Hilft eine gute Mundhygiene gegen Covid-19?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Lassen sich mit einer guten Mund- und Zahnpflege Coronainfektionen verhindern und Krankheitsverläufe mildern?
Erste Hinweise darauf, dass Zahnseide und Mundwasser helfen könnten, gibt es zumindest. Bislang sind sie allerdings noch nicht vollständig gesichert.

Tien Nguyen
https://www.spektrum.de/news/covid-19-hilft-mundhygiene-gegen-corona/1953115

Vielleicht war es Glück, dass Faleh Tamimi zur rechten Zeit am rechten Ort war. Normalerweise forscht der Zahnmediziner an der McGill University in Montreal, aber als im März 2020 die ersten Corona-Lockdowns begannen, machte er gerade ein Sabbatical an der Universität Katar in Doha. Tamimi verfolgte mit Interesse, wie sich Forscherinnen und Forscher auf das neue Virus stürzten und es untersuchten.

Als Zahnmediziner erregten zwei Details über Covid-19 seine Aufmerksamkeit. Erstens schien das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs mit Faktoren wie Alter, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck und Rauchen zusammenzuhängen.
Diese Liste kam ihm sehr bekannt vor: Die gleichen Faktoren spielen auch bei Parodontitis eine Rolle, einer chronisch-entzündlichen Erkrankung des Zahnhalteapparates. Vielleicht, so dachte Tamimi zunächst, sind einfach beide Erkrankungen die Folge eines allgemein eher schlechten Gesundheitszustands.

Doch dann kam noch eine zweite Sache hinzu: Studien begannen, schwere Covid-19-Verläufe mit Immunreaktionen in Verbindung zu bringen, die als Zytokinstürme bezeichnet werden. Dabei werden vom Immunsystem übermäßig viele entzündungsfördernde Stoffe freigesetzt. Und genau das beobachtet man ebenfalls bei Menschen mit Parodontitis.

Eine Parodontitis entsteht, wenn sich zu viele Bakterien im Mund ansammeln. Die Ablagerungen führen zu Entzündungen und Schwellungen des Zahnfleisches, wobei die Immunreaktion, die der Körper zur Abwehr der Eindringlinge startet, langfristig den Zahnhalteapparat zerstört. Dadurch treten die betroffenen Zähne immer weiter aus dem Zahnfleisch heraus und fallen irgendwann schließlich ganz aus.
In der Vergangenheit wurde die Krankheit bereits mit einer Reihe anderer entzündlicher Erkrankungen in Verbindung gebracht, zum Beispiel mit Herzerkrankungen, chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen und Arthritis. Aber könnte die Mundgesundheit auch mit der Schwere einer Covid-19-Erkrankung in Zusammenhang stehen?

Tamimi war nicht der Einzige, der sich diese Frage stellte. Seit Beginn der Pandemie haben Forscherinnen und Forscher auf der ganzen Welt untersucht, welche die Rolle die Mundhöhle und ihre Gesundheit bei Covid-19-Infektionen spielen. Dass es eine Verbindung geben könnte, deuteten schon früh Symptome wie Geschmacksverlust an.

»Von allen Risikofaktoren, die mit Covid-19 im Zusammenhang stehen, ist dieser am einfachsten zu handhaben«, sagt Tamimi. Während Diabetes und Bluthochdruck nur mit Medikamenten und Veränderungen des Lebensstils behandelt werden können, lassen sich Zahnfleischentzündungen bereits mit Zahnseide und einer Zahnbürste in den Griff bekommen.
»Im Grunde müssen wir die Menschen dazu ermutigen, sich mehr um ihre Mundgesundheit zu kümmern. Sich die Zähne zu putzen und Zahnseide zu benutzen, kann ohnehin nie schaden«, erklärt der Mediziner.

Parodontitis erhöht das Risiko, mit Covid-19 auf die Intensivstation zu müssen

Anfang 2020 basierte der Zusammenhang zwischen Covid-19 und Parodontitis auf kaum mehr als Vermutungen. Doch die wenigen Indizien, die es gab, reichten aus, dass Tamimi seine ursprünglichen Forschungspläne für das Sabbatjahr aufgab und das Phänomen stattdessen genauer untersuchte. Schließlich befand er sich bereits in Katar, das über ein vollständig digitalisiertes öffentliches Gesundheitssystem verfügt, das auch die zahnärztliche Versorgung umfasst.
Gemeinsam mit Mitarbeitern der Hamad Medical Corporation in Katar sowie Unterstützung aus Kanada und Spanien analysierte er anhand digitaler Röntgenaufnahmen die Mundgesundheit von 568 Personen, die mit Covid-19 in Katar ins Krankenhaus eingeliefert worden waren.

Das Team schaute sich den Zusammenhang zwischen Parodontitis und schweren Covid-19-Verläufen genau an. Dabei entdeckte es, dass Menschen mit Covid-19 und Parodontitis 3,5-mal häufiger auf der Intensivstation landeten als Covid-19-Patienten ohne Zahnfleischerkrankungen. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, dass sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden mussten, 4,5-mal höher; das Risiko zu sterben, nahm um das 8,8-Fache zu. Allerdings ist die letzte Zahl nicht besonders zuverlässig, da die Stichprobe insgesamt nur 14 Todesfälle umfasste.

So deutliche Ergebnisse hatten Tamimi und seine Kollegen trotzdem nicht erwartet. Die Forscherinnen und Forscher wollen die Studie nun auf etwa 1500 Personen ausweiten und herausfinden, ob routinemäßige Zahnreinigungen vor einer Covid-19-Infektion den Ausgang der Krankheit beeinflussen können.
Das Team untersuchte außerdem Blutproben von Menschen mit Covid-19 auf verschiedene Entzündungsmarker und stellte fest, dass die Entzündungswerte bei Patienten mit Parodontitis deutlich höher waren.

Solche Korrelationsstudien sind allerdings erst der Anfang. Auf Grund der beteiligten Entzündungsprozesse sei es keine Überraschung gewesen, dass Covid-19 und Parodontitis miteinander in Verbindung stehen, sagt Kevin Byrd vom American Dental Association Science & Research Institute in Gaithersburg, Maryland.
Das größere und schwierigere Problem besteht darin, herauszufinden, wie genau sich die Krankheiten gegenseitig beeinflussen.

Den Zusammenhang zwischen Parodontitis und Herzerkrankungen erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Beispiel bereits seit Jahrzehnten – und trotzdem haben sie ihn immer noch nicht vollständig durchschaut.
Genetische Faktoren, die manche Menschen anfälliger für entzündliche Erkrankungen machen als andere, verkomplizieren die Sache oft, erklärt Byrd: »Bei neuen Krankheiten wie Covid-19 braucht es mehr Evidenz, um eine Kausalbeziehung und nicht bloß eine Korrelation herzustellen.«

Der Mund als Einfallstor für Sars-CoV-2

Etwa zur gleichen Zeit, als Tamimi sein Sabbatical in Katar antrat, arbeitete Byrd mit Blake Warner, einem Oralpathologen am US National Institute of Dental and Craniofacial Research in Bethesda, Maryland, zusammen, um herauszufinden, ob Covid-19 auch noch auf eine andere Weise mit dem Mund in Verbindung gebracht werden kann.
Die Forscher fragten sich damals, ob der Ort der Erstinfektion einen Einfluss auf den Schweregrad der Erkrankung hat.

Da die Mundhöhle die größte Öffnung des Körpers ist, ist sie mit zahlreichen Abwehrmechanismen ausgestattet, um Krankheitserregern Einhalt zu gebieten. Verlaufen Sars-CoV-2-Infektionen, die im Mund beginnen, deshalb weniger schwer als solche, die in der Nase ihren Anfang nehmen und dann auf die Lunge übergreifen?
Dieser Hypothese war zwar spannend, aber auch schwierig zu untersuchen, vor allem, weil die Mund- und die Nasenhöhle im hinteren Teil des Rachens miteinander verbunden sind.

Bevor sie die möglichen Infektionswege genauer unter die Lupe nehmen konnten, mussten Byrd und Warner erst einmal bestätigen, dass Sars-CoV-2 die Mundhöhle überhaupt infizieren kann. Das Virus war zwar Anfang 2020 im Speichel nachgewiesen worden, bislang hatte aber noch niemand belegt, dass der Mund tatsächlich ein Infektionsort ist.
Warner und Byrd waren sich recht sicher, dass das der Fall ist, da die Zellen im Mund die Proteine ACE2 und TMPRSS2 exprimieren. Beide werden von Sars-CoV-2 benötigt, um in Wirtszellen einzudringen und diese zu infizieren.

Die beiden Forscher führten gemeinsam mit Kollegen eine klinische Studie durch und analysierten Proben von Menschen mit akuten Covid-19-Infektionen. Außerdem untersuchten sie Gewebe von Menschen, die an der Krankheit gestorben waren.
Dabei fanden die Wissenschaftler bei über der Hälfte der Patienten unter anderem mit Sars-CoV-2 infizierte Zellen in den Speicheldrüsen und der Mundschleimhaut.
Überraschenderweise schien sich das Virus vor allem in bestimmten Speicheldrüsenzellen stark zu vermehren.
In einer anderen kleinen Autopsiestudie wies eine Arbeitsgruppe in Brasilien Sars-CoV-2 ebenfalls im Parodontalgewebe bei über der Hälfte der Patienten nach.

Neben der Tatsache, dass Sars-CoV-2 auch die Zellen der Mundhöhle befallen kann, stießen Warner und Byrd noch auf zwei andere bemerkenswerte Zusammenhänge.
So stellten sie zum einen bei einer kleinen Gruppe von Personen fest, dass höhere Viruskonzentrationen im Speichel mit Störungen des Geschmacks- und Geruchssinns der Patienten korrelierten.
Das Team wies zum anderen nach, dass auch Speichel von asymptomatischen Patienten Zellen mit Sars-CoV-2 infizieren kann, – ein weiterer Beweis dafür, dass das Virus selbst von Menschen übertragen werden kann, die keine Krankheitssymptome zeigen.

Mundspülungen senken die Viruslast im Speichel

Die Belege dafür, dass sich Sars-CoV-2 im Mund aufhalten kann, seien inzwischen stichhaltig, sagt Purnima Kumar, Zahnmedizinforscherin an der Ohio State University in Columbus. Strategien, die die Viruslast im Mund senken, könnten also möglicherweise auch die Übertragung des Virus verhindern.

Kumar und ihre Kollegen haben kürzlich eine solche Strategie getestet: Mundwasser. In einer randomisierten, kontrollierten Studie mit etwa 200 Personen untersuchte die Gruppe die Wirksamkeit von vier verschiedenen Mundspüllösungen. Sie fand heraus, dass alle vier Mundspülungen die Viruslast in den Speichelproben der Teilnehmer nach 15 Minuten um bis zu 89 Prozent und nach 45 Minuten um bis zu 97 Prozent verringerten.

Laut den Autoren können also Mundspülungen dazu beitragen, die Ansteckungsgefahr zu verringern und das Risiko einer Übertragung beispielsweise bei zahnärztlichen Untersuchungen zu senken. Obwohl es sich um eine relativ einfache Maßnahme handelt, verordnen derzeit Kumar zufolge nur etwa zwölf Prozent der amerikanischen Zahnärzte vor der Untersuchung Mundspülungen.

Dringt Covid durch das Zahnfleisch in den Körper?

Offen ist bislang die Frage, wie das Virus vom Mund aus im Körper weiterwandert. Ein Team unter der Leitung von Graham Lloyd-Jones, einem Radiologen aus Salisbury im Vereinigten Königreich, und Shervin Molayem, einem Parodontologen und Implantatchirurgen in Los Angeles, hat nun Hinweise darauf gefunden, dass Sars-CoV-2 durch das Zahnfleisch in das Gefäßsystem des Körpers sickern könnte, bevor es dann schließlich in die Lunge gelangt.
Laut Lloyd-Jones zeigen Computertomografiescans der Lungen von Menschen mit Covid-19, dass sich die Schäden hauptsächlich auf den unteren Teil der Lunge konzentrieren.
Dies deutet darauf hin, dass das Virus vor allem über die Blutbahn eindringt. Bei einem Erreger, der vorwiegend durch die Atmung in die Lunge gelangt, müssten die Schäden gleichmäßiger verteilt sein.

»Zum jetzigen Zeitpunkt bewegen wir uns immer noch im Bereich der Hypothesen«, sagt Lloyd-Jones. Er plant jedoch, diesen Infektionsweg experimentell zu untersuchen, indem er Blutproben aus den Blutgefäßen zwischen Mund und Lunge entnimmt, um zu sehen, ob dort höhere Viruskonzentrationen auftreten als an anderen Stellen des Körpers.
Derzeit arbeitet er zusammen mit Kollegen in Indien einen Vorschlag für die Studie aus.

Die Coronapandemie hat den Publikationsprozess von neuen Studienergebnissen in vielen Bereichen beschleunigt. Doch selbst, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Hochtouren arbeiten, könnte es noch lange dauern, bis sie alle Zusammenhänge zwischen dem Mund und Covid-19 vollständig entschlüsselt haben.
Sollte sich tatsächlich bestätigen, dass eine gute Mundgesundheit das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung senkt, wäre das eine wichtige Erkenntnis. Lloyd-Jones stellt sich derzeit vor allem zwei Fragen. Die erste ist, ob die Hypothese seines Teams über den Infektionsweg richtig ist.
»Und die zweite: Können wir dann etwas dagegen tun? Ich denke, die Antwort auf beide Fragen könnte Ja lauten«.

Dieser von »Spektrum.de« übersetzte Artikel ist Teil von »Nature Outlook: Oral health«, einer redaktionell unabhängigen Beilage, die mit finanzieller Unterstützung Dritter produziert wurde.

Serie: Gesund im Mund

Ob beim Sprechen, Essen, Lächeln oder Küssen: Unser Mund ist quasi pausenlos in Bewegung. Wie wichtig es ist, dass er gesund bleibt, fällt vielen trotzdem erst dann auf, wenn sich die ersten Wehwehchen bemerkbar machen wie Karies, Zahnfleischentzündungen oder fiese Aphten.
Dabei kann die Mund- und Zahnpflege weit reichende Konsequenzen für den gesamten Körper haben – selbst mit Erkrankungen wie Alzheimer, Herzleiden und Covid-19 wird sie inzwischen in Verbindung gebracht. Wie eine optimale Mundhygiene aussieht, welchen Beitrag das orale Mikrobiom leistet und was die Mundschleimhaut so besonders macht, erfahren Sie in unserer Serie »Gesund im Mund«:

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Profil eines Killers – wie das neue Coronavirus funktioniert

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Heute auf Spektrum der Wissenschaft https://www.spektrum.de/news/woher-kommt-das-coronavirus-und-was-tut-es-als-naechstes/1733810
Auszüge:

Wissenschaftler erforschen angespannt, wie das neue Coronavirus funktioniert und wie es sich entwickeln könnte. Womöglich wird es mit der Zeit weniger gefährlich.

David Cyranoski

Im Jahr 1912 rätselten deutsche Tierärzte über den Fall einer fiebrigen Katze mit einem stark geschwollenen Bauch. Vermutlich ist das der erste überlieferte Fall eines Coronavirus.
Was die Tierärzte damals noch nicht wussten: Coronaviren verursachten auch bei Hühnern Bronchitis und bei Schweinen eine Darmerkrankung, an der fast alle betroffenen Ferkel starben, die weniger als zwei Wochen alt waren.
Die Verbindung zwischen den Erregern kam erst in den 1960er Jahren ans Licht, als Forscher in Großbritannien und den Vereinigten Staaten zwei Viren mit kronenähnlichen Strukturen isolierten, die beim Menschen Erkältungskrankheiten auslösten.

Die Wissenschaftler stellten bald fest, dass die Viren der kranken Tiere die gleiche borstige Struktur hatten und mit stacheligen Eiweißzacken gespickt waren. Unter dem Elektronenmikroskop ähnelten sie der Sonnenkorona, weshalb die Forscher im Jahr 1968 die Bezeichnung Coronaviren für die gesamte Gruppe einführten. Es war eine Familie dynamischer Killer: Hunde-Coronaviren konnten Katzen befallen, das Katzen-Coronavirus konnte Schweinedärme schädigen. Beim Menschen jedoch, so glaubten die Forscher, würden die Viren nur milde Symptome verursachen.
Doch der Ausbruch des schweren akuten Atemwegssyndroms (Sars) im Jahr 2003 offenbarte, wie leicht diese vielseitigen Viren auch Menschen töten können.

Angesichts der Todesopfer der Covid-19-Pandemie bemühen sich die Forscher nun, so viel wie möglich über die Biologie des neuesten Coronavirus Sars-CoV-2 herauszufinden.
Genetische Hinweise deuten an, dass es sich möglicherweise seit Jahrzehnten in der Natur versteckt hat. Offenbar hat das Virus währenddessen eine Reihe von Anpassungen entwickelt, die es gefährlicher machen als die Mehrheit der Coronaviren, mit der die Menschheit bisher konfrontiert war.
Im Gegensatz zu nahen Verwandten greift Sars-CoV-2 nämlich rasch menschliche Zellen an mehreren Orten an, wobei die Lunge und der Rachen die beiden Hauptziele sind.
Einmal im Körper macht das Virus Gebrauch von einem vielfältigen Arsenal gefährlicher Moleküle.

Weiterhin gibt es jedoch viele offen Fragen, darunter: Wie genau tötet das Virus? Wird es sich zu etwas mehr – oder weniger – Gefährlichem entwickeln? Was kann es über den nächsten Ausbruch aus der Familie der Coronaviren verraten?
»Es wird noch mehr passieren, entweder tut es das schon da draußen oder es ist in der Entstehung«, sagt Andrew Rambaut, der an der Universität Edinburgh, Großbritannien, die Evolution des Virus studiert.

Von den Viren, die den Menschen befallen, gehören Coronaviren zu den größeren Exemplaren. Mit einem Durchmesser von 125 Nanometern sind sie auch vergleichsweise groß innerhalb jener Gruppe von Viren, die RNA zur Vermehrung nutzen und die für die meisten neu auftretenden Krankheiten verantwortlich sind. Coronaviren zeichnen sich dabei vor allem durch ihr Genom aus: Mit 30 000 genetischen Basen besitzen Coronaviren das größte Genom aller RNA-Viren. Ihr Genom ist mehr als dreimal so groß wie die Genome von HIV und Hepatitis C und mehr als doppelt so groß wie die von Influenzaviren.

Korrekturlesemechanismus macht Medikamente wirkungslos

Darüber hinaus ist das Coronavirus eines der wenigen RNA-Viren mit einem genomischen Korrekturlesemechanismus – dieser verhindert, dass das Virus Mutationen anhäuft, die es schwächen könnten.
Diese Fähigkeit ist womöglich der Grund dafür, dass gängige antivirale Medikamente wie Ribavirin, die Viren wie Hepatitis C stoppen können, gegen Sars-CoV-2 nicht wirken.
Diese Medikamente schwächen die Viren, indem sie Mutationen induzieren. Bei den Coronaviren könnte der erwähnte Korrekturlesemechanismus solche Veränderungen jedoch wieder ausmerzen.

Generell können Mutationen für Viren vorteilhaft sein. Die Influenzaviren beispielsweise mutieren dreimal häufiger als Coronaviren – ein Tempo, das es ihnen ermöglicht, Impfstoffe zu umgehen.
Coronaviren hingegen nutzen einen besonderen Trick: Sie ordnen ihr genetisches Material häufig neu an und tauschen dabei Stücke ihrer RNA mit anderen Coronaviren aus. Normalerweise handelt es sich dabei um einen sinnlosen Handel mit ähnlichen Teilen zwischen ähnlichen Viren.
Doch wenn zwei weit entfernte Verwandte des Coronavirus in derselben Zelle landen würden, könne diese Rekombination beeindruckende Versionen hervorbringen, die sowohl neue Zelltypen infizieren als auch auf andere Spezies überspringen könne, sagt Rambaut.

Bei Fledermäusen kommen solche Rekombinationen häufig vor. Von insgesamt 61 Viren, die die Tiere in sich tragen, weiß man, dass sie auch Menschen infizieren können. Den Fledermäusen schaden die Viren in den meisten Fällen nicht. Es gibt mehrere Theorien darüber, warum das so ist.
Ein im Februar 2020 veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel argumentiert etwa, dass mit Viren infizierte Fledermauszellen Immunantworten einleiten, die die Viren veranlassen, schnell von einer Zelle zu anderen überzugehen. Das verhindert das Absterben der jeweiligen infizierten Zellen.

Ist das erste Coronavirus vor Millionen Jahren entstanden?

Die Schätzungen für die Entstehung des ersten Coronavirus schwanken stark, von vor 10 000 Jahren bis vor 300 Millionen Jahren. Heutzutage sind den Wissenschaftlern Dutzende von Stämmen bekannt, von denen sieben auch den Menschen infizieren. Von den insgesamt vier Stämmen, die Erkältungen verursachen, stammen zwei (OC43 und HKU1) von Nagetieren und die beiden anderen (229E und NL63) von Fledermäusen.
Die drei, die teilweise schwere bis tödliche Krankheiten verursachen – Sars-CoV (die Ursache von Sars), das Nahost-Atmungssyndrom Mers-CoV und Sars-CoV-2 – stammten alle von Fledermäusen.
Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass es in der Regel einen Vermittler gibt – ein von den Fledermäusen infiziertes Tier, das das Virus auf den Menschen überträgt. Bei Sars geht man zum Beispiel davon aus, dass es sich bei dem Zwischenwirt um Zibetkatzen handelt, die auf chinesischen Tiermärkten angeboten werden.

Die Herkunft von Sars-CoV-2 ist immer noch offen. Das Virus teilt 96 Prozent seines genetischen Materials mit einem Virus, das bei einer Fledermaus in einer Höhle in Yunnan, China, gefunden wurde – ein überzeugendes Argument, dass es von Fledermäusen stammt, sagen manche Forscher. Gleichwohl gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Spike-Proteine von Coronaviren haben eine Einheit, die als Rezeptorbindungsdomäne bezeichnet wird und die dafür sorgt, dass der Virus besonders erfolgreich in menschliche Zellen eindringen kann.
Die Sars-CoV-2-Bindungsdomäne ist sehr effizient und sie unterscheidet sich in wichtigen Punkten von der des Yunnan-Fledermausvirus, das offenbar Menschen nicht infizieren kann.

Was die Sache noch komplizierter macht, ist ein schuppiger Ameisenbär namens Pangolin, bei dem man ein Coronavirus fand, dessen Rezeptorbindungsdomäne fast identisch mit der menschlichen Version war.
Aber der Rest des Virus war nur zu 90 Prozent genetisch ähnlich. Daher gehen Forscher eigentlich davon aus, dass das Schuppentier nicht der Zwischenwirt war.

Hat sich Covid-19 seit Jahrzehnten in Tieren versteckt?

Die Tatsache, dass sowohl Mutationen als auch Rekombinationen das Virus verändern, macht es besonders schwierig, einen Stammbaum zu erstellen. Die in den vergangenen Monaten veröffentlichten Studien – die allerdings noch nicht den so genannten Peer-Review-Prozess durchlaufen haben, also noch nicht von Fachkollegen überprüft wurden – deuten jedoch darauf hin, dass sich Sars-CoV-2 – oder ein sehr ähnlicher Vorfahre – seit Jahrzehnten in verschiedenen Tieren versteckt hielt.

Einem im März 2020 online veröffentlichten Artikel zufolge (Preprint) spaltete sich die Coronavirus-Linie, die schließlich zu Sars-CoV-2 führte, vor mehr als 140 Jahren von der eng verwandten Linie ab, die man heute bei Schuppenflechten sieht. Irgendwann in den vergangenen 40 bis 70 Jahren trennten sich dann die Vorfahren von Sars-CoV-2 von der Fledermausversion, die in der Folge die effektive Rezeptorbindungsdomäne verlor, die in ihren Vorfahren vorhanden war (und in Sars-CoV-2 verbleibt). Eine am 21. April 2020 veröffentlichte Studie kam unter Verwendung einer anderen Datierungsmethode zu sehr ähnlichen Ergebnissen.

Diese Ergebnisse deuten auf eine lange Familiengeschichte hin, wobei viele Zweige des Coronavirus in Fledermäusen und möglicherweise Pangolinen dieselbe tödliche Rezeptorbindungsdomäne wie Sars-CoV-2 tragen. Darunter seien auch einige, die ähnliche Fähigkeiten besäßen, eine Pandemie auszulösen, sagt Rasmus Nielsen, Evolutionsbiologe an der University of California, Berkeley, und Mitverfasser der zweiten Studie.
»Wir brauchen eine permanente Beobachtung und erhöhte Wachsamkeit gegenüber dem Auftauchen neuer Virusstämme durch zoonotische Übertragung«, sagt er.

Zwei offene Türen

Obwohl die bekannten menschlichen Coronaviren viele Zelltypen infizieren können, verursachen sie alle in erster Linie Atemwegsinfektionen.
Der Unterschied besteht darin, dass die vier, die gewöhnliche Erkältungen verursachen, leicht die oberen Atemwege befallen, während Mers-CoV und Sars-CoV dort schwerer angreifen können. Stattdessen infizieren sie erfolgreicher die Zellen der Lunge.

Sars-CoV-2 kann leider beides sehr effizient. Damit habe es zwei Möglichkeiten, sich im Körper einzunisten, sagt Shu-Yuan Xiao, Pathologe an der University of Chicago.
Wenn uns zehn Viruspartikel vom Husten eines weiter entfernten Gegenübers erreichen, könnten diese eine Infektion im Hals auslösen. Die dort befindlichen Flimmerhärchen werden aber wahrscheinlich ihre Arbeit tun und die Eindringlinge zügig beseitigen. Wenn unser Gegenüber uns hingegen näher komme und 100 Viruspartikel in unsere Richtung huste, schaffe es manche möglicherweise bis in die Lunge, sagt Xiao.

Wieso erkranken manche stark und andere kaum?

Diese zwei unterschiedlichen Infektionswege könnten erklären, warum Menschen mit Covid-19 so verschiedene Erfahrungen machen.
Das Virus kann im Rachen oder in der Nase beginnen, einen Husten auslösen und den Geschmack und Geruch stören und dann dort enden.
Oder es kann sich gleich oder im Verlauf der Erkrankung bis in die Lunge ausbreiten und dieses Organ schwächen. Wie es dort hinuntergelange, ob es sich Zelle für Zelle bewege oder irgendwie nach unten gespült werde, sei nicht bekannt, sagt Stanley Perlman, ein Immunologe an der University of Iowa, der Coronaviren untersucht.

Clemens-Martin Wendtner, Arzt für Infektionskrankheiten am Münchner Klinikum Schwabing, sagt, es könnte auch ein Problem des Immunsystems sein, das das Virus in die Lungen lässt.
Die meisten Infizierten bilden neutralisierende Antikörper, die so konzipiert sind, dass sie sich mit dem Virus verbinden und es daran hindern, in eine Zelle einzudringen.
»Aber einige Menschen sind anscheinend nicht in der Lage, diese Antikörper zu bilden«, sagt Wendtner. Das könne der Grund dafür sein, dass sich manche nach einer Woche mit leichten Symptomen erholen, während andere von einer später einsetzenden Lungenerkrankung heimgesucht würden.

Wie bereits erwähnt kann das Virus aber offenbar auch die Rachenzellen umgehen und direkt in die Lunge gelangen.
»Solche Patienten könnten eine Lungenentzündung bekommen, ohne die üblichen leichten Symptome wie Husten oder leichtes Fieber, die sonst zuerst auftreten«, so Wendtner. Durch diese zwei Infektionspunkte kann Sars-CoV-2 die Übertragbarkeit der gewöhnlichen Erkältungs-Coronaviren mit der Letalität von Mers-CoV und Sars-CoV kombinieren.
»Es ist eine unglückliche und gefährliche Kombination dieses Coronavirusstamms«, sagt Wendtner.

Die Fähigkeit des Virus, die oberen Atemwege zu infizieren und sich dort aktiv zu vermehren, überraschte die Forscher, da sein naher genetischer Verwandter Sars-CoV diese Fähigkeit nicht besitzt.
Im vergangenen Monat veröffentlichte Wendtner die Ergebnisse von Experimenten, bei denen sein Team das Virus aus dem Rachen von neun Menschen mit Covid-19 kultivieren konnte, was zeigt, dass das Virus sich an der Stelle von selbst vermehrt und infektiös ist.

Das erklärt einen entscheidenden Unterschied zwischen den nahen Verwandten: Sars-CoV-2 kann Viruspartikel aus dem Rachen in den Speichel absondern, noch bevor Symptome auftreten, und diese können dann leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden. Sars-CoV hingegen ist weit weniger effizient, da es nur dann übertragen wurde, wenn die Symptome bereits ausgeprägt waren. Aus diesem Grund war es viel leichter einzudämmen.

Aus den unterschiedlichen Infektionsmöglichkeiten von Sars-CoV-2 resultierte möglicherweise eine gewisse Verwirrung über die Letalität. Experten und Medienberichte beschreiben das Virus üblicherweise als weniger gefährlich als Sars-CoV, weil es maximal ein Prozent der infizierten Menschen tötet, während es bei Sars-CoV etwa zehnmal so viele sind.
Perlman jedoch findet, man müsse es vielleicht anders betrachten. Sars-CoV-2 infiziere Menschen zwar viel einfacher, viele der Infektionen gelangen allerdings nicht in die Lunge. Doch: »Wenn es erst einmal in der Lunge ist, ist es wahrscheinlich genauso tödlich«, sagt er.
Das Verhalten von Sars-CoV-2 in der Lunge ähnelt zumindest teilweise dem, was auch andere Atemwegsviren tun – selbst wenn noch einiges unsicher ist: Wie Sars-CoV und Influenza infiziert und zerstört es die Alveolen, die winzigen Säckchen in der Lunge, die den Sauerstoff in den Blutkreislauf transportieren.
Wenn die zelluläre Barriere, die diese Säcke von den Blutgefäßen trennt, zusammenbricht, tritt Flüssigkeit aus den Gefäßen aus und verhindert, dass Sauerstoff ins Blut gelangt.

Andere Zellen, darunter weiße Blutkörperchen, verstopfen die Atemwege weiter. Eine angemessene Immunantwort kann all dies beseitigen, aber eine Überreaktion des Immunsystems kann die Gewebeschäden noch verschlimmern.
»Wenn die Entzündung und die Gewebeschädigung zu schwerwiegend sind, erholen sich die Lungen nie wieder, und die Person stirbt oder bleibt mit vernarbten Lungen zurück«, sagt Xiao. Aus pathologischer Sicht sei das nichts Besonderes. Und wie bei Sars-CoV, Mers-CoV und tierischen Coronaviren ist der Schaden nicht unbedingt auf die Lungen begrenzt. Eine übermäßige Immunreaktion, die als Zytokinsturm bezeichnet wird, kann zu multiplem Organversagen und schließlich zum Tod führen.

Reist das Virus über unsere Blutbahn durch den Körper?

Darüber hinaus kann das Sars-CoV-2 offenbar auch den Darm, das Herz, das Blut, das Sperma (ebenso wie Mers-CoV), das Auge und möglicherweise das Gehirn infizieren.
»Schäden an Niere, Leber und Milz, die bei Menschen mit Covid-19 beobachtet wurden, deuten darauf hin, dass das Virus im Blut transportiert wird und verschiedene Organe oder Gewebe infizieren kann«, sagt Guan Wei-jie, ein Pneumologe am Guangzhou Institute of Respiratory Health an der Guangzhou Medical University, China, einer Institution, die für ihre Rolle bei der Bekämpfung von Sars und Covid-19 gelobt wird.
Das Virus könnte in der Lage sein, unterschiedliche Organe oder Gewebe überall dort zu infizieren, wo die Blutversorgung hinreiche, sagt Guan.

Doch obwohl das genetische Material des Virus in diesen verschiedenen Geweben nachgewiesen wurde, ist noch nicht klar, ob der Schaden dort tatsächlich durch das Virus oder durch einen Zytokinsturm verursacht werde, so Wendtner. »In unserem Zentrum sind Autopsien im Gange. Weitere Daten werden bald vorliegen«, sagt er.

Egal ob es den Rachen oder die Lunge infiziert, Sars-CoV-2 durchbricht mit seinen Spike-Proteinen die Schutzmembran der Wirtszellen (siehe Grafik). Die rezeptorbindende Domäne des Proteins heftet sich zunächst an einen Rezeptor namens ACE2 an, der auf der Oberfläche der Wirtszelle sitzt. ACE2 wird im ganzen Körper in Arterien und Venen gebildet, die alle Organe durchziehen. Besonders dicht ist es jedoch auf den Zellen, die die Lungenbläschen und den Dünndarm auskleiden.
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© Nature; Cyranoski, D.: Profile of a killer: the complex biology powering the coronavirus pandemic. Nature 581, 2020; dt. Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft (Ausschnitt) Wie das Virus in die Zelle eindringt

Obwohl die genauen Mechanismen unbekannt sind, gibt es Hinweise darauf, dass die Wirtszelle nach der Anheftung des Virus das Spike-Protein an einer seiner speziellen »Spaltstellen« aufschneidet und dabei Fusionspeptide frei legt – kleine Aminosäureketten, die dabei helfen, die Membran der Wirtszelle aufzubrechen, so dass die Virusmembran mit ihr verschmelzen kann.
Sobald das genetische Material des Eindringlings in die Zelle gelangt ist, steuert das Virus die molekulare Maschinerie des Wirts, um neue Viruspartikel zu produzieren. Dann verlassen diese Nachkommen die Zelle, um andere zu infizieren.

Besorgnis erregende Details des Virus

Sowohl Sars-CoV als auch Sars-CoV-2 binden an ACE2, aber die rezeptorbindende Domäne von Sars-CoV-2 ist besonders gut geeignet, sich Zugang zu den Zellen zu verschaffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ACE2 bindet, ist 10- bis 20-mal höher als bei Sars-CoV.
Wendtner sagt, dass Sars-CoV-2 die oberen Atemwege so gut infizieren könne, dass es womöglich sogar einen zweiten Rezeptor gebe, mit dem das Virus seinen Angriff starte.

Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass Sars-CoV-2 offenbar das Enzym Furin aus dem Wirt nutzt, um das virale Spike-Protein zu spalten. Dies ist Besorgnis erregend, sagen Forscher, weil Furin in den Atemwegen reichlich vorhanden ist und im ganzen Körper vorkommt. Es wird von anderen gefährlichen Viren, darunter HIV, Grippe, Dengue und Ebola, genutzt, um in Zellen einzudringen. Im Gegensatz dazu sind die von Sars-CoV verwendeten Spaltungsmoleküle viel seltener und nicht so wirksam.

Wissenschaftler glauben, dass die Beteiligung von Furin erklären könnte, warum Sars-CoV-2 so gut von Zelle zu Zelle, von Mensch zu Mensch und möglicherweise von Tier zu Mensch springen kann. Robert Garry, Virologe an der Tulane University in New Orleans, Louisiana, schätzt, dass Sars-CoV-2 dadurch eine 100- bis 1000-mal größere Chance habe, tief in die Lunge zu gelangen als Sars-CoV.
»Als ich sah, dass Sars-CoV-2 diese Spaltungsstelle hatte, habe ich in der folgenden Nacht sehr schlecht geschlafen«, sagt er.

Das Rätsel ist, woher die genetischen Anweisungen für diese spezielle Spaltstelle stammen. Obwohl das Virus sie wahrscheinlich durch Rekombination erhalten hat, wurde jene besondere Anordnung bei keinem anderen Coronavirus gefunden. Der Ursprung könnte das letzte Teil des Puzzles sein, das zeigt, welches Tier das Sprungbrett war, über welches das Virus zum Menschen gelangte.

Wird das Virus mit der Zeit weniger gefährlich?

Einige Forscher hoffen, dass sich das Virus mit der Zeit abschwächt durch eine Reihe von Mutationen, mittels derer es sich anpasst, um im Menschen zu bestehen. Nach dieser Logik würde es weniger Menschen töten und hätte bessere Chancen, sich auszubreiten. Doch bisher haben Forscher noch keine Anzeichen für eine solche Schwächung gefunden, wahrscheinlich auf Grund des effizienten genetischen Reparaturmechanismus des Virus.
»Das Genom des Covid-19-Virus ist sehr stabil, und ich sehe keine Veränderung der Pathogenität, die durch eine Virusmutation verursacht wird«, sagt Guo Deyin, der an der Sun-Yat-sen-Universität in Guangzhou an Coronaviren forscht. Auch Rambaut bezweifelt, dass das Virus mit der Zeit milder wird und seinen Wirt verschont. »So funktioniert das nicht«, sagt er. Solange es erfolgreich neue Zellen infizieren, sich vermehren und auf neue Zellen übertragen könne, spiele es keine Rolle, ob es den Wirt schädige oder nicht, sagt er.

Andere wiederum sehen die Möglichkeiten einer positiven Entwicklung: »Das Virus könnte den Menschen Antikörper bringen, die zumindest einen teilweisen Schutz bieten«, meint Klaus Stöhr, der die Abteilung für Sars-Forschung und Epidemiologie der Weltgesundheitsorganisation leitet. Stöhr sagt, dass die Immunität dann natürlich nicht perfekt sein werde – neu Infizierte würden weiterhin leichte Symptome entwickeln, so wie jetzt bei einer Erkältung auch. Aber schwere Verläufe würden seltener auftreten. Gleichwohl bedeute der Korrekturlesemechanismus des Virus, dass es nicht schnell mutieren werde.
»Deshalb werden Infizierte einen robusten Schutz behalten«, sagt er. »Das bei Weitem wahrscheinlichste Szenario ist, dass sich das Virus in relativ kurzer Zeit weiter ausbreiten und den größten Teil der Weltbevölkerung infizieren wird«, sagt Stöhr. Er geht davon aus, dass das ein bis zwei Jahre dauert. »Danach wird sich das Virus in der menschlichen Bevölkerung weiter ausbreiten, wahrscheinlich für immer.«

Wie die vier im Allgemeinen milden menschlichen Coronaviren würde Sars-CoV-2 dann ständig zirkulieren und hauptsächlich einfache Infektionen der oberen Atemwege verursachen, sagt Stöhr. Aus diesem Grund, so Stöhr weiter, seien Impfstoffe aus seiner Sicht nicht notwendig. *)
Einige frühere Studien untermauern dieses Argument. Eine zeigte, dass bei Menschen, die mit dem gewöhnlichen Erkältungs-Coronavirus 229E geimpft wurden, die Antikörperspiegel zwei Wochen später ihren Höhepunkt erreichten und nach einem Jahr nur leicht erhöht waren. Das verhinderte zwar Infektionen ein Jahr später nicht, aber nachfolgende Infektionen führten – wenn überhaupt – nur zu leichten Symptomen. Außerdem waren die Betroffenen nur über einen kürzeren Zeitraum ansteckend.

coronavirus vaccines

Ständige Exposition mit gefährlichen Viren macht Menschen immun

Ein Modell dafür, wohin diese Pandemie gehen könnte, bietet das so genannte OC43-Coronavirus. Dieses Virus löst beim Menschen auch Erkältungen aus, aber genetische Forschungen der Universität Leuven in Belgien legen nahe, dass OC43 in der Vergangenheit ein Killer gewesen sein könnte.
Die Studie deutet darauf hin, dass OC43 um das Jahr 1890 von Kühen, die es wiederum von Mäusen hatten, auf den Menschen überging. Die Wissenschaftler vermuten, dass OC43 für eine Pandemie verantwortlich war, an der 1889 bis 1890 weltweit mehr als eine Million Menschen starben. Zuvor war dieser Ausbruch der Influenza angelastet worden.
Heute zirkuliert OC43 nach wie vor weit verbreitet, und es könnte sein, dass die ständige Exposition gegenüber dem Virus die große Mehrheit der Menschen immun gegen das Virus gemacht hat.

Noch ist nicht klar, ob bei Sars-CoV-2 etwas Ähnliches passieren könnte. Zumindest Katzen, Kühe, Hunde und Hühner werden offenbar nicht dauerhaft gegen die manchmal tödlichen Coronaviren immun, weshalb Tierärzte in den vergangenen Jahren für die Suche nach geeigneten Impfstoffen warben.
Eine Studie an Affen zeigte, dass diese Antikörper gegen Sars-CoV-2 über einen Beobachtungszeitraum von 28 Tagen aufwiesen. Unklar ist jedoch, wie lange die Immunität anhält. Die Konzentrationen von Antikörpern gegen Sars-CoV nahmen bei Patienten über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren deutlich ab. Ob diese verringerten Werte ausreichen würden, um eine Infektion zu verhindern oder den Schweregrad zu verringern, ist nicht klar.
Trotz vieler offener Fragen bezüglich der Immunität gegen Sars-CoV-2 beim Menschen werben einige Länder für die Idee, »Immunitätspässe« auszustellen – und zwar an Menschen, die bereits eine Infektion überstanden haben. Sie könnten sich dann wieder unter Menschen wagen, ohne sich oder andere in Gefahr zu bringen.

Letztlich ist es so, dass die Mehrheit der Wissenschaftler momentan noch kein Urteil darüber abgeben will, ob die zahmeren Coronaviren einst so gefährlich waren wie Sars-CoV-2. Die Leute denken gerne, »dass die anderen Coronaviren schrecklich waren und harmloser wurden«, sagt Perlman. »Das ist eine optimistische Art, über das nachzudenken, was jetzt vor sich geht. Aber wir haben keine Beweise.«

Der Artikel ist im Original unter dem Titel Profile of a killer in »nature« erschienen.

*: Der Verzicht auf aktive Impfung würde aus meiner Sicht in Kauf nehmen, dass noch bis zu 10 Millionen Leute weltweit daran sterben müssten, die durch eine Impfung gerettet werden könnten.
Siehe hier: The race for coronavirus vaccines https://www.nature.com/articles/d41586-020-01221-y

Jochen