Newsletter Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! – Zu CETA und TTIP

logoNr. 75 vom 16.09.2016

Am morgigen Samstag finden in sieben deutschen Städten unter dem Motto „CETA & TTIP stoppen“ Großdemonstrationen statt. Es mag überraschen, dass wir hier darauf hinweisen. Doch so verwunderlich ist es nicht, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel TTIP auch der transatlantischen Rüstungskooperation einen Schub geben soll. Darauf hatte die Informationsstelle Militarisierung, IMI, bereits 2014 in der Studie „Geopolitischer Sprengstoff: Die militärisch-machtpolitischen Hintergründe des TTIP“ hingewiesen (siehe hier: http://tinyurl.com/jk3ur8x).

Die Bewegung gegen TTIP & CETA zeigt auch, dass dauerhafter und einfallsreicher Protest unerlässlich ist, um politische Erfolge zu erzielen. Ohne diesen Einsatz würde Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) zumindest TTIP inzwischen wohl kaum als gescheitert einschätzen. Und ohne das dauerhafte Engagement von Aktion Aufschrei wäre er wohl kaum bereit gewesen, ein Rüstungsexportgesetz anzukündigen.

Zu dessen Ausarbeitung wird übrigens demnächst eine Expertenkommission zusammentreten. Jetzt gilt es, wachsam zu verfolgen, ob Gabriels Vorstoß angesichts der im Herbst 2017 anstehenden Bundestagswahl nur ein Ablenkungsmanöver ist, oder ob er damit tatsächlich die Waffenexporte einschränken will. Dass Zweifel an seiner Waffenexportpolitik durchaus angebracht sind, hat Aufschrei-Sprecher Jürgen Grässlin im Interview mit den Aachener Nachrichten wieder anschaulich begründet.

Unser beharrlicher Druck auf die Politik – wie etwa durch die Aktionen der Friedensbewegung am Antikriegstag – ist folglich weiterhin wichtig. Sammeln Sie daher fleißig auch weiter Unterschriften für das Verbot von Kleinwaffen- und Munitionsexporten. Lesen Sie dazu auch die jetzt von Ohne Rüstung Leben veröffentlichten Argumentationshilfen.

Die im Folgenden angerissenen Themen sind eine kleine Auswahl der zahlreichen Meldungen zu Rüstungsexporten. Lesen Sie mehr davon auf unserer Website unter „Neues“.

Mit herzlichen Grüßen

Anke Wollny und Otto Reger
Online-Redakteurin und Online-Redakteur der Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!

http://www.aufschrei-waffenhandel.de


Inhalt

1.  Aachener Nachrichten interviewten Jürgen Grässlin
2.  Kommission für Rüstungsexportgesetz nimmt Beratungen auf
3.  Antikriegstag: bundesweit Aktionen gegen Krieg und Rüstungsexporte
4.  KMW und Rheinmetall: Millionenschwerer Panzerdeal mit Litauen vereinbart
5.  Hintergrundmaterial zu ORL-Workshops „Kleinwaffenexport und die Folgen“
6.  Illegale Waffengeschäfte: Prozess gegen Heckler-&-Koch-Mitarbeiter erst Anfang 2017
7.  Deutsche Industrie will keine Verschärfung der Exportkontrollen für Dual-Use-Güter


1.  Aachener Nachrichten interviewten Jürgen Grässlin

Die Aachener Nachrichten sprachen mit Aufschrei-Sprecher Jürgen Grässlin ausführlich über deutsche Waffenexporte als Fluchtursache und die deutsche Waffenexportpolitik.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Pressespiegel.762.0.html#c7967


2.  Kommission für Rüstungsexportgesetz nimmt Beratungen auf

Die von Wirtschaftsminister Gabriel im Januar angekündigte Expertenkommission zur Ausarbeitung eines Rüstungsexportgesetzes nimmt laut taz-Informationen im Oktober ihre Beratungen auf. Unklar sei aber unter anderem, wer überhaupt in dem Gremium sitze.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Informationen.288.0.html#c7966


3.  Antikriegstag: bundesweit Aktionen gegen Krieg und Rüstungsexporte

Am 1. September, dem Antikriegstag, protestierten bundesweit verschiedene Organisationen mit unterschiedlichen Aktionen und Veranstaltungen gegen Krieg, Rüstungsproduktion und Waffenexporte.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Pressespiegel.762.0.html#c7964


4.  KMW und Rheinmetall: Millionenschwerer Panzerdeal mit Litauen vereinbart

Litauen will 88 deutsche Boxer-Panzer erwerben. Der Auftrag hat ein Volumen von 385,6 Millionen Euro. Das geht aus Medienberichten hervor.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Litauen.660.0.html#c7956


5.  Hintergrundmaterial zu ORL-Workshops „Kleinwaffenexport und die Folgen“

Ohne Rüstung Leben (ORL) thematisierte in drei Workshops die konkreten Folgen der Verbreitung, der Verfügbarkeit und des Einsatzes von Kleinwaffen. Jetzt steht dazu umfangreiches Hintergrundmaterial auf der ORL-Webseite kostenlos zur Verfügung.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Kleinwaffen.721.0.html#c7955


6.  Illegale Waffengeschäfte: Prozess gegen Heckler-&-Koch-Mitarbeiter erst Anfang 2017

Nach Informationen der Neuen Rottweiler Zeitung beginnt der Prozess gegen sechs Ex-Heckler-und-Koch-Mitarbeiter wegen illegalen Waffenhandels erst Anfang 2017. Der Grund: Die Kammer sei derzeit in andere Verfahren eingebunden.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Heckler-Koch.127.0.html#c7960


7.  Deutsche Industrie will keine Verschärfung der Exportkontrollen für Dual-Use-Güter

Die EU möchte den Export von Dual-Use-Gütern einschränken. Das passt dem BDI überhaupt nicht. Laut dem Handelsblatt hat sich sein Hauptgeschäftsführer deshalb in einem Brandbrief an Wirtschaftsminister Gabriel und EU-Handelskommissarin Malmström gewandt.
http://aufschrei-waffenhandel.de/Aktuelles-zu-Ruestungsfirmen.443.0.html#c7965


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Rückmeldung: Lob, Kritik, Anregungen bitte E-Mail an:
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Märchenonkel Gabriel: Zu TTIP ein Schreiben an die Genossen voller Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Thorsten Wolff hat genau hingeschaut und seine Hinweise bei Jens Berger auf den NachDenkSeiten eingestellt:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=24825
Dort findet sich auch das vollständige Schreiben.
Hier Auszüge:

Sigmar Gabriels Schreiben an die SPD-Mitglieder: Mit Halbwahrheiten zum Freihandelsabkommen?

Verantwortlich: Jens Berger

Der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sich jüngst per E-Mail an die Mitglieder seiner Partei gewandt. Thema seines Schreibens: Das derzeit verhandelte Freihandelsabkommen “TTIP” zwischen der Europäischen Union und den USA sowie das “CETA”-Abkommen mit Kanada.
Ziel seines Schreibens: Die SPD-Mitglieder zu beruhigen und auf Linie bringen.
Überzeugend sind Gabriels Argumente nicht. Auch, weil er so manches verschweigt und anderes herunterspielt. Eine Analyse von Thorsten Wolff.

Der Mitgliederbrief wurde am 28. Januar per E-Mail versandt. Wir kommentieren im Nachstehenden zunächst einzelne Passagen des Schreibens (in kursiv) und dokumentieren dieses anschließend nochmals komplett.

  1. Analyse zentraler Passagen des Mitgliederbriefs:

    Viele Bürgerinnen und Bürger, auch uns nahestehende Verbände und Organisationen, äußern teils heftige Kritik an diesen geplanten Freihandelsabkommen, sind verärgert über die mangelnde Transparenz der Verhandlungen und haben die Befürchtung, dass durch die Freihandelsabkommen bewährte europäische Standards etwa im Verbraucher- und Umweltschutz, bei den Arbeitnehmerrechten, in der Daseinsvorsorge und der Kultur ausgehöhlt werden könnten. Insbesondere auch die Frage des Investorenschutzes weckt großes Misstrauen.

    Freihandelsabkommen ja, aber nicht um jeden Preis.

    In den Gesprächen, die ich in unserer Partei führe, nehme ich Unbehagen und Unsicherheit wahr. Manchmal gibt es auch die Sorge, dass sich die SPD auf Bundesebene oder in der Bundesregierung bereits auf eine bedingungslose Zustimmung zu diesen geplanten Freihandelsabkommen festgelegt habe. Weil gerade das nicht stimmt, möchte ich Dich zu Beginn des neuen Jahres über den Stand der Verhandlungen auf europäischer Ebene, über meine Haltung als Vorsitzender der SPD und als Bundeswirtschaftsminister informieren.

    In den hier zitierten Absätzen macht Gabriel deutlich, worum es ihm geht: Die Menschen glauben zu machen, dass Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) gar nicht so schlimm seien, wie alle denken, und dass die SPD nicht um jeden Preis zustimmen werde. Hierzu beginnt er mit einer sachlichen, inhaltlich zutreffenden Hinführung zum Thema.
    Diese Passage ist taktisch durchaus klug formuliert: Gabriel schreibt von “heftige[r] Kritik”, er schreibt, die “Bürgerinnen und Bürger” seien “verärgert” und hätten eine “Befürchtung”. Damit weckt er die Erwartung, dass Kritik, Verärgerung und Befürchtung im Nachfolgenden widerlegt werden. Was er dann ja auch versucht.

    Früh und recht direkt spricht Gabriel auch das Hauptproblem der SPD im Allgemeinen und seiner Person im Besonderen an, nämlich mangelnde Glaubwürdigkeit.
    Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Partei (mindestens) in der Haltung zu internationalen Abkommen sind berechtigt. Man erinnere sich etwa an den europäischen “Fiskalpakt” 2011/2012, den die damals oppositionelle SPD hätte verhindern können, den sie aber nicht verhindert hat. Und das, obwohl sie monatelang so tat, als sei eine Ablehnung eine ernsthaft ins Auge gefasste Option. Am Ende aber siegte die Staatsräson, wollte sich die Partei nicht als einziger Akteur in Europa gegen diesen ausverhandelten internationalen Vertrag wenden.

    Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sich Gabriel und die SPD bei internationalen Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP anders verhalten.
    Denn genau das eben am Beispiel des “Fiskalpakts” geschilderte Verhalten hat Gabriel am 27. November 2014 im Bundestag, bezogen auf CETA, sogar schon angekündigt: “Es ist überhaupt kein Problem für mich, zu wiederholen, dass wir im Hinblick auf CETA am Ende vor der Frage stehen, ob unser Unwohlsein und die Kritik an dem ‘Schweizer Käse’ des Investitionsschutzes – der Gutachter hat es so bezeichnet; so schwach findet er es – dafür ausreichen, dass Deutschland als alleiniges Land in Europa den gesamten Prozess anhalten kann. Sie werden sich als grüne Fraktion fragen müssen, wie Sie als europäisch-orientierte Partei, die Sie ja sind, mit Ihrer Position umgehen, wenn der Rest Europas dieses Abkommen will. Ich sage Ihnen: Deutschland wird dem dann auch zustimmen. Das geht gar nicht anders.”

    Wenn Gabriel im Mitgliederbrief also behauptet, die SPD hätte sich noch nicht auf eine “bedingungslose Zustimmung” festgelegt, so sind an dieser Äußerung mindestens Zweifel angebracht.

    Der Abbau von Zöllen und anderen Handelsbarrieren liegt im natürlichen Interesse einer Exportnation wie der deutschen. Millionen Arbeitsplätze hängen in unserem Land vom Export und von möglichst freien Handelswegen ab. Deshalb hat sich die SPD mit CDU und CSU im Koalitionsvertrag auch darauf verständigt, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) zu unterstützen und den Freihandel zu stärken. Dies gilt auch für das Abkommen mit Kanada (CETA).

    Der transatlantische Handel ist heute schon in hohem Maße “frei”. Zölle spielen kaum noch eine Rolle.
    Eine demgegenüber größere Rolle spielen die so genannten “nichttarifären Handelshemmnisse”, von Gabriel hier als “andere Handelsbarrieren” bezeichnet: Gemeint sind damit staatlich-öffentlichen Regularien und Verfahren, die von Unternehmen als “Hindernisse” im transatlantischen Handel empfunden werden können. BefürworterInnen von Freihandelsabkommen nennen als Beispiele gerne etwa (doppelte und unterschiedliche) Zulassungsverfahren und technische Vorschriften. Sie leiten daraus die Forderung ab, Verfahren und Vorschriften einander anzugleichen oder wechselseitig anzuerkennen.
    Sofern beide Seiten das gleiche Schutzniveau haben, ist dies halbwegs unproblematisch. Wenn das Schutzniveau allerdings unterschiedlich ist, besteht durchaus die Gefahr, dass Standards nach unten angeglichen (und damit abgesenkt) werden. Dass dies nicht passieren werde, wie Gabriel oben schreibt und wie auch andere immer wieder behaupten, kann man glauben oder auch nicht.

    Darüber hinaus werden oft sogar Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards schlechthin als Handelshemmnisse angesehen – meist mit der Begründung, diese seien unnötig und dienten alleine dem Zweck, ausländischen Unternehmen den Zugang zum Markt zu verwehren. Tatsächlich können sie den grenzüberschreitenden Handel von Waren und Dienstleistungen erschweren, weshalb die Forderung nach Absenkung dieser Standards zu einer Hauptforderung der Unternehmenslobby in Sachen TTIP geworden ist.
    Die Spielzeugproduzenten beider Kontinente etwa fordern, die höheren europäischen Standards bei Spielzeugen einer kritischen Prüfung anhand wissenschaftlich-objektiver Kriterien zu unterwerfen; umgekehrt wünschen die europäischen Rohmilchkäse-Produzenten einen Zugang zum US-Markt, der ihnen heute aus hygienischen Gründen versagt ist.

    Ähnliches bei Sozialstandards: So ist es in der Freihandelszone “Europäischer Binnenmarkt” heute beispielsweise nicht mehr möglich, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Tarifbindung vorzuschreiben, wenn die Tarifverträge nicht Gesetzescharakter haben (also allgemeinverbindlich sind). Der Grund: Die Einhaltung von Tarifverträgen ist für ausländische Unternehmen schwieriger umzusetzen als für inländische, insofern würden ausländische Unternehmen benachteiligt, wenn Tarifbindung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgeschrieben wird. So legen es jedenfalls die Freihandelslogiken nahe, die dem Europäischen Binnenmarkt wie auch klassischen Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) zu Grunde liegen.

    Die Gefahr der Absenkung von Standards durch Freihandelsabkommen ist also real. Über all das verliert Gabriel in seinem Mitgliederbrief allerdings kein Wort – von oberflächlichen Bekundungen abgesehen, dass er Standards nicht absenken wolle. Der Begriff der “anderen Handelsbarrieren” hätte da durchaus einige Anmerkungen verdient gehabt.

    Stattdessen bringt Gabriel das standortnationalistische Argument der Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ins Spiel. Eine Erklärung, weshalb eine weitere Liberalisierung des transatlantischen Handels notwendig und nützlich sein soll, bleibt er dabei allerdings ebenso schuldig wie eine ökonomische Erklärung für den behaupteten Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Arbeitsplätzen.
    Mehr als unbegründete Allgemeinplätze (“natürliche[s] Interesse”, “Millionen Arbeitsplätze hängen…”) hat er nicht zu bieten. Nicht zuletzt die zweifelhaften ökonomischen Studien über angebliche positive Effekte eines TTIP-Abkommens lassen Skepsis gegenüber seinen Ausführungen berechtigt erscheinen.
    Von der Fragwürdigkeit des von Gabriel gefeierten deutschen Exportwahns ganz abgesehen.

    Danach haben wir auf der Grundlage einer Vereinbarung mit dem DGB auf unserem Parteikonvent beschlossen, dass wir grundsätzlich die geplanten Freihandelsabkommen begrüßen – allerdings nicht um jeden Preis. Vor allem ist für SPD und DGB wichtig:

    Der Verweis auf das gemeinsame Papier seines Ministeriums (und indirekt der SPD) mit dem DGB soll den Eindruck erwecken, dass SPD und DGB in der Frage der Freihandelsabkommen gemeinsame Positionen vertreten. Allerdings bleibt Gabriels Bezug auf das Papier oberflächlich, selektiv und unvollständig, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Nur durch diese selektive und unvollständige Wiedergabe gelingt es Gabriel, den Eindruck gemeinsamer Positionen beider Organisationen zu wecken.

    • dass die Verhandlungen endlich transparent und für alle Bürgerinnen und Bürger Europas nachvollziehbar geführt werden,

    Das Thema der Transparenz ist in der Tat Bestandteil des Papiers, allerdings nur einer von vielen und gewiss nicht der wichtigste. Dass Gabriel gleich zu Beginn seiner Aufzählung von Inhalten des SPD-DGB-Papiers hierüber spricht, kann getrost als Ablenkungsmanöver gelten.

    • dass die geplanten Freihandelsabkommen keine sozialen, ökologischen oder kulturellen Standards gefährden dürfen, dass weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen und dass die Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt bleibt,

    Wenn Gabriel schreibt, er wolle, dass “weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen”, dann wirft er eine Nebelkerze. Denn in den allerwenigsten Fällen wird ein Freihandelsabkommen explizit vorschreiben, dass “Normen” nicht weiter “verbessert” werden dürfen. (Wobei sich im Einzelfall ohnehin die Frage stellt, was mit “Verbesserungen” gemeint ist.) Die realen Gefahren sehen anders aus:

    • Erstens besteht die Gefahr, dass Freihandelsabkommen Möglichkeiten der Regulierung einschränken, etwa der Regulierung von Finanzmärkten oder von Produktmärkten. Dies muss nicht explizit mit einem Verbot einhergehen, “Normen” zu “verbessern”.
    • Zweitens führen Freihandelsabkommen zu verstärkter Konkurrenz zwischen den Unternehmen der beteiligten Länder. Hier besteht die Gefahr, dass höhere Standards in einem Land zu Nachteilen gegenüber anderen Ländern führen. Um “Wettbewerbsfähigkeit” wiederzuerlangen, werden Staaten dann von sich aus Normen absenken oder zumindest nicht weiter erhöhen. Dies geschieht bei arbeits- und sozialrechtlichen Normen derzeit etwa in Südeuropa (in Griechenland jetzt nicht mehr), und es geschah vor 10-15 Jahren unter Rot-Grün in Deutschland. Das SPD-DGB-Papier spricht die Gefahr eines Dumping-Wettbewerbs in Punkt 3 durchaus offen an, Gabriel aber schweigt sich in seinem Mitgliederbrief darüber aus. Mehr noch: Im SPD-DGB-Papier wird sogar gefordert, dass Freihandelsabkommen dazu beitragen sollen, “Mitbestimmungsrechte, Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutz- sowie Sozial- und Umweltstandards zu verbessern”. Gabriel aber stellt es so dar, als müsse es laut SPD und DGB lediglich möglich bleiben, Normen weiter zu verbessern. Er bleibt damit weit hinter dem zurück, was tatsächlich in dem Papier steht.

    Was Gabriel darüber hinaus auch hätte schreiben können und vielleicht müssen: Im DGB-Kongress-Beschluss zu TTIP wird gefordert, dass Arbeits- und Sozialstandards international auf höchstem Niveau einander angeglichen werden müssen. Diese Positionierung geht sogar noch einen Schritt über die Formulierung im SPD-DGB-Papier hinaus. Spätestens hier wird deutlich: In der Frage der Erhaltung/Setzung von Standards gibt es zwischen Gabriel und Gewerkschaften deutliche Differenzen, deren Darstellung Gabriel nur umschiffen kann, indem er entscheidende Sachverhalte schlicht verschweigt.

    Eine weitere kurze Bemerkung: Wenig beruhigend klingt es auch, wenn Gabriel schreibt, dass die “Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt” bleiben müsse. Denn erstens ist diese Formulierung schwammig. Zweitens und vor allem aber findet öffentliche Daseinsvorsorge nicht nur auf regionaler Ebene statt, sondern auch auf Bundesebene.
    Gabriels Formulierung schließt damit insbesondere eine unwiderrufliche Liberalisierung des Bahnverkehrs durch Freihandelsabkommen nicht aus.

    • dass beide Vertragspartner sich verpflichten sollen, internationale Übereinkünfte und Normen in den Bereichen Umwelt, Arbeit und Verbraucherschutz zu beachten und umzusetzen – insbesondere die ILO-Kernarbeitsnormen, auf deren Einhaltung im Rahmen von EU-Handelsabkommen auch der Koalitionsvertrag verweist,

    Hier gilt, was eben schon angesprochen wurde: Zwar gibt es Passagen im SPD-DGB-Papier, die diese Formulierungen Gabriels rechtfertigen. Es gibt aber eben auch Passagen, in denen weitergehende Forderungen erhoben werden – und die bleibt Gabriel schuldig.

    • dass die europäischen oder nationalen demokratischen Willensbildungsprozesse und Entscheidungen in Parlamenten und Regierungen durch die Freihandelsabkommen weder direkt noch indirekt eingeschränkt werden dürfen,

    Das SPD-DGB-Positionspapier ist auch hier konkreter und weitergehender, als Gabriel es wiedergibt. Unter Punkt 8 heißt es dort: “Die Fähigkeit von Parlamenten und Regierungen, Gesetze und Regeln zum Schutz und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, darf auch nicht durch die Schaffung eines ‘Regulierungsrates’ im Kontext regulatorischer Kooperation oder durch weitgehende Investitionsschutzvorschriften erschwert werden.”

    • Das SPD-DGB-Papier nennt explizit einen “Regulierungsrat” sowie “Investitionsschutzvorschriften” als Mechanismen, durch die die genannten demokratischen Entscheidungen erschwert werden. Gabriel verschweigt dies – denn wenn er sie nennen würde, müsste er sie ablehnen. Dann hätte er sie als rote Linien ebenso benannt, wie sie im SPD-DGB-Papier als rote Linien benannt sind. Das möchte er offenbar nicht.
    • Das SPD-DGB-Papier spricht davon, dass demokratische Entscheidungen nicht “erschwert” werden dürfen, Gabriel aber will sie lediglich nicht “einschränken”. Etwas zu “erschweren”, bedeutet nicht, etwas ganz oder teilweise unmöglich zu machen. Etwas “einzuschränken” aber bedeutet genau das. Man kann Handlungen “erschweren”, ohne sie im Wortsinne “einzuschränken”. Damit schwächt Gabriel einmal mehr die Aussage des SPD-DGB-Papiers ab. Dies ist keineswegs zu vernachlässigen.
      Ein Beispiel: Ein Regulierungsrat oder Investitionsschutzvorschriften können sehr wohl das Handeln von Parlamenten und Regierungen erschweren, etwa, wenn bestimmte Gesetze oder Vorhaben zunächst auf ihre Notwendigkeit und Angemessenheit geprüft werden müssen. Das bedeutet noch nicht, dass das Handeln auch tatsächlich eingeschränkt würde.
    • dass die Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Investitionen und Investoren durch die ganz normalen verfassungsmäßig verbrieften Rechte und den demokratischen Rechtsstaat gesichert werden und wir im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren einführen wollen. Wir entwickeln rechtsstaatliche Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten. z.B. die Berufung oberer Bundesrichter oder die Einrichtung eines echten zwischenstaatlichen Handelsgerichtshofs zur Entscheidung über Handelsstreitigkeiten.

    Hier widerspricht sich Gabriel wohl selbst. Im ersten Satz schreibt er, er wolle “im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren” einführen. Im zweiten Satz aber möchte er “Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten” entwickeln. Gabriel würde sich nur dann nicht widersprechen, wenn solche “Alternativen” außerhalb der Freihandelsverträge verankert würden. Von entsprechenden Verhandlungen und Plänen aber ist bislang nichts bekannt.
    Im Gegenteil: In CETA, das schon ausverhandelt ist, soll es Schiedsverfahren geben, die direkt in den Verträgen geregelt sind. Zumindest bezogen auf CETA spricht Gabriel damit die Unwahrheit. Und da TTIP sich an CETA orientieren dürfte, wohl auch für TTIP.

    Möglicherweise versucht Gabriel hier lediglich, so zu argumentieren, wie es auch die Europäische Kommission tut: Man kritisiert “alte” Investor-Staat-Schiedsverfahren und gibt als Ziel aus, in jüngeren Freihandelsabkommen “neue” und “bessere” Verfahren zu etablieren. (Sollte Gabriel so argumentieren wollen, so würden sich sein Satz 1 und sein Satz 2 allerdings nach wie vor widersprechen.) Diese “neuen” Verfahren sollen beispielsweise Berufungsmöglichkeiten und Transparenz vorsehen, auf klareren Formulierungen beruhen und bisherige Interessenkonflikte der handelnden Akteure beenden. Sie beheben also ein paar Schwächen der bisherigen Verfahren – ein paar jener Schwächen, deretwegen die Investor-Staat-Schiedsverfahren zu Recht immer wieder in der Kritik stehen.
    Allerdings wird auch mit diesen “besseren” Verfahren eine Gerichtsbarkeit außerhalb des Rechtsstaats etabliert, die undemokratisch und rechtsstaatlich fragwürdig ist.

    In jedem Fall tut Gabriel so, als sei diese Positionierung Bestandteil des SPD-DGB-Papiers. Dies ist sie aber nicht, denn dort heißt es unmissverständlich: “Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU grundsätzlich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIP eingeführt werden. In jedem Fall sind Investor-Staat-Schiedsverfahren […] abzulehnen.” Einmal mehr gibt Gabriel Inhalte des Papiers unzutreffend, abgeschwächt und im eigenen Sinne wieder.

    Exakt auf dieser Linie versuchen die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung und das SPD-geführte Bundeswirtschaftsministerium auf die Verhandlungen der Europäischen Kommission Einfluss zu nehmen. Außerdem haben wir einen nationalen Beirat zu den Verhandlungen auf europäischer Ebene eingerichtet, bei dem die Verbände und Organisationen von Wirtschaft, Gewerkschaften, Kultur, dem Umwelt- und Sozialbereich und dem Verbraucherschutz vertreten sind und regelmäßig informiert werden.

    Fragt sich, weshalb Gabriel hier einerseits die Europäische Kommission, andererseits die Zivilgesellschaft (über den genannten Beirat) als Zielobjekt sozialdemokratischer Einflussnahme/Information nennt. Offenbar beansprucht er für die Sozialdemokratie, eine dritte Position zu vertreten – einerseits etwas reflektierter als die Kommission, aber andererseits auch weniger freihandelskritisch als viele Akteure der Zivilgesellschaft.
    Immerhin macht er damit deutlich, dass die SPD nicht jene vertritt, die Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA ablehnen. Dies gilt umso mehr, als Gabriel die Akteure der Zivilgesellschaft in seinem Beirat lediglich “informieren” möchte, was umgekehrt bedeutet, dass er sich nicht auf deren Argumente einzulassen beabsichtigt. Genau dies haben einige Mitglieder des Beirats jüngst in einem Brandbrief kritisiert.

    Vor diesem Hintergrund habe ich bereits deutlich gemacht: Auch wenn der Teil zum Investorenschutz in CETA gegenüber vorherigen Abkommen erhebliche Fortschritte an Transparenz enthält, halte ich die Zeit noch nicht für reif, CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen.

    Gabriel schreibt hier explizit nicht, dass er CETA nicht zustimmen wird. Denn wenn “die Zeit noch nicht […] reif” ist, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”, so bedeutet dies, dass die Zeit irgendwann durchaus reif sein kann oder wird, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”.
    Dies entspricht auch der Position, die Gabriel Ende November 2014 im Bundestag geäußert hat und die von Medien und Verbänden zu Recht als Umfallen gewertet wurde (die Rede ist oben schon zitiert).

    Unser Ziel ist, weitere Verbesserungen zu erreichen.

    Man mag Gabriel glauben, dass er sich bemüht, “Verbesserungen” zu erreichen. Wird die SPD aber gegen das Abkommen stimmen, wenn diese Verbesserungen nicht erreicht werden? Und genügen die Verbesserungen, die Gabriel anstrebt, damit das Abkommen akzeptabel wird? Die voranstehenden Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass beide Fragen mit “Nein” zu beantworten sind. Auch, weil Gabriel an keiner Stelle gewillt ist, rote Linien zu formulieren und auch, weil er die im SPD-DGB-Papier benannten roten Linien verschweigt oder abschwächt.

    Was wir nicht für richtig halten, ist der von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen.

    Gabriel scheint es wichtig zu sein, eine Nähe seiner eigenen Person und seiner Partei zu den Gewerkschaften zu suggerieren. Dies wird an mehreren Stellen des Mitgliederbriefs deutlich. Vermutlich deshalb verschweigt er, dass der von ihm abgelehnte, “von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen” auch von den Gewerkschaften gefordert wird. Der DGB-Kongress-Beschluss aus 2014 ist da schon im Titel eindeutig: “Freihandelsverhandlungen mit den USA aussetzen”.

    Denn letztlich geht es bei den Freihandelsabkommen um die Regeln der Globalisierung. Nach dem Scheitern weltweiter Handelsstandards in der Welthandelsorganisation (WTO) versuchen jetzt die großen Wirtschaftsräume die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel zu beeinflussen. Die Verlagerung der Zentren der Weltwirtschaft nach Asien und China setzen Europa unter Druck. Während bei uns die Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum abnehmen und die sozialen und ökologischen Standards hoch sind, ist es im Asien-Pazifik-Raum eher umgekehrt. Noch sind die USA und Europa die größten Handelsräume, aber man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass wir diese Stellung nicht auf Dauer haben werden. Die Standards des Welthandels – auch die ökologischen und sozialen – werden in Zukunft weit mehr durch die Asien-Pazifik-Region bestimmt werden als durch Europa oder Deutschland. Im Grunde stehen wir vor der Alternative: Schaffen wir Europäer es, die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel mit zu bestimmen, oder werden wir uns in absehbarer Zeit an die Standards anderer anpassen müssen?

    Wir setzen darauf, dass auch in den rasant wachsenden Schwellenländern und den neuen globalen Wirtschaftsmächten das Bedürfnis zunimmt, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Europa hat mit seinen eigenen Standards dabei etwas anzubieten. Doch der Erfolg hängt davon ab, ob wir unseren politischen Einfluss aktiv zur Geltung bringen.

    In den eben zitierten Passagen erweckt Gabriel den Eindruck, dass Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP dazu dienten, soziale und ökologische Standards zu sichern und weltweit zu verbreiten. Dies ist eine oft vorgetragene Behauptung der FreihandelsbefürworterInnen, die aber nicht dadurch richtiger wird, dass man sie immer wieder wiederholt.
    Da in Freihandelsabkommen allenfalls Mindeststandards festgeschrieben werden, und auch die nur unzureichend und unverbindlich, können Freihandelsabkommen keine Standards systematisch sichern oder gar ausbauen. Im Gegenteil, sie gefährden sie aus den bekannten Gründen.
    Standards zu sichern, ist letztlich auch gar nicht die Aufgabe und gar nicht das Ziel solcher Abkommen. Das weiß Gabriel auch, weshalb er seine Ausführungen im Anschluss sogleich wieder relativiert:

    Als Sozialdemokraten wissen wir: Die Globalisierung und der Welthandel werden nicht von heute auf morgen Spielregeln entwickeln, die aus unserer Sicht wirklich sozial gerecht und ökologisch verantwortungsbewusst sind. So wie der soziale Fortschritt in Deutschland jahrzehntelang Schritt für Schritt und über viele Reformen hinweg erkämpft werden musste, wird es auch bei der demokratischen, sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung eines langen Atems bedürfen. Aber die Geschichte der SPD zeigt: Mut, Selbstbewusstsein und Optimismus lohnen sich. Und wegducken hat das Leben noch nie besser gemacht. Darum geht es auch jetzt wieder.

    Gabriel tut hier so, als seien soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene und auf globaler Ebene unabhängig voneinander, als existierten sie in Parallelwelten – denn während Globalisierung und Welthandel bei sozialen Standards hinterherhinkten, wie er schreibt, habe und behalte Deutschland seine Standards.
    Damit suggeriert Gabriel, dass Freihandelsabkommen und Globalisierung die sozialen Errungenschaften auf nationaler Ebene nicht gefährdeten. Diese Annahme ist falsch: Erstens können Freihandelsabkommen direkten Druck auf soziale Standards ausüben. Zweitens setzen niedrigere Standards in manchen Ländern diejenigen Länder unter Druck, die höhere Standards haben – denn Arbeitsrechte, Sozialleistungen und ähnliches kosten die Unternehmen Geld und sind damit Wettbewerbsnachteile. Es braucht vor diesem Hintergrund soziale Errungenschaften auf globaler Ebene gerade deshalb, weil andernfalls soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene unter Druck geraten.
    Damit aber muss die Reihenfolge umgekehrt werden: Nicht zuerst klassische Freihandelsabkommen und Globalisierung einführen in der Hoffnung, globale soziale Standards würden später folgen, sondern Höchststandards für alle beteiligten Länder vom Beginn an. Freihandelsabkommen, die dies nicht gewährleisten, sind abzulehnen.

    Davon abgesehen, sei auch auf die Geschichtsvergessenheit dieser Gabrielschen Formulierungen hingewiesen. Denn nicht nur durch “Reformen”, wie er schreibt, sondern auch und vor allem durch Revolutionen, Proteste und Streiks wurde der “soziale Fortschritt” in Deutschland erreicht. Er wurde erkämpft. Und zwar gegen die herrschenden Eliten. Proteste und Streiks aber scheinen für Gabriel im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr stattzufinden oder nicht mehr notwendig zu sein. Gabriel suggeriert, dass die in Nationalstaaten hart erkämpften sozialen Errungenschaften durch die Sozialdemokratie auf globaler Ebene in Freihandelsverträgen erreicht werden können und sollen. Das ist an Selbstüberschätzung kaum mehr zu überbieten. Das Gegenteil ist wohl eher wahr: Die SPD ist längst Teil der Eliten, und gegen diese SPD müssen soziale Errungenschaften – auch durch Proteste und Streiks – auf globaler Ebene erkämpft sowie auf nationaler Ebene verteidigt werden.

  2. Fazit Gabriel schreibt seinen SPD-Mitgliedern eine E-Mail, die von taktischer Wortwahl und unverbindlichen Inhalten geprägt ist.
    Sein Ziel ist es, Zustimmung zu Freihandelsabkommen – TTIP, CETA – zu gewinnen. Um dies zu erreichen und um sich an einigen Punkten zugleich nicht zu sehr festzulegen, lässt Gabriel manches weg, was er der Ehrlichkeit und Vollständigkeit halber hätte erwähnen müssen. Er arbeitet mit Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen.
    Im Ergebnis

    • spielt Gabriel die Gefahren herunter, die von Freihandelsabkommen ausgehen, und
    • suggeriert er eine Nähe zwischen sich, der SPD und den Gewerkschaften, die in dieser Frage bei Weitem nicht existiert.

Mein Fazit: Wer in der SPD sich noch als Sozialdemokrat versteht, soll bitte auf den Barrikaden gegen TTIP, TISA u.s.w. bleiben und das Gabriel und denen, die ihn bezahlen, unmissverständlich mitteilen!

Vergleiche dazu auch meine bisherigen Beiträge vom Dezember 2014:

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/transparenz-versus-ttip-nebelkerzen-der-eu-kommission-und-der-bundesregierung/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/nochmal-zur-erinnerung-ttip-gefahrdet-hunderttausende-jobs/

Jochen

Massenhafte Altersarmut vorprogrammiert – Interview mit Wolfgang Lieb

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Viel Gegacker und wenig Eier – Renten-Reformen:

Obdachloser„Von einem Ausbau sozialer Wohltaten zu reden, ist ziemlich zynisch.“

Mit der „Mütter-Rente“ und der „Rente mit 63“ hat die Bundesregierung Reformen auf den Weg gebracht, die in der Öffentlichkeit heftig umstritten sind.
Üblicherweise äußern sich Neoliberale und Wirtschaftsverbände zu den Änderungen negativ[1], aber auch von linker Seite gibt es grundlegende Kritik.
Telepolis sprach mit dem Publizisten und Mit-Betreiber der NachDenk-Seiten[2], Wolfgang Lieb.

Herr Lieb, die große Koalition hat die Mütterrente und die Rente mit 63 eingeführt. Wird man damit die für die Zukunft drohende Altersarmut wirkungsvoll bekämpfen können oder sind solche Maßnahmen Augenwischerei?

Wolfgang Lieb: Gegen die durch die derzeitige Gesetzeslage programmierte Zunahme von Armut im Alter helfen die beiden Reförmchen gewiss nicht: Etwa 9,5 Millionen Mütter (von der Zahnarztgattin bis zur Zahnarzthelferin), deren Kinder vor 1992 geboren wurden, sollen einen Rentenpunkt mehr bekommen (statt drei Punkte für danach geborene Kinder).
Das bedeutet im Westen Deutschlands pauschal einen Zuschlag zur Rente um rund 28 Euro und im Osten um etwa 26 Euro – wohlgemerkt im Monat.
Damit kann niemand große Sprünge machen.

Die Rente mit 63 ist zwar für die Begünstigten eine Verbesserung, die man nicht klein reden und den Betroffenen auch gönnen sollte, sie ist aber keine Lösung des Rentenproblems und schafft im Gegenteil neue Ungerechtigkeiten: Von der Ausnahmeregelung profitieren ganz überwiegend (zu 86 Prozent) Männer, die ohnehin eine höhere Rente als die Frauen beziehen.

Ungerecht zum Anderen ist sie aber auch deshalb, weil die Unterscheidung zwischen Beziehern von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II bei der Errechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre zu einer doppelten Bestrafung von solchen Arbeitslosen führt, die längere Zeit keinen Arbeitsplatz gefunden haben.

Warum sollten nun gerade diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben eher Glück hatten und allenfalls kurze Zeit arbeitslos waren, bei der Rente besser gestellt werden, als diejenigen, die das Pech hatten, zum Beispiel als ältere Arbeitnehmer keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt mehr bekommen zu haben, und deshalb die 45 Beitragsjahre trotz aller Bemühungen nicht erreichen können?

Mehrere Sozialverbände haben sich wegen dieser Ungerechtigkeiten gegen die Rente mit 63 ausgesprochen[3] und plädieren stattdessen dafür, die Rente ab 67 komplett auszusetzen.

Welches Kalkül steckt dann hinter den Rentenreformen?

Wolfgang Lieb: Jeder Koalitionspartner bediente seine Wählerklientel: Die Union mit der „Mütterrente“ ihre treuesten Wählerinnen, nämlich ältere Frauen, und die SPD die gewerkschaftlich organisierte männliche Facharbeiterschaft in Großbetrieben.
Die SPD wollte mit ihrem Wahlversprechen einer „Rente mit 63 nach einem langen Arbeitsleben“ – so die pathetische Formulierung von Sigmar Gabriel – die bis dahin immer noch ziemliche einheitliche Ablehnungsfront der Gewerkschaften gegen die Rente mit 67 aufweichen.

Außerdem ist aus meiner Sicht die „abschlagsfreie Rente mit 63“ ein politisches Ablenkungsmanöver der SPD, denn sie hält grundsätzlich an ihrem zerstörerischen rentenpolitischen Kurs fest, nämlich an der nach wie vor festgeschriebenen Senkung der gesetzlichen Rente auf das Niveau (Netto vor Steuern) von 43 Prozent bis zum Jahr 2030. Nicht einmal die im Sommer 2013 versprochene Stabilisierung des Rentenniveaus auf derzeitigem Stand haben die Sozialdemokraten durchsetzen können.

Die aufgeregte Debatte täuscht schließlich auch noch darüber hinweg, dass diese Regelung noch hinter die derzeitig geltende Gesetzeslage zurückfällt: Nach § 154 Abs. 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches müsste nämlich alle vier Jahre erst geprüft werden, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können.

Wie sieht denn jenseits des politischen Theaterdonners die tatsächliche Situation der älteren Erwerbstätigen aus?

Wolfgang Lieb: Derzeit ist nur noch jeder achte Erwerbstätige im Alter von 63 Jahren voll erwerbstätig und nicht einmal ganze 10 Prozent der 64-Jährigen (Männer und Frauen) sind noch vollzeitbeschäftigt.

„Die Mütter-Rente müsste von allen Steuerzahlern finanziert werden“

Woraus und in welcher Höhe werden diese Rentenreformen finanziert?

Wolfgang Lieb: Die abschlagsfreie Rente mit 63, wohlgemerkt nach 45 Beitragsjahren wird komplett aus der Rentenkasse, also aus Beiträgen finanziert. Nach Schätzungen des Arbeitsministeriums würden die Kosten in diesem Jahr bei 900 Millionen Euro liegen und möglicherweise im Laufe der Zeit auf etwa 3 Milliarden Euro pro Jahr anwachsen. Wie viele Erwerbstätige es sich leisten können vorzeitig in Rente zu gehen oder wie viele von ihren Arbeitgebern in Rente geschickt werden, steht in den Sternen.

Die Mütter-Rente ist mit über 6 Milliarden Euro pro Jahr die teuerste „Reform“, sie wird zunächst komplett von den Beitragszahlern getragen und erst in fünf Jahren soll der Bundeszuschuss zur Rente um bis zu 2 Milliarden aufgestockt werden. Dieser staatliche Zuschuss für versicherungsfremde Leistungen, die aus der Rentenkasse bezahlt werden, liegt derzeit bei 81 Milliarden Euro.
Deutschland, 1925: In einem Tagesheim für Sozialrentner. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-T0126-513[1]; Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE[2]

Der zusätzliche Rentenpunkt, der den Müttern herzlich gegönnt sei, erhöht deren Rente ohne eine beitragsbezogene Gegenleistung, denn es sollen ja die Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder honoriert werden. Es ist also letztlich eine familienpolitische Maßnahme zugunsten der vielfach benachteiligten Mütter der geburtenstarken Jahrgänge. Sie müsste aber von allen Steuerzahlern und nicht nur von den Beitragszahlern (also je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern) zur gesetzlichen Rentenversicherung finanziert werden.

Es ist also eine Reform, die eher die Rentenkassen belastet und die den Fiskus nicht viel kostet?

Wolfgang Lieb: Nach bisheriger Gesetzeslage hätte der Beitragssatz zu Beginn dieses Jahres von 18,9 auf 18,3 Prozent des Bruttolohnes sinken müssen. Die Reserven der Rentenkassen waren auf über 30 Milliarden gewachsen. In einem ziemlich zweifelhaften Gesetzgebungsakt wurde diese Senkung nach der ziemlich verzögerten Regierungsbildung holterdipolter vor Weihnachten bis 2018 ausgesetzt.

Das heißt die Finanzierung erfolgt in bedenklicher Weise ganz überwiegend über höhere Beiträge und künftig durch ein rascheres Absinken des Rentenniveaus in Richtung auf 43 Prozent der Rentenhöhe eines Durchschnittsverdieners nach 45 Beitragsjahren im Vergleich zu seinem heutigen durchschnittlichen Arbeitsentgelt.

„Horrorzahl von 60 Milliarden Mehrausgaben“

Aber die Wirtschaft beklagt doch, dass die Reformen mit erheblichen Mehrausgaben von Seiten des Staates verbunden sein werden…

Wolfgang Lieb: Das ist in mehrerlei Hinsicht eine Irreführung der Öffentlichkeit. Der Löwenanteil kommt – wie gesagt – aus den Rentenkassen, also von den Beitragszahlern und nicht aus den Steuern.
Es geht also um einen Verteilungskonflikt zwischen Beitragszahlern und einer überschaubaren Gruppe von Rentnern und vor allem Rentnerinnen, gleichzeitig lässt sich damit wieder einmal der Konflikt zwischen Erwerbstätigen und Rentnern – also der Generationenkonflikt – schüren.

Um Angst und Schrecken zu verbreiten wird zunächst die Horrorzahl von 60 Milliarden Mehrausgaben in die Debatte geworfen.
Dabei wendet man einen altbekannten Trick der Manipulation mittels Statistik an: Man addiert einen einzelnen Betrag über eine lange Zeitreihe und baut darauf, dass das zahlenunkundige Publikum allein schon von der Höhe des Betrages geschockt ist.

Ein realistisches Bild erhielte man nur, wenn man diese Zahl etwa mit der Entwicklung des Bundeshaushalts oder des Bruttoinlandsproduktes in Bezug setzte.
Doch niemand kennt das BIP im Jahre 2020 oder später, genauso wenig kennt man die Höhe der Rentenbeiträge aus denen die „Reformen“ bezahlt werden müssen.
Die hängen nämlich von der Höhe der Löhne und der Beschäftigungslage ab.

Eine zusätzliche Irreführung der Öffentlichkeit besteht darin, dass man ganz unterschiedliche Änderungen der Rentengesetze in einen Topf wirft, also neben der „Mütter-Rente“, der Rente mit 63 auch die seit langer Zeit anstehende Erhöhung der Erwerbsminderungsrente oder die Dynamisierung der Reha-Leistungen.

Warum hat sich dann die Wirtschaft so vehement gegen die Vorhaben der Regierung gewehrt?

Wolfgang Lieb: Dem Lager der Wirtschaftsverbände und ihrer Propagandaagenturen ging es beim Kampf gegen diese Regelungen von Anfang an nur darum, eine „Aufweichung“ der Agenda-Reformen auf Teufel komm raus zu verhindern.
Dieses Lager strebt nämlich sogar noch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit an, nämlich eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.

Wie bewerten Sie also die Kampagne der Wirtschaftsverbände?

Wolfgang Lieb: Angesichts der geringen Beträge, die die „Mütter-Rente“ oder die Erwerbsminderungsrente für die jeweils Begünstigten erhöht werden und angesichts der hohen Hürden für einen vorgezogenen Renteneintritt, von einem „Ausbau sozialer Wohltaten“ zu reden, ist ziemlich zynisch.

Die Arbeitgeberseite und die meisten Medien setzen mit ihrer Kritik an diesen Mini-Reförmchen offenbar auf einen nun seit Jahren eingeübten geradezu masochistischen Reform-Reflex in Deutschland: Uns wurde ständig eingeredet, nur wenn es „uns“ nach den „Reformen“ schlechter geht, geht es „uns“ wieder besser.

„In den kommenden 15 Jahren müssten bis zu einem Drittel der Rentner den Gang zum Sozialamt antreten“

AltersarmutIst mit der Einführung von Hartz IV und des Niedriglohnsektors eine zukünftige Rentenkatastrophe vorprogrammiert?

Wolfgang Lieb: Alle Parteien haben inzwischen begriffen, dass nicht nur wegen Hartz IV, dem ausufernden Niedriglohnsektor oder der geringfügigen Beschäftigung, sondern vor allem auch dann, wenn in der Lohnpolitik insgesamt kein grundlegender Kurswechsel zu höheren Löhnen vollzogen wird, angesichts der Politik der Senkung des Rentenniveaus und des Abbaus der Rentenleistungen massenhafte Altersarmut vorprogrammiert ist.

Zumal wenn man die zu erwartenden „normalen“ Preissteigerungen und damit die Kaufkraftverluste der Renten noch einberechnet.
Schon seit 2001 haben die Renten real 20 Prozent eingebüßt. Selbst die frühere Sozialministerin von der Leyen warnte davor, dass in den kommenden 15 Jahren zunehmend bis zu einem Drittel der Rentnerinnen und Rentner den Gang zum Sozialamt antreten müssten.

Dass führt auch – wie Sie es nennen – zu einer „Rentenkatastrophe“. Denn man wird niemand vermitteln können, dass ein Arbeitnehmer 30 oder gar 40 Jahre knapp 10 % seines Bruttolohns in die Rentenkasse einzahlen soll und dann nicht mehr an Rente ausbezahlt bekommt, als die Grundsicherung, die jedem zusteht, auch wenn er keine Rentenbeiträge bezahlt hat oder bezahlen konnte. Deshalb kamen die großen Parteien ja auf die Idee der „Solidarrente“ oder der „Lebensleistungsrente“.

Riester-Rente: „Das erhöht die Rendite einiger Millionäre auf dem Finanzsektor“

Ist die im Jahr 2001 eingeführte Riester-Rente ein geeignetes Instrument, um Altersarmut zu verhindern?

Wolfgang Lieb: Die Riester-Rente kann Altersarmut nicht verhindern, schon deshalb nicht, weil etwa 40 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Geringverdiener, das heißt etwa 1,8 Millionen Menschen keine private Vorsorge betreiben (können).
Und das sind nun gerade diejenigen Menschen, die am stärksten von Armut bedroht sind.

Doch selbst wenn sich Geringverdiener eine Riester-Rente leisten könnten, warum sollten sie denn einzahlen, wenn ihnen diese private Vorsorge wieder von der Grundsicherung abgezogen wird?
Da hilft auch die „Zuschussrente“ nicht weiter, denn gerade Geringverdiener werden die hohen Barrieren – 35 Jahre sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung und zusätzlich noch 35 Jahre „Riestern“ – zu einem großen Teil gerade nicht überwinden können.

Mit der solidarischen Lebensleistungsrente[4] wird sogar noch das „Riestern“ durch die Hintertür zur Pflicht gemacht.
Das erhöht die Rendite einiger Millionäre auf dem Finanzsektor, aber nicht die Rente von Millionen.

„Die Kapitaldeckung ist zusätzlichen Risiken ausgesetzt“

Wie hat sich generell die private Rentenvorsorge im Vergleich zum Umlageverfahren[5] bis heute bewährt?

Wolfgang Lieb: Für alle Zeiten hat gegolten, gilt und wird gelten: Die Altersversorgung, egal ob umlagefinanziert wie bei der gesetzlichen Rente oder kapitalgedeckt wie bei der privaten Vorsorge muss immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden.
Beide Finanzierungssysteme reagieren etwa gleich auf demografische Veränderungen, die Erwerbsquote, die Produktivität oder das Wirtschaftswachstum.

Vorausgesetzt, dass der Kuchen größer wird, könnten alle – Junge und Alte – ein größeres Stück davon abbekommen – wenn der Kuchen einigermaßen gerecht verteilt würde. Die Kapitaldeckung ist allerdings zusätzlichen Risiken ausgesetzt, wie wir seit der Finanzkrise bitter erfahren haben.
Nach über einem Jahrzehnt Erfahrung mit der Riester-Rente hat sich die teilweise Umstellung der Alterssicherung auf Kapitaldeckung als Fehlentscheidung erwiesen.
Die Verträge sind intransparent und die Renditen sind mickrig.

Der Garantiezins sank zwischen 2002 und 2012 von 3,25 auf 1,75 Prozent. Viele Leute fühlen sich regelrecht verschaukelt, wenn sie erfahren, dass ein abgeschlossener Riester-Vertrag den Versicherungsunternehmen 8.000 Euro Gewinn bringt und dass die staatlichen Fördermittel summa summarum für Gebühren, Provisionen und Renditen „drauf gehen“ oder dass man ein biblisches Alter erreichen muss, um die einbezahlten Beiträge ausbezahlt zu bekommen.

Die Neuabschlüsse bei Riester-Renten sinken. Fast jeder fünfte Vertrag ist ruhend gestellt, das heißt es werden keine Beiträge und damit auch keine Zuschüsse mehr bezahlt. Übrigens: Die niedrigen Zinsen lassen auch die Betriebsrenten von etwa 17 Millionen Deutschen dramatisch schrumpfen.

Wer hat dann von der Einführung der Riester-Rente profitiert?

Wolfgang Lieb: Mit der drastischen Rentenniveauabsenkung bei der gesetzlichen Rente von 53 auf derzeit unter 50 und künftig auf 43 Prozent, wurde der Finanzbranche in die Hände gespielt, weil damit der Druck auf jeden Einzelnen auf eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge erhöht wurde.
Wie sagte der frühere Finanzoptimierer und AWD-Chef Carsten Maschmeyer[6], wir „sitzen auf einer Ölquelle…sie wird sprudeln“.

Welcher Weg müsste beschritten werden, um eine zukünftige Altersarmut zu verhindern?

Wolfgang Lieb: : Aus dem Scheitern der Privatvorsorge kann man einen ziemlich einfachen Rückschluss ziehen: Nämlich die Revision der zurückliegenden Rentenreformen.
Also die Rücknahme der sogenannten Dämpfungs- beziehungsweise Kürzungsfaktoren (Riester-, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel und die grundsätzliche Wiederherstellung der dynamischen lohnbezogenen Altersrente.
Das Rentenniveau wird wieder auf ein Niveau angehoben, das ein auskömmliches Leben von der Rente erlaubt.

„Man müsste Wege zu einer Erwerbstätigenversicherung suchen“

Die Subventionierung der Privatversicherungen über Riester- oder Rürup-Rente oder die Entgeltumwandlung zugunsten der betrieblichen Altersvorsorge müsste also aufgegeben werden?

Wolfgang Lieb: Allein in den ersten zehn Jahren hat der Staat fast neun Milliarden in die Förderung der Privatrente gesteckt.
Auch die Steuervorteile durch das „Riestern“, die sich in zweistelliger Milliardenhöhe bewegen, könnten gestrichen werden.

Alle diese staatlichen Mittel sollten auf die gesetzliche Rente konzentriert werden.
Der Niedriglohnsektor und die Arbeitslosigkeit müssten bekämpft werden und die Löhne müssten insgesamt steigen. Dies auch schon, um die Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber unseren Nachbarn abzubauen und den Binnenkonsum zu steigern.
Man müsste zusätzliche Maßnahmen ergreifen, dass die Arbeitnehmer auch tatsächlich das Renteneintrittsalter von 65 Jahren erreichen, dann würde sich die Rente mit 67 erübrigen.

Über eine höhere Erwerbsquote (auch von Frauen), höhere Löhne, eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Steigerung der Produktivität dürfte dies weitgehend finanziert werden können.
Selbst wenn man den Beitragssatz für die Rentenversicherung ein wenig erhöhen müsste, so dürfte dieser insgesamt nicht höher liegen, als wenn man zu den derzeit paritätisch finanzierten rund 20 Prozent noch die 4 % vom Bruttolohn addierte, die für die Riester-Rente von den Arbeitnehmern allein bezahlt werden.

Darüber hinaus könnte man noch die Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze (5950 Euro im Westen und 5000 Euro im Osten) in die gesetzliche Rente einbeziehen. Schließlich müsste man Wege zu einer Erwerbstätigenversicherung suchen, bei der auch Selbstständige, Politiker und Beamte solidarisch zur Alterssicherung beitragen. Mit einer steuerfinanzierten solidarischen Mindestrente müsste dann das verbliebene Restrisiko der Altersarmut abgesichert werden.

Anhang: Links
[1] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftsorganisation-oecd-kritisiert-rentenplaene-der-koalition-1.1832096
[1] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-T0126-513,_Tagesheim_f%C3%BCr_Sozialrentner.jpg?uselang=de
[2] http://www.nachdenkseiten.de/?p=21080#more-21080
[2] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.de
[3] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/01/23/sozialverbaende-lehnen-rente-mit-63-ab/
[4] http://www.spiegelfechter.com/wordpress/128561/die-lebensleistungs-luege-der-bundesregierung
[5] http://www.heise.de/tp/artikel/19/19676/1.html
[6]

Vergleiche dazu wunderbar die letzte Folge der „Anstalt“ im ZDF:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2109350/Die-Anstalt%22-vom-11-M%C3%A4rz-2014

Über Kommentare hier auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen