Kurdenmassaker in Afrin: banale, brutalste, weil entfesselte Geopolitik

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Dankenswerter Weise von der Informationsstelle Militarisierung zusammengestellt:
http://www.imi-online.de/2018/01/24/afrin-entfesselte-geopolitik/
Auszüge:

von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 24. Januar 2018

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In Medien und Zivilgesellschaft ist der Aufschrei über den türkischen Einmarsch in den Norden Syriens groß. Tatsächlich ist er sowohl humänitär, als auch völkerrechtlich in keiner Weise zu rechtfertigen.
Überraschend jedoch ist er in keiner Weise, sondern allenfalls die Fortsetzung dessen, was in Syrien seit Jahren stattfindet. Wenn nun die Bundesregierung behauptet, sie könnte keine völkerrechtliche Einordnung des türkischen Einmarsches vornehmen, verweist das darauf, dass sie selbst und im Rahmen von EU und NATO die Gültigkeit des Völkerrechts in Bezug auf Syrien schon zuvor kontinuierlich und systematisch negiert hat.
Das begann bereits mit der quasi-Anerkennung einer Exilregierung und der Unterwanderung von Souveränitätsrechten des syrischen Staates, zunächst bei humanitärer Hilfe, später auch bei Waffenlieferungen.
Im Mai 2013 hat sie die Aufhebung der EU-Sanktionen gegenüber Syrien mitgetragen, um Waffenlieferungen Frankreichs und Großbritanniens an Aufständische zu ermöglichen. Bereits nach den ersten Zwischenfällen an der Grenze zur Türkei hat sie sich hinter die türkische Lesart gestellt, dass dies einen Angriff auf die Türkei darstellen und militärische Gegenmaßnahmen rechtfertigen würde, u.a. nachdem die Türkei im Oktober 2012 Konsultationen nach Artikel vier des NATO-Vertrages beantragt hatte.
Darauf folgte die von der NATO koordinierte Stationierung deutscher Patriot-Luftabwehrsysteme in der Türkei. Diese hatte vor allem symbolischen Wert, insofern Deutschland und die NATO damit der Türkei Rückendeckung gaben, die zugleich relativ offen und ebenfalls klar völkerrechtswidrig die Bewaffnung islamistischer Milizen unterstützte und ihnen Rückzugsraum bot, um das Nachbarland Syrien zu destabilisieren.
Ein weiterer Höhepunkt bei der Negierung des Völkerrechts in Syrien durch Deutschland bestand darin, die Anschläge am 13. November 2015 in Paris zum Anlass zu nehmen, sich an den militärischen Operationen gegen den IS zu beteiligen und dies völker- und verfassungsrechtlich mit dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit – in diesem Falle war die EU gemeint – zu begründen. Diese Argumentation, mit der die EU für sich in Anspruch genommen hat, ohne Zustimmung der dortigen Regierung auf syrischem Gebiet militärisch tätig zu werden, entspricht weitgehend der Begründung, mit der die Türkei nun in Afrin einmarschiert.
In beiden Fällen richtet sich der offene militärische Einsatz der EU und NATO-Staaten zwar gegen nichtstaatliche bewaffnete Gruppen und nicht direkt gegen die syrischen Streitkräfte, die beteiligten Staaten haben jedoch aus ihrer zeitgleichen militärischen Unterstützung für andere bewaffnete Gruppen keinen Hehl gemacht und diese tw. offen eingeräumt. Deutschland hat dies geduldet und u.a. durch die Aufhebung des EU-Waffenembargos auch aktiv unterstützt.

Internationalisierter Bürgerkrieg

Der Kampf gegen den IS und die gleichzeitige Bewaffnung oppositioneller Gruppen wurde für alle Welt sichtbar dazu genutzt, eine Aufteilung Syriens vorzubereiten, indem über Milizen und Spezialkräfte am Boden Einflusszonen militärisch erobert und abgesichert wurden. Die USA etwa verfolgten offen das Ziel, eine Kontrolle der Grenze zum Irak durch das syrische Regime und damit den viel beschworenen Landkorridor zwischen dem Libanon und dem Iran zu verhindern. Im Grenzgebiet zwischen Irak, Jordanien und Syrien stationierte sie eigene Kräfte und auch im von der kurdischen YPG bzw. der SDF kontrollierten Norden Syriens errichtete sie Basen – ohne Zustimmung der syrischen Regierung – die sichtbar auf Dauer angelegt waren.
Auch Russland und auf weniger offene Art der Iran nutzten den Bürgerkrieg, um ihre Stützpunkte in Syrien auszubauen, wobei auch hier klar war, dass sie diese nach einem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen nicht aufgeben würden.

Zumindest Russland konnte seine Beteiligung am Krieg auf einer formalen Ebene oberflächlich völkerrechtlich begründen, da es auf Einladung der syrischen Regierung agierte. De facto drehten sich die Machtverhältnisse jedoch um, u.a. indem Russland die Kontrolle über den Luftraum übernahm und ihn sich mit den USA teilten; mehrfach wurden Angriffe durch die US-amerikanische und israelische Luftwaffe auf die syrische Armee von Russland geduldet und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch abgesprochen.

Was sich also in Syrien in den vergangenen Jahren abspielte, war banale, brutalste, weil entfesselte Geopolitik. Die Entfesselung bestand darin, dass sich die beteiligten Groß- und Regionalmächte (und auch EU, NATO und Deutschland) gegenseitig signalisierten, dass das Völkerrecht hier nicht zur Anwendung kommt.

Das gerne geglaubte Märchen der humanitären Außenpolitik

Obwohl gerade die NATO-Staaten beim Kampf um Einflussphären in Syrien bereits früh auch auf islamistisch bis terroristisch agierende Truppen setzten, wurde diese Aufhebung des Völkerrechts und die Brutalisierung des Krieges v.a. in den westlichen Öffentlichkeiten lange nicht wahrgenommen oder allein dem syrischen Regime und dessen Verbündeten zugeschrieben. Voraussetzung hierfür war, die von großen Teilen der Zivilgesellschaft geglaubte und repetierte Erzählung, wonach die syrischen Milizen für Freiheit und Demokratie kämpfen und deshalb von ihren ausländischen Partnern unterstützt würden.
Dieses hartnäckige Märchen überlebte selbst die Schlacht um Aleppo, als sich die NATO und ihre Verbündeten vor allem in ihrer Informationspolitik – die längst Teil der Kriegführung ist – klar gegen Russland und damit de facto auf die Seite radikalislamistischer, zu großen Teilen mit der Al Kaida verbündeten Kräfte stellten, die damals den Westteil der Stadt kontrollierten.

So brutal und tragisch es ist, setzt sich in Afrin nur das fort, was seit Jahren in Syrien stattfindet und mit dem Jubel und der Unterstützung der bewaffneten Opposition ab 2011 begann. Bezeichnenderweise ist es nun – in deutlich anderer Zusammensetzung – wiederum die Freie Syrische Armee (FSA), die türkische Freiwillige rekrutiert und von türkischem Territorium aus Seite an Seite mit der türkischen Armee nach Afrin vorstößt und gegen die SDF kämpft.
Diese offene und direkte Zusammenarbeit von Bodentruppen eines NATO-Staates mit Milizen ist genau genommen die einzige qualitative Zuspitzung im türkischen Vorgehen gegenüber dem bisher Geschehenen. Wahrgenommen wird sie jedoch kaum, auch im UN-Sicherheitsrat und in den Stellungnahmen der NATO spielte sie bislang keine nennenswerte Rolle.
Die Empörung, die das türkische Vorgehen und die nüchtern betrachtet selbstverständliche Beteiligung deutscher Waffensysteme auslöst, hat jedoch andere Gründe. Denn das Märchen, dass die westlichen Mächte in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen hätten, um demokratische oder irgendwie „bessere“ Verhältnisse zu schaffen, steht nun endgültig vor seiner Entlarvung.
Denn mit der kurdischen Selbstverwaltung und der SDF greifen die Türkei und ihre Milizen jene Kräfte an, die mit Abstand am ehesten für eine demokratische und multikonfessionelle Ordnung stehen und diese explizit und glaubhaft anstreben.
Dass die Bundesregierung, die USA und die NATO ihren Bündnispartner Türkei allenfalls zur Zurückhaltung mahnen, prinzipiell jedoch nichts gegen den Einmarsch einzuwenden haben, sollte nur jene überraschen, die glauben, Außenpolitik und militärische Interventionen seien von irgendeiner Form des humanen Idealismus getrieben. Vom geopolitischen Standpunkt aus gesehen ist v.a. die Duldung und klammheimliche Unterstützung durch die USA durchaus naheliegend. Die im Zuge der gemeinsamen Bekämpfung des IS aufgenommene Zusammenarbeit mit der SDF in Nordsyrien war anders als die dort errichteten Basen nicht auf Dauer angelegt. Eine tatsächlich demokratische Ordnung und die politischen Ziele der SDF wären mit einer anhalten Präsenz amerikanischer Truppen mittelfristig unvereinbar geworden.
Wenn nun nicht die USA selbst, sondern ihr NATO-Verbündeter Türkei die Waffen gegen den ehemaligen Verbündeten richtet, ist das umso besser. Nebenbei hilft es, die zwischenzeitlichen Differenzen zwischen USA und Türkei beizulegen und vielleicht auch mit Russland zu einer Einigung über die Aufteilung Syriens zu kommen.

Das ist Geopolitik, und sie entfaltet sich dort, wo das Völkerrecht für obsolet erklärt wird, als internationalisierter und barbarisierter Bürgerkrieg.

Mein Kommentar: Die Kurden finden sich plötzlich in der Rolle nützlicher Idioten, die jetzt zwischen den Fronten verheizt werden. Man hätte es ihnen vorher sagen können.
Die gewählte Regierung unter Präsident Assad wäre die einzige Macht, die ihnen jetzt noch zu Hilfe kommen könnte, und die ist viel zu geschwächt.
Bitte beachtet die Online-Petition hier:

https://www.campact.de/Waffen

Jochen

Snowden-Enthüllungen führten zu Selbstzensur

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Das ist keine Propaganda. Das ist unabhängige Wissenschaft:


Snowdenhttp://www.spektrum.de/news/snowden-enthuellungen-fuehrten-zu-selbstzensur/1408899?utm_medium=newsletter&utm_source=sdw-nl&utm_campaign=sdw-nl-daily&utm_content=heute

Auszüge:

Die Suchanfragen für verdächtige Begriffe bei Wikipedia sind nach dem NSA-Skandal eingebrochen. Das lässt sich durch den Chilling-Effekt erklären: Menschen schränken ihr an sich legales Verhalten ein, wenn sie überwacht werden.
von

Menschen vermeiden Verhaltensweisen, die sie unter Umständen verdächtig machen könnten, sobald sie wissen, dass sie überwacht werden – und das sogar bei eigentlich legalen Handlungen. Diese als Chilling-Effekt bekannt Hypothese erhält nun neuen Auftrieb.
Wie Jon Penney vom Oxford Internet Institute der University of Oxford herausgefunden hat, brachen nach den Enthüllungen der NSA-Überwachungsmaßnahmen durch den Whistleblower Edward Snowden im Juni 2013 die Aufrufe potenziell suspekter Einträge auf Wikipedia massiv ein.

So stürzte entgegen dem allgemeinen Wachstumstrend die Zahl der Aufrufe von 48 terrorrelevanten Begriffen, nach denen das U.S. Department of Homeland Security (DHS) soziale Netzwerke dursucht (PDF, Seite 23) von 3 Millionen auf 2,2 Millionen im Monat, und damit zurück auf den niedrigsten Stand in einem Zeitraum von 16 Monaten.
Zu den Begriffen auf der Liste des DHS gehören etwa Autobombe, schmutzige Bombe, Dschihad, Taliban oder Al Kaida.
Penney untersuchte die dazu ähnlichsten Einträge in der englischen Version von Wikipedia. Nach den Enthüllungen und dem Absturz der Aufrufzahlen, setzte sich der Abwärtstrend zunächst fort. Zwischenzeitlich brachten es die Terrorbegriffe nur noch auf 2 Millionen Aufrufe im Monat. Nach 14 Monaten schließlich stabilisierten sich die Zahl auf 2,5 Millionen Aufrufe, also immer noch deutlich unter dem Vor-Snowden-Niveau.

Für eine genauere Analyse setzte Penney auf Crowdsourcing. Er ließ dazu die 48 Begriffe von Freiwilligen nach ihrem Verdachtspotenzial gewichten.
415  so genannte Mechanical Turks beauftragte Penney mit dieser Aufgabe. Mechanical Turks sind digitale Leiharbeiter, die gegen ein Honorar online Aufträge ausführen. Sie sollten die Begriffe aus der DHS-Liste danach bewerten, wie wahrscheinlich sie einem Nutzer Probleme mit Privatsphäre und Überwachung einbringen könnten.
Die Analyse der 31 Begriffe, die die Mechanical Turks als am bedrohlichsten eingeschätzt hatten, zeigte einen nochmals verschärften Effekt. Als Gegenprobe untersuchte Penney auch die Abrufzahlen für eine Liste von 25 sicherheitsrelevanten Begriffen (PDF, Seite 20), die das DHS unter dem Titel „DHS und andere Organisationen“ führt. Dazu gehören etwa Central Intelligence Agency (CIA), Federal Bureau of Investigation (FBI) oder Vereinte Nationen. Hier war nach den Enthüllungen zwar auch ein kleiner Einbruch zu sehen. Er war aber wesentlich geringer. Zudem setzte sich – anders als bei den Terrorbegriffen – danach der Wachstumstrend von vor dem NSA-Skandal fort.

Bereits letztes Jahr hatten die Ergebnisse einer Studie darauf hingewiesen, dass Suchanfragen für potenziell verdächtige Begriffe bei Google im Zuge des NSA-Skandals zurückgegangen waren. Die neue Studie von Penney liefert nun einen weiteren Beleg dafür, dass der Chilling-Effekt ganz praktische Konsequenzen für die Selbstbeschränkung von Menschen haben könnte. Überwachung würde demnach, unabhängig von ihrem eigentlichen Ziel und Erfolg, Kollateralschäden zeitigen, sobald die Öffentlichkeit von ihr erfährt, wie die „Washington Post“ es formuliert.
„Man möchte ja eigentlich gut informierte Bürger haben“, sagte Penney gegenüber der „Post“, „aber wenn die Menschen zu verängstigt oder abgeschreckt sind, sich über wichtige politische Angelegenheiten wie Terrorismus oder nationale Sicherheit zu informieren, ist das eine echte Bedrohung für eine angemessene demokratische Debatte.“

© Spektrum.de

Indiens Botschafter bestätigt: Krieg in Syrien wurde von aussen angezettelt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Im Interview mit den Deutschen Wirtschafts-Nachrichten ein Insider-Bericht:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2366
Auszüge:

Frieden benötigt auch Wahrheit

Ein aufschlussreicher Bericht des früheren Botschafters Indiens in Damaskus macht klar: Die Darstellung des Westens, der syrische Präsident Assad sollte durch einen Volksaufstand gestürzt werden, ist nicht haltbar. Der Krieg wurde von aussen angezettelt, unter anderem von den Golf-Staaten und der al-Kaida. Mit ihr arbeiteten die USA über den al-Nusra-Flügel zusammen. Assad hat die Gefahr unterschätzt – weil er wusste, dass sein Volk hinter ihm steht.

V. P. Haran diente von 2009 bis 2012 als Indiens Botschafter in Syrien. Er hat mit dem mehrfach preisgekrönten indischen Magazin Fountain Ink darüber gesprochen, wie Teile der Medien den Aufstand aufgebauscht haben, und darüber, dass es schon in den ersten Tagen des Konfliktes Anzeichen gab, dass al-Kaida mit im Spiel war.
Die Einschätzung des Botschafters bestätigt die Erkenntnisse des US-Journalisten Seymor Hersh, dass Assad im eigenen Volk keine militante Opposition zu fürchten hatte.

Deutsche Wirtschafts-Nachrichten: Wie war Syrien, als Sie im Januar 2009 dort ankamen?

V. P. Haran: Syrien war ein friedvolles Land, und es bestanden keine unterschwelligen Spannungen. Der syrischen Wirtschaft ging es gut, und die durchschnittliche Wachstumsrate lag bei mehr als 5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag bei etwa 8 Prozent, doch arbeitslose Syrer konnten Arbeit in den Golf-Staaten finden. Es gab jedoch eine hohe Quote an gebildeten Arbeitslosen.

Auch Syriens Auslandsschulden lagen bei komfortablen 12,5 Prozent des BIP. Ein Grossteil davon wurde Russland geschuldet, welches aber viele der Schulden abschrieb.
Das echte Problem war die Dürre im Nordosten, die zu einer massiven Umsiedlung in den Süden und den Südwesten geführt hatte.

Wie war das Leben in Damaskus?

Als Diplomat neigt man dazu, ein zurückgezogenes Leben zu führen, doch manchmal fuhr ich in die Innenstadt, manchmal mit dem Taxi, trank einen Tee im Café und sprach mit den Menschen. Das waren wundervolle Momente und wundervolle Tage. Die öffentliche Ordnung war nie ein Problem. Meine weiblichen Kollegen erzählten mir, sie könnten Schmuck tragen, morgens um zwei Uhr alleine nach Hause gehen und sich dabei sicher fühlen. In einigen Stadtteilen hatten Restaurants bis um fünf Uhr morgens geöffnet. Man hatte nie das Gefühl, dass es Ärger auf den Strassen geben würde. Manche sagen, das sei wegen des Muchabarat (des Militärgeheimdienstes), doch ich spürte, dass die Menschen sich für ihre kollektive Sicherheit verantwortlich fühlten.
Als ich Damaskus erreichte, wurde mir gesagt, jeder Zweite gehöre zum Muchabarat. Das ist massiv zu hoch eingeschätzt. Es gibt eine Geheimdienstabteilung, die intern sehr effizient funktioniert, aber ich hatte nie eine direkte Begegnung. In meinen vier Dienstjahren folgte man mir einmal in der Idlib-Provinz. Ein Jeep hat sich an uns angehängt, aber sie verhielten sich nicht einschüchternd.

Haben Sie den «arabischen Frühling» in Syrien vorhergesehen?

Als sich die Situation in Tunesien und Ägypten anspannte, trat Präsident Bashar al-Assad im Fernsehen auf und erklärte, dass die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Syrien anders seien. Er sagte, er sei zuversichtlich, dass Syrien nicht den gleichen Weg einschlagen werde. Das war auch die generelle Einschätzung der diplomatischen Gemeinschaft.
Bashar al-Assad war ein beliebter Staatschef, und das ist auch mit ein Grund, dass er noch immer an der Macht ist. Es gibt keine hinreichende interne Opposition, und viele der Probleme in Syrien sind ausländischer Herkunft, aus Quellen, die versuchen, sich eines unbequemen Regimes zu entledigen. 67 Prozent der gesamten arabischen Welt hatten ihn in einer Umfrage 2009 zur beliebtesten arabischen Person gewählt. Sogar die diplomatische Gemeinschaft war sich darüber einig, dass er die Unterstützung von etwa 80 Prozent der Einwohner Syriens hatte.
Auch westliche Diplomaten bestätigten das. Er hatte im Jahr 2000 Reformen begonnen, die er aber wegen der Opposition durch die Baath-Partei nicht zu Ende führte.
Auch ist das nicht einfach ein Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. Schauen Sie sich die Zahlen an. Es sind mehr als 50 Prozent sunnitische Muslime in Syrien. Die übrigen sind Kurden, Drusen, Maroniten, Assyrer, Alawiten und andere.
Bashar al-Assad hat die volle Unterstützung dieser Minderheiten und sogar ein grosser Anteil der sunnitischen Muslime unterstützt ihn. Doch bis zu dem Zeitpunkt, als ich das Land 2012 verliess, hatte sich Syrien sehr verändert. Während die ersten paar Jahre wie im Himmel waren, begannen sich die Dinge Anfang 2011 zu verschlechtern.

Können Sie sich an die ersten Proteste 2011 erinnern?

Ab Februar, als Bahrain Proteste erlebte, versuchten einige NGOs, Proteste in Damaskus zu organisieren. Zwei wurden über zwei Wochenenden organisiert, doch kaum 20 oder 30 Leute nahmen teil. Die Zahl der Journalisten und Mitglieder der diplomatischen Gemeinschaft war weitaus grösser als die der Demonstranten.
Dann kamen die Ereignisse des 18. März 2011, als Kinder an die Wände der Schule schrieben und es dann einen grossen Protest gab. In der darauffolgenden Woche kam es zu einem weiteren Protest in Latakia, und so etwas geschah dann an jedem weiteren Freitag.
Schon bald war es in Teilen von Latakia, Homs und Hama chaotisch, doch Aleppo blieb ruhig, was die Opposition sehr störte. Die Opposition konnte die Menschen von Aleppo nicht dazu bringen, gegen das Regime aufzustehen, also sandten sie Busladungen voller Leute nach Aleppo. Diese Leute verbrannten dann etwas auf den Strassen und gingen wieder. Journalisten berichteten dann davon und sagten, Aleppo habe sich aufgelehnt.
Dazu müssen ein paar Dinge gesagt werden: Ein Teil der Medien hat mit seinen negativen Darstellungen Syriens übertrieben. Manchmal wurde über Dinge berichtet, die nicht passiert sind. Beispielsweise sprach ich mit einem prominenten Scheich, als meine Kollegen mich völlig gestresst anriefen und sagten, der Scheich würde eine Rolle in den für den Nachmittag geplanten Protesten spielen. Aber das passierte überhaupt nicht. Denn tatsächlich sass ich in dem Moment ja mit ihm beim Mittagessen. Es gab eine Menge Übertreibungen durch die Medien.
Es gibt einen Vorgang, der heraussticht. In Idlib gab es zum harten Kern gehörende Sunniten, die nach Aleppo gegangen waren und Leute überredet hatten, der Opposition beizutreten. Menschen in Aleppo fingen an, sie zu schlagen und schickten sie fort. Die Masse war renitent geworden, und die Polizei musste kommen und sie unter Kontrolle bringen. Die Sunniten aus Idlib wurden von der ­Polizei in ein Haus gebracht und erhielten ihre Uniformen, damit sie entkommen konnten, ohne gelyncht zu werden.

Veränderte sich Damaskus sehr in dieser Zeit?

Ich kann mich an einen Vorfall am 14. April 2011 entsinnen, als ich meinen täglichen Spaziergang zum Stadion unternahm, das etwa zwei Kilometer entfernt lag. Auf dem Weg kam ich an der Bäckerei vorbei, an der ich immer vorbeikam, doch es gab eine lange Schlange vor der sonst wenig frequentierten Bäckerei. Auf dem Weg zurück war die Schlange noch immer da, und ich fragte nach. Die Leute deckten sich mit Brot ein, da sie gehört hatten, dass etwas passieren würde. Am nächsten Tag passierte nichts, obwohl es ein Freitag war.
Als die Situation sich in der zweiten Hälfte 2012 verschlimmerte, ersetzte ich meinen Spaziergang zum Stadion durch einen anderen rund um den Park im Mezzeh-Bezirk. Eines Tages kam ein Motorradfahrer mit hoher Geschwindigkeit und bog an einer Ecke ab, wo er den Motor auf Touren brachte. Kurze Zeit später folgte ein Jeep mit Sicherheitsleuten, doch er verpasste die Abzweigung, die das Motorrad genommen hatte. Nachdem sie das Motorrad nicht finden konnten, kamen sie in den Park und fragten die Menschen, ob sie gesehen hätten, was passiert war. Dann wurde uns gesagt, dass die Leute auf dem Motorrad Angriffe planen würden.
In Mezzeh, unweit des Bezirks, in dem die Diplomaten leben, gibt es ein Kaktusfeld, und Rebellen waren durch einen Tunnel hineingelangt. Sie hatten dort ein Lager aufgebaut, von dem aus sie Brandraketen auf das Büro des Premierministers schossen. Danach kamen die Sicherheitskräfte herein und zerstörten das Lager. Das war eine gezielte Operation. Ich sprach mit jemandem, der eine Wohnung mit freier Sicht hatte, und er sagte mir, dass sie ein Gebäude ins Visier genommen und komplett zerstört hatten. Ein riesiges Geheimlager mit Waffen und Munition wurde aus dem Gebäude geborgen.

Doch Teile des Landes blieben ruhig?

Die externen Hintermänner der Opposition konnten das nicht verdauen. Sie schickten eine Gruppe Leute an die syrisch-jordanische Grenze, wo sie zwei Sicherheitsposten überrannten. Sie brachten alle Leute dort um. Manche von ihnen wurden auf grausamste al-Kaida-Weise getötet. Die Regierung meldete das nicht unverzüglich, doch ein Mitglied der diplomatischen Gemeinschaft bestätigte, dass es al-Kaida aus dem Irak gewesen war. Es war offenkundig, dass al-Kaida aus dem Irak seit April 2011 in Syrien war.
Al-Kaida war dort von der ersten Woche an, und wenn nicht seit der ersten Woche, dann seit Ende 2011, als al-Kaida-Fahnen auftauchten. Es waren diese Gruppen, die die Opposition über die Grenzen weg unterstützten. In Raqqa kamen die Kämpfer aus dem Norden, und es war klar, dass es al-Kaida war.

Assad sagte, dass es von Anfang an Terroristen waren. Warum hat ihm keiner geglaubt?

Die Köpfe der Menschen waren nicht offen. Was für ein Interesse sollte al-Kaida im Irak daran haben, Chaos in Syrien zu schaffen?
Vieles davon wurde von aussen gelenkt, nämlich den Golf-Staaten. Al-Jazira spielte auch eine Rolle. Im April hatte ich einen Gast zum Amphitheater in Bosra geführt und danach nach Sweida, wozu ich die Autobahn zur jordanischen Grenze nehmen musste. Wir waren von 9.30–10.30 Uhr unterwegs. An diesem Tag wurde ein al-Jazira-Korrespondent gebeten, Syrien zu verlassen, und er reiste auf derselben Strasse. Der Korrespondent berichtete alle paar Sekunden von Checkpoints. Meine Botschaft rief mich in Panik an, weil sie dies im Fernsehen gesehen hatten. Ich sagte ihnen, ich hätte nur einen Checkpoint angetroffen.

Warum präsentierte die syrische Regierung keine besseren Beweise für die Anwesenheit von Terroristen?

Wir fragten sie, warum sie nicht aktiver in den Medien Stellung nahmen, und sie sagten, keiner glaube ihnen. Ihre PR und ihr Einsatz der Medien waren sehr schlecht. Andererseits gab es auch Ausschreitungen durch die Regierung. Syrien hat sehr ungenügende Polizeikräfte. Als nun die Probleme begannen, war die Regierung gezwungen, Sicherheitskräfte einzustellen, um mit den Problemen fertig zu werden, die sonst von der Polizei bewältigt werden.
Einige aus der Armee begingen auch Übergriffe, und die Regierung stellte einige von ihnen unter Hausarrest oder sperrte sie ins Gefängnis, doch sie machten das nicht publik.
Bashar al-Assad war nicht nur langsam darin, Reformen zu erlassen, sondern auch langsam darin, Veränderungen, die gemacht wurden, bekanntzugeben. Als er zum Beispiel die Reform erliess, die die Vorrangstellung der Baath-Partei einschränkte, erfuhr man davon erst nach drei Monaten. Ihre PR war nicht weise. Sie haben die Krise nicht gut bewältigt. •

Quelle: Deutsche Wirtschafts-Nachrichten vom 16.1.2016

(Übersetzung Deutsche Wirtschafts-Nachrichten und Zeit-Fragen)

Eine ausführliche und tiefer gehende Analyse findet ihr hier in AUSDRUCK (Februar 2016):
http://www.imi-online.de/2016/02/02/die-polit-oekonomische-dimension-des-syrien-krieges/
Da steht vieles drin, was mir noch unbekannt war. So gab es z.B. in Hama 1982 schon einen Aufstand, der mit der Zerstörung der Stadt durch die Armee beendet wurde. Im Westen ist das ohne große Beachtung geblieben, man brauchte Syrien damals noch als potentiellen Bündnispartner.

Quelle. Perthes: The Political Economy of Syria Under Asad

Jochen

Himmlischer Segen: Wie die IS-Revolution stark gebombt wird.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein sehr lesenswerter Artikel aus den USA, hier auf Deutsch:IPGlogo
http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/religion-und-politik/artikel/detail/himmlischer-segen-1177/
Dazu wäre noch anzumerken:
Es fehlt völlig der Gesichtspunkt, den IS von seinen Finanzierungsquellen abzuschneiden, die in Gestalt von Öl-, Waffen-, und Menschenhandel über die Türkei, Saudi-Arabien, Qatar u.a. sprudeln.
Es fehlt auch der Gesichtspunkt, dass weder die USA noch die türkische Regierung den IS völlig vernichten wollen, weil sie dessen Bedrohungspotential gegen die rechtmäßig gewählte Regierung Syriens einerseits, gegen die Kurden andererseits noch brauchen. Aus diesem Grund lassen beide auch einen kontinuierlichen Strom von Waffen in das Krisengebiet zu.

Die seitens der UN unterstützten diplomatischen Konfliktbeilegungsversuche unter Einschluss der Regierung Syriens wurden seitens der NATO und Saudi-Arabien untergraben. Um so zynischer und verlogener sind nun die „Bemühungen“ der deutschen Regierung um eine „diplomatische Lösung“.

Die Parallelen zwischen der islamistischen „Revolution“ und denen in Frankreich, Russland, China und Kuba kann nur jemand ziehen, der von der materialistischen bewegungskraft der Geschichte nun wirklich völlig unbeleckt und weltfremd ist, wie leider die Mehrzahl der US-Intellektuellen.

Und hier auszugsweise der Artikel:

Die brutale Taktik und der religiöse Extremismus des sogenannten Islamischen Staates (IS) wirken auf den Betrachter schockierend und brandgefährlich. Den Aussagen ihrer Anführer zufolge will die Gruppe Ungläubige eliminieren, weltweit die Scharia einführen und die Wiederkehr des Propheten beschleunigen. Die Fußsoldaten des Islamischen Staates verfolgen diese Ziele mit erstaunlicher Grausamkeit.
Doch anders als die ursprüngliche Al-Kaida, die sich wenig für die Kontrolle von Gebieten interessierte, versucht der IS in den von ihm besetzten Gebieten auch die Grundlagen für einen echten Staat zu legen. Er hat eine klare Zuständigkeitshierarchie ebenso eingerichtet wie ein Steuer- und Bildungssystem und einen ausgeklügelten Propagandaapparat. Der IS mag sich selbst als »Kalifat« bezeichnen und das derzeitige internationale Staatensystem ablehnen, aber seine Führer haben genau das im Sinn: einen Territorialstaat.

Doch der Islamische Staat ist beileibe nicht die erste extremistische Bewegung, die einen Hang zur Gewalt mit vollmundige Zielen und Gebietskontrolle verbindet. Ungeachtet der religiösen Dimension ist die Gruppe nur die jüngste in einer langen Reihe staatenbildender Revolutionäre und ähnelt in verblüffender Weise den Regimes, die aus den Revolutionen in Frankreich, Russland, China, Kuba, Kambodscha und dem Iran hervorgingen. Diese Bewegungen standen vorherrschenden internationalen Normen ebenso ablehnend gegenüber wie der Islamische Staat heute, und auch sie setzten skrupellos Gewalt ein, um ihre Gegner auszuschalten oder einzuschüchtern und der Welt ihre Macht zu demonstrieren.

Bei der Betrachtung des Islamischen Staats wirkt der Blick auf frühere Episoden durchaus beruhigend. Sie zeigen, dass Revolutionen nur dann eine ernsthafte Gefahr darstellen, wenn sie sich in Großmächten vollziehen, da nur Großmächte in der Lage sind, ihre revolutionären Prinzipien zu verbreiten. Der Islamische Staat wird nicht einmal annähernd zu einer Großmacht aufsteigen, und obwohl er, genau wie frühere Revolutionen auch, Sympathisanten im Ausland gewonnen hat, ist seine Ideologie zu eng, seine Macht zu begrenzt, als dass ihm außerhalb Iraks und Syriens eine ähnliche Machtübernahme gelingen könnte.

Die Geschichte lehrt uns auch, dass Bemühungen von außen, einen revolutionären Staat zu stürzen, oft nach hinten losgehen, weil sie die Hardliner stärken und ihnen zusätzliche Chancen für eine Expansion eröffnen. Die aktuellen Bemühungen der USA, den Islamischen Staat, wie die Regierung Obama es ausdrückt, zu »erodieren und letztlich zu zerstören«, könnte das Ansehen der Extremisten heben und ihre Darstellung vom islamfeindlichen Westen sowie ihre Selbststilisierung als eiserne Verfechter des Islam stärken. Besser wäre es, wenn die USA im Hintergrund geduldig abwarteten, dass Akteure in der Region der Gruppe Einhalt gebieten. Für diesen Ansatz muss man den Islamischen Staat als das nehmen, was er ist: eine kleine und schlecht ausgestattete revolutionäre Bewegung, die zu schwach ist, als dass sie die Sicherheit ernsthaft bedrohen könnte, sieht man einmal von der Sicherheit der unglücklichen Menschen ab, die unter ihrem Machteinfluss leben.

Wenn Extremisten die Macht übernehmen

Weil Revolutionäre in brutalen Kämpfen gigantische Hindernisse zu überwinden haben, brauchen ihre Anführer reichlich Glück, um ein Regime zu stürzen und anschließend ihre Macht zu konsolidieren. Sie müssen zudem ihre Anhänger dazu bringen, dass sie sich in große Gefahr begeben und ihre natürliche Neigung überwinden, andere für die Sache kämpfen und sterben zu lassen.

Revolutionäre Bewegungen bedienen sich meist einer Kombination aus Verführung, Einschüchterung und Indoktrination, um Gehorsam durchzusetzen und die Opferbereitschaft zu heben, genau wie es der Islamische Staat gerade tut. Insbesondere liefern sie Ideologien, mit denen sie ihre extremen Methoden rechtfertigen und ihren Anhängern versichern, dass ihre Opfer Früchte tragen werden. Die spezifischen Inhalte dieser Ideologien variieren, doch immer geht es darum, die Anhänger davon zu überzeugen, dass die bestehende Ordnung ersetzt werden muss und ihr Kampf am Ende zum Erfolg führt. Revolutionäre Ideologien tun dies auf dreierlei Weise.

Erstens werden die Gegner als bösartig, feindlich und reformunfähig dargestellt. Weil Kompromisse unmöglich sind, muss die alte Ordnung zerstört und ersetzt werden. Der Islamische Staat ist da nicht anders. Seine Anführer und Ideologen stellen den Westen als von Natur aus feindselig dar, bestehende arabische und muslimische Regierungen als ketzerisch und mit der wahren Natur des Islam unvereinbar. Kompromisse mit solchen Ungläubigen und Abtrünnigen seien sinnlos. Sie müssten beseitigt und von Anführern ersetzt werden, die die wahren islamischen Prinzipien, wie vom IS definiert, anwenden.

Zweitens predigen revolutionäre Organisationen, der Sieg sei gewiss, solange die Anhänger gehorsam und standfest blieben. Lenin erklärte, der Kapitalismus sei wegen seiner inneren Widersprüche zum Untergang verdammt, und Mao bezeichnete Imperialisten als »Papiertiger«; beide führten ihren Anhängern so den sicheren Triumph der Revolution vor Augen. Der derzeitige Anführer des Islamischen Staats, Abu Bakr al-Baghdadi, gab im November 2014 eine ähnlich optimistische Einschätzung ab. »Eurem Staat geht es gut, er ist in bester Verfassung. Sein Vormarsch wird sich fortsetzen«, sagte er seinem Publikum.

Drittens betrachten die Anführer revolutionärer Bewegungen ihr Modell als universell anwendbar. Wenn sie den Sieg davongetragen haben, versprechen sie ihren Anhängern, wird die Revolution Millionen befreien, eine bessere Welt schaffen und einen gottgegeben Plan erfüllen. Französische Radikale forderten in den 1790er Jahren »einen Kreuzzug« für die universelle Freiheit, und Marxisten-Leninisten glaubten, die Weltrevolution werde eine friedliche klassenlose und staatenlose Gemeinschaft hervorbringen. Auch Khomeini und seine Anhänger sahen in der Revolution im Iran den ersten Schritt hin zur Abschaffung des »unislamischen« Nationalstaatssystems und zur Etablierung einer globalen islamischen Gemeinschaft.

De Anführer des Islamischen Staats glauben, dass ihre fundamentalistische Botschaft für die gesamte muslimische Welt und darüber hinaus Geltung hat. Seine Bewegung werde eines Tages »die Kaukasier, Inder, Chinesen, Syrer, Iraker, Jemeniten, Ägypter, Nordafrikaner, Amerikaner, Franzosen, Deutschen und Australier« einen, erklärte Baghdadi im Juli 2014. Der IS verbreitet seine Botschaft im Ausland über soziale Netzwerke und bekennt sich bereitwillig zu Gewaltakten, die in fernen Ländern begangen wurden. Dieser Anspruch auf universelle Geltung ist einer der Hauptgründe, warum die Gruppe bei Ausländern Anklang findet und die Regierungen sie mit solcher Sorge betrachten.

Revolution und Krieg

Beobachter fürchten zu Recht, dass sich der revolutionäre Staat ausdehnen könnte. Revolutionsführer halten es meist für ihre Pflicht, ihre Bewegung zu exportieren, weil sie auf die Art am besten zu erhalten sei – eine Vorstellung, die sich im Leitspruch des Islamischen Staates »bleiben und ausweiten« (baqiya wa tatamaddad) widerspiegelt.
Es überrascht daher nicht, dass Nachbarn revolutionärer Staaten meist Präventivmaßnahmen ergreifen, um das neue Regime zu schwächen oder zu stürzen.
Eine Spirale aus Misstrauen und eine erhöhte Kriegsgefahr sind die Folgen.

Paradoxerweise können die Ungewissheiten, die mit den meisten Revolutionen einhergehen, dem neuen Staat das Überleben sogar sichern. Weil ausländische Mächte nicht genau wissen, wie einflussreich oder zugkräftig die Revolution sein wird, können sie nur schwer entscheiden, was gefährlicher ist: die Revolution selbst oder die Möglichkeit, dass Dritte das sich daraus ergebende Chaos nutzen und ihre eigene Position stärken.
Die Revolution in Frankreich überlebte zum Teil nur deshalb, weil feindliche Monarchien einander misstrauten und zunächst stärker an Gebietszugewinnen interessiert waren als daran, Louis XVI. wieder auf den Thron zu bringen.
Ähnliches geschah in Russland: Uneinigkeit unter den wichtigsten Mächten und die Ungewissheit darüber, was die Bolschewiken langfristig vorhatten, behinderten einen koordinierten Kampf gegen die Revolution und halfen Lenin und seinen Anhängern nach 1917, an der Macht zu bleiben.

Wie bei früheren revolutionären Bewegungen auch wurden Versuche, den Islamischen Staat zu besiegen, durch die widersprüchlichen Ziele seiner Gegner untergraben. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch der Iran wünschen sich das Ende des Islamischen Staats, doch kein Land will dem anderen mehr Einfluss im Irak verschaffen. Auch die Türkei betrachtet den IS als Bedrohung, lehnt aber das Assad-Regime in Syrien ab und stellt sich gegen jede Aktion, die den kurdischen Nationalismus stärken könnte.
Saudi-Arabien wiederum betrachtet die fundamentalistische Ideologie des Islamischen Staates als Bedrohung für seine eigene Legitimität, fürchtet aber den iranischen und schiitischen Einfluss gleichermaßen, wenn nicht noch mehr. Die Folge ist, dass keines dieser Länder dem Sieg über den Islamischen Staat oberste Priorität einräumt.

Ungeachtet seines Hangs zur Gewalt und der sexuellen Versklavung ist am Islamischen Staat kaum etwas neu. In seinen grundlegenden Merkmalen und seiner Wirkung ist der IS früheren revolutionären Staaten erstaunlich ähnlich. Wir haben diesen Film schon oft gesehen. Aber wie geht er aus?

Die Revolution wird sich nicht ausbreiten

Revolutionen können sich auf zwei Arten verbreiten. Mächtige revolutionäre Staaten setzen auf Eroberung: In den 1790er Jahren führte Frankreich Krieg gegen Monarchien in ganz Europa, und nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Sowjetunion Osteuropa. Schwächere revolutionäre Staaten dagegen müssen darauf hoffen, dass sie mit ihrem Vorbild andere mitreißen. Nordkorea unter der Familie Kim, Kuba unter Fidel Castro, Äthiopien unter der sogenannten Derg, Kambodscha unter den Roten Khmer, Nicaragua unter den Sandinisten – sie alle verfügten nicht über die Macht, ihr Modell mit Waffengewalt zu verbreiten.

Das gilt auch für den Islamischen Staat. Die Sowjetunion konnte Osteuropa den Kommunismus mithilfe der mächtigen Roten Armee aufzwängen, wohingegen der Islamische Staat dem US-Militärgeheimdienst zufolge rund 30 000 verlässliche Kämpfer und kein militärisches Leistungsvermögen für die Machtprojektion hat. Auch wenn Panikmacher davor warnen, dass der Islamische Staat heute ein Gebiet kontrolliert, das größer ist als das Vereinigte Königreich, so besteht es doch überwiegend aus unbewohnter Wüste. Das Gebiet des IS produziert jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 4 bis 6 Milliarden Dollar; damit liegt das Bruttosozialprodukt des Islamischen Staats auf dem Niveau von Barbados. Die jährlichen Staatseinnahmen betragen etwa 500 Millionen Dollar – das entspricht etwa einem Zehntel des Jahresbudgets der Universität Harvard –, und das mit abnehmender Tendenz. Der Islamische Staat ist von einer Großmacht weit entfernt, und angesichts der kleinen Bevölkerungszahl und der unterentwickelten Wirtschaft wird er auch nie eine werden.

Ebenso wenig wird er sich durch Ansteckung ausbreiten. Auch nur eine schwache Regierung zu stürzen, ist ein schwieriges Unterfangen, das revolutionären Bewegungen nur sehr selten gelingt. Es brauchte zwei Weltkriege, um die Marxisten in Russland und China an die Macht zu bringen, und der Erfolg des Islamischen Staats beruht bislang auf für ihn glücklichen Umständen: Die Vereinigten Staaten marschierten törichterweise in den Irak ein, der irakische Premierminister Nuri al-Maliki spaltete das Land, und Syrien versank in einem Bürgerkrieg. Sofern der Islamische Staat nicht auch weiter viel Glück hat, wird er sich schwer tun, seinen Aufstieg in anderen Ländern zu wiederholen. Auch seine Ideologie setzt seinem Wachstum enge Grenzen.

Die Anführer der Gruppe mögen ihre Vision eines neuen Kalifats für unwiderstehlich halten, doch steht zu bezweifeln, dass sie damit genügend Herzen und Köpfe gewinnen werden. Das in der Amerikanischen und Französischen Revolution verkörperte Ideal von Freiheit und Gleichheit hat sich in der Welt verbreitet, und die kommunistische Vision eines klassenlosen Utopia hat Millionen verarmter Arbeiter und Bauern mitgerissen. Die puritanische Botschaft des Islamischen Staats und seine brutalen Methoden breiten sich dagegen nicht so leicht aus, und der Entwurf eines expansiven Kalifats beißt sich mit den starken nationalen, religiösen und ethnischen Identitäten im Nahen Osten.
Auch über Twitter, YouTube oder Instagram wird die Kernbotschaft für die meisten Muslime nicht schmackhafter, zumal, wenn der Neuheitseffekt nachlässt und potenzielle Rekruten erfahren, wie es sich im Islamischen Staat tatsächlich lebt. Und eine Version des Islam, die schon der großen Mehrheit der Muslime ein Gräuel ist, wird bei Nicht-Muslimen schon gar keine nennenswerte Anhängerschaft finden. Wer versuchte, ein revolutionäres Credo zu erfinden, dem jede universelle Anziehungskraft abgeht, täte sich schwer, die harte und begrenzte Weltsicht des Islamischen Staates zu übertrumpfen.

Und sollte es schließlich einer IS-ähnlichen Bewegung gelingen, außerhalb Iraks und Syriens an die Macht zu kommen – im chaotischen Libyen könnte das durchaus geschehen –, würden die Anführer dieser Gruppe ihre eigenen Interessen verfolgen, statt sklavisch Baghdadis Befehlen zu gehorchen.
Außenstehende nehmen radikale Gruppen oft als monolithisch wahr – besonders, wenn sie die Rhetorik der Revolutionäre allzu ernst nehmen –, doch solche Bewegungen sind bekanntermaßen anfällig für interne Machtkämpfe. Tiefe Gräben trennten die Girondins und die Jakobiner, die Bolschewiki und die Menschewiki, die Stalinisten und die Trotzkisten, Chruschtschow und Mao. Da der Islamische Staat dazu neigt, schon geringen Widerspruch als ketzerischen Akt zu behandeln, auf den die Todesstrafe steht, sind solche Streitigkeiten unvermeidbar. Sie haben sogar schon ernsthafte Auseinandersetzungen mit Al-Kaida und anderen extremistischen Gruppen nach sich gezogen.

Abwarten und Tee trinken

Nur weil der Islamische Staat sein langfristiges Ziel unweigerlich verfehlen wird, heißt das jedoch nicht, dass sich die Gruppe leicht beseitigen ließe. Ein Blick in die Geschichte zeigt vielmehr, dass der Versuch, solche Bewegungen mit militärischen Mitteln zu zerstören, leicht nach hinten losgehen kann. Die Intervention durch Österreich und Preußen radikalisierte die Französische Revolution, und die Invasion der Iraker im Iran im Jahr 1980 erlaubte Khomeini und seinen Anhängern eine »Säuberung« unter moderaten Kräften der Islamischen Republik. Lenin, Stalin und Mao nutzten Bedrohungen von außen, um Unterstützung zu mobilisieren und ihre Macht zu konsolidieren, und sowohl die russische als auch die chinesische Revolution überlebten mehrere Versuche von außen, sie zunichte zu machen.
Aggressive Versuche, den Islamischen Staat zu zerstören, könnten sein Überleben sichern, besonders dann, wenn die Vereinigten Staaten sich an die Spitze dieser Bemühungen setzen.

Damit bleibt als beste Lösung die geduldige Containment-Politik. Mit der Zeit könnte die Bewegung an ihren eigenen Exzessen und inneren Spaltungen zu Grunde gehen. Siege, die der IS tatsächlich davonträgt, werden heftigere Gegenreaktionen von Seiten der Nachbarn provozieren.

Washington sollte zur Unterstützung solcher Anstrengungen Geheimdienstinformationen, Waffen und Militärausbildung bereitstellen, jedoch seine Rolle so klein wie möglich halten und klarstellen, dass es in erster Linie an den Streitkräften der Region ist, dem Islamischen Staat Einhalt zu gebieten. Die US-Luftwaffe sollte daher ausschließlich dafür eingesetzt werden, eine Ausdehnung des IS zu verhindern.
Der Versuch, den Islamischen Staat mit Bombenangriffen zu unterwerfen, wird unweigerlich unschuldige Zivilisten das Leben kosten und antiamerikanische Gefühle ebenso stärken wie die Popularität des Islamischen Staates.

Die politischen Entscheidungsträger in den USA sollten eines bedenken: Je intensiver sich die Vereinigten Staaten für die Eindämmung des Islamischen Staates engagieren, desto stärker hetzt die IS-Propaganda gegen westliche Kreuzritter und ihre angeblich ketzerischen muslimischen Verbündeten.
Was die verschiedenen muslimischen Glaubensrichtungen angeht, so würden die Vereinigten Staaten mit dem Versuch, einmal mehr unter hohen Kosten die irakischen Sicherheitskräfte aufzubauen, als Komplizen der anti-sunnitischen Politik dastehen, die dem IS erst zu seiner Popularität verhalf; die Sunniten im Irak und in Ostsyrien würden in ihrer Loyalität zum IS bestärkt.

Eine US-geführte Militärkampagne gegen den Islamischen Staat erhöht zudem das Risiko, dass der Zuspruch für ihn wächst: Wenn das mächtigste Land der Welt die Gruppe dauernd als ernsthafte Bedrohung darstellt, dann gewinnt die Selbstdarstellung des IS als standhaftester Verfechter des Islam an Glaubwürdigkeit.
Statt die Bedrohung zu dramatisieren und der IS-Propaganda in die Hände zu spielen, sollten die politischen Entscheidungsträger in den Vereinigten Staaten die Gruppe als ein eher nebensächliches Problem behandeln, das für die USA nicht oberste Priorität hat.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version eines Foreign Affairs Artikels.

Von: Stephen M. Walt
Veröffentlicht am 30.11.2015
Jochen

Das Ende der Arroganz: Die „Realpolitik“ des Westens ist gescheitert

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es folgen nun in den nächsten Tagen einige längere Beiträge zur aktuellen Vorbereitung eines völkerrechtswidrigen*) Angriffskrieges durch die Bundesregierung gegen das Land Syrien.
Ich möchte die Sachkundigen unter Euch auch dazu auffordern, darüber nachzudenken, ob das eine Strafanzeige gegen die Verantwortlichen Merkel, v.d.Leyen und Steinmeier sowie eine Anzeige beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag nach sich ziehen sollte.
Hier zunächst ein nachdenklicher, grundsätzlicher Artikel aus der „Zeit„, der für den Autor eine bisher ungewohnte Nachdenklichkeit ankündigt – bis auf den obligatorischen Tritt nach Putin am Ende des Artikels. So ein Kotau wirkt wie in der DDR das Marx-Zitat zur Überwindung der Zensur.
Dort auch lesenswerte Kommentare:
http://www.zeit.de/2015/47/muslime-islam-westen-umgang/komplettansicht
Auszüge:

Kolonialismus, Interventionen, Krieg gegen den Terror: Die „Realpolitik“ des Westens ist gescheitert. Wir müssen unser Verhältnis zu den Muslimen grundlegend ändern.

Von Bernd Ulrich
Der Westen ist traurig und verzweifelt über die Toten von Paris und zeigt es auch. Das ehrt ihn, das ehrt uns.
Der Westen ist auch traurig und verzweifelt darüber, dass er nicht weiß, was er nun tun soll. Das zeigt er nicht, sondern versteckt sich hinter martialischen Gesten.
Das ehrt ihn nicht, und es ist gefährlich.

Aus Angst Krieg?

Die Rede ist von Krieg. Aber führen Europäer und Amerikaner nicht schon seit vierzehn Jahren ununterbrochen Krieg im Mittleren Osten?
Hat die französische Luftwaffe nicht auch vor dem 13. November schon Bomben geworfen?

Nun soll es ein neues Bündnis mit Russland gegen den IS geben. Aber kämpfen die Russen nicht bereits in Syrien? Und wenn sie bisher nicht gegen den IS, sondern ausschließlich für Assad kämpfen, warum sollten sie das nun ändern?

Der französische Präsident will fortan „gnadenlos“ die Terroristen jagen, man kann das verstehen, er ist wütend, und er meint jetzt, Härte zeigen zu müssen. Aber hat Frankreich, hat der Westen irgendwann zu viel Gnade walten lassen in Nordafrika? Sind die Invasionen in Afghanistan und im Irak oder die Intervention in Libyen im Chaos geendet, weil der Westen zu rücksichtsvoll war?

Anders als der Westen hat der IS einen Plan: Er will Europäer, Amerikaner und neuerdings auch Russen zu möglichst massiven Gegenschlägen provozieren, sie alle so tief wie es irgend geht hineinziehen ins Chaos; der IS giert danach, aus der Luft attackiert zu werden, weil er um die Kollateralschäden weiß, die dann entstehen. Und er weiß, dass jeder Kollateralschaden sein Kollateralnutzen ist. Bomben töten Terroristen – und schaffen neue.
In dieser Woche berichtete der Guardian, dass amerikanische Drohnen in Pakistan oft mehr als zwanzig Mal so viele Menschen töten wie beabsichtigt.

Wenn aber der IS Luftschläge will, wieso sollen dann Luftschläge gegen den IS helfen?

Kurz nach den Attentaten von Paris saß der Westen beim G-20-Gipfel in Antalya zusammen mit dem islamistischen Regime aus Saudi-Arabien, um gemeinsam mit ihm den islamistischen Terror zu bekämpfen. Man kann so etwas Verqueres natürlich versuchen, Islamisten mit Islamisten zu bekämpfen. Allerdings, man probiert es jetzt schon seit Jahrzehnten. Herausgekommen ist erst Al-Kaida, mit dem Saudi Osama bin Laden an der Spitze. Und dann der aus saudischen Quellen mitgenährte „Islamische Staat“.
Die Brookings Institution hat in diesem Jahr die Zahl der twitternden Unterstützer des IS gezählt. Ergebnis: Die mit sehr weitem Abstand meisten Anhänger des IS kommen aus: Saudi-Arabien.

Wie oft will man noch probieren, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben?

Vierzehn Jahre Krieg gegen den Terror – und was ist herausgekommen? Mehr Krieg, mehr Chaos, mehr Terror.
Wo vorher Al-Kaida war, ist nun der noch mächtigere und brutalere IS. Wo vorher Staaten Terroristen beherbergten, zerstören Terroristen nun Staaten.
Außerdem gibt es jetzt etwas, das es vor Beginn dieses gloriosen Kampfes gegen den Terror so nicht gegeben hat: Abermillionen Flüchtlinge, die nach Europa wollen.

Und nun alles noch einmal? Wie von Sinnen versucht der Westen erneut, mit dem Vorschlaghammer ein Ei zu pellen.

Wäre es nicht vielmehr an der Zeit, die westliche Strategie im Mittleren Osten, ja unser ganzes Verhalten gegenüber der islamischen Welt einmal gründlich auf den Prüfstand zu stellen?
Und sich die tief beunruhigende Frage zu stellen, warum so viele Muslime sich vom Westen verletzt und gedemütigt fühlen und warum es für den Terrorismus infolgedessen ein offenbar unerschöpfliches Reservoir an Menschen gibt?

Ist eine westliche Realpolitik auch nur Ideologie?

Man sollte sich nämlich keinen Illusionen hingeben. Selbst wenn es gelingen sollte, die Lage in Syrien etwas zu beruhigen und den IS ein wenig zurückzudrängen – noch hat die arabisch-islamische Welt den Höhepunkt ihrer destruktiven Entwicklung nicht erreicht.
Algerien beispielsweise, das heute vom greisen Abdelaziz Bouteflika regiert wird, könnte jederzeit ins Chaos stürzen, wenn der Diktator stirbt.
Auch Saudi-Arabien ist alles andere als stabil, nicht nur, weil der Ölpreis im Keller ist. Der kostspielige Krieg, den die islamistische Diktatur im Jemen führt, hat in Riad schon jetzt schwere Machtkämpfe zur Folge. Wie lange hält dieses Regime noch? Zwei Jahre? Fünf?

Es kann also noch viel schlimmer kommen.

Ob es so kommt oder ob eine Wende in dieser Region möglich ist, hängt gewiss nicht allein von Amerikanern und Europäern ab. Jedoch tragen sie viel dazu bei, so oder so. Darum lohnt es sich, eine ehrliche Bilanz der westlichen Politik im Mittleren Osten zu ziehen. Und zu überlegen, wie ein ganz neuer Ansatz im Verhältnis zu den Muslimen aussehen könnte. Beginnen wir mit der Kritik.

„Too big to learn“ – Realpolitik als Ideologie

So fest stecken Amerikaner und Europäer in der Ideologie einer vermeintlichen „Realpolitik“, dass sie die Realität oft nicht mehr sehen. Generationen von Politikern und Journalisten wurden durch diese Denkschule geprägt; wird sie nun nicht überwunden, droht der Kampf gegen den Terror ebenso zu misslingen wie die viel beschworene Bekämpfung der Fluchtursachen.

Ist Realpolitik eine Ideologie? Es gibt natürlich echte, gute Realpolitik, die vom Ende her denkt, die zwar an den eigenen Werten orientiert ist, sich davon aber nicht wegtragen lässt, die genau hinschaut, die sorgsam ihre Mittel wägt, die das Gutgemeinte nicht schon für das Gutgemachte hält. Eine solche Realpolitik kam jedoch im Mittleren Osten so gut wie nie zur Anwendung. Stattdessen mutierte die „Realpolitik“ des Westens dort zu einer gefährlichen Ideologie.

Wichtigstes Kennzeichen einer Ideologie ist nach der Definition von Karl Popper, dass sie nicht falsifizierbar, also nicht widerlegbar ist.
Tatsächlich arbeitet die westliche „Realpolitik“ im Mittleren Osten mit Hypothesen und Methoden, die bei ihrer Anwendung auf die Araber und Perser niemals widerlegt werden konnten. Dafür waren die Kräfteverhältnisse immer zu ungleich. Fehler von Briten, Franzosen oder Amerikanern wurden nie wirklich bestraft, vielmehr konnten sie stets durch neue, noch größere Fehler, durch Ins-gegenteilige-Extrem-Umschlagen, durch noch imposantere Interventionen zum Verschwinden gebracht werden.

Beispiel Afghanistan: Mitte der achtziger Jahre haben die Amerikaner dort die sogenannten Mudschahedin aufgerüstet, auf dass sie gegen die sowjetische Besatzung kämpften. Dann, nach dem Untergang des Sowjetreiches, überließ man sie ihrem Schicksal. Die schwer bewaffneten Mudschahedin errichteten daraufhin eine Gangster-Herrschaft ohne jede politische oder religiöse Legitimation.
So lange, bis die Taliban große Teile Afghanistans eroberten und schließlich Al-Kaida die Chance gaben, von dort aus die Angriffe auf das World Trade Center vorzubereiten, weswegen der Westen mit einem gigantischen Militärbündnis einmarschierte.
Westliche Soldaten stehen heute noch da – aber die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Lerneffekt: null.

Beispiel Irak: Anfang der achtziger Jahre rüsteten die Amerikaner Saddam Hussein auf, damit er gegen den Iran Krieg führen konnte, wo die bärtigen Ajatollahs die Macht übernommen hatten. Den Krieg hat er dann weder gewonnen noch verloren, aber er kostete ungeheuer viel Geld, weswegen er sich das kleine, ölreiche Kuwait einverleibte, woraufhin die USA in ihren ersten Irakkrieg zogen, Saddam aus Kuwait hinauswarfen, ihn aber an der Macht ließen. Später, im Jahre 2003, marschierten sie – aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird – erneut und mit noch größerer Militärmacht ein, um ihren in Ungnade gefallenen Verbündeten zu stürzen.

Fehler werden also nicht korrigiert, sie werden ins Quadrat gesetzt. Westliche „Realpolitik“ im Mittleren Osten funktioniert nach dem Motto: Warum falsifizieren, wo man auch eskalieren kann.

Nur die Geste zählt – Realitätsverlust der „Realpolitik“

Weil die „Realpolitik“ des Westens über so immense Mittel verfügt, muss sie sich um die Realität nicht wirklich kümmern, sie kann sie ja jederzeit auch zusammenschießen, wegputschen, aufkaufen oder ihr einfach den Rücken kehren. Das ist aber nur ein Grund für den häufigen Realitätsverlust der „Realpolitik“.
Der andere liegt in der wirkungsvollsten Pose. Denn in Wahrheit fühlt sie sich nicht da besonders stark, wo sie akribisch und geduldig die Gegebenheiten eines Landes und ihrer Menschen studiert hat, um hernach etwas zu tun, was zwar den westlichen Werten und Prinzipien ein klein wenig widerspricht, aber der Sache und den eigenen Interessen dient.

Ein mörderisches Pilotspiel des Westens

Oft ist es umgekehrt: Nicht die Nähe zur Realität gibt der „Realpolitik“ ihre Gewissheit, sondern die Entfernung von den eigenen Werten und Regeln. Je weiter weg von den Idealen, so der Fehlschluss, desto näher am Realen. Das wiederum liegt am männlichen Gestus der „Realpolitik“, die, wenn es ernst wird, immer signalisiert: Pfaffen und Weiber bitte mal weggucken, jetzt kommen die wirklich harten Jungs und regeln die Sache.
Das ist magisches Denken. Natürlich regeln sie meistens nichts.

Hier liegt eine wichtige Weisheit: Wer sich von den eigenen Werten allzu weit entfernt – und zugleich an den Belangen der betroffenen Araber und Perser chronisch desinteressiert ist –, der verliert den Sinn für Wirklichkeit und Verhältnismäßigkeit.
Was eigentlich nicht verwundern sollte, weil unsere Werte und Ideale schließlich nicht auf einem Kindergeburtstag ersonnen wurden, sondern das Produkt jahrhundertelangen Kämpfens, Nachdenkens, Probierens und Verwerfens sind, sie stellen die Lehre dar, die wir aus Millionen Litern sinnlos vergossenen Blutes destilliert haben.

Wie viele Tote für wie viel Öl? – Die „Realpolitik“ als Pilotspiel**)

Fehlende Verhältnismäßigkeit sowie die Gewohnheit, Fehler unter noch größeren Fehlern zu begraben, haben aus der „Realpolitik“ im Mittleren Osten ein Pilotspiel gemacht. Nehmen wir hier nur einige Stränge heraus, die verdeutlichen, wie dieses Spiel funktioniert und wieso es in seine Schlussphase eingetreten ist.

Von Afghanistan war schon die Rede, wo in einer für das Agieren des Westens typischen Mischung aus Interventionismus und Gleichgültigkeit ein immer größerer Mitteleinsatz nötig wurde, um die Fehler aus der je letzten Runde zu beseitigen. Auch der Irak stellt, wie gesehen, ein solches Beispiel dar.

Besonders eklatant ist jedoch, was der Westen im Iran angerichtet hat. Im August 1953 wurde die demokratisch gesonnene Regierung unter dem Premier Mossadegh vom amerikanischen und britischen Geheimdienst gestürzt. Der Grund: Er wollte für die Iraner einen höheren Anteil am Gewinn aus den Ölfeldern erzielen.
Im Interesse westlicher Ölkonzerne wurde daraufhin Mohammed Reza Pahlevi an die Macht geputscht. Der wurde Schah genannt, war aber einfach ein säkularer Diktator, der die religiösen Gefühle seiner Landsleute buchstäblich mit Füßen trat und eine Verwestlichung des Irans durchsetzte – minus Demokratie und Menschenrechte, plus Folter und allmächtigem Geheimdienst.

1979 endete seine aggressiv-säkularistische Herrschaft folgerichtig mit einer islamistischen Revolution, angeführt von Ajatollah Chomeini.
Um dessen Einfluss wiederum einzudämmen, unterstützten die USA den Krieg von Saddam Hussein gegen den Iran. In diesem grauenvollen Stellungskrieg fielen auf seiten des Irans bis zu 800.000 Männer und Jungen. Ein ungeheurer Blutzoll, der die Mullahs stabilisierte und den Iran zu einem Todfeind der USA machte.
Als dann die USA zweimal in den Irak einmarschierten, um ihren ehemaligen Kameraden Saddam erst unter Kontrolle zu bringen und später zu stürzen, stärkte das wiederum den Iran, diesen Feind des Westens.
Infolgedessen fühlte sich das ebenfalls islamistische, aber sunnitische Saudi-Arabien herausgefordert dagegenzuhalten. Die Kooperation der Islamisten von Riad mit dem Westen wurde und wird vom dortigen Regime in einer Art Ablasshandel durch den massiven Export islamistischer Ideologie in die ganze Region kompensiert.
So wurde der religiöse Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten durch den Westen scharfgemacht, mit Waffen und Geld aufgeladen, um sich dann in die ganze Region auszubreiten. Der IS ist dabei nur eine von vielen indirekten Nebenwirkungen dieses westlichen Gebarens.

Das Grundmuster des mörderischen Pilotspiels wird am Beispiel Iran besonders deutlich: Was mit dem banalen Profitinteresse westlicher Ölkonzerne und einer Geheimdienstaktion begann, eskalierte zu einem verheerenden Krieg mit fast einer Million Toten, gebar sodann zwei weitere Kriege mit direkter Beteiligung des Westens und ist mit der beginnenden Destabilisierung Saudi-Arabiens und der Ausbreitung des IS womöglich noch nicht einmal an seiner Klimax angekommen.

Wenn man die anderen Stränge des Pilotspiels „Realpolitik“ dazunimmt, also die afghanische Eskalation, die syrische, die libysche und so weiter, wenn man sich vorstellt, wie all diese Konflikte sich gegenseitig durchdringen und befeuern, dann wird schließlich klar, an welcher Stelle wir uns befinden: da, wo auch der mächtige, reiche Westen den Mitteleinsatz nicht weiter erhöhen kann. Das Pilotspiel ist in seine letzte Phase eingetreten.

Die Schuld der USA und das Versagen der „checks and balances“

Viele fragen sich im Angesicht der Millionen Flüchtlinge aus Arabien und des dort um sich greifenden Chaos, warum sich die Amerikaner, die ja die westliche Politik im Mittleren Osten zuletzt dominiert haben, für ihr Versagen nicht schämen, warum sie nicht darum bitten, durch die Aufnahme der ein oder anderen Flüchtlingsmillion ein wenig Wiedergutmachung zu üben.

Wenn aus der „Realpolitik“ Kolonialismus wird

Der Grund ist verblüffend einfach: Es gibt in dieser Frage keine Amerikaner, sondern nur Republikaner und Demokraten. Und dann machen halt die Demokraten die Regierung von George W. Bush mit ihren Invasionskriegen für all das verantwortlich, während die Republikaner Präsident Obama wegen seiner Rückzüge und der verwischten roten Linien attackieren.
Nur dass irgendetwas grundlegend falsch sein könnte an der gesamten US-Politik im Mittleren Osten, dieser Gedanke kommt ernstlich nicht auf.

Besonders sinnfällig wird das an jenem Familienstreit, der zurzeit die Präsidentschaftskandidatur von Jeb Bush begleitet. War die zweite Invasion des Iraks durch George W. Bush gar keine Realpolitik, sondern nur wild gewordene Gesinnung? Das behauptet nun dessen Vater George Bush senior, der zwölf Jahre zuvor in seinem wegen Kuwait geführten Irak-Krieg auf den Sturz des Diktators verzichtet hatte.

Diese Kritik des Vaters am Sohn, der sonst wirklich alle Kritik verdient hat, ist ungerecht. Ein Ideologe und heißblütiger Idealist war George W. Bush von seiner Natur her sicher nicht. Dass er dennoch auf Ideologen wie Dick Cheney gehört hat, lag an der logischen Stelle, an der er sich im Pilotspiel Mittelost befand. Wenn eine Politik wie die seines Vaters – auf halbem Wege stehen bleiben – zu 9/11 führt, dann muss man danach eben etwas anderes machen: den ganzen Weg gehen. Wenn eine von der Geheimdienstaktion über den Stellvertreterkrieg bis zur Bodenoffensive sich steigernde, also immer höher gepokerte Stabilitätspolitik keine Sicherheit für das amerikanische Territorium bringt, dann vielleicht der totale Umsturz, so wird der Junior gedacht haben.
Den Zugzwang, unter dem er sich wähnte, hat er aber von seinem Vater nur geerbt. Folglich hat sich der Sohn keineswegs an den realpolitischen Vorgaben seines Vaters vergangen, er hat sie vielmehr ausgebadet.

Bush junior wollte das Pilotspiel beenden, indem er es gewinnt, doch hat er es nur auf eine noch gefährlichere Stufe gehoben.

Die USA sind zu einer grundlegenden Kritik ihrer eigenen Mittelostpolitik unfähig, während ihre europäischen Partner entweder zu ähnlich denken wie sie (Großbritannien) oder zu friedfertig sind (Deutschland), um eine echte Debatte anzuzetteln. Und so ging dem Westen der Zugang zu einer seiner wichtigsten Kulturtechniken verloren – zu den checks and balances.

Der Kolonialismus kehrt heim – Untergang der „Realpolitik“

Lassen wir alle moralischen Fragen einmal beiseite, so muss man gleichwohl konstatieren: Die westliche „Realpolitik“ ist am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen.
In ihrem Werkzeugkasten wurden alle Instrumente in jeder beliebigen Kombination auf so gut wie jedes Land im Mittleren Osten angewendet: Geheimdienstaktionen, Drohnen, Invasionen, Stellvertreterkriege, Korruption, Waffenlieferungen, Bombardements, Sanktionen, Stabilisieren oder Stürzen von Diktatoren.

Skrupel spielten kaum je eine Rolle, doch stellt sich neuerdings heraus: Reine Interessenpolitik dient nicht mal mehr unseren Interessen.

Auch darum ist die „Realpolitik“ am Ende, denn sie braucht Entfernung, sie muss ihre Objekte in einem weitgehend abgeschlossenen Bestiarium halten.
Nähe verstört „Realpolitik“, weil sie dann mit den Konsequenzen am eigenen Leib konfrontiert wird. Auch darum war 9/11 so ein Schock und wurde mit einer weiteren, vielleicht letzten Explosion der herkömmlichen Politik beantwortet – allerdings mit dem Effekt, dass in der zweiten Runde die Flüchtlinge kamen. Der Kolonialismus kehrt nun heim, die Flüchtlinge bringen ihn dahin, wo er herkam.

Was machen wir jetzt? Aufgeben? Das läge uns nahe. Die Geschichte des Mittleren Ostens wird bei uns gern so erzählt, dass diesen verfluchten Arabern mit ihrer unseligen Religion einfach nicht zu helfen ist. Zentrales Argument für diese These ist heutzutage die Arabellion, die ja „auch nichts gebracht hat“. Ist das nicht etwas vorschnell und anmaßend? Schließlich handelte es sich bei den Aufständen lediglich um verzweifelte, erstmals auf breiter Fläche entflammende Befreiungsversuche in einer durch schlechtes Regieren völlig heruntergewirtschafteten, an Demokratie nicht gewöhnten Region. Besser hätten womöglich nicht mal wir Helden der Demokratie es so einfach hingekriegt.

Unsere Kriege überschatten die guten Taten

Man kann das Scheitern westlicher Politik aber auch als Chance betrachten. Denn ob den Muslimen tatsächlich nicht zu helfen ist, wie man jetzt gern stöhnt, das können wir nicht wissen, denn wir haben es noch nie ernstlich probiert.

Zweifellos braucht der Westen einen neuen, einen zweiten Werkzeugkasten. Und eine neue Hypothese: Muslime sind Menschen wie du und ich, Realpolitik muss sich damit anfreunden.

Die Schuld der Araber und der Beitrag des Westens

Ja, es stimmt, der Islam ist, wie jede andere Religion, mit Hass aufladbar, vielleicht sogar mehr als andere Religionen. Aber ob er sich so auflädt, dass er zu Islamismus wird und gar zu islamistischem Terror, das hängt doch sehr von den Umständen ab. Und damit auch von uns.

Ja, es stimmt, die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten birgt seit jeher kriegerisches Potenzial, aber es gab immer wieder auch Phasen, in denen die beiden großen islamischen Religionsgemeinschaften recht friedlich miteinander lebten.

Ja, es hat schon Stammeskriege in Arabien gegeben, bevor der Westen seine willkürlichen Linien in den Sand gezogen hat. Es ist daher keineswegs sicher, dass im leicht entzündlichen Mittleren Osten alles besser wird, sobald der Westen es besser macht.
Man kann auch lange darüber streiten, wie hoch der muslimische und wie hoch der westliche Anteil an der Misere ist, 60/40 oder 40/60? Aber was soll das bringen?

Fest steht zweierlei: Zum einen können wir eher unser Verhalten ändern als das der anderen.
Zum Zweiten: Wenn ohnehin schon so viel Gift in Arabien und Persien steckt, kann niemals etwas daraus werden, wenn wir unser Gift auch noch weiter mit hineinspritzen. Und das haben wir in den letzten 100, 50, 20 und zwei Jahren getan.

Keine Frage, es hat auch positive Ansätze gegeben. Da war die Entwicklungshilfe, da waren die Versuche, in Afghanistan Brunnen und Schulen zu bauen, da gab es eine humanitär gemeinte Intervention in Libyen sowie den Versuch, den Sudan durch Teilung zu heilen, und vieles mehr. Aber all das war zumeist halbherzig, ungenau, ungeduldig; insgeheim diente die gute Tat weniger den Arabern als uns und unserem flüchtigen Gewissen.

Nichts davon konnte das Bild, das die Menschen da unten vom Westen haben, wirklich aufhellen. Dafür sprachen die anderen, die massiveren Interventionen eine zu klare Sprache: dass uns das Leben eines Muslims nicht viel wert ist, dass ein Wort kein Wort ist und ein Vertrag kein Vertrag, eine Freundschaft keine Freundschaft.
Millionen Tote können nicht durch Brunnenbauen vergessen gemacht werden. Ganz offenbar trauen die Menschen in Arabien und im Iran dem Westen nicht, auch seine guten Worte und besten Taten subsumieren sie nur unter eine Geschichte von Rassismus und Imperialismus. Und was das Schlimmste ist: Sie haben nicht ganz Unrecht. Selbst der gelegentliche Export von Freiheit (wenn es grad passte) musste auf die Araber wirken wie ein Geschoss, nicht wie eine Einladung. Der Westen, der daheim die Demokratie lebt, tritt global zumeist als übler Autokrat auf.

Die große Frage ist darum kaum noch, ob der Westen eine grundlegend neue Politik gegenüber den Muslimen finden muss, sondern vielmehr: Wieso sollten sie uns glauben?

Die Willkommenskultur ist der effektivste Feind des Terrors

Bisher haben die Würde, Sicherheit und Menschlichkeit der Muslime den Westen kaum interessiert, bestenfalls waren sie eine Dreingabe, meistens nicht einmal das. Dies hat sich mit dem historischen Jahr 2015 geändert. Denn die Millionen von Flüchtlingen stellen uns vor die Alternative: Entweder wir helfen ihnen in bisher nie gekannter Weise bei der Verbesserung ihrer Lebensumstände in ihrer Heimat – oder sie kommen und bleiben. Das große Teilen hat begonnen, die Fließrichtung der Geschichte zwischen Europäern und Arabern hat sich umgekehrt.

Vielen in Europa macht das verständlicherweise Angst, sie träumen sich zurück in die Abschottung früherer Tage, wir hier oben, die da unten. Doch das wird es nicht wieder geben, weil das Pilotspiel zu Ende und die Geduld zu vieler Araber aufgebraucht ist.

Willkommenskultur ist eine Chance zur Versöhnung

Also muss man diese ungeheure Chance nutzen, um die Muslime und den Westen zu versöhnen.
Endlich werden Araber in großer Zahl von Europäern, von Christen besser behandelt als von ihresgleichen.
Darin liegt der politische Kern der Willkommenskultur: Was wir hier mit den Arabern machen, wird das Bild, das sie in der Region von uns haben, prägen. Das ist eine heikle Aufgabe und eine riesige Chance. Die braucht übrigens Zeit.
Dass drei Länder in Europa seit drei Monaten Flüchtlingen mit einem freundlichen Gesicht und warmen Kleidern begegnen, verändert noch nicht die Welt. Es ist ein Anfang, ein fragiler dazu.

Wegen dieser historischen Aussichten wäre es äußerst kurzsichtig, nun zu versuchen, das leidlich freundliche Willkommen wieder in eine Abschreckungskultur zu verwandeln. Sollte diese Chance zur Versöhnung verspielt werden, entsteht so viel neue Wut, dass wir sie militärisch und geheimdienstlich nicht wieder einfangen können.

Unsere Muslime und der Untergang der DDR

Eines der größten Dilemmata des Westens bestand zuletzt darin, dass sich die Diktatoren oft nicht mehr stabilisieren ließen, dass ihr Sturz jedoch auch nur Chaos erzeugt hat, die Lage sich also nicht wirklich verbesserte. Daraus kann man nur eine Lehre ziehen: Wir sollten von beidem die Finger lassen, vom Stürzen und vom Stabilisieren.

Wie man trotzdem Einfluss nehmen kann, das zeigt die deutsch-deutsche Geschichte. In den achtziger Jahren stieg die Zahl der Besuche von DDR-Bürgern in Westdeutschland auf bis zu sechs Millionen jährlich. Deren positive Erfahrungen im Westen trugen mehr und mehr zur Erosion des SED-Regimes bei, bis es dann 1989 in sich zusammenbrach.

Eine ähnliche Funktion dürften die Millionen Araber haben, die jetzt hierher kommen. Sie erzählen ihren Freunden und Verwandten daheim, wie das Leben auch sein kann, wie man ohne Bestechung eine Urkunde bekommt, was eine freie Presse ausmacht, wie gut die ärztliche Versorgung ist und wie wenig der Ungläubige dem Bild entspricht, das man sich gern von ihm macht. Auch wie ein toleranter Islam aussieht oder eine entgiftete Männlichkeit wird sich rumsprechen, auch wenn das zunächst nicht allen von ihnen gefallen wird. Zugleich werden die Daheimgebliebenen mit politischen Informationen versorgt, auch mit Geld, ganz dezentral und organisch.

Letztlich ist die Befürchtung fast obskur, dass die Flüchtlinge unsere Kultur islamisieren. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass auf diese graswurzelhafte Art der arabische Raum humanisiert, entgiftet und auf lange Sicht politisch verändert wird.

Entschuldigung des Westens, Selbstermächtigung des Mittleren Ostens

Haben sich Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener und Amerikaner eigentlich jemals offiziell entschuldigt bei den Menschen in Nordafrika? Für den Kolonialismus? Für den Rassismus? Nein? Und warum nicht?

Damit würde man einiges von dem Groll wegräumen, der jetzt unter Arabern gegen uns gehegt (und gepflegt) wird. Diese Wut machen sich die Herrschenden dort zunutze, die, nebenbei gesagt, oft selbst ein rassistisches Verhältnis zu ihrem eigenen Volk haben. Die westliche Arroganz aber schweißt Herrscher und Beherrschte zusammen. Auch dass der Westen immer wieder so massiv und zugleich ungenau interveniert, hält die arabische Ausredenkultur stabil. Entzieht der Westen sein Gift, dann kollabieren früher oder später jene Systeme, die immer wieder Terror und Flucht entstehen lassen. Um den islamistischen Terror zu bekämpfen, müssen wir uns mit den Muslimen versöhnen. Es wäre also Zeit für eine neue, eine echte Realpolitik.

Realpolitik, jetzt aber richtig – ein New Deal mit den Muslimen

Sobald die Wende in der westlichen Mittelostpolitik verstanden, verkündet und vollzogen sein wird, kann auch wieder über die unschönen Dinge geredet werden.
Wenn Abstriche an unseren Prinzipien, Dialoge mit regierenden Mördern, Geschäfte mit kriminellen Stammesfürsten nicht mehr als der wahre Kern westlicher Politik wahrgenommen werden müssen, sondern nur als gelegentliche und vorübergehende Abweichung von einem Kurs, der offenkundig den Menschen dienen soll, der von Respekt und Interesse getragen ist, dann geht das auch.

Zwar wird man mit dem uniformierten Diktator von Ägypten weiter reden müssen, ebenso wie mit den Islamisten in Riad und Teheran. Nur sollte das künftig mit einer egalitären Kühle geschehen. Man kann nicht die einen Islamisten wie den Teufel persönlich behandeln (Iraner) und die anderen (Saudis) als Brüder in die Arme nehmen. Auch Waffenlieferungen müssen drastisch zurückgefahren werden. Es gibt dort fast keine befreundeten und gutartigen Regime.

Gleichwohl darf der Westen auch bei einer neuen Strategie nicht gutgläubig erscheinen. Angesichts des Terrors brauchen die Europäer einen stärkeren Staat, auch das Militär muss effektiver werden, wahrscheinlich auch teurer.

Wenn allerdings eine neue Realpolitik näher an den eigenen Werten angesiedelt sein soll, dann muss man sich vor Wladimir Putin hüten, denn der versucht nun wieder, den Westen in eine klassische brutalisierte Machtpolitik einzuspinnen.

Vor allem aber braucht es eine positive Agenda: Entwicklungshilfe in einer neuen Dimension, konditioniert und möglichst unterhalb der Herrschercliquen verteilt. Vielleicht einen Marshallplan für die Region und die Öffnung des europäischen Marktes.

Das Ende der alten Realpolitik wird die Fantasie für neue Ideen wecken, dann wird ein neues Kapitel in der Geschichte zwischen Abendland und Morgenland aufgeschlagen. Und wir können alle sagen, wir sind dabei gewesen.

*Ein Angriff auf ein Territorium eines souveränen Landes, UN-Mitgliedes, das weder Deutschland noch Frankreich noch die NATO bedroht, ist eindeutig völkerrechtswidrig. Hierzu Wolfgang Gehrcke, MdB der Linken: 

„Das offensichtliche Angebot der Bundeskanzlerin, deutsche RECCE-Tornados über Syrien einzusetzen, erfolgt ohne Beschluss der Vereinten Nationen und ohne jede Rücksprache mit der syrischen Regierung. Der Bundestag soll im Nachhinein informiert werden. DIE LINKE lehnt ein solches Vorgehen strikt ab.“

** das Pilotspiel ist wohl eher als Schneeballsystem zu versehen, in dem die letzten, d.h. die ärmsten Länder, automatisch als Verlierer dastehen.

Jochen

Pentagon-Bericht enthüllt: USA ließen den IS gewähren

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Spannend, wie der Beitrag vom 27. Mai 2015 zu meinem letzten Beitrag von Willy Wimmer passt:
http://www.n-tv.de/politik/USA-liessen-den-IS-gewaehren-article15177536.html
Auszüge:

Von Nora Schareika

Eine der gängigsten Verschwörungstheorien zum Islamischen Staat ist, er sei ein Produkt der USA.
Die Enthüllung geheimer Dokumente zeigt, dass die Amerikaner der Entstehung des IS zumindest nichts entgegensetzt haben – weil sie darin ein Chance sahen.

Die Regierung der USA ahnte schon vor drei Jahren, dass eine islamistische Terrororganisation im Osten Syriens einen eigenen Staat ausrufen könnte.
Das belegen Dokumente der amerikanischen Defense Intelligence Agency (DIA), die der britische Enthüllungsjournalist Nafeez Ahmed ausgewertet hat.
Der Artikel ist auf der durch freiwillige Spenden („Crowdfunding“) finanzierten Plattform „Insurge Intelligence“ erschienen.

Ahmed schreibt unter Berufung auf die Dokumente, dass die USA und westliche Staaten gemeinsam mit der Türkei und sunnitischen Golfstaaten wissentlich radikal-islamische Gruppen in Syrien unterstützt hätten. Dabei hätten sie in Kauf genommen, dass sich diese im weiteren Verlauf des Krieges zu einer großen neuen islamistischen Terrorgruppe zusammenschließen könnten.

Genau das ist mit dem „Islamischen Staat“ vor etwa zwei Jahren auch geschehen. Es wurde vom Pentagon jedoch – trotz aller ebenfalls erkannten Gefahren – als hilfreich bei der Destabilisierung des syrischen Regimes gesehen.
Die offizielle Version, wonach die USA nur „moderate“ Rebellengruppen im Syrienkrieg unterstützt haben, sei damit falsch. Womöglich ist das eine Erklärung dafür, dass der IS sich lange Zeit ungehindert formieren und ausbreiten konnte.

Westen wusste über Gelder an Dschihadisten Bescheid

Bereits 2012, als das nun in Auszügen öffentlich gewordene DIA-Dokument verfasst wurde, war den US-Behörden klar, dass Al-Kaida im Irak eine maßgebliche Rolle bei der Unterstützung der syrischen Opposition spielte. Die Terrorfiliale gilt als Vorläuferorganisation des IS, bei dem frühere Geheimdienstler des irakischen Baath-Regimes unter Saddam Hussein die Hauptstrategen sind.
Bereits damals war den USA klar, dass der Konflikt in einen Stellvertreterkrieg von Sunniten und Schiiten münden würde.

Wörtlich heißt es in dem zitierten Dokument, es bestünde die Möglichkeit, dass sich im Osten Syriens ein neues salafistisches Staatswesen etablieren könnte. „Und das ist genau was die die Opposition unterstützenden Mächte wollen, um das syrische Regime zu isolieren“, heißt es. Das Regime wiederum wird hier als Teil einer vom Iran unterwanderten schiitischen Achse gesehen.

Journalist Ahmed schreibt, dass die US-Regierung durchaus schon durchblicken ließ, welch ungeheure Summen an die extremistischen Gruppen in Syrien und im Irak geflossen sind.
Allerdings habe Vizepräsident Joe Biden dabei nur die direkten Geldgeber Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und die Türkei erwähnt – nicht aber, dass die gesamte Strategie der Regionalmächte durch die USA, Großbritannien, Frankreich, Israel und andere westliche Regierungen gebilligt und überwacht worden sei.

Anti-schiitische Politik mit strategischer Irak-Partnerschaft

Paradoxerweise machen die Pentagon-Strategen beim inzwischen schiitisch regierten Irak eine Ausnahme bei der sonst strikt antischiitisch ausgerichteten Politik im Nahen und Mittleren Osten.
Einerseits soll zwar die iranische Macht am arabischen Golf im Zaum gehalten werden, indem traditionelle sunnitische Mächte wie Saudi-Arabien, Ägypten und Pakistan gestützt werden.
Andererseits wollen die USA dem Papier zufolge die strategische Partnerschaft mit der schiitischen irakischen Regierung erhalten – trotz deren enger Bande mit der Führung in Teheran.

Auch die letzten Coups des IS wurden bereits 2012 vorhergesehen: Neben der Eroberung von Mossul, das seit dem vergangenen Sommer die irakische Hauptstadt des IS ist, holten sich die Dschihadisten vor eineinhalb Wochen die Provinzhauptstadt Ramadi zurück.

Quelle: n-tv.de

Jochen