleichen. Es macht ökonomisch einen großen Unterschied, ob es gegen irgend etwas ein Einspruchsrecht gibt oder nicht. In dem einen Fall ist es nämlich teurer als in dem anderen Fall.

Wenn Sie das alles politisch nicht leisten und statt dessen sagen, wir führen eine Einheitswährung ein, um die Angleichungsprozesse zu erzwingen, dann sagen Sie damit doch nichts anderes, als daß Sie ganz bewußt Lohnwettbewerb, also in Wirklichkeit Lohndumping und Kostendumping, organisieren wollen.

Den größten Vorteil hat immer derjenige mit den niedrigsten Steuern, den niedrigsten Löhnen, den niedrigsten Preisen und den niedrigsten ökologischen, juristischen und sozialen Standards; dieser wird sich durchsetzen. Das führt zu einem Europa des Dumpings, des Abbaus nach unten. Wer so etwas organisiert, der – das behaupte ich -organisiert nicht nur Sozial- und Lohnabbau, sondern er organisiert auch zunehmenden Rassismus. Das mag nicht bewußt geschehen, aber es wird die Folge sein. Heute erleben wir das schon auf den Baustellen in Deutschland und in anderen Ländern.

Deshalb sagen wir: Das ist der falsche Weg. Wir hätten hier einen anderen einschlagen müssen. Erst wenn wir die Angleichungsprozesse politisch gemeistert hätten, hätte man am Schluß der Entwicklung als Krönung eine Einheitswährung einführen können. Wer aber die Angleichung über die Währung erzwingt, der erzwingt eine Angleichung nach unten mit all ihren katastrophalen sozialen Folgen. Alle Fraktionen, die heute zustimmen, haften dann auch für die Folgen, die dadurch eintreten, unabhängig davon, welche Motive sie dabei haben.

Es ist davon gesprochen worden, daß eine Währung Frieden herstellen kann. Ich glaube das nicht. Das gilt nur, wenn die Voraussetzungen dafür stimmen. Nämlich nur dann, wenn es gelingt, Spannungen abzubauen, ist eine Währung friedenssichernd. Wenn aber dadurch neue Spannungen entstehen, kann auch eine gegenteilige Wirkung erzielt werden. Das wissen Sie. Sie wissen, daß die einheitliche Währung in Jugoslawien keinen Krieg verhindert hat. Er war einer der schlimmsten der letzten Jahre.

Lassen Sie mich als letztes sagen: Der Hauptmakel dieser Währungsunion wird bleiben, daß Sie die deutsche Bevölkerung nicht gefragt haben. Sie hätten in dieser entscheidenden Frage einen Volksentscheid durchführen müssen. Dann hätten Sie auch Ihrer Aufklärungspflicht nachkommen müssen. Das widerspricht, Herr Kollege Merz, nicht parlamentarischer Demokratie. Auch Frankreich, Dänemark und Irland sind parlamentarische Demokratien und haben dennoch einen Volksentscheid durchgeführt. Nein, man kann das Volk nicht nur wählen lassen. In wichtigen Sachfragen muß man es auch zu Entscheidungen und zum Mitmachen aufrufen. Anders wird man Integration in Europa nicht erreichen.

Finanzriese Blackrock warnt vor Risiken in Europa: Wesentlich ist ein Nachfrageproblem

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Selbst der Erzkapitalist von Blackrock hat erkannt, was hier unter der Schäublokratie falsch läuft. Zum allumspannenden Beteiligungsnetz siehe schon hier: https://josopon.wordpress.com/2014/06/18/blackrock-und-co-das-globalisierte-finanzkapital-und-der-kotau-vor-einem-globalen-aus-erparlamentarischen-machtzentrum/
BlackRocklogoInteressantes Interview auf SPIEGEL online:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/blackrock-vize-hildebrand-kritisiert-europaeische-behoerden-a-1063828.html
Auszüge:

Hildebrand ist Vizechef von Blackrock, jenes amerikanischen Finanzgiganten, der in den vergangenen Jahren zum größten Vermögensverwalter der Welt aufgestiegen ist. 4,7 Billionen Dollar hat Blackrock zur Verfügung – eine gigantische Summe. Mehr als das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Rund vier Mal so viel wie die Vermögensverwaltung der Deutschen Bank.

Hildebrand ist für die Betreuung der ganz großen Investoren zuständig. Doch wenn er spricht, merkt man, dass noch viel von seinem alten Job in ihm steckt: Bis Anfang 2012 war er Präsident der Schweizer Nationalbank und nahm die Großbanken des Landes an die Kandare. Dann kam heraus, dass seine Frau mit Währungen spekuliert hatte – ohne sein Wissen, wie er beteuerte. Trotzdem trat er zurück.

Nun ist Hildebrand ein Handlungsreisender der Finanzwelt. Gerade kommt er aus Miami, wo er mit Arnold Schwarzenegger zu Abend gegessen hat. Er ordert einen Espresso, gegen den Jetlag.

SPIEGEL ONLINE: Herr Hildebrand, die Terroranschläge von Paris verunsichern die Menschen in Deutschland und in ganz Europa. Viele fragen sich: Kann man noch ins Fußballstadion gehen? Kann man noch auf den Weihnachtsmarkt gehen oder mit dem Zug fahren? Lähmt so eine Unsicherheit auch die Wirtschaft?

Hildebrand: Diese tragischen Ereignisse bringen natürlich einen weiteren Unsicherheitsfaktor in die Wirtschaftslage. Das könnte negative Effekte vor allem für den Konsum mit sich bringen. Bis zu einem gewissen Grad könnten auch Probleme beim Handel dazukommen, etwa wenn es an den Grenzen strengere Kontrollen für Güter gibt. Auf der anderen Seite rechne ich aber infolge der Anschläge auch mit gesteigerten Staatsausgaben, die wachstumsunterstützend wirken werden.

SPIEGEL ONLINE: Das müssen Sie erklären.

Hildebrand: Ich denke, dass die Ereignisse von Paris die Fiskalpolitik der EU verändern werden. Es ist jetzt allen klar geworden, dass ganz Europa im Visier der Terroristen ist. Die staatlichen Ausgaben für Sicherheit werden deshalb deutlich steigen. Das verstärkt einen Trend, den es bereits seit einigen Monaten gibt: Die Phase der Austeritätspolitik ist nun endgültig vorbei.

SPIEGEL ONLINE: Die EU-Kommission hat ja schon signalisiert, dass Frankreich den Stabilitätspakt erst mal nicht mehr einhalten muss und höhere Staatsdefizite machen kann als eigentlich erlaubt. Könnten diese Ausnahmen auch für andere Länder gemacht werden?

Hildebrand: Ja, es lässt sich wohl nicht verhindern, dass Europa mehr Geld für Sicherheit ausgeben wird. Das gilt auch für Deutschland, auch wenn Wolfgang Schäuble hier alles tun wird, um Vorsicht walten zu lassen. Man könnte es vielleicht so zusammenfassen: Der Stabilitätspakt der Eurozone wird mindestens temporär durch einen Sicherheitspakt ersetzt. Dies wird einerseits die Nachfrage stützen, aber andererseits bauen sich hier langfristig möglicherweise erneut Schuldenprobleme auf.

SPIEGEL ONLINE: Man sollte meinen, kaum jemand kennt die deutsche Wirtschaft so gut wie Blackrock. Ihre Fonds halten große Aktienpakete an Dutzenden deutschen Unternehmen. Können Sie uns sagen, wie es um die deutsche Wirtschaft wirklich steht?

Hildebrand: Grundsätzlich geht es der deutschen Wirtschaft gut, sie ist sehr wettbewerbsfähig. Aber es gibt auch Probleme. So hat Deutschland enorm von dem historisch einmalig starken Aufschwung Chinas profitiert – und der kann so nicht weitergehen. Das wird man auch in der deutschen Wirtschaft spüren.

SPIEGEL ONLINE: Wegen der Schwäche Chinas und anderer Schwellenländer ist die Nachfrage aus dem Ausland ja schon jetzt sehr gering, ebenso wie die Investitionen. Das Einzige, was den deutschen Aufschwung am Laufen hält, ist der Konsum. Wenn der nun wegen der Terrorangst auch noch schwächelt, sieht es schlecht aus.

Hildebrand: Es ist richtig, dass es bei den Investitionen einen großen Nachholbedarf in Deutschland gibt. Aber ich würde, was den Konsum betrifft, nicht den Teufel an die Wand malen. Erfahrungsgemäß sind die Effekte nicht von langer Dauer – es sei denn, es kommt noch zu weiteren Anschlägen. Das ist die entscheidende Frage.

SPIEGEL ONLINE: Im Zuge des VW-Skandals wurde ja schon das Ende von „made in Germany“ ausgerufen. Hat die Affäre um manipulierte Abgaswerte dem Ruf Deutschlands wirklich so geschadet?

Hildebrand: Nein, dafür sehe ich keine Anzeichen. Aber was mich schon besorgt, ist das Muster, dass frappantes Fehlverhalten europäischer Firmen immer wieder von amerikanischen Behörden aufgedeckt wird. Das scheint mir das wahre Problem zu sein. Ich denke da nicht nur an VW, sondern auch an die Banken oder an die Fifa.

SPIEGEL ONLINE: Woran liegt das? Haben es die amerikanischen Behörden besonders auf die europäischen Firmen abgesehen?

Hildebrand: Das ist die Reaktion, die dann instinktiv aus Europa kommt – die scheint mir aber zu kurz gegriffen. Ich glaube, dass Europa die Pflicht hat, an seine Unternehmen die höchsten Ansprüche zu stellen, sei es in puncto Unternehmensführung oder auch im Hinblick auf den Umweltschutz. Dies wird in der langen Frist für das europäische Wachstum positiv sein. Was hier aber passiert, ist besorgniserregend. Das darf Europa auf Dauer nicht zulassen. Ich habe das selbst erlebt bei den Banken, wo Europa es jahrelang versäumt hat, die mangelnde Kapitalausstattung zu beheben. Die Amerikaner dagegen sind das Problem schon 2009 angegangen, und die Banken sind schnell wieder gesundet. In Europa hat man es unter den Teppich gekehrt.

SPIEGEL ONLINE: Wie kommt es, dass die Behörden hier in Europa nicht hart genug durchgreifen? Wollen sie die eigenen Unternehmen schützen?

Hildebrand: Ich kann das aus der Nähe am besten für den Finanzbereich beantworten. Da war es schon ein riesiges Problem, dass die nationale Bankenaufsicht immer sehr eng mit der Politik verbunden war. Dieser Nexus wurde erst jetzt durch die Einführung der europäischen Bankenaufsicht gebrochen. Außerdem hatte man in Europa nie wirklich den Mut, in großem Ausmaß öffentliches Geld in die Banken zu stecken – oder dies zumindest anzudrohen, wie man es in den USA gemacht hat.

SPIEGEL ONLINE: Ist das der Grund dafür, dass die europäischen Banken von den amerikanischen so abgehängt wurden?

Hildebrand: Absolut. Und nicht nur das. Es ist auch einer der Gründe dafür, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Europa so viel schlechter war als in den USA. In Europa ist die Wirtschaft so stark von den Banken abhängig, dass es ein riesiger Fehler war, die Finanzinstitute so lange so schwach und unterkapitalisiert zu lassen. Wir haben dafür einen hohen Preis gezahlt.

SPIEGEL ONLINE: Weil die Banken dann keine Kredite an Unternehmen und Verbraucher vergeben.

Hildebrand: Ja. Europa ist ein Wirtschaftsraum, der maßgeblich von Banken finanziert wird. Wenn wir schwache Banken haben, haben wir schwaches Wachstum.

SPIEGEL ONLINE: Die Europäische Zentralbank versucht, dem schwachen Wachstum durch Gelddrucken zu begegnen. Sie wird Anfang Dezember womöglich verkünden, dass sie noch mehr Anleihen aufkauft als bisher oder sogar den Strafzins für Banken erhöht, wenn sie Geld bei ihr parken. Ist das richtig?

Hildebrand: Europa hat zwei Probleme, und ein wesentliches davon ist ein Nachfrageproblem: Die Wirtschaft ist nicht ausgelastet, auch die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor zu hoch. Und dieInflationliegt nahe null. Hier muss man Verständnis haben, wenn sich die EZB über weiteren Handlungsbedarf Gedanken macht. Sie ist angesichts ihres gesetzlichen Mandats, stabile Preise zu gewährleisten, sogar verpflichtet, weitere Maßnahmen in Betracht zu ziehen.

SPIEGEL ONLINE: Aber?

Hildebrand: Europa hat auch ein Strukturproblem. Arbeits- und Produktmärkte sind überreguliert. Investitionen lohnen sich zu wenig. Das Wachstumspotenzial ist zu gering. Und hier kann die Geldpolitik nichts machen. Da braucht es die Bereitschaft der Politik, bestehende Strukturen aufzubrechen. Je länger man damit wartet, diese fundamentalen Probleme anzugehen, desto höher wird der Preis sein.

SPIEGEL ONLINE: Gilt das auch für Deutschland?

Hildebrand: Natürlich. Deutschland muss in Europa vorangehen. In den vergangenen Jahren hat Deutschland, was Strukturreformen angeht, seine Führungsrolle immer weniger wahrgenommen. Man hat zwar noch viel darüber gesprochen, aber in einigen Bereichen ist man sogar rückwärtsgegangen, etwa bei der Rente mit 63. In den südeuropäischen Krisenländern wie Spanien oder Portugal dagegen gab es sehr wohl Reformen – und das ist auch der Grund, warum es dort jetzt wieder aufwärtsgeht.

SPIEGEL ONLINE: Die US-Notenbank Fed hat angedeutet, dass sie im Dezember erstmals seit sieben Jahren wieder die Zinsen anheben könnte. Die halbe Finanzwelt zittert davor. Wie schlimm wird es wirklich?

Hildebrand: Die jahrelange Nullzinsphase in den USA war ein bisher einmaliges Experiment, das nun hoffentlich zu Ende geht. Das wird mit stärkeren Schwankungen an den Finanzmärkten verbunden sein. Aber ich bin überzeugt, dass dieser erste Schritt uns wieder in ein besseres Gleichgewicht bringen wird. So wird es auch für die anderen Notenbanken der Welt leichter, irgendwann wieder zur Normalität zurückzufinden. Je länger wir in dem jetzigen System der Nullzinsen gefangen sind, desto schwieriger wird es, da jemals wieder rauszukommen.

SPIEGEL ONLINE: Schon seit Monaten gibt es enorm starke Schwankungen an den Märkten. Bankenvertreter behaupten, das liege daran, dass die Banken keinen Handel mehr auf eigene Rechnung betreiben dürften und deshalb in schwierigen Marktsituationen als Käufer ausfielen. Stattdessen regierten Vermögensverwalter wie Blackrock den Markt, die immer dann kaufen und verkaufen, wenn andere das auch tun – also den Herdentrieb verstärken. Stimmt das?

Hildebrand: Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, dass man nicht immer auf das Gejammer der Bankenvertreter hören sollte. Es stimmt, dass der Eigenhandel der Banken verboten oder sehr teuer gemacht wurde. Wenn Sie aber schauen, in welchen Bereichen die Schwankungen besonders groß sind, dann sehen Sie, dass das ausgerechnet die Märkte mit einer hohen Liquidität sind, wo also viel gehandelt wird und es ganz offensichtlich nicht an Marktteilnehmern mangelt: bei amerikanischen oder deutschen Staatsanleihen etwa oder bei Aktien. Die Analyse dieser Bankenvertreter scheint mir also sehr kurz gegriffen.

SPIEGEL ONLINE: Warum sind die Ausschläge dann trotzdem so viel stärker als früher?

Hildebrand: Es ist enorm viel Unsicherheit im System. Das liegt zum einen an der extrem lockeren Geldpolitik, die ein historisch einmaliges Experiment darstellt. Niemand weiß genau, was geschieht, wenn diese Politik einmal umgekehrt wird. Aber es gibt noch andere Unsicherheiten: den technischen Wandel etwa, die neuen Regulierungen, die Umwälzungen in China – und nun auch noch die Sicherheitsängste wegen der Terroranschläge. Wir müssen damit rechnen, dass die Ausschläge an den Finanzmärkten stark bleiben.

Jochen

Klassenkampf der »Troika« in Griechenland: gegen Senkung der Rüstungsausgaben und gegen Einführung einer Reichensteuer

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Erst mal ein Glückwunsch an Syriza und Tsipras. Mögen sie aus dem Fitzelchen an demokratischer Einflussnahme, den ihnen die Troika noch lässt, etwas zum Wohle des ganzen Volkes anfangen!
Oft werde ich angesprochen, warum Tsipras im ersten Durchgang einige wichtige Wahlversprechen nicht durchsetzen konnte. Hier rechnet ein Fachmann vor, wei der deutsche Staat am Elend Griechenlands mehr als 600 Millionen € verdient hat:
http://www.jungewelt.de/2015/09-18/001.php
Auszüge:

EU, EZB und IWF waren bei den Verhandlungen mit der griechischen Regierung gegen Senkung der Rüstungsausgaben und gegen Einführung einer Reichensteuer

Giorgos Chondros
Giorgos Chondros ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der griechischen Partei Syriza. Diese ist heute nicht mehr das, was sie noch Anfang 2015 war: eine radikal linke Partei. Deren Vorsitzender Alexis Tsipras übernahm am 25. Januar in dem gebeutelten Land das Amt des Premiers, das er nach misslungenen Verhandlungen mit EU, EZB und IWF über neue Kredite zur Rückzahlung bestehender Verbindlichkeiten an ausländische Privatbanken am 20. August wieder abgab. Die Partei spaltete sich – ihr linker Flügel hat sich als »Laiki Enotita«, als Volkseinheit, neu formiert –, die übrigen Mitglieder wollen die mit der »Troika« ausgemachten harten sozialen Einschnitte auch in einer kommenden Regierung mittragen.
Die Verhandlungen wurden von der Gläubigerseite hart und bedingungslos geführt. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Schäuble, und damit die EU, hatte neben dem Einkassieren der fälligen griechischen Tilgungsraten noch die Demütigung der linken Regierung im Sinn.
Wie diese Verhandlungen verlaufen sind, beschreibt Chondros unter anderem in dem hier vorab veröffentlichten Kapitel seines Buches »Die Wahrheit über Griechenland, die Euro-Krise und die Zukunft Europas«. Der Band erscheint in diesen Tagen im Westend Verlag Frankfurt am Main. Er ist vor Tsipras’ Rücktritt geschrieben worden.

jW druckt den Abschnitt zu den Themen Rüstungsausgaben, Reichensteuer und über den Schuldenprofiteur BRD um die Anmerkungen und eine Tabelle gekürzt ab. (jW)

Eine der wesentlichen Fragestellungen der entstellenden Propaganda und verdrehenden Meinungsmache gegen Syriza lautet so: »Warum senkt ihr die Rüstungsausgaben eigentlich nicht?«
Dass diese Frage einer linken Regierung und einer linken Partei gestellt wird, erinnert an die rhetorische Figur des Oxymorons, bei der eine Formulierung aus zwei sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird – Beispiele: Hassliebe, eile mit Weile, es lebe der Tod. Die Linke in ihrer Gesamtheit ist ihrem Wesen nach eine pazifistische Kraft, die Abrüstung immer für unabdingbar gehalten hat und sie auch weiterhin fordert. Sie dringt auf die Auflösung aggressiver Organisationen wie der NATO, weil sie von der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz der Völker auf der Grundlage gegenseitigen Nutzens und einer gemeinsamen Zukunft überzeugt ist. Besonders Syriza fördert (…) die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zur Türkei auf allen Ebenen, damit die beiden Völker ohne den Rüstungswahnsinn in Frieden und Wohlstand koexistieren können.

Griechenland ist aufgrund des konstruierten Szenarios einer türkischen Bedrohung tatsächlich das Land mit den relativ höchsten Rüstungsausgaben in der EU und der NATO. Es ist bemerkenswert, dass die Ausgaben in diesem Bereich die Ausgaben im Gesundheits- oder Bildungsbereich um ein Vielfaches übersteigen.
Obwohl die Rüstungsausgaben in den Krisenjahren fielen, wie wir der Tafel mit Daten des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) entnehmen können, bleiben sie dennoch weiterhin auf relativ hohem Niveau.

Eine der ersten Forderungen der Troika war die Liquidation der griechischen Rüstungsindustrie. Vor allem drei einheimische Unternehmen, die Waffen, Militärfahrzeuge, Munition und so weiter herstellen und von hohem öffentlichen Interesse sind, sollten schließen, womit mehr als 2.500 Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit geführt worden wären.
Es liegt auf der Hand, dass vor allem die deutsche und die französische Rüstungsindustrie zu den Nutznießern dieser Schließung gehört hätten. Griechenland wäre weiterhin ihr bester Kunde geblieben, aber eben ohne inländische Konkurrenz.

Als die Frage der Senkung der Personalkosten beim griechischen Militär, dessen Berufsoffiziere wegen der Umsetzung der Memoranden¹ bereits Gehaltseinbußen von mehr als 40 Prozent hinnehmen mussten, auf den Tisch kam, wurde die Einstellung teurer Rüstungsprogramme nicht gestattet. Es handelt sich dabei um Programme, die direkt und ohne internationale Ausschreibungen unterzeichnet wurden.
Also ist die Regierung dazu gezwungen, Rüstungsgüter zu veräußern, um die von den Gläubigern geforderten 200 Millionen einzusparen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Sozialdemokrat und ehemaliger Ministerpräsident Norwegens, »hat die griechische Regierung vor Kürzungen des Militärbudgets gewarnt. Er erwarte, dass Athen auch weiterhin zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgäbe«.
Allein das ist ein hinreichender Beweis dafür, dass dem bankrotten Griechenland durch das internationale Kapital mit dem Ziel kreditiert wird, weiterhin in der Lage zu sein, sich teure Rüstungssysteme zu kaufen. Und zugleich wird es dazu gezwungen, die eigene Industrie zugrunde zu richten.

Warum also senkt auch die linke Syriza-Regierung die Rüstungsausgaben nicht?

Die Antwort lautet ganz einfach: »Weil uns die Gläubiger das nicht erlauben!«
Und wer profitiert von diesen aufgeblähten Rüstungsausgaben in Griechenland und der Türkei und dem so am Köcheln gehaltenen Konflikt zwischen den beiden Ländern?

BRD liefert die meisten Waffen

Von dieser Auseinandersetzung profitieren die zentralen Mächte der EU, zuallererst Deutschland und Frankreich. Gemäß dem aktualisierten Bericht der SIPRI liegt die Türkei mit 15,2 Prozent an erster Stelle der deutschen Rüstungsexporte, gefolgt von Griechenland an zweiter Stelle mit 12,9 Prozent.
En detail: Deutschland exportiert nach Griechenland primär »Leopard«-Panzer von Krauss-Maffei-Wegmann (KMW) und Kriegsschiffe von Thyssen-Krupp-Marine-Systems (TKMS). 2009 unterzeichnete das Unternehmen mit der Türkei einen Lizenzvertrag zur Herstellung von sechs deutschen U-Booten, deren Kosten sich auf zwei Milliarden Euro belaufen.
Auch die französische Rüstungsindustrie unterzeichnete einen Vertrag mit Griechenland über die Produktion von sechs Kriegsschiffen zum Preis von 2,5 Milliarden Euro. Und (…) der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle schlug der griechischen Regierung während seines Besuchs in Griechenland 2010 vor, sich mit 60 Kampfflugzeugen des Typs »Eurofighter« zum Preis von fünf Milliarden Euro zu versorgen.

Natürlich spielt die »Lieblingsfirma« Griechenlands, Siemens, die zentrale Rolle im Waffenbusiness, denn sie ist der Lieferant der Brennstoffzellentechnik für die Firma HDW, welche die U-Boote für Griechenland herstellt, während sie auch einen Anteil von 49 Prozent an der KMW hält, welche Panzer herstellt. Der (PASOK-)»Sozialist« (…) und ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Panos Beglitis, war sich sehr sicher und sagte: »Wir werden alle Rüstungsverträge der vorigen Regierung realisieren«, während der Verteidigungsminister und spätere Vorsitzende der Pasok, Evangelos Venizelos, kurze Zeit später erklärte: »Wir haben eine Lösung für die deutschen U-Boote gefunden, Griechenland wird sie abnehmen und 2,85 Milliarden Euro zahlen und auch zwei neue bestellen.«
Ich erinnere hier daran, dass er sich auf die U-Boote bezieht, die sich aufgrund eines Herstellungsfehlers zur Seite neigen.

Abschließend möchte ich ganz persönlich erklären, dass ich mit Leib und Seele für die drastische Einschränkung der Rüstungsausgaben stehe. Ich bin der Meinung, dass Organisationen wie die NATO in unserer Zeit keine Existenzberechtigung mehr haben. Ich behaupte sicherlich nicht, dass ein Land wie Griechenland die Möglichkeit hat, diese Ausgaben völlig auf null zurückzuführen, doch es könnte seine Verteidigung zu sehr viel geringeren Kosten sicherstellen. An dieser Stelle muss auf die Verantwortung der EU für die Sicherung ihrer Grenzen hingewiesen werden, aber auch auf die Notwendigkeit zur Verstärkung der Transparenz, indem alle Fälle von Schwarzgeldtransfers für Rüstungsprogramme thematisiert werden.
Auf jeden Fall ist die substantielle und in die Tiefe gehende Bewältigung der Rüstungsfrage zentral für die Schaffung eines »anderen Europas«. Eines Europas des Friedens und der Demokratie, eines Europas des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Gerechtigkeit, eines Europas der offenen Grenzen und der Entwicklung.

Brüssel streicht Reichensteuer

Die zweite laufend wiederholte Frage ist: »Warum besteuert ihr eigentlich die Reichen nicht?« Das ist natürlich eine Provokation, weil sie sich an eine Regierung und besonders an eine Partei richtet, für die die Besteuerung der Vermögenden und gut Verdienenden eine wesentliche programmatische Aussage ist.
Die zwei Parteien, die Griechenland in den letzten zwei Jahrzehnten regierten, Pasok und Nea Dimokratia (politisch verschwistert mit SPD bzw. CDU), errichteten ein politisches System, das nicht nur Steuerasyle für Reiche, vor allem für die Reeder, bot, sondern auch dafür sorgte, dass mit ihrer Zustimmung zu verschiedenen gesetzlichen Maßnahmen und Regelungen ein großer Teil des öffentlichen Vermögens auf privilegierte Privatleute übertragen werden konnte.

In Griechenland stammt der größte Teil der Steuereinnahmen schon immer von den Beschäftigten, den Lohn- und Gehaltsempfängern des öffentlichen und privaten Sektors und natürlich aus den indirekten Steuern² (Griechenland verzeichnet den größten Unterschied zwischen indirekten und direkten Steuern, zugunsten der indirekten). Von insgesamt sechs Millionen Steuererklärungen, die 2014 eingereicht wurden, betrafen gerade einmal 38.000 Fälle – ganze 0,6 Prozent aller Steuererklärungen! – Einkommen von über 100.000 Euro. Darüber hinaus erklärten lediglich 375 Griechen ein Einkommen von über 500 000 Euro, und angeblich nur 144 erzielten ein Einkommen von über einer Million Euro.

Für die Syriza-Regierung ist die Besteuerung des Reichtums nicht nur ein Mittel zur Erhöhung der Staatseinnahmen, sondern ein Hauptinstrument zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit beziehungsweise des Gerechtigkeitsempfindens eines Volkes, das unter einer schweren ökonomischen, sozialen und politischen Krise leidet.
Das stellt auch die Hans-Böckler-Stiftung in einer aktuellen Studie fest: »Der Austeritätskurs in Griechenland hat die Einkommen der privaten Haushalte in dem Krisenland drastisch einbrechen und die Armut ansteigen lassen. (…) So verloren (…) die zehn Prozent Haushalte mit den niedrigsten Einkommen gegenüber 2008 rund 86 Prozent. (…) Die 30 Prozent der Haushalte mit den höchsten Einkommen verloren zwischen knapp 20 und 17 Prozent.«

Gemäß ihren Ankündigungen hat die Regierung Tsipras auch bereits mit der Umsetzung einer Reihe von Maßnahmen mit dieser Zielsetzung begonnen. So hat sie beispielsweise – unter großem Zuspruch der Bevölkerung – die Möglichkeit zur Zahlung von Steuerschulden und Sozialversicherungsbeiträgen in über hundert Raten veranlasst und damit viele Betroffene mit geringen und mittleren Einkommen entlastet. Sie hat die Verfahren zum Eintreiben der Steuern von mutmaßlichen griechischen Steuerflüchtlingen, die auf der Lagarde-Liste³ verzeichnet sind, beschleunigt – es wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits Hunderte Millionen Euro eingenommen, die sich bisher im Steuerasyl befanden. Sie bereitet derzeit ein Abkommen mit der Schweiz zum direkten Beistand bei der Aufdeckung von mutmaßlichen Schwarzgeldkonten griechischer Kontoeigentümer vor.

In der Hauptsache sieht die Regierung die Installation eines neuen und gerechten Steuersystems vor, denn diejenigen, die bereits sehr viel mehr als alle anderen hatten, konnten ihr Vermögen während der Krise – wie auch anderswo – weiter erhöhen. Basierend auf dem einfachen Grundsatz, dass die Wohlhabenden ihren angemessenen Teil zum Wohlergehen der Gesellschaft beitragen sollen, enthielt das den Gläubigern Anfang Juni vorgeschlagene 47seitige Reformpaket eine Solidaritätsabgabe auf Jahreseinkommen über 500.000 Euro mit einem Satz von acht Prozent, die Erhebung einer Sonderabgabe von zwölf Prozent auf Unternehmensgewinne über 500.000 Euro und die Erhöhung der Unternehmenssteuer auf dieselben Gewinne von heute 26 Prozent auf 29 Prozent noch im Jahr 2015.

Zum großen Erstaunen aller wurden diese Maßnahmen aber von den Gläubigern mit der Begründung abgelehnt, sie würden die Konjunktur schwächen. Die Gläubiger forderten statt dessen mehr Ausgabenkürzungen, hauptsächlich im sozialen Bereich, bei den Renten und so weiter.
Es war nicht zuletzt diese Kontroverse, die die griechische Regierung dazu veranlasste, mit dem Referendum vom 5. Juli eine demokratische Entscheidung der Bevölkerung herbeizuführen.
Als dasselbe Thema eine Woche später, beim Gipfeltreffen am 12. Juli, erneut auf den Tisch kam, forderten die Gläubiger die Streichung der Regelung der achtprozentigen Solidaritätsabgabe auf Jahreseinkommen über 500.000 Euro und den Ersatz der damit zu erzielenden Einnahmen durch eine gleichwertige Einnahmequelle, vorzugsweise mittels Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich. Was nur abermals belegt, dass das Griechenland auferlegte »Anpassungsprogramm« auch gleichzeitig ein Verfahren zur Umverteilung des Reichtums von unten nach oben ist, von den Vielen zu den Wenigen.
Es zeigt sich immer wieder und an verschiedenen Stellen, dass der Versuch von Syriza zur Umkehrung dieses Umverteilungsprozesses von unten nach oben auf den erbitterten Widerstand der Gläubiger trifft.

In der Konsequenz lautet die Antwort auf die Frage zur Besteuerung der Reichen: »Wir besteuern die Reichen deshalb nicht, weil uns die Gläubiger das nicht erlauben.«

Schuldenprofiteur Deutschland

Es gibt dann noch eine dritte – nein, keine Frage, sondern eine stereotyp vorgetragene Behauptung der deutschen Meinungsmacher. Eine gefährliche Behauptung, mit der der Erreger eines »passiven Hasses« gegen die griechische Regierung, gegen Syriza oder gegen »die Griechen« an sich verbreitet wird und jederzeit aktiviert werden kann.
Sie lautet: »Wir Deutschen zahlen für die Griechen.« Was meint, dass der selbst »fleißige und sparsame« deutsche Steuerzahler darauf gefasst sein muss, gegebenenfalls irgendwann dafür aufzukommen, dass »die Griechen über ihre Verhältnisse leben«.

Das stimmt natürlich vorne und hinten nicht. Weder der deutsche Staat noch die übrigen Länder der Euro-Zone haben Geld aus ihren Haushalten eingezahlt, sondern es sich bei der EZB zu einem jährlichen Zinssatz von ein Prozent bis drei Prozent geliehen, um es in der Folge zu einem höheren Zinssatz an Griechenland weiterzuverleihen, was ihnen logischerweise Geld einbrachte.
Im Zeitraum 2010/2011 etwa flossen aus diesem Zinsunterschied mehr als 300 Millionen Euro zusätzliche Mittel in die deutschen Staatskassen. Folglich legt der deutsche Steuerpflichtige nicht nur nichts drauf, sondern seine Regierung erzielt darüber hinaus sogar Einkünfte. Das ist auch weiterhin der Fall, obwohl die Zinsen auf griechische Anleihen seit 2012 gefallen sind.

Es wird geschätzt, dass Deutschland aus seinen über die KfW-Bank (Kreditinstitut für Wiederaufbau, jW) abgewickelten zwischenstaatlichen Krediten an Griechenland während des Zeitraums 2010 bis 2014 mehr als 360 Millionen Euro an Zinserträgen erzielt hat. Auch in dieser Hinsicht erweist sich noch ein weiteres Mal, dass die »Rettung« den Banken und nicht Griechenland galt und gilt.
Allerdings will ich nicht verhehlen, dass der deutsche und der europäische Steuerzahler in Zukunft tatsächlich Gefahr laufen, für die Bankverluste aufkommen zu müssen, nämlich dann, wenn Griechenland – oder welches krisengeschüttelte Land auch immer – zur Zahlung seiner Schulden nicht in der Lage sein sollte.
Und: Laut der Leibniz-Studie⁴ steht speziell Deutschland anders da: »Selbst wenn Griechenland seine derzeitigen Schulden überhaupt nicht zurückzahlen würde, hätte Deutschland von der griechischen Krise profitiert, also mehr eingenommen als dafür gezahlt.«
Übrigens war das der Grund für die Sozialisierung der privaten Schulden Griechenlands: die Absicherung der privaten oder teilprivaten Banken mit Mitteln aus den Staatshaushalten, letztlich also durch die Bürger des Staates. (…)

Der gerade bekanntgewordenen Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zufolge profitiert Deutschland finanziell stark von der Krise in Griechenland. »Seit deren Ausbruch 2010 sei der deutsche Staatshaushalt um rund 100 Milliarden Euro oder gut drei Prozent im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt entlastet worden«, erklärte das Institut, heißt es in Die Presse vom 10. August 2015. Deutschlands zusätzliche Einnahmen von (kumuliert seit 2010) bis zu 100 Milliarden Euro sind besonders darauf zurückzuführen, dass die Zinsen für deutsche Anleihen stark gesunken sind, weil sie im Vergleich als sehr sicher eingeschätzt werden.
Somit übertreffen die Ersparnisse den deutschen Anteil an den bisherigen Rettungspaketen für Griechenland, der auf rund 90 Milliarden Euro beziffert wird.

Selbst wenn Griechenland seine derzeitigen Schulden überhaupt nicht zurückzahlen würde, hätte Deutschland von der griechischen Krise profitiert, also mehr eingenommen als dafür gezahlt.

Zwar haben dem IWH zufolge auch andere Länder wie Frankreich in bezug auf ihre Zinseinnahmen profitiert, aber keines so viel wie Deutschland. Schäubles schwarze Null im Bundeshaushalt ist, wenn man so will, nur mit griechischer Hilfe zustande gekommen!

Anmerkungen

1 Darunter sind die Verträge mit EU, EZB und IWF gemeint, in denen festgelegt ist, unter welchen Bedingungen Geld aus Brüssel und Washington fließt. (jW)

2 Der damaligen französischen Finanzministerin Christine Lagarde wurde 2010 ein Datenträger mit entwendeten Kontodaten von über 2.000 griechischen Kunden der Schweizer Banktochter der HSBC zugespielt. Lagarde reichte diese Liste nach Athen weiter, wo sie zunächst keinen Anlass zu größeren Ermittlungen bot, aber zugleich doch mehrere politische Skandale auslöste.

3 Indirekte Steuer sind Verbrauchersteuer und treffen darum in erster Linie Beschäftigte. Direkte Steuern sind Einkommens- und Vermögenssteuer. (jW)

4 Wahrscheinlich ist eine Untersuchung des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle an der Saale (IWH) vom August 2015 gemeint. (jW)

Giorgos Chondros: Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas, übersetzt von Céline Melanie Spieker. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2015, 236 Seiten, 16,99 Euro – auch im jW-Shop erhältlich.

Jochen