Andreas Wehr: Nachdenken über eine linke Sammlungsbewegung

Die hier im RotFuchs vorgestellte Argumentation würde ich gerne diskutiert wissen.
Hier wird der mangelnde Zuspruch zu linken Parteien in Europa erklärt mit der Beliebigkeit in der Klassenfrage und der Aufgabe des Ziels der Enteignung der Kapitalisten.
Ganz abgesehen davon, wie realistisch das letztgenannte Ziel ist. Als Gegenbeispiele werden europäische Linksparteien benannt, die im Parlament kaum vertreten sind.
Stimmt es denn, dass „die Zeiten von linken Mosaik- bzw. Patchworkparteien europaweit zu Ende gehen“ ?
Hier wird auch die „Emanzipatorische Linke“ sehr angegriffen.
Kann man vielleicht postmaterielle und emanzipatorische Werte verfolgen, OHNE dabei in den Neoliberalismus zu rutschen ? Diese Frage würde ich natürlich gerne auch der Emanzipatorischen Linken stellen.
Aber hier der ganze Artikel:

RotFuchs-Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland Mai 2018

Nachdenken über eine linke Sammlungsbewegung

Dort, wo sich heute eine Linke in Europa auf dem Vormarsch befindet, verdankt sie es vor allem der Fähigkeit, ihre Ressourcen auf wenige Themen zu konzentrieren. So haben sich die Sozialistische Partei der Niederlande (SP) und die belgische Partei der Arbeit (PdA) auf eine beharrliche Arbeit im Gesundheitssektor ausgerichtet. Mit einem Netzwerk linker Ärzte und sogar von ganzen Polikliniken konnten sie so Vertrauen in der arbeitenden Klasse erringen.
Seit Jahren führt die PdA mit ihrer Forderung nach einer Millionärssteuer eine Kampagne zur höheren Besteuerung der Reichen und konnte damit die anderen Parteien zwingen, sich dazu zu verhalten. 

Auch der Bewegung La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) unter Jean-Luc Mélenchon gelang es, mit der Konzentration auf Kampagnen zur Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen durchzudringen.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie man heute als linke Kraft durch Bündelung der Ressourcen erfolgreich sein kann, liefert die Landesorganisation Steiermark der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Seit Jahr und Tag konzentriert sie ihre Arbeit ganz auf die Wohnungsfrage. Mit dieser Strategie ist sie überaus erfolgreich. In der steirischen Hauptstadt Graz gilt sie inzwischen als die Mietenpartei

Diesen Parteien ist es so gelungen, wichtige gesellschaftliche Akteure in ihren Ländern zu werden, die Sozialdemokratie zu bedrängen bzw. wie in den Niederlanden, in Frankreich, im belgischen Wallonien oder in Graz sogar hinter sich zu lassen.
Bedingung für diesen Erfolg ist aber die tägliche Bereitschaft der Parteimitglieder, ihre verschiedenen Partikularinteressen, vor allem die Vertretung der eigenen Gruppenidentität, hinter sich zu lassen und ihre ganze Kraft gemeinsamen Anliegen zu widmen.
Erst diese Fähigkeit zu kollektivem Handeln macht aus einer zersplitterten Sammlungspartei eine sozialistische Kraft, die zum aktiven Eingreifen fähig ist. 

An Einfluß verlieren hingegen europäische Linksparteien, die sich, wie die griechische Syriza oder die italienische Rifondazione Comunista (RC, Kommunistische Wiedergründung), als „Bewegungsparteien“ verstehen.
Syriza hat sich längst aus der „Koalition der radikalen Linken“, wie sie offiziell noch immer heißt, zu einer autoritär von Ministerpräsident Alexis Tsipras geführten Partei entwickelt.
Und Italiens RC erklärte sich 2002 unter ihrem einstigen Vorsitzenden Fausto Bertinotti zur „Bewegung der Bewegungen“ und begann in diesem Sinn, die eine Partei charakterisierenden Elemente Stück um Stück aus ihr zu entfernen. Die RC ist inzwischen weitgehend zerfallen und kandidiert bei Wahlen nur noch als Teil immer wieder neu zusammengesetzter Wahlbündnisse linker Bewegungen und Parteien. Bei Wahlen blieben diese Bündnisse allesamt erfolglos. 

Dem Anspruch, eine bloße Sammlungsbzw. Bewegungspartei zu sein, entspricht regelmäßig die ideologische Beliebigkeit. Ein theoretisches Zentrum, eine für alle Mitglieder programmatisch festgelegte und verbindliche Weltanschauung, existiert in diesen Parteien nirgendwo.
In ihrem Erfurter Grundsatzprogramm von 2012 hält die Die Linke zwar an der Forderung nach einer sozialistischen Gesellschaft als politische Zielvorstellung fest, aber diese ist nur noch ein abstrakter Wert, vergleichbar mit dem ethischen bzw. demokratischen Sozialismus der Sozialdemokratie. Der bürgerliche Staat wird als weitgehend klassenneutral bewertet und dementsprechend sein Charakter allein von veränderten parlamentarischen Machtverhältnissen abhängig gesehen. (…)
Das Erfurter Grundsatzprogramm hat für die tägliche Arbeit der Partei Die Linke nie eine anleitende Rolle gespielt. Die verschiedenen Strömungen und Richtungen in ihr nutzen es lediglich als Steinbruch, um mit einzelnen Zitaten daraus ihre jeweiligen Positionen zu rechtfertigen

Die in Westeuropa erfolgreichen linken Parteien gehen im Unterschied dazu auch in ihrer weltanschaulichen Ausrichtung andere Wege. Sie versuchen ein theoretisches Zentrum zu rekonstruieren und beziehen sich dabei auf die marxistische Gesellschaftstheorie.

Von den Sammlungs- bzw. Bewegungsparteien innerhalb der Europäischen Linken (EL) werden sie deshalb oft des Dogmatismus beschuldigt. 
Diesen Vorwurf erhebt etwa die Führung der italienischen Rifondazione Comunista gegenüber der wiedergegründeten PCI, zu der sich u. a. der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo bekennt.
Auch die steirischen Kommunisten werden von der Bundesführung der KPÖ regelmäßig der Orthodoxie angeklagt.
Der Bewegung La France insoumise wird wiederum von der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF ) vorgeworfen, sich unter Jean-Luc Mélenchon beharrlich einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten zu verweigern und zugleich scharf die EU zu kritisieren, Haltungen, die die KPF als „unmodern“ verwirft.
In Belgien wird der PdA von ihren Gegnern vorgeworfen, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben und weiterhin am Marxismus und sogar am Prinzip einer Kaderorganisation festzuhalten. Nicht bedacht wird angesichts dieser Vorwürfe, daß die erfolgreiche praktische Arbeit all dieser Parteien auch das Ergebnis einer Festigung ihrer theoretischen Positionen ist. 

Bei allen aktuellen Überlegungen hinsichtlich der Notwendigkeit der Schaffung einer  breiten linken Volkspartei gilt daher: Die Sammlung möglichst vieler Mitglieder in einer solchen Partei kann nur gelingen, wenn sie in der Lage ist, sich auf einheitliche Aktionen und Kampagnen zu verständigen, und wenn sie zugleich ein hinreichend geschlossenes theoretisches Weltbild herausbilden kann, an dem sich ihre Mitglieder ausrichten können. 

Die europaweiten Verluste der Sozialdemokratie, die in einigen Ländern, etwa in Frankreich, den Niederlanden, Irland, Griechenland und in Tschechien, bereits zu ihrer Marginalisierung geführt haben, sind Ergebnis des zerbrochenen Vertrauens der arbeitenden Klasse in die Sozialdemokratie als ihre einstmalige Interessenvertretung. Dahinter steht die Erfahrung, daß die sozialdemokratischen Eliten, einmal an die Macht gelangt, bruchlos an die neoliberale Politik der Konservativen und Liberalen anknüpfen, und sie – wie in Deutschland unter Schröder geschehen – sogar noch verschärfen. 

Die Sozialdemokraten öffneten sich aber nicht nur dem Neoliberalismus als Wirtschaftsstrategie, sondern auch Politikinhalten, die man zusammengefaßt als postmaterielle bezeichnen kann. Überall übernahmen sie Werte und Inhalte der Grünen bzw. der „neuen sozialen Bewegungen“, der Umweltbewegung, der Feministinnen sowie der verschiedenen Initiativen zur Gleichstellung von Minderheiten.
Die traditionelle Ausrichtung linker Politik auf gesamtgesellschaftliche Ziele, auf die Emanzipation der Lohnabhängigen als der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, ging dabei verloren. … 

Rechtspopulistische Parteien bekommen so leichtes Spiel, erhalten sie doch ohne größere eigene Anstrengung Zulauf aus dem sozialdemokratischen Milieu. Sie brauchen nur die von der Linken aufgegebenen Werte wie Gemeinwohl, Bürgersinn und Engagement für das eigene Land zu übernehmen. Anschließend können sie sie in ihrem Sinne auslegen. Daß die neuen Rechten aber zugleich in der Wolle gefärbte Neoliberale sind, geht dabei unter

Die Ausrichtung auf postmaterielle Werte und Identitätspolitik hat längst auch die Partei Die Linke erfaßt. Die dafür stehende Strömung „Emanzipatorische Linke“ um die Zeitschrift „Prager Frühling“ konnte in den letzten Jahren bemerkenswerte Siege im Kampf um Mehrheiten in der Partei erringen.
Sie fiel ihnen leicht, da sie in der Linkspartei, im Unterschied zur Sozialdemokratie, nicht erst starke Reste gewerkschaftlicher Orientierung überwinden mußte. Die in der PDS bzw. in der Linkspartei verbliebenen Sozialisten und Kommunisten waren hingegen nicht in der Lage oder willens, dieser Strömung Widerstand entgegenzusetzen. 

Der dem Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht zugrundeliegende inhaltliche Konflikt verweist darauf, daß die Zeiten von linken Mosaik- bzw. Patchworkparteien europaweit zu Ende gehen.
Die Krise der deutschen Linkspartei ist Teil einer westeuropäischen Entwicklung, in der sich zeigt, daß das Modell der pluralistischen, ohne theoretisches Zentrum arbeitenden linken Sammlungs- bzw. Bewegungspartei für immer mehr sich links Engagierende als nicht mehr der heutigen Situation angemessen angesehen wird. 

Andreas Wehr, Berlin (aus einem längeren Beitrag vom 26. Januar d. J.)

Vergleiche dazu den gestrigen Artikel von Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten:

Linkspartei auf der Kippe: Der Machtkampf sollte jetzt entschieden werden

Griechenland: Verordnete Verarmung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die Profiteure sind deutsche Unternehmen der Touristik- und Transportbranche genaus so wie die europäischen Banken.
Herr Schäuble, der Zuchtmeister der EU, sitzt im Aufsichtsrat von Fraport, dem Unternehmen, dem jetzt die noch profitablen griechischen Flughäfen zufallen.
In der EU-Kommission sitzen viele, die direkt mit der Finanzwirtschaft verbandelt sind.
Und diese Leute quetschen das Land aus, im Interesse ihrer Auftraggeber.
Ausserdem soll im „Testlabor Griechenland“ ausprobiert werden, was sich so eine bevölkerung noch gefallen lässt.
Schock-Strategie_Naomi_KleinZiel ist es, die Strände mit Bettenburgen zu pflastern und genügend billige Hilfskräfte und Prostituierte zu haben. dazu muss erst jede Form von Nationalstolz gebrochen werden.
Genau das ist das Ziel der EU-Kommission – Schock-Strategie wie bei Naomi Klein beschrieben.
Hierzu in den Blättern Egbert Scheunemann:
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/juli/griechenland-verordnete-verarmung
Auszüge:

Während Angela Merkel nach außen – und im Wahlkampf – die Europäische Union zur Schicksalsfrage erklärt, nehmen im Innern der EU die Auseinandersetzungen wieder zu. Im Brennpunkt steht dabei erneut der Umgang mit Griechenland.
Die Koalition um Ministerpräsident Alexis Tsipras stimmte am 19. Mai für ein weiteres Sparpaket, das als Voraussetzung für neue „Hilfen“ von Griechenlands Gläubigern gefordert wurde. Athen ist darauf angewiesen, weil Rückzahlungen fällig werden, die aus eigener Kraft nicht gestemmt werden können. Dagegen gab es massive Proteste vor dem griechischen Parlament – Ausdruck einer zunehmend verzweifelten Gesellschaft.

Doch das ficht die Kanzlerin und Finanzminister Wolfgang Schäuble nicht an, sie halten an der Austeritätspolitik fest. Derweil spricht sich Außenminister Sigmar Gabriel für eine Schuldenerleichterung für Griechenland aus – eine Position, die mittlerweile europaweit zunehmend Zustimmung findet und schon lange von einem der entscheidenden Gläubiger, dem IWF, befürwortet wird.
Tatsächlich zeigen die vergangenen Jahre wie auch die verheerende gegenwärtige Situation, dass die erdrückende Schuldenlast unbedingt vermindert werden muss, damit in Griechenland endlich die lang ersehnte wirtschaftliche Erholung eintritt. Diese scheitert bislang am Beharren der Gläubiger auf einer sinnlosen Kürzungspolitik. Während sie den griechischen Staat sanieren sollte, hat sie stattdessen das Land immer weiter in die Krise gestürzt.

Das ändern auch die Beschlüsse der Eurogruppe vom 15. Juni nicht: Athen erhält zwar weitere Kreditgelder, muss auf eine Schuldenerleichterung aber mindestens bis nach der Bundestagswahl warten.

Um die Absurdität der bisherigen „Rettungsversuche“ zu verstehen, hilft zunächst ein Blick auf die bloßen Summen, die bisher zwischen Gläubigern und Griechenland geflossen sind: Addiert man alle drei bisherigen Hilfspakete, wurde Griechenland ein Kreditrahmen von 368,6 Mrd. Euro gewährt – eine gewaltige Summe, gemessen am griechischen BIP von 176 Mrd. Euro im Jahr 2015.[1]
Allerdings wurde dieser Kreditrahmen bis 2015 nur im Umfang von 215,9 Mrd. Euro ausgeschöpft, und davon sind weniger als fünf Prozent, nämlich 10,8 Mrd. Euro, wirklich in den griechischen Staatshaushalt geflossen – wohlgemerkt als rückzahlbare, verzinsliche Kredite.
Der weit überwiegende Teil floss entweder in Zinszahlungen, in die Schuldentilgung bzw. in die Umschuldung – das heißt in einen Risikotransfer von privaten Banken hin zu öffentlichen Trägern (EU, EZB, IWF, ESM) – oder, jedenfalls teilweise, in die Finanzierung von Anreizen für private Gläubiger, sich am Umschuldungsprogramm zu beteiligen.

Umgekehrt hat Griechenland im Zeitraum von 2010 bis 2015 aber 52,3 Mrd. Euro an Zinsen an seine Gläubiger gezahlt, vor allem an EU, EZB und IWF. #
Bis 2018, wenn das dritte Programm ausläuft, werden es sogar 70,1 Mrd. Euro sein. Der Saldo des Kapitalflusses war und ist für Griechenland also negativ – trotz aller „Hilfen“. Damit wird deutlich, dass es sich letztendlich um die Ausbeutung des griechischen Staates handelt: Diese 70,1 Mrd. Euro Zinsen entsprechen etwa 40 Prozent des gesamten griechischen BIP des Jahres 2015.
Die griechische Bevölkerung hat quasi die ersten fünf Monate des Jahres 2015 nur für die Begleichung der Zinsansprüche der Gläubiger gearbeitet – und der Staat hatte danach keinen Cent weniger Schulden. So ist es letztendlich die Bevölkerung, die für die Krise aufkommen muss.
Das wird vor allem dann deutlich, wenn man die von den Gläubigern gestellten Bedingungen betrachtet, die Ursache für den negativen Saldo sind.

Kollabierende Sozialsysteme

Diese Bedingungen, die vor allem EU, EZB und IWF seit 2010 an die Vergabe von Krediten gegenüber der griechischen Regierung geknüpft haben, sind der zentrale Auslöser für die massiven Proteste gegen die andauernde Austeritätspolitik. An ihnen wird am deutlichsten sichtbar, welche Opfer die griechische Bevölkerung für die versprochene Rettung bringen musste und noch immer bringen muss.

Dabei geht es in erster Linie um massive Haushaltskürzungen vor allem im Sozialbereich, wie dem Gesundheits- und Rentensystem, um einen rigorosen Abbau der Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie um eine teilweise drastische Kürzung der Entgelte der verbliebenen Staatsbediensteten.

Auch das jüngst verabschiedete Sparpaket steht in dieser Kontinuität: Um frisches Geld aus Europa zu erhalten, sollen die Renten nochmals um bis zu 18 Prozent gekürzt werden sowie außerdem der jährliche Steuerfreibetrag von 8636 auf 5700 Euro sinken.
Mit Rentnern und Geringverdienern sind damit auch diesmal, wie so oft in den vergangenen Jahren, die schwächsten Glieder der Gesellschaft am härtesten betroffen. Gefordert wird zudem ein weiterer Sozial- und Stellenabbau wie auch die Privatisierung staatlichen Eigentums, also das Veräußern oder Verpachten von Immobilien und Infrastruktureinrichtungen. Von den Privatisierungen und Haushaltskürzungen erhoffen sich die Gläubiger Service- und Effizienzgewinne, eine Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands sowie steigende Steuereinnahmen, die zur Rekapitalisierung griechischer Banken, zur Tilgung der Staatsschulden, aber auch für Investitionen genutzt werden sollen.

All dies soll eigentlich dazu führen, dass Griechenland „bis 2018 wieder auf eigenen Beinen steht“, wie Ministerpräsident Alexis Tsipras angekündigt hat.
Die vergangenen neun Jahre zeigen jedoch, dass das Gegenteil der Fall ist. Weil die Gewährung der Kreditspielräume an die Durchführung einer rigiden Sparpolitik geknüpft war und ist, kam es in Griechenland (zusätzlich forciert durch die internationale Banken- und Finanzmarktkrise) zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft: So ist das BIP seit Krisenbeginn um gut 25 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit auf bis zu 27 Prozent gestiegen und die Staatsschulden sind um 30 Prozentpunkte auf 176,9 Prozent (2015) des BIP gewachsen.

Das Kollabieren der Sozialsysteme führte zu massiver medizinischer Unterversorgung, Armut und Obdachlosigkeit. So mutet es fast zynisch an, wenn die EU-Kommission vor dem Hintergrund dieser verheerenden Folgen ihrer Politik betont, sie wolle Griechenland helfen, nachhaltiges Wachstum, finanzielle Stabilität, neue Wettbewerbsfähigkeit und niedrige Arbeitslosigkeit zu erlangen – mit der Intention, den Schwächsten der Gesellschaft mit Fairness zu begegnen.[2]

Die Apologeten der Austeritätspolitik verweisen in aller Regel auf die „griechischen Krankheiten“ – wie mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft, die staatsbürokratische Ineffizienz oder den Schlendrian bei der Steuereintreibung – als Ursachen der Krise. All dies trifft sicherlich bis zu einem gewissen Grade zu und kann erklären, warum sich die griechische Volkswirtschaft über lange Jahre weit weniger gut entwickelt hat als etwa die deutsche.
Es erklärt aber nicht den schockartigen Wirtschaftszusammenbruch, schließlich haben sich diese „Krankheiten“ nicht schlagartig verstärkt.

Vielmehr sind die rigiden Sparprogramme schuld am Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft, was inzwischen selbst vom IWF eingestanden wird. Denn nicht nur die nackten Zahlen in puncto Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit sind alarmierend, sondern auch die dahinterliegenden Strukturen und Entwicklungen.
Immer mehr junge Griechen verlassen das Land auf der Suche nach Arbeit. Dabei bräuchte es gerade sie, um das ruinierte Land wiederaufzubauen.
Diejenigen, die bleiben, flüchten sich dagegen zum Teil in den oft aussichtslosen Versuch, mit Hilfe von Subsistenzwirtschaft zu überleben. Dabei werden sie außerdem von den massiv gestiegenen Einkommensteuern für landwirtschaftliche Betriebe ausgebremst.

Gescheiterte Privatisierungen

Vollkommen gescheitert ist auch der Versuch, der Staatsverschuldung mittels Privatisierungserlösen beizukommen. Bis Ende 2015 wurden nur etwa 3 Mrd. Euro eingenommen und bis 2018 sollen es nur 6 Mrd. Euro sein – winzige Summen, gemessen an den griechischen Staatsschulden von 314 Mrd. Euro im Jahr 2015 und an den immensen Zinsen, die Griechenland an seine Gläubiger zahlt.

Groteskerweise wurden bislang vor allem profitable, teilweise sogar hoch profitable Staatsunternehmen privatisiert, so dass dem griechischen Staat sprudelnde Einnahmequellen abhandenkamen. Die – in oft dubiosen Privatisierungsverfahren – gezahlten Summen können nur als Schleuderpreise bezeichnet werden.
Die Gewinne für die neuen Eigner, oft Staatsbetriebe anderer Länder, sind immens, genauso wie die Verluste für den griechischen Staat. So ging der Betrieb von 14 der insgesamt 37 griechischen Regionalflughäfen an die deutsche Fraport AG. Zwar erhielt der frühere staatliche Eigner dafür neben zukünftiger Pacht und Gewinnbeteiligung auch einmalig 1,23 Mrd. Euro. Allerdings entgehen Griechenland dadurch in den nächsten 40 Jahren auch beträchtliche Gewinne.
Zudem sollen betriebliche Risiken für das Unternehmen durch den Staat umfangreich entschädigt werden, etwa im Falle von Streiks oder bei notwendigen Reparaturmaßnahmen.

Für einen Schnäppchenpreis von lediglich rund 368,5 Mio. Euro wurde zudem im letzten Jahr der sehr profitable Hafen von Piräus, der größte des Landes, an die staatseigene chinesische Cosco-Group veräußert.

Wie bereits die bisherigen betreffen auch die anvisierten zukünftigen Privatisierungen in hohem Maße natürliche Monopole, etwa die Netze der Energie-, Wasser- oder Gasversorgung. Das birgt besondere Risiken für die griechische Bevölkerung, denn diese muss bei Monopolen in privater Hand mit erheblichen Preissteigerungen und Serviceverschlechterungen rechnen. Außerdem kann die arbeitende Bevölkerung zum Opfer von Sanierungs- und Kostensenkungsprogrammen werden, etwa in Form von Entlassungen oder Lohnkürzungen.

Eines liegt angesichts der anhaltenden griechischen Misere auf der Hand: Eine derartige Sparpolitik, die zu solch katastrophalen Ergebnissen geführt hat, muss fundamental falsch sein.

Es ist wirtschaftswissenschaftlich (und übrigens auch rein logisch) völlig unbegreiflich, wie schockartig verabreichte rigide Sparprogramme eine Volkswirtschaft, die sowieso schon in einer schweren Krise steckt, auf Wachstumskurs bringen sollen. So kann in der Wirtschaftsgeschichte kein einziger Fall angeführt werden, bei dem eine solche Politik nicht immer tiefer in die Krise geführt hätte statt aus ihr heraus.
Deutschland, das sich seit Jahren als Zuchtmeister geriert, hat nach dem Wirtschaftseinbruch von 2009 eine genau gegenteilige Politik expansiver Nachfragestärkung betrieben und damit großen Erfolg gehabt – was die Haltung des deutschen Finanzministeriums umso grotesker oder, böse gesagt, perfider erscheinen lässt.
Bei alledem wird klar, dass Griechenland niemals ohne eine fundamentale Schuldenerleichterung auf die Beine kommen wird. Die Forderung des IWF, die griechischen Staatsschulden mehrere Jahrzehnte lang zins- und tilgungsfrei zu stellen, ist als erster Schritt völlig richtig – denn schon das käme einem massiven Schuldenschnitt gleich.

Worauf die Gläubiger dabei „verzichten“ würden, wäre nicht etwas, was sie je gegeben hätten, sondern allein die weitere Ausbeutung der griechischen Bevölkerung durch die Eintreibung von Zins und Zinseszins – denn zu nichts anderem sind die griechischen Staatsschulden über die Jahre der Umschuldungen geworden: zu akkumulierten, exponentiell wachsenden Zinseszinsen. Oder anders ausgedrückt: Die Griechen zahlen schon seit Jahren „zurück“, was sie nie bekommen haben. Was der griechischen Wirtschaft und damit der griechischen Bevölkerung wirklich helfen würde, wäre dagegen das „frische Geld“, von dem immer gesprochen wird, das aber letztendlich nie tatsächlich in den griechischen Haushalt geflossen ist.

Allein die über 50 Mrd. Euro an Zinsen, die Griechenland seit 2010 an seine Gläubiger zahlen musste, wären ein gigantisches Konjunkturförderungsprogramm geworden und hätten die Staatseinnahmen massiv verbessert. Damit könnten beispielsweise Programme umgesetzt werden, die die Effizienz von defizitären Staatsunternehmen und der staatlichen Verwaltung steigern und diese grundlegend modernisieren – mit der Folge verlässlicher Mehreinnahmen durch den Staat und damit verbunden tatsächlicher neuer Unabhängigkeit von privaten Investoren und den großen Gläubigern.
Nicht – um nur ein Beispiel zu nennen – die Privatisierung der griechischen Staatsbahn ist die Lösung, sondern ihre Modernisierung, zum Beispiel nach dem Muster der staatseigenen Deutschen Bahn.

Zusätzliche Einnahmen könnte das Land allerdings darüber erhalten, dass es die profitablen Trassen- wie Stromnetze für private Bahnanbieter bzw. beispielsweise Ökostromproduzenten öffnet, ohne sie zu veräußern. Damit könnten die Staatsfinanzen saniert oder Sozialeinkommen gestärkt werden, anstatt sie wie bisher immer nur rigide zu kürzen. Das wären Reformen, die ihren Namen tatsächlich verdienten und hoffnungsvolle Perspektiven für die Binnennachfrage böten – im Gegensatz zu den bisherigen Kürzungsorgien. Auf diese Weise könnte sich die Regierung von Alexis Tsipras aus der Abhängigkeit von den Gläubigern befreien und in der Tat wieder auf eigenen Beinen stehen.

Dass die harte, im Ergebnis kontraproduktive Linie gegenüber Griechenland vor allem von Deutschland gefahren wird, kann wohl nur mit dem Versuch eines Wählerfangs an deutschen Stammtischen erklärt werden, an denen die Mär vom „faulen Griechen“ immer noch Hochkonjunktur hat.
Wem dagegen in Zeiten einer strauchelnden EU wirklich an einem starken und solidarischen Zusammenhalt Europas gelegen ist, der muss sich für ein Ende des bisherigen Spardiktats aussprechen. Hic Rhodus, hic salta: In der Frage des Schuldenschnitts für Griechenland kommt es zum Schwur darauf, wer ein wirklicher Europäer ist.

Siehe dazu auch: https://josopon.wordpress.com/2015/09/22/klassenkampf-der-troika-in-griechenland-gegen-senkung-der-rustungsausgaben-und-gegen-einfuhrung-ein-er-reichensteuer/

Ein Plan B für Europa – Fassina, Konstantopoulou, Lafontaine, Mélènchon, Varoufakis

Lafontaine_PlanB

Am 13. Juli wurde die demokratisch gewählte griechische Regierung von Alexis Tsipras durch die Europäische Union in die Knie gezwungen. Die »Einigung« vom 13. Juli ist ein Staatsstreich. Sie wurde dadurch erreicht, dass die Europäische Zentralbank die Schließung der griechischen Banken erzwang und drohte, diese nicht wieder öffnen zu lassen, bis die griechische Regierung eine neue Version eines gescheiterten Programms akzeptiert. Warum? Weil das offizielle Europa die Idee nicht ertragen konnte, dass ein Volk, das unter einem zerstörerischen Austeritätsprogamm leidet, es wagt, eine Regierung zu wählen, die entschlossen »Nein« sagt.

Durch mehr Austerität, zusätzlichen Ausverkauf öffentlichen Eigentums, größerer Irrationalität im Bereich der Wirtschaftspolitik als je zuvor, und massiver Menschenverachtung im Bereich der Sozialpolitik, wird das neue Memorandum nur dazu dienen, Griechenlands große Depression zu verschlimmern und Griechenlands Reichtum nicht-griechischen und griechischen Oligarchen zur Beute zu machen.

Aus diesem Finanz-Staatsstreich müssen wir unsere Lehren ziehen. Der Euro ist das Werkzeug politischer und ökonomischer Dominanz einer kleinen europäischen Elite geworden. Diese Oligarchie versteckt sich hinter der deutschen Regierung, erfreut darüber, dass Frau Merkel all die Schmutzarbeit macht, zu der andere Regierungen unfähig sind. Dieses Europa schafft Verletzungen, sowohl innerhalb der Länder, als auch zwischen ihnen: Massenarbeitslosigkeit, scharfes Sozialdumping und Beleidigungen gegen die europäische Peripherie, die der deutschen Führung zugeschrieben werden, aber von allen »Eliten«, auch denen der Peripherie, nachgeplappert werden. Die Europäische Union ist so zur Vertreterin eines extrem rechten Ethos geworden sowie zu einem Werkzeug, um demokratische Kontrolle über Produktion und Verteilung in Europa auszuhebeln.

Es ist eine gefährliche Lüge, zu behaupten, dass der Euro und die EU den Europäerinnen und Europäern dienen und sie von Krisen abschirmen würden. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Europas Interessen im eisernen Käfig aus den Regeln der Eurozone und den europäischen Verträgen geschützt werden könnten. Die Methode Präsident Hollandes und Ministerpräsident Renzis, sich wie Musterschüler, oder tatsächlich wie »Mustergefangene« zu verhalten, ist eine Form der Kapitulation, die nicht mal Milde finden wird. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es klar gesagt: »Es kann keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben«. Das ist die neoliberale Adaption der Doktrin der »beschränkten Souveränität«, erfunden von Breschnew in 1968. Damals haben die Sowjets den Prager Frühling mit ihren Panzern niedergeschlagen. Diesen Sommer hat die EU den Athener Frühling mit ihren Banken zerschlagen.

Wir sind entschlossen mit diesem »Europa« zu brechen. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern und Ländern auf neuer Basis wiederaufzurichten. Wie können wir eine Politik umsetzen, die gute Arbeitsplätze vor allem für junge Menschen schafft, die Wohlstand umverteilt, eine ökologische Wende herbeiführt und die Demokratie wieder herstellt, in den Beschränkungen dieser EU? Wir müssen dem Irrsinn und der Unmenschlichkeit der aktuellen europäischen Verträge entkommen und sie von Grund erneuern, um die Zwangsjacke des Neoliberalismus abzustreifen, den Fiskalpakt aufzuheben und TTIP zu verhindern.

Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten und sind mit einer wahrhaften Notlage konfrontiert. Die Demokratien der Mitgliedsstaaten brauchen Luft zum Atmen und den politischen Raum, der ihnen die Möglichkeit gibt, sinnvolle Politik auf einzelstaatlicher Ebene voranzubringen, ohne Angst vor dem harten Eingreifen einer autoritären Eurogruppe, dominiert von den Interessen des stärksten Mitgliedsstaates und von Großkonzernen, oder einer EZB, die als Dampfwalze droht, jedes »unkooperative Land« niederzuwalzen, wie mit Zypern und Griechenland geschehen.

Dies ist unser Plan A für ein demokratisches Europa:

Wir werden alle in unseren Ländern, und alle zusammen überall in Europa, auf eine vollständige Neuverhandlung der europäischen Verträge hinarbeiten. Bis diese Neuverhandlung erreicht ist, beteiligen wir uns in einer Kampagne des europäischen zivilen Ungehorsams gegenüber willkürlichen, europäischen Praktiken und irrationalen »Regeln« an den Kämpfen der Europäerinnen und Europäer überall in Europa.

Zu allererst muss die Eurogruppe rechenschaftspflichtig gemacht werden. Zudem muss die Mär beendet werden, dass die EZB »unpolitisch« und »unabhängig« wäre, wenn sie (auf schädlichste Weise) höchst politisch agiert, vollständig abhängig von bankrotten Bankern und deren politischen Handlangern, und bereit ist, Demokratie mit einem Knopfdruck zu beenden.

Die Mehrheit der Regierungen, die die europäische Oligarchie repräsentieren und sich hinter Berlin und Frankfurt verstecken, haben ebenfalls einen Plan A: Statt der Forderung der Menschen Europas nach Demokratie nachzugeben deren Widerstand brutal zu beenden, wie im Juli in Griechenland geschehen. Warum haben sie es geschafft, einer demokratisch gewählten Regierung die Luft abzuschneiden? Weil sie auch einen Plan B hatten: Griechenland im schlechtesten möglichen Zustand aus der Eurozone zu werfen, indem das Bankensystem zerstört und die Wirtschaft zum Stillstand gebracht wurden.

Angesichts dieser Erpressung benötigen wir unseren eigenen Plan B

als Abschreckung gegen den Plan B, den Europas reaktionärste und anti-demokratische Kräfte verfolgen. Dies ist zur Stärkung unserer Position notwendig, im Angesicht ihres brutalen Bekenntnisses, zu einer Politik, die die Mehrheit im Interesse einer kleinen Minderheit opfert. Aber auch, um dem einfachen Prinzip neue Geltung zu verschaffen, dass Europa den Interessen der Europäerinnen und Europäern dienen muss und dass Währungen Werkzeuge sind, um den gemeinsamen Wohlstand zu mehren, nicht Folterinstrumente oder Waffen zur Abschaffung der Demokratie: Wenn der Euro nicht demokratisiert werden kann, wenn sie weiter darauf bestehen, den Menschen die Luft abzuschnüren, dann werden wir uns erheben und ihnen in die Augen sehen und sagen: Versucht es nur! Eure Drohungen ängstigen uns nicht. Wir werden einen Weg finden, um sicherzustellen, dass die Europäerinnen und Europäer ein Geldsystem haben, das für sie arbeitet, nicht gegen sie.

Unser Plan A für ein demokratisches Europa, gestützt durch einen Plan B, der den Mächtigen zeigt, dass sie uns durch ihre Erpressung nicht unterwerfen können, ist offen und zielt darauf, die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer anzusprechen. Dies erfordert ein hohes Maß an Vorbereitung. Die Debatte wird die technischen Elemente verstärken. Viele Ideen gibt es bereits: Die Einführung eines parallelen Zahlungssystems, Parallelwährungen, digitalisierte Eurotransaktionen, ein Austritt aus der Eurozone sowie die Umwandlung des Euro in eine (demokratische) Gemeinschaftswährung.

Kein europäisches Land kann sich in Isolation befreien. Unsere Vision ist internationalistisch. In Erwartung dessen, was in Spanien, Irland – möglicherweise wieder in Griechenland, abhängig von der Entwicklung der dortigen politischen Situation – und in Frankreich 2017 passieren könnte, müssen wir auf einen konkreten Plan B hinarbeiten, unter Berücksichtigung der Besonderheiten in jedem einzelnen Land.

Wir schlagen deshalb vor, einen internationalen Gipfel für einen Plan B für Europa einzuberufen, der allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern, Organisationen und Intellektuellen offen steht. Diese Konferenz könnte bereits im November 2015 stattfinden. Wir werden den Prozess am Samstag, den 12. September, während der Fête de l’Humanité in Paris beginnen. Schließen Sie sich uns an!

Oskar Lafontaine (ehem. Bundesfinanzminister und ehem. Vorsitzender der SPD sowie von DIE LINKE)
Jean-Luc Mélènchon (ehem. Minister für Berufsbildung im Kabinett Jospin und Präsidentschaftskandidat der Linksfront)
Stefano Fassina (ehem. stv. Finanzminister Italiens)
Prof. Yanis Varoufakis (ehem. Finanzminister Griechenlands)
Zoe Konstantopoulou (ehem. Präsidentin des Parlaments der Hellenischen Republik Griechenland

Syriza ist Europas Chance – so Wirtschaftsexperten Michael Schlecht und Sahra Wagenknecht, MdBs

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Europa hat ein neues Schreckgespenst: Syriza. Das griechische Linksbündnis könnte die nächsten Wahlen gewinnen.
Syriza wendet sich gegen das Diktat von „Sparsamkeit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ in Europa.
Was die Bundesregierung und die Finanzanleger befürchten: Setzt sich Syriza durch, dann wird auch in anderen Ländern eine Abkehr vom Spar-Kurs gefordert.
Was hier als Gefahr an die Wand gemalt wird, ist in Wahrheit die große Chance für Europa – und für Deutschland.

Am 25. Januar wird in Griechenland gewählt. Voraussichtlicher Wahlsieger ist Syriza.
Das Linksbündnis will die humanitäre Krise in Griechenland lindern, Essen an Hungrige verteilen, Obdachlosen Wohnungen geben, den Mindestlohn auf 750 Euro erhöhen und allen Rentnern eine 13. Monatsrente verschaffen, die weniger als 700 Euro zur Verfügung haben.
Das Geld dafür will sich Syriza zum großen Teil von den Konzernen und Oligarchen holen. Dieses Programm wird von den europäische Eliten und Finanzanlegern bereits als „Kommunismus“ bezeichnet.

Wo kommen all die Hungernden und Obdachlosen in Griechenland her? Sie sind Produkt nicht nur der Krise, sondern auch der Kürzungsprogramme, die Bundesregierung und EU dem Land auferlegt haben.
Mitten in der Krise musste die griechische Regierung ihre Ausgaben eindampfen, Steuern erhöhen, Löhne senken, Angestellte zu Zehntausenden entlassen.

Logische Folge: Die Wirtschaftsleistung ist in den letzten fünf Jahren um ein Viertel gefallen, der Staatskonsum ging zum 40 Prozent zurück, die Binnennachfrage um 30 Prozent, die Investitionen um fast 70 Prozent.
Weniger Schulden hat Griechenland durch den Sparkurs nicht, im Gegenteil: Zu Beginn der Krise lag die Staatsschuld bei 110 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Nach vier Jahren Sparen, Reformen und 230 Milliarden Euro „Hilfen“ durch EU und Währungsfonds sind es über 170 Prozent.

Syriza fordert daher ein Ende der Kürzungs-Orgie und einen Schuldenerlass. Zurecht! Denn der Austeritätskurs führt nur immer tiefer ins Elend.
Zudem muss Griechenland weiter sparen, seine Bevölkerung verarmen und neue Kredite aufnehmen – nur um die aufgelaufenen Schulden zu bedienen. Ein Schuldenschnitt ist ohne Alternative.
Bei Schulden in Höhe von 170 Prozent der Wirtschaftsleistung ist kein Aufschwung möglich, Griechenland bleibt die Geisel seiner Gläubiger.

Die werden vertreten von EU und Bundesregierung. Sie drohen Griechenland bereits offen mit dem Austritt aus der Euro-Zone. Solch ein „Grexit“ sei für die Währungsunion heute „verkraftbar“, ließ die Bundeskanzlerin inoffiziell vermelden.

Ganz so optimistisch ist man an den Finanzmärkten nicht. Ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone wird dort zwar derzeit nicht befürchtet.
Mit einem Austritt Griechenlands wäre allerdings ein Präzedenzfall geschaffen, der demonstriert: Die Währungsunion ist nicht länger unumkehrbar. Das wäre eine Einladung an alle Spekulanten, in der nächsten Krise gegen den Euro zu spekulieren

Gewarnt wird auch vor dem so genannten „politischen Risiko“: Wenn Syriza gewinnt und sich gegen EU und Bundesregierung durchsetzt, dann geht ein Ruck durch Europa.
Vom Spar-Diktat geplagte Länder wie Portugal, Italien und Spanien könnten sich gegen den deutschen Kurs auflehnen.
Gefürchtet wird vor allem die spanische Protestpartei Podemos. Ende dieses Jahres wird in Spanien gewählt. In den Umfragen liegt Podemos aktuell vorn. „2015 wird das Jahr des Wechsels in Spanien und Europa“, schrieb jüngst Podemos-Chef Pablo Iglesias. „Wir fangen in Griechenland an. Los Syriza!“

Hätte er doch recht! Denn nicht nur Griechenland braucht den Politikwechsel.
In ganz Europa muss der Spar- und Lohnkürzungs-Wahnsinn beendet werden. Er hat uns bereits in die Deflation geführt, seit Dezember sinken die Preise in der Euro-Zone.
Europa braucht wieder eine Stärkung der Binnennachfrage durch höhere Löhne.
Und vor allem ein massives Investitionsprogramm, um die Produktivität zu steigern. Anders wird es nicht gehen.
Auch nicht in Deutschland, wo selbst in guten Jahren die Menschen nichts vom Wirtschaftswachstum haben.

Syriza-Chef Alexis Tsipras schrieb dieser Tage an die Deutschen:
„Am 25. Januar wird in Griechenland eine neue Chance für ganz Europa geboren. Mögen wir sie nicht ungenutzt lassen.“

Weitere Informationen: www.michael-schlecht-mdb.de

Dazu auch 16.01.2015 Sahra Wagenknecht

Bundesregierung löst Notfall bei griechischen Banken aus

„Die Bundesregierung hat mit ihren kolportierten Grexit-Szenarien zwei griechische Banken in die Liquiditätskrise geredet. Offenbar ist Merkel jedes Mittel recht, wenn es das Ziel befördert, dass die unverantwortliche Kürzungspolitik in Griechenland fortgesetzt werden kann“, kommentiert Sahra Wagenknecht die Meldung, dass griechische Banken Notfallkredite beantragt haben. Die Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE weiter:

„Merkel verteidigt in Griechenland die Politik der Agenda 2010, die Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren Europas, einen Anstieg der Armut und massenhafte Entwürdigung von Betroffenen gebracht hat. Ein Sieg von SYRIZA bei den Wahlen in Griechenland und eine Rücknahme der dortigen Kürzungspolitik wäre auch eine Niederlage für die Agenda-2010-Parteien in Deutschland.

Griechenland – aber auch der Rest der Eurozone – braucht sofort einen Kurswechsel, um eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation zu erreichen. Das geht nur mit mehr Wachstum über höhere öffentliche Investitionen und Ausgaben sowie einer ausreichenden Reduzierung der Schulden. Damit bei einer Schuldenreduzierung der Schaden für die öffentliche Hand minimiert wird, müssen im Fall Griechenlands die restlichen Forderungen der Banken und privaten Gläubiger – unter Wahrung der Pensionsansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – vollständig gestrichen werden. Zusätzlich ist das Aufkommen einer europaweit koordinierten Vermögensabgabe einzusetzen, um die Kosten des Schuldenschnittes für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch in Deutschland zu minimieren.“
http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/bundesregierung-loest-notfall-griechischen-banken/

Dazu auch im Neuen Deutschland:

Ratingagentur macht Wahlkampf

Fitch setzt Athen von »stabil« auf »negativ« herunter

Berlin. Gut eine Woche vor der Parlamentswahl hat die US-Agentur Fitch den Ausblick für Griechenland von »stabil« auf »negativ« gesenkt. Damit wird eine Abstufung der Kreditwürdigkeit, die mit »B« bereits im spekulativen Bereich liegt, wahrscheinlicher. Die derzeitige Phase politischer Unsicherheit habe die Risiken für die griechische Kreditwürdigkeit verstärkt, hieß es zur Begründung.