Aus der Dreckschleuder der Arbeitgeberpresse: Der Mythos vom verkrusteten Frankreich

Die Redewendung vom „Beseitugen von Verkrustungen“ tauchte in der deutschen Arbeitgeberpresse (FAZ, Welt, WirtschaftsWoche u.s.w.) schon seit dem Lambsdorff-Papier 1982 auf. Eine Schönrednerei des Abbaus sozialer Sicherheit – die Arbeitgeber setzten unter Kohl und später Schröder üble Verschlechterungen der Arbeitnehmerrechte, z.B. beim Kündigungsschutz, durch, Heute dazu in der Neuen Welt:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1055287.der-mythos-vom-verkrusteten-frankreich.html

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.Für Jörg Goldberg zielt das verzerrte Bild vor allem darauf ab, die Sozialsysteme im Nachbarland zu schleifen

Wenn hierzulande von Frankreich die Rede ist, dann fällt mit Sicherheit das Wort verkrustet – während Deutschland reformfreudig und anpassungsfähig sei, leide Frankreich unter »verkrusteten« politischen Strukturen. Man hat das schon so oft gehört, dass die Absurdität dieser Behauptung kaum noch auffällt: Ein Land, in dem eine einzelne Partei und eine einzelne Person seit 2005 die Regierung bestimmt, das sich gerade auf eine dritte »Große Koalition« unter eben dieser Person einstellt, wirft dem westlichen Nachbarland, das über eine lebhafte politische Kultur verfügt, »Verkrustung« vor.

Für die deutsche und französische Wirtschaftspolitik zentral ist die verbreitete These, Frankreich sei im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, der nur dann aufgehalten werden könne, wenn man sich endlich entschließen würde, das deutsche Vorbild – insbesondere die Maßnahmen der Agenda 2010 – zu kopieren. An dieser Darstellung ist – ähnlich wie am Vorwurf der politischen »Verkrustung« – fast alles falsch. Dies gilt zu allererst für die Demografie. Seit Langem hat Frankreich einen deutlichen Geburtenüberschuss – dort werden (pro Frau) durchschnittlich zwei Kinder geboren, in Deutschland sind es etwa 1,4. Infolgedessen ist Frankreichs Bevölkerung jünger: Fast ein Drittel ist unter 25 Jahren, in Deutschland sind es weniger als ein Viertel. Dafür sind bei uns 21,5 Prozent der Menschen älter als 65, in Frankreich weniger als 19 Prozent, obwohl die Lebenserwartung dort zwei Jahre höher ist als in Deutschland. Der Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung ist in Frankreich mit 13,6 Prozent mehr als drei Prozent niedriger als in Deutschland – trotz der deutlich höheren registrierten Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen. Aber es gibt eben in Frankreich auch mehr Jugendliche als in Deutschland.

Ökonomen pflegen sich nur selten für soziale Fragen zu interessieren – für sie sind angeblich »harte« Fakten wie Wachstum, Produktivität und Investitionen wichtiger. Aber auch hier ist das Bild der französischen Wirtschaft anders als behauptet: Zwischen 2000 und 2017 (Prognose) war die französische Wachstumsrate in fünf Jahren deutlich höher als in Deutschland, in fünf Jahren war es umgekehrt. Über die gesamte Periode hinweg sind die beiden Volkswirtschaften gleich stark gewachsen – um 1,3 Prozent jährlich. Auch für 2017 wird für beide Länder eine ähnliche Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP; ca. 1,5 Prozent) erwartet.

Anders sieht es bei den Investitionen aus – angeblich erstickt die (historisch begründete) höhere Staatsquote Frankreichs die Investitionstätigkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anteil der Investitionen am BIP, also die Investitionsquote, ist seit 2002 in Frankreich kontinuierlich höher als in Deutschland. In einzelnen Jahren beträgt die Differenz mehr als drei Prozent. Der Internationale Währungsfonds schätzt die Investitionsquote in Frankreich 2017 auf 20,8 Prozent, für Deutschland auf 19,4 Prozent. Da verwundert es nicht, dass die französische Arbeitsproduktivität nicht nur höher ist als die deutsche, sondern auch rascher zunimmt: Die europäische Statistikbehörde Eurostat gibt an, dass die reale Arbeitsproduktivität je Stunde zwischen 1999 und 2014 in Frankreich von 39 auf 47 Euro gestiegen ist, in Deutschland von 37 auf 42 Euro.

Wie kommt es, dass Deutschland trotzdem seinen Exportüberschuss gegenüber Frankreich steigert – von 16 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 36 Milliarden 2016? Das Geheimnis heißt Lohnstückkosten: Zwischen 1999 und 2014 sind diese in Deutschland um 15 Prozent gestiegen, in Frankreich (trotz höherer Produktivität) um 30 Prozent. Deutschland hat gegenüber Frankreich, geschützt durch den Euro, eine Art Lohndumping betrieben. Darum geht es bei der aktuellen »Reformdiskussion« in und um Frankreich: Sozialsysteme und Arbeitskosten sollen reduziert, Schutzstandards gesenkt werden. Wenn von »Verkrustung« gesprochen wird, ist die (relative) Stabilität des Sozialsystems gemeint.

Angesichts der französischen Geschichte der sozialen Bewegungen ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass sich diese Hoffnungen erfüllen werden – im Gegensatz zur deutschen Situation sind die Konfliktfähigkeit der französischen Arbeiter und Angestellten und ihre Bereitschaft zu spontanen Formen der Konfliktaustragung in Frankreich alles andere als verkrustet.

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.

Tagung „Armut“ in Tutzing vom 13. bis 14.03.2015 mit Anne Lenze, Klaus Dörre, Helga Spindler, Wolfg ang Storz u.a.

Hier eine Weiterleitung einer guten Veranstaltung, danke an M.Spieker:
http://www.apb-tutzing.de/programm/anmeldung.php?tid=8876

Sehr geehrte Damen und Herren,

Vielleicht ist die Tagung über „Armut“ an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing für Sie von Interesse oder Sie mögen die Einladung weiterreichen.
Das Programm darf ich Ihnen hier anhängen. Anmelden können Sie sich online über http://www.apb-tutzing.de/programm/anmeldung.php?tid=8876 oder direkt bei der Tagungssekretärin, deren Adresse Sie auf dem Programm finden.

Auszüge aus dem Programm:

Armut liegt im Trend. Schon seit bald zwanzig Jahren ist ein stets wachsender Anteil der Bevölkerung in Deutschland nicht in der Lage, sein sozialkulturelles Existenzminimum selbst zu bestreiten.
Über 13 % der Bevölkerung gelten mittlerweile als armutsgefährdet.
Zuletzt stellte das Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Hartz-IV-Urteil“ fest, daß die Gewährleistung dieses Minimums ein direktes Erfordernis des Schutzes der Menschenwürde sei.

Daß zunehmend mehr Menschen in Deutschland als arm gelten, paßt weder zum Auftrag des Grundgesetzes noch zum Selbstbild der Bundesrepublik als Sozialstaat. Daher gibt es bereits über die Wahrnehmung des Phänomens politischen Streit.
Das zeigten zuletzt die Diskussionen um den „4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“.

Unsere Tagung will das Thema umfassend beleuchten. Dazu fragen wir nach der tatsächlichen Verbreitung von Armut in Deutschland und nach den Gründen für ihr Wachstum.
Wir betrachten die Lage von Familien, insbesondere von Alleinerziehenden und den Zusammenhang von Reichtum und Armut. Schließlich wollen wir speziell die Situation in Bayern mit zwei profilierten Sozialpolitikern diskutieren.

Ihr

Michael Spieker

Ethik und Theorie der Politik

Akademie für Politische Bildung Tutzing
Buchensee 1, D-82327 Tutzing

Tel.:

+49-(8158) 256-57
Fax: +49-(8158) 256-51
E-Mail: M.Spieker

Hier eine Übersicht über das voraussichtliche Tagungsprogramm:

Freitag, 13.3.

Ab 14h Anreise und Kaffee im Foyer
16.30h Einführung und Begrüßung
16.45h Armut in Deutschland – eine Bestandsaufnahme

Michael David, Diakonie Bundesverband, Berlin

18.30h Abendessen
19.45h Armut, Sozialstaat und Menschenwürde

Prof. Dr. Anne Lenze, FH Darmstadt

Samstag, 14.3.

8.15h Frühstück
9.00h Arme Arbeitende, arme Familien, arme Kinder

Prof. Dr. Helga Spindler, Uni Duisburg-Essen

11.00h Die Kommentierung von Armut und Reichtum in den Medien

Dr. Wolfgang Storz, Offenbach

12.30h

14.00h

Mittagessen

Kaffee

14.15h Kontrolle der Armen oder Bekämpfung von Armut?

Prof. Dr. Klaus Dörre, Uni Jena

15.45h Armut in Bayern – und Wege zu ihrer Verhinderung

Gespräch mit Joachim Unterländer MdL (CSU) und Johanna Rumschöttel Altlandrätin (SPD)

17.00h Tagungsende mit Abendimbiss

Armut gefährdet die Demokratie

Demokratie muss marktkonform werden, und wer nichts in der Tasche hat und auch keine auszubeutende Leistung mehr erbringen kann, ist ein „unnützer Esser“. Diese Menschen darf man heutzutage nicht mehr euthanasieren wie bei den Nazis. Also überlässt man sie sich selbst. Im Alter reicht dann der Satz sowieso nicht für den Erhalt der Gesundheit,  die ärztliche Versorgung wird zurückgebaut und privatisiert, sie sterben früher, so entlasten sich auch die Rentenkassen.

Zynismus ? Nein, KAPITALISMUS !

altonabloggt

 

Aus einer Rede

(…) Deutschland schwimmt im Exportboom, die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit Jahren nicht mehr und die Anzahl der Erwerbstätigen steigt stetig. Politiker, insbesondere die GroKo, Arbeitgeberverbände und Unternehmen jubeln. Deutschland, als das Vorzeigeland zu den angrenzenden europäischen Nachbarländern. Klingt gut und meine ich jedoch durchaus zynisch. Warum?

  • 44 Prozent der Alleinerziehenden gelten als arm – Armut ist weiblich.
  • 58 Prozent der Erwerbslosen gelten als arm.
  • 1,3 Millionen Erwerbstätige beziehen aufstockende Sozialleistungen.
  • 22 Prozent arbeiten im prekären Niedriglohnsektor.
  • Rund 1,5 Millionen Menschen marschieren zur Tafel. Manche sprechen auch von knapp 2 Millionen. Tendenz steigend.
  • Seit dem Jahr 2000 wurden rund 1,4 Millionen Vollzeitstellen abgebaut. Gestiegen sind dafür Teilzeitstellen und Mini Jobs. Rund 13 Millionen Menschen arbeiten darin, davon rund 7 Millionen im Mini-Job.
  • Über 30 Prozent der alleinlebenden Menschen mit Behinderung zwischen 25 und 45 Jahren haben ein Haushaltsnetto-Einkommen von unter 700 Euro. Im Vergleich zu…

Ursprünglichen Post anzeigen 1.103 weitere Wörter