Sevim Dagdelen (Die Linke) in China: Für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Über die deutsch-chinesischen Beziehungen im Licht der »Zeitenwende«.
Gastvortrag von Sevim Dagdelen an der Shanghai International Studies University

https://www.jungewelt.de/artikel/452038.interessenausgleich-f%C3%BCr-freiheit-frieden-und-gerechtigkeit.html

Auszüge:
Wenn wir über die deutsch-chinesischen Beziehungen 2023 im Licht der Zeitenwende der Emanzipation des globalen Südens sprechen, müssen wir zuallererst über ein wichtiges Buch zum Verständnis der Gegenwart sprechen. Es heißt »The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern Warfare« (1) und ist 2022 in den USA erschienen.

Der Autor ist Nicholas Mulder, ein »Assistant Professor of European Modern History at Cornell University« (2).
Nicholas Mulder zeichnet präzise nach, wie historisch Wirtschafts- und Finanzsanktionen als Waffe im modernen Krieg entwickelt wurden, angefangen im Ersten Weltkrieg und 1919 vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson beschrieben in ihrer Wirkung als »something more tremendous than war« (3).

Es gilt zu konstatieren, dass die USA, die NATO und ihre Verbündeten in Asien, Australien und Europa nicht nur durch die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen, sondern auch einen Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, so drückte sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock aus, »Russland zu ruinieren«. Wirtschaftssanktionen sind ein Mittel der modernen Kriegführung oder, um in Anlehnung an den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz zu sprechen: Sie sind die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Was aber haben diese Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit den deutsch-chinesischen Beziehungen zu tun, und inwiefern fördern sie nach einem mephistophelischen Prinzip eine Zeitenwende und eine Emanzipation des globalen Südens?
»Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« – so lässt Goethe Mephistopheles seine Wirkung im Buch »Faust« selbst beschreiben.
Dazu muss man wissen, dass die Sanktionen gegen Russland bisher ihre beabsichtigte Wirkung verfehlten. Auch wenn der wirtschaftliche Schaden für Russland sicherlich beträchtlich ist, leiden vor allem die Europäer unter dem Wirtschaftskrieg, allen voran Großbritannien und Deutschland, deren Ökonomien in eine Rezession gerutscht sind.
In Deutschland wird es wohl nach 2022 mit vier Prozent auch in diesem Jahr Reallohnverluste für die Beschäftigten geben. *)

Weil der durchschlagende Erfolg im Wirtschaftskrieg bisher ausblieb, hat man sich jetzt auf eine weitere Ausweitung der Sanktionen versteift. Und hier kommt China ins Spiel.
Denn weil man analysiert, dass auch mögliche Umgehungen der Russland-Sanktionen künftig getroffen werden sollen, hat die EU ein elftes Sanktionspaket aufgelegt, bei dem auch chinesische Firmen getroffen werden sollen.
Zwar wurde einschränkend betont – offenbar um die Reziprozität durch China abzumildern –, es handele sich nur um Sanktionen gegen chinesische Firmen, die nach Russland von der EU aus liefern. Aber überzeugend ist dieses Argument in einer Zeit der globalisierten Produktion nicht wirklich.
Zwar wurde das elfte Sanktionspaket von Ungarn und Griechenland erst einmal gestoppt, um ungarische und griechische Firmen von der eigenen ukrainischen Sanktionsliste löschen zu können, aber vieles spricht dafür, dass dieser Weg von der EU und auch leider von der Bundesregierung unerbittlich weiter verfolgt werden wird, da es die USA sind, die hier insbesondere auf eine Ausweitung der Sanktionen gegen chinesische Unternehmen drängen, aber selbst im Hintergrund bleiben wollen, damit die Reziprozität dann vor allem Europa treffen wird.

Vasallenverhältnis zu USA

Man muss betonen, welches Potential zum gegenseitigen Nutzen ein Ausbau der deutsch-chinesischen Beziehungen haben könnte – im kulturellen, wissenschaftlichen und im Bildungsbereich, aber auch in der Verstärkung der Handelsbeziehungen sowie der Förderung vernetzter Produktionsketten und der dafür erforderlichen Infrastruktur.
Gerade im Bereich der Lese- und Rechtschreibkompetenz für Grundschüler, wo Deutschland immer schlechter abschneidet und weit hinter China zurückgefallen ist, gäbe es, um nur ein Beispiel zu nennen, Möglichkeiten des gegenseitigen Lernens.

Das Haupthindernis aber auf dem Weg zur Förderung der deutsch-chinesischen Beziehungen sehe ich in der mangelnden Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. **)
Gerade im Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine zeigt sich, dass Berlin in Sekundenbruchteilen außenpolitische Entscheidungen Washingtons nachvollzieht und sich, wie an der Frage der Lieferung deutscher Panzer ablesbar, sogar in die erste Reihe des Krieges schieben lässt.
Die Situation in Deutschland erinnert an die Situation im Lateinamerika der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, bei der eine Kompradoren-Bourgeoisie die Interessen von US-Konzernen durchsetzt.
Oft wird dabei auf die massive Präsenz von US-Truppen in Deutschland verwiesen, die seit 78 Jahren stationiert sind, oder auf die engmaschigen transatlantischen Netzwerke in Politik, Medien und Wirtschaft. Aber als alleinige Erklärung für die extreme Willfährigkeit, mit der die deutsche Politik gegenüber den USA oft agiert, reicht dies nicht aus.

Seit 1990 hat der US-Investmentfond Blackrock, mit über zehn Billionen US-Dollar weltweit die größte Gesellschaft verwalteten Vermögens, enorm in Deutschland investiert.
Blackrock ist an allen 30 Dax-Unternehmen entscheidend beteiligt und größter Anteilseigner bei acht von ihnen.
Sicher, Blackrock investiert auch in China, aber in keinem Fall kann von einer derart starken Stellung wie in Deutschland gesprochen werden. Diese Zusammenballung wirtschaftlicher Macht wirkt sich auf politische Entscheidungen in Deutschland aus. Das scheint mir unbestritten.
Hier ist wie im Bereich der NATO ein weites Feld für wissenschaftliche Untersuchungen, inwieweit dieses Investment politisch dazu beiträgt, in ein Vasallenverhältnis Deutschlands gegenüber den USA und vor allem den US-Konzernen übersetzt zu werden.

Prinzip der zwei Schwächen

Im Schach gibt es für die Endspiele eine Regel, die man das »Prinzip der zwei Schwächen« nennt. Diese Regel wird vom Westen in der internationalen Politik weithin nicht beachtet.
Das »Prinzip der zwei Schwächen« besagt folgendes: Manchmal reicht es trotz vorteilhafter Stellung nicht zum Gewinn. Ersteht dem Gegner jedoch mehr als eine Schwäche, dann rückt der Sieg in greifbare Nähe. Denn ein Schachfeldzug an zwei Fronten führt zur Überlastung und am Ende zur Niederlage.
Wenn man sich die Debatte um die Ausweitung der Wirtschaftssanktionen anschaut, dann wird offenbar, wie wenig dieses wichtige Prinzip der zwei Schwächen in der politischen Praxis Anwendung im Westen findet.

Aber wie im Stellvertreterkrieg scheint am Ende das All-In, ein Alles-oder-nichts-Prinzip zu herrschen, bei dem sowohl das Risiko eines Dritten Weltkriegs und zumindest eines Weltwirtschaftskriegs wächst mit möglicherweise verheerenden Folgen für die Bevölkerung auf dem gesamten Globus.
Eine Politik am Roulettetisch aber führt noch sicherer in den absoluten Verlust. Alles, was seit Ende des Zweiten Weltkriegs auch an internationalen Institutionen aufgebaut wurde, um an die Stelle des Krieges die Diplomatie und die Kooperation zu setzen, drohte eingerissen zu werden.
Und auf diese Vernunft, die sich einer Apokalyptik der Spieler verweigert, müssen die deutsch-chinesischen Beziehungen in Gegenwart und Zukunft gründen.

Mit Bezug auf das erzeugte Gegenteil muss man die Emanzipation des globalen Südens als Resultat des Wirtschaftskriegs des Westens ins Kalkül ziehen.
80 Prozent der Welt beteiligen sich nicht an den westlichen Sanktionen.
Immer lauter werden hingegen die Rufe nach eigenen Handelswährungen, da nur diese vor den Drittwirkungen westlicher Sanktionen wie vor der modernen Kriegführung des Westens auf lange Sicht zu schützen scheinen.

Lenin war auch ein Schachspieler. Bekannt sind die Fotos im Exil auf Capri, die ihn im Spiel gegen Maxim Gorki 1908 zeigen. Im Schach gibt es immer die Empfehlung, der Theorie zu folgen.
Aber zugleich gilt der höher gestellte Grundsatz »Tue, was du tun musst«, um eine Praxis und aus ihr eine Theorie zu entwickeln, die auf Gewinn abzielt.
Bei der Verteidigung der russischen Revolution ist dieser höher gestellte Grundsatz voll zum Tragen gekommen, und hier meine ich jetzt nicht nur Lenins neue ökonomische Politik, sondern den Kongress der Völker des Ostens von 1920.
Mit ihm wurde nichts weniger als ein Bündnis der unterdrückten kolonisierten Völker mit der Arbeiterklasse vorgeschlagen.
Ein Bündnis, das auf Emanzipation zielte, um die Sowjetunion zu schützen gegen eine Restauration des Kapitalismus.

Manchmal sind 100 Jahre wie ein Tag. Gegen den Versuch, der Welt ein neokoloniales Korsett mit Stellvertreterkriegen und Wirtschaftskriegen aufzuzwingen, zeigt sich Widerstand im globalen Süden.
Von einem Bündnis der Arbeiterklasse im Westen mit den Völkern des Südens würde die gesamte Welt profitieren, um statt auf Rüstungswahn, wirtschaftlichen Abstieg und Putsche auf Diplomatie, Kooperation und gegenseitigen Interessenausgleich zu setzen: für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt.

Übersetzungsanmerkungen

1 Die wirtschaftliche Waffe. Der Aufstieg von Sanktionen als Instrument moderner Kriegführung
2 Juniorprofessor für moderne europäische Geschichte an der Cornell University
3 etwas Schrecklicheres als Krieg

*: Siehe https://josopon.wordpress.com/2023/05/09/erst-klaut-er-ihnen-30-ihres-bescheidenen-wohlstandes-dann-halt-er-sie-mit-einem-burgerdialog-zum-narr-en-olaf-scholz/

**: https://josopon.wordpress.com/2023/05/19/die-vasallisierung-europas/

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Jochen

Nord-Stream von USA gesprengt – Wer hatte je Zweifel daran? – Eine Kriegserklärung an Deutschland?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zwei Kommentare auf RT.de

1. von Dagmar Henn: Wer hatte je Zweifel daran?

dagmar henn

dagmar henn

https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/162451-seymour-hersh-sprengte-grabstein-ueber/
Die deutschen Medien mühen sich nach Kräften, die Äußerungen der Journalistenlegende Seymour Hersh gar nicht ernst zu nehmen, die USA und Norwegen hätten die Sprengung der Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 durchgeführt. Schließlich hätten sowohl das Weiße Haus in Washington, D.C. als auch die CIA erklärt, sie wären es nicht gewesen. Als wäre es jemals vorstellbar, dass sich Sprecher sowohl der Regierung als auch des Geheimdienstes vor die Kameras stellten und sagten: Ja, wir waren es.

Regierung auf Frage zu Nord-Stream-Sprengung: „Strengste Geheimhaltung, Staatswohl gefährdet“

Allerdings werden in der Berichterstattung auch fast alle Momente verschwiegen, in denen US-Vertreter eben solch einer Aussage schon sehr nahe kamen. Selbst Victoria Nuland hat erst vor wenigen Wochen vor dem US-Parlament ausgesagt und konnte dabei vor lauter Freude über die Zerstörung der Pipelines kaum mehr an sich halten, so dass es in Kommentaren dazu hieß, man habe ihr anmerken können, wie gerne sie sich dafür gelobt hätte.
Ein offizielles Dementi, noch dazu von der spärlichsten Art, würde unter normalen Umständen am Ende eines Artikels vermerkt, mehr nicht. Aber die deutschen Mainstream-Pressevertreter fühlen sich berufen, sich schützend vor den Hegemon zu werfen. Also wird ein wertloses Dementi so wortreich aufgeblasen, dass man es benutzen kann, um die eigentlich brisante Information zu verdecken. Der Bayerische Rundfunk titelt sogar gleich: „USA stellen klar: Haben Nord-Stream-Pipelines nicht gesprengt.“ Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Einzig der Artikel auf dem Werbeportal t-online.de benennt zumindest jenen Grund, warum alle die Dementis sehr skeptisch gesehen werden müssten. Denn die Sprengung der Pipelines „wäre ein Vorgang, der von der russischen Gegenseite und auch von Deutschland als kriegerischer Akt gewertet werden könnte“.
Allerdings nutzt auch hier der Autor obendrein diesen Grund, um stattdessen Hershs Darstellung sogar infrage zu stellen.

Nun, es gibt durchaus Möglichkeiten, das zu klären. Die US-Justiz ist bekannt für ihre aufwendigen und teuren Schadensersatzprozesse, und die Ermittlungen von Seymour Hersh könnten immerhin genügen, um die Regierung der Vereinigten Staaten zu verklagen. Dann bestünde beispielsweise die Möglichkeit, Angehörige der von Hersh benannten Marinetauchereinheit als Zeugen zu laden.
Und da in den USA Sammelklagen zulässig sind, die Zahl der durch die Sprengung Geschädigten sogar in die Millionen geht und sich darunter auch durchaus Zahlungskräftige befinden, ist ein solches Verfahren sogar wahrscheinlich, selbst wenn oder sogar vor allem dann, wenn der deutsche Bundeskanzler weiter so tut, als sei sein Name Hase – statt Scholz.

Der Fall Nord Stream: Europas nächster Krieg geht auf Warschaus Kappe

Es sind auch verschiedenste Konstellationen vorstellbar, unter denen in den USA selbst weiter nachgeforscht werden dürfte. Denn keineswegs alle US-Abgeordneten stützen die herrschende Ukraine-Politik, und die Enthüllungen von Hersh sind auch für die US-Innenpolitik durchaus heikel. Er erklärt beispielsweise, dass die Planungen für die Sprengung bereits im Dezember 2021 begonnen hätten.
Im Dezember 2021 hatte noch nicht einmal der russische Militäreinsatz in der Ukraine begonnen. Wenn zu diesem Zeitpunkt Handlungen in die Wege geleitet wurden, die unter normalen Umständen als Kriegsakt gegen auch mindestens einen eigenen engen Verbündeten gelesen werden müssen und damit das Potential hätten, die gesamte NATO zu sprengen, müssen sich die USA sehr sicher gewesen sein, dass es zu diesem Militäreinsatz kommen wird. Das wiederum ist nur dann möglich, wenn sie ihn selbst provozieren wollten. Sowohl das Ziel der Handlung als auch der Zeitpunkt des Planungsbeginns dürften bei einigen Angehörigen des US-Kongresses nicht gut ankommen. Noch weniger, wenn die Einheit, die die Sprengsätze nach Darstellung von Hersh im Sommer 2022 legte, extra deshalb ausgewählt wurde, weil diese spezielle Einheit eingesetzt werden konnte, ohne den Kongress darüber informieren zu müssen.

Das ist auch der von Hersh angegebene Grund, warum auf Minenräumung spezialisierte Marinetaucher – und nicht die bekannten Kampftaucher der Navy Seals – damit beauftragt wurden, die Sprengungen vorzubereiten. Den US-Kongress zu umgehen, klingt nach einer praktischen Lösung, ist aber ein zweischneidiges Schwert; wenn es aufgedeckt wird, nehmen das gelegentlich sogar jene Abgeordneten übel, die wahrscheinlich zugestimmt hätten, wären sie gefragt worden.

Wobei die Verlautbarung des US-Präsidenten Joe Biden auf der denkwürdigen Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington, D.C. am 7. Februar 2022 womöglich auch noch einen Einfluss auf die Einstufung dieser Pläne gehabt hat. Biden hatte damals – ohne irgendeine erkennbare Reaktion von Scholz – versichert, im Falle eines russischen Einmarsches „gibt es kein Nord Stream 2 mehr. Wir werden es beenden“.

US-Investigativjournalist Hersh: USA stecken hinter Nord-Stream-Anschlägen

Seine Quelle, so Hersh, berichtet, daraufhin hätten einige führende CIA-Leute entschieden, es handele sich bei einer Sprengung der Pipeline nicht mehr um eine verdeckte Operation, „weil der Präsident gerade erklärt hat, dass wir wissen, wie es geht“.
Damit wäre die Notwendigkeit, den US-Kongress zu informieren, entfallen. Die Entscheidung bezüglich der dabei eingesetzten Einheit blieb aber wohl bestehen.

Ob diese Einschätzung von den Abgeordneten im Kongress geteilt wird, wird sich zeigen. Schließlich befinden sich die USA auch bereits im Anlauf zu den nächsten Präsidentschaftswahlen, und eine Kriegshandlung gegen Verbündete ist durchaus dafür verwertbar. Ganz im Gegensatz zur Biden-Regierung, die sich mit ihrem Getöse zum vermeintlichen Skandal um Geheimdokumente in Mar-a-Lago letztlich ein Eigentor gönnte, wäre das Verhalten von Biden zu Nord Stream angesichts der möglichen Folgen ein wirklicher Skandal.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob das Team von Donald Trump bereit ist, dieses Thema auszuschlachten. Dass es innerhalb der USA keinerlei Reaktion geben wird, ist jedenfalls äußerst unwahrscheinlich. Die Jagd ist bereits eröffnet.

Aber zurück zu Hersh. Die Sprengsätze, schreibt er, seien während des Manövers BALTOPS 22 gelegt, aber erst Monate später gezündet worden. Und die Zündung erfolgte dann durch die norwegische Marine. Der zweite Beteiligte wäre demnach nicht Großbritannien – wie von russischer Seite bisher vermutet –, sondern Norwegen. Was würde nun Norwegen motiviert haben, eine Kriegshandlung gegen europäische NATO-Verbündete zu unternehmen?

Neue Details: Wie die CIA die Anschläge auf die Nord Stream-Pipelines plante

Hersh vermerkt zur Person des derzeitigen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, der zuvor norwegischer Regierungschef war, er habe bereits „seit dem Vietnamkrieg mit amerikanischen Diensten zusammengearbeitet“.
Diese Datierung ist allerdings problematisch; Jens Stoltenberg ist Jahrgang 1959; beim Ende des Vietnamkriegs war er erst fünfzehn, was zumindest ein recht ungewöhnliches Alter wäre, um für US-Dienste interessant zu sein. Vermutlich sind aber solche Kontakte eine Mitgift der Familie – schon sein Vater war Politiker: von 1979 bis 1981 norwegischer Verteidigungsminister und von 1987 bis 1989 sowie von 1990 bis 1993 Außenminister. Eine Tante mütterlicherseits war mit einem weiteren Verteidigungsminister verheiratet, und der junge Jens Stoltenberg war zehn Jahre lang Mitglied des Vorstands der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, also der norwegischen Jusos (in dieser Zeit allerdings, zumindest nach außen, sogar NATO-Gegner).

Dass Stoltenberg gewissermaßen zur sozialdemokratischen Polit-Aristokratie Norwegens gehört, war mit Sicherheit hilfreich, um die Kooperation anzubahnen. Die Gründe, warum Norwegen dazu bereit gewesen sein könnte, liegen allerdings tiefer.
Der erste Grund ist recht offensichtlich: Norwegen ist selbst Öl- und Gasproduzent, konnte (leicht vorhersehbar) seinen Marktanteil in Westeuropa nach dem Ende von Nord Stream deutlich ausdehnen, und das obendrein zu noch höheren Preisen. Erdöl und Erdgas werden von staatlichen norwegischen Unternehmen gefördert, das staatliche Interesse ist in Norwegen also unmittelbar.

Es gibt allerdings noch einen weiteren Punkt: Norwegen besitzt einen der größten Staatsfonds weltweit. In diesen Fonds fließen nicht nur die Einnahmen der Sozialversicherungen, sondern auch Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung (meine persönliche Erinnerung sagt mir, dass Norwegen ursprünglich die Einnahmen direkt ausschütten wollte, jedoch dazu gezwungen wurde, stattdessen den Umweg über einen Staatsfonds zu gehen. Leider liegt das zu lange zurück, um dafür auf die Schnelle Belege zu finden).

Damit ist das gesamte Sozialsystem Norwegens von der Entwicklung der Aktienkurse abhängig. Auch ein Zusammenbruch des US-Dollar-Systems würde dadurch massive Folgen für den norwegischen Staat haben.
Das ist zweifellos ein sehr starker Anreiz, sich für den Erhalt der US-Hegemonie einzusetzen, auch wenn eine Reihe von norwegischen Beteiligungen, etwa bei Henkel oder der Deutsche Post AG, darunter leiden dürfte.

Wer hat die Nord-Stream-Röhren sabotiert? Die Liste der Verdächtigen ist vergleichsweise kurz

https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/150028-sabotage-bei-nord-stream-kampftaucher/

Dagmar Henn am 27 Sep. 2022: Kampfschwimmer besitzen in alphabetischer Reihenfolge Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, Österreich, Russland, Schweden, Schweiz, Südafrika und die Vereinigten Staaten. Dänemark besitzt keine U-Boote, hat aber den Vorteil, dass die Orte der Zwischenfälle in der Nähe des eigenen Staatsgebiets liegen, wenn auch außerhalb der Hoheitsgewässer. Auch Finnland besitzt keine U-Boote. Die restlichen Staaten auf der Liste erfüllen beide Kriterien. …
Versuche durch RT DE, bei einem deutschen biologischen Forschungsinstitut nachzufragen, ob es eventuell Auffälligkeiten aufgezeichnet hätte (wer den Gesängen der Schweinswale lauscht, zeichnet auch eventuelle Explosionen auf), endeten in einer Schlaufe aus „ist nicht im Haus“, „weiß ich nicht“ und „kann ich nicht finden“. Ein Indiz dafür, dass alternative Datenquellen bereits abgeschottet werden, was wiederum darauf hindeutet, dass deutsche Stellen mit involviert waren. Denn wenn es sich um eine Handlung gegen den Willen der Bundesregierung gehandelt hätte, hätte diese ein Interesse daran, gerade solche Schlupflöcher für wirkliche Informationen offen zu halten, bei denen sie selbst sich dann auf die berühmte glaubwürdige Abstreitbarkeit berufen kann. …

Praktisch gleichzeitig zur Sprengung von Nord Stream, nämlich am 27. September 2022, wurde die Baltic Pipeline eröffnet, die norwegisches Erdgas von West nach Ost, nämlich Polen transportiert. Zwar ist sie im Vergleich zu den vier Röhren von Nord Stream 1 und 2 winzig und hat nur eine Kapazität von 10 Milliarden Kubikmetern jährlich, aber die leistungsstärkere und günstigere Konkurrenz von Nord nach Süd ist wenigstens momentan aus dem Spiel.

Lässt sich die Darstellung von Hersh beweisen? Die erste Überprüfung ist sehr simpel. Die Zündung der Sprengsätze soll durch eine akustische Boje erfolgt sein, die eine Folge niederfrequenter Töne abgegeben haben soll, die sich von den üblichen Hintergrundgeräuschen klar unterscheiden müssen.
Dutzende von Mikrofonen, die in der Ostsee hängen, müssten diese Signale im entsprechenden Zeitraum aufgezeichnet haben, denn Schall breitet sich unter Wasser gut über Hunderte von Kilometern aus. Findet sich eine solche unikale Tonfolge in den Aufzeichnungen, dann ist der Rest der Geschichte vermutlich ebenso stichhaltig. Die Bundesregierung sollte das, sofern sie überhaupt an der Wahrheit interessiert ist, mit einer einzigen Runde von Telefonaten unter Verbündeten klären können.
Auch der dänische Marinegeheimdienst, vor dessen Nase das Ganze geschehen ist, dürfte spätestens jetzt in seinen Aufzeichnungen suchen, falls er das nicht schon längst getan hatte.

Die anonyme Quelle, auf die sich Seymour Hersh bezieht, ist aller Wahrscheinlichkeit nach in der CIA zu suchen. Das lässt sich an zwei Stellen seines Textes erkennen. Zum einen schreibt Hersh, die Änderung der norwegischen Pläne von einer ursprünglich unmittelbar, binnen 48 Stunden nach Platzierung der Sprengsätze geplanten Sprengung hin zu einer mit langer Verzögerung ausgelösten Sprengung habe bei der CIA für Unbehagen gesorgt: „Das erneuerte auch die Sorgen, die manche hatten, was die Notwendigkeit wie die Legalität der ganzen Operation anging.“ Und das sind schließlich Sorgen, die bei einem staatlich organisierten Akt des Terrors, einer Kriegshandlung, durchaus angebracht sind.
Und zum anderen zitiert er am Schluss des Artikels wörtlich die Quelle, die augenscheinlich sowohl die technische Planung bewundert als auch dem US-Präsidenten Joe Biden zugesteht, die „Eier“ für solch ein Aktion zu haben:

„Es war eine schöne Titelgeschichte. Dahinter war eine verdeckte Operation, die Experten ins Spiel brachte, und Ausrüstung, die auf ein verdecktes Signal hin funktionierte. Der einzige Fehler war die Entscheidung, es zu tun.

Nun, Hersh hat genug Piranhas in den Pool geworfen, um den Urheber bis auf das Skelett freizulegen. Auch wenn der deutsche Bundeskanzler bereit ist, seinen letzten Rest Selbstachtung, sofern noch vorhanden, auf ein wertloses US-Dementi hin preiszugeben, und auch wenn sich die Berliner Politblase überwiegend derart vom nationalen Interesse abwendet, dass es nicht einmal mehr nützen würde, sie zum Jagen zu tragen: Für interessante Schadensersatzklagen und für Unruhe innerhalb der US-Politik dürften diese Informationen allemal genügen. Denn der Rest der Welt außerhalb der westlichen Blase hatte ohnehin niemals Zweifel, wer die Röhren gesprengt hat: Cui bono?

2. von Gert Ewen Ungar: Eine Kriegserklärung an Deutschland?

https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/150122-zerstorung-von-nord-stream-kriegserklarung/

G_E_UNGERMit der Sabotage von Nord Stream wurde die EU zum Kriegsschauplatz. Es ist klar geworden, dass es nicht um die Ukraine geht. Wir haben es mit einem Krieg der USA gegen Russland zu tun, der sich vor allem auch gegen Deutschland richtet. Weder die BRD noch die EU sind in diesem geopolitischen Spiel noch eigenständige Akteure.

Der Filmemacher Gonzalo Lira sieht im Sabotageakt gegen Nord Stream eine Kriegserklärung der USA gegenüber den Europäern. Insbesondere Deutschland sei vom wichtigsten Verbündeten der Krieg erklärt worden, legt er in einem Video dar. Das ist eine steile These, die aber nicht allzu schnell weggewischt werden sollte. Schon nach kurzer Überlegung ist klar, die USA sind zweifellos der größte Profiteur des Anschlags auf die europäische Gas-Infrastruktur. Sie haben zudem sowohl die Mittel als auch die Gelegenheit zur Ausführung.

Man muss Lira nicht in allem zustimmen. Aber mit der Sabotage von Nord Stream ist eines klar geworden: Der Schauplatz des Krieges hat sich vergrößert. Es ist nicht mehr nur die Ukraine, in der militärische Handlungen stattfinden. Es ist nicht mehr nur ein Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und Russland. Deutschland und die EU sind mit dem Anschlag auf Nord Stream zum Schlachtfeld geworden.

Die deutschen Medien deuten gemeinsam mit der deutschen Politik in Richtung Russland, wenn es um die Frage nach dem Schuldigen geht. Das ist allerdings wenig überzeugend. Den größten ökonomischen und machtpolitischen Vorteil haben die USA.

Zugegeben, es sind bisher alles Mutmaßungen und lediglich Indizien. Tatsächliche Beweise für eine Täterschaft gibt es aktuell nicht. Aber selbst dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt medial vorgeführt werden, ist größte Skepsis angebracht. Denn es geht um viel, um den machtpolitischen Einfluss über Westeuropa. Aktuell ermitteln Schweden, Dänemark und Deutschland, und auch die NATO hat ihren Einstieg in die Ermittlungen angekündigt. Alle sind Konfliktpartei in der Auseinandersetzung mit Russland. Objektive Ergebnisse sind in dieser Konstellation nicht zu erwarten. Es gilt daher, skeptisch zu bleiben.

Es ist wenig plausibel, dass Russland die eigene Infrastruktur zerstört, in die es zuvor Milliarden investiert hat. Zumal Russland all die Ziele, die der Westen dem Land unterstellt, durch bloßes Abschalten hätte ebenso erreichen können. Russland sitzt im wahrsten Sinne des Wortes am längeren Hebel und kann die Gasdurchleitung mit einem Knopfdruck beenden. Es ist nicht notwendig, die gesamte Infrastruktur zu beschädigen. Die Deutschen und die Europäer sollten sich fragen, wer hier ein größeres Interesse, wer das bessere Motiv und auch wer den geringsten Schaden hat. All das weist weg von Russland, und es weist in Richtung USA.

Forderungen nach Öffnung von Nord Stream 2 angesichts der Gasmangellage, wie sie aus der deutschen Zivilgesellschaft kamen, sind nun sinnlos. Die zumindest theoretische Verhinderung der kommenden Rezession hat sich erledigt. Das Schicksal Europas wirkt besiegelt – zumindest das wirtschaftliche. Der deutsche Konkurrent ist ausgeschaltet. Denn ganz gleich, wer für die Anschläge auf Nord Stream verantwortlich ist, hat Deutschland und die EU in Geiselhaft genommen, indem es der Region das ökonomische Rückgrat gebrochen hat.

Die Schäden an der Pipeline sind umfassend. Eine Reparatur sei schwierig, sagte Gazprom bereits. Ob Gazprom überhaupt ein Interesse an der Reparatur hat, ist zudem offen. Die Partner waren mehr als unzuverlässig in der Vergangenheit.
Auf jeden Fall wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen, wie realistisch die Politik Deutschlands und der EU ist, die versprach, sich relativ kurzfristig aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien zu können.

Es waren immer sehr vollmundige Ankündigungen: grüner Wasserstoff, Energiewende, enorme Investitionen und neue strategische Kooperationen. Dann legt mal los, möchte man sagen, denn jetzt rennt tatsächlich die Zeit davon. Vor dem Hintergrund der Geschehnisse entsteht der Eindruck, als hätten die EU und die deutsche Politik den Mund zu voll genommen. Klar ist auf jeden Fall, der Blow-up von Nord Stream war eine echte Zeitenwende.

Mit dem Anschlag soll offenkundig die Verbindung zwischen EU und Russland gekappt werden. Es ist nicht Russland, das daran ein Interesse hat. Es passiert zudem zu einem Zeitpunkt, an dem der Bürgerprotest in den westeuropäischen Staaten gegen die Sanktionspolitik der US-freundlichen politischen Eliten eskaliert.

Das Wohl Deutschlands und Europas wird jetzt dem Kriegsziel geopfert. Und das Kriegsziel wird damit eben auch deutlicher formulierbar. Es geht nicht um die Ukraine. Es geht nicht um deren territoriale Integrität. Es geht auch nicht um Demokratie gegen Autokratie. Dieser Krieg, das wurde deutlich, ist ein Krieg zwischen den USA und Russland.
Der Kriegsverlauf in der Ukraine wird durch den Anschlag auf Nord Stream nicht beeinflusst.

Jetzt ist Europa im Krieg angekommen. Und es zeigt sich, die EU verfügt über keine Mittel, in diesem Krieg zu bestehen, zumal dann nicht, wenn der Hegemon sich gegen sie wendet und bereit ist, Europa im Spiel um Macht und Einfluss zu opfern.
Die EU ist nicht souverän. Sollte der Feind Europas nicht im Osten, sondern tatsächlich im Westen stehen, dann ist Europa ohne jede Resilienz und allem, was jetzt kommt, schutzlos ausgeliefert.
Es muss nicht so sein, aber man sollte den Gedanken zulassen, dass die USA der Feind sind und der EU und Deutschland gerade den Krieg erklärt haben. Es ist an der Zeit.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen