Das zerrissene Land – noch nie war die Armut in Deutschland so hoch wie derzeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die Aussage der damaligen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ist widerlegt und erweist sich als verlogene Propaganda.
Die SPD hat die Schuldenbremse genauso mit durchgewunken wie die Grünen.
Man muss es unserer Regierung und deren Afterschreibern mit ihrer „Uns gehts doch gut“-Haltung immer wieder um die Ohren hauen:

https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2015/april/das-zerrissene-land
Auszüge: Von Christian Woltering, Gwendolyn Stilling und Ulrich Schneider

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Es ist ein Trauerspiel: Das dritte Jahr in Folge muss der Paritätische Gesamtverband seinen Armutsbericht mit dieser Botschaft eröffnen:
Noch nie war die Armut in Deutschland so hoch wie derzeit – und zudem die regionale Zerrissenheit so tief
.[1]

Die Armutsquote im Jahr 2013 – auf dieses Jahr beziehen sich die Daten, die dem Bericht zugrunde liegen – betrug in Deutschland 15,5 Prozent. Damit hat sie im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 Prozentpunkte zugenommen. Rein rechnerisch müssen rund 12,5 Millionen Menschen zu den Armen gezählt werden.
In der längerfristigen Betrachtung wird so ein klarer Trend wachsender Armut seit 2006 deutlich, von 14 auf besagte 15,5 Prozent; das bedeutet einen Anstieg der Armut um 11 Prozent. Damit muss die Behauptung der Bundesregierung, die Armut in Deutschland sei in den letzten Jahren relativ konstant geblieben bzw. die Aussage der damaligen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, man könne sogar wieder von einer sich schließenden Einkommensschere sprechen, als widerlegt betrachtet werden.[2]

Wie in jedem Jahr wertete der Paritätische Gesamtverband für seinen Armutsbericht die Daten des Statistischen Bundesamtes aus und unterlegte und ergänzte diese mit eigenen Berechnungen. Der gängigen Methode der Armutsmessung von OECD, WHO und Europäischer Union folgend, markiert dabei ein Nettoeinkommen von unter 60 Prozent des nach Haushaltsgröße bedarfsgewichteten mittleren Einkommens (Median) die Armutsgrenze.[3]
Ob man bei dieser Grenze von Armut sprechen kann, hängt von den Schwellenwerten ab, die sich aus dieser Berechnung ergeben. Im Jahr 2013 lag die so errechnete Armutsschwelle für einen Singlehaushalt bei 892 Euro netto, für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1873 Euro.[4]

Wachsendes Ungleichheitsgefälle

Die amtlichen Statistiker sprechen dabei mit aller Vorsicht von einer Armutsgefährdungsschwelle. Diesem Terminus wollte der Paritätische Gesamtverband in seinem aktuellen Armutsbericht jedoch nicht mehr folgen: Denn die 60-Prozent-Schwelle liegt mittlerweile – je nach Wohnort und Mietkosten – nahe oder sogar unterhalb der Hartz-IV-Bedarfsschwelle. So läge beispielsweise die vierköpfige Modellfamilie mit ihren 1873 Euro in Mecklenburg-Vorpommerns Greifswald zwar mit 57 Euro noch sehr knapp über dem Hartz-IV-Niveau, im teuren Wiesbaden in Hessen jedoch bereits 206 Euro darunter.
Wer heutzutage mit der 60-Prozent-Schwelle arbeitet, muss daher in weiten Teilen Deutschlands von Armut sprechen.

Mit Ausnahme von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist die Armut in allen Bundesländern gestiegen, wenn auch unterschiedlich stark.
Auffällig dabei: Gerade die Länder, die in Deutschland die geringste Armut aufweisen, nämlich Bayern (11,3 Prozent) und Baden-Württemberg (11,4 Prozent) zeigen auch deutlich unterdurchschnittliche Zuwachsraten, während die Länder, die sich ohnehin relativ abgeschlagen am Fuße der Wohlstandsleiter befinden – nämlich Berlin (21,4 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (23,6 Prozent) und Bremen (24,6 Prozent) – auch überproportionale Steigerungsraten aufweisen.
Beim Schlusslicht Bremen hat die Armut im Jahr 2013 sogar um 1,7 Prozentpunkte zugenommen. Das heißt: Jeder Vierte muss hier bereits zu den Armen gezählt werden.

Die Fliehkräfte in Deutschland nehmen somit zu, die regionale Zerrissenheit wird von Jahr zu Jahr tiefer. Betrug die Differenz zwischen der Region mit der niedrigsten Armutsquote (Schleswig-Holstein Süd mit 7,8 Prozent) und der Region mit der höchsten Quote (Vorpommern mit 25,6 Prozent) im Jahre 2006 noch 17,8 Prozentpunkte, so waren es 2013 bereits 24,8 Prozentpunkte Abstand: Heute stehen sich das baden-württembergische Bodensee-Oberschwaben mit 7,8 Prozent und Bremerhaven mit 32,6 Prozent gegenüber. Ist in der einen Region gerade jeder Dreizehnte arm, so ist es in der anderen bereits jeder Dritte.
Von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland kann mit Blick auf derartige Unterschiede keine Rede sein.

Ost-West-Schablone greift nicht mehr

Die gängige Ost-West-Schablone greift dabei nicht mehr. Unter den 20 ärmsten der insgesamt 95 Raumordnungsregionen in Deutschland befinden sich sieben westdeutsche, vom Schlusslicht Bremerhaven bis zu den Regionen Dortmund, Hannover oder Duisburg. In Bremen steigt die Armutsquote seit 2009 nunmehr im vierten Jahr hintereinander steil an. In dieser relativ kurzen Zeit ist die Armut dort um mehr als ein Fünftel von 20,1 auf 24,6 Prozent gewachsen.
In Berlin lässt sich ein solch klarer Trend bereits seit 2006 beobachten. Hier ist die Armutsquote seitdem sogar um mehr als ein Viertel angestiegen, von damals 17 auf nunmehr 21,4 Prozent. Hinzu kommt, dass Berlin die Region mit der höchsten Hartz-IV-Quote bleibt. Während diese bundesweit 9,6 Prozent beträgt, sind es in der Bundeshauptstadt 20,7 Prozent. Insbesondere Kinder sind betroffen: Jedes dritte Kind lebt in Berlin von Hartz IV.

Eine ähnliche Dynamik, wenn auch glücklicherweise auf niedrigerem Niveau, zeigt Nordrhein-Westfalen. Hier hat die Armutsquote im Jahr 2007 erstmals den gesamtdeutschen Mittelwert überschritten und steigt seitdem – außer 2012 – in jedem Jahr stärker als in Gesamtdeutschland. Der Zuwachs seit 2006 beträgt in Nordrhein-Westfalen 22,7 Prozent.

Eine besondere Problemregion bildet dort nach wie vor das Ruhrgebiet. Bestand im letzten Jahr noch Hoffnung, dass der lang anhaltende Anstieg der Armut in dieser Region 2012 erst einmal gestoppt sein könnte, nahm die Armut in 2013 erneut um 0,9 Prozentpunkte zu. Damit steigt die Armutsquote im Ruhrgebiet auf den Wert von 19,7 Prozent und liegt damit noch höher als in Brandenburg, Thüringen oder Sachsen. Die Hartz-IV-Quote lag 2013 bei 16,1 Prozent und damit entgegen dem Bundestrend sogar noch leicht höher als im Jahr 2006 (15,7 Prozent).

Neue, alte Risikogruppen

Was die besonderen Risikogruppen der Armut anbelangt, so liefern die aktuellen Daten im Wesentlichen Altbekanntes. Genau darin aber liegt der eigentliche politische Skandal: 59 Prozent aller Erwerbslosen und 42 Prozent aller Alleinerziehenden müssen als einkommensarm gelten. Und ihr Risiko der Verarmung nimmt von Jahr zu Jahr überproportional zu. Betrug die Steigerung der allgemeinen Armutsquote zwischen 2006 und 2013 in Deutschland 11 Prozent, waren es bei der Gruppe der Alleinerziehenden im gleichen Zeitraum 16,2 Prozent und bei den Erwerbslosen sogar 18,8 Prozent.
Es gelang also offensichtlich nicht, dieses altbekannte Problem auch nur annähernd abzumildern. Stattdessen ist es noch größer geworden.

Betrachten wir die Armutsquoten bei den unterschiedlichen Altersgruppen, so fallen insbesondere zwei Befunde ins Auge: Zum einen der sehr hohe Wert bei den bis 18jährigen, der mit einem leichten Anstieg der Hartz-IV-Quote in dieser Gruppe einhergeht. Mit 15,4 Prozent lag die Hartz-IV-Quote bei Kindern auch 2013 über der Quote, die bei der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 vorherrschte (14,9 Prozent).

Die regionale Spreizung ist auch hier außerordentlich. Sie reicht von 2 Prozent im bayerischen Landkreis Pfaffenhofen bis zu 38 Prozent in Bremerhaven.
Insgesamt weisen mittlerweile 16 Kreise und kreisfreie Städte in Deutschland eine Hartz-IV-Quote bei Kindern von über 30 Prozent auf. Die Zahl der Kreise, die von echter Kinderarmut geprägt sind, ist erschreckend hoch.

Ein weiteres besonderes Augenmerk sollte zum anderen einer Gruppe gelten, die bisher unter Armutsgesichtspunkten relativ wenig diskutiert wurde. Es sind die Haushalte von Rentnerinnen und Rentnern sowie Pensionären. Sie liegen mit einer Armutsquote von 15,2 Prozent zwar noch leicht unter dem Bundesdurchschnitt, ihr Armutsrisiko ist dafür aber in den letzten Jahren geradezu dramatisch angestiegen – seit 2006 um ganze 47,6 Prozent.
Das Bild der auf uns „zurollenden Lawine der Altersarmut“ findet hierin seine statistisch eindrückliche Bestätigung. Die Armut alter Menschen und insbesondere der Rentner nimmt also sehr viel stärker zu als bei irgendeiner anderen Bevölkerungsgruppe.
Gleichwohl ist keinerlei politische Intervention zu erkennen, die geeignet wäre, diesen Trend zu stoppen oder wenigstens abzumildern – das Rentenpaket der Bundesregierung aus dem Jahr 2014 wird jedenfalls aller Voraussicht nach keine positiven Wirkungen für die betroffenen armen Ruheständler entfalten.

Angesichts der Tatsache, dass die Trends der Armutsentwicklung bereits seit 2006 anhalten, stellt sich die Frage, ob diese auf politische Unterlassungen zurückzuführen sind. Auffällig ist, dass sich die Entwicklung der Armutsquoten und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland völlig voneinander abgekoppelt haben.
Mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 haben das Volkseinkommen, der gesellschaftliche Reichtum in Deutschland seit 2006 kontinuierlich zugenommen – genauso kontinuierlich, wie die Armut in Deutschland wuchs.
Mit anderen Worten: Gesamtgesellschaftlich handelt es sich bei der Armutsentwicklung in Deutschland weniger um ein wirtschaftliches als vielmehr um ein Verteilungsproblem. Stetig wachsender Wohlstand führt seit Jahren zu immer größerer Ungleichheit und nicht zum Abbau von Armut.
Offensichtlich fehlt ein armutspolitisches Korrektiv.

Der Kampf gegen die Armut

Dabei ist seit Jahren bekannt, wie die Armut wirksam bekämpft werden könnte: Durch öffentlich geförderte Beschäftigung, eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze auf ein menschenwürdiges Maß, die Umstrukturierung des Familienlastenausgleichs, so dass diejenigen die meisten Hilfen bekommen, denen es in der Tat am schlechtesten geht – und nicht umgekehrt, wie es derzeit der Fall ist –, aber auch durch zielgenaue Programme für Alleinerziehende mit ihren Kindern, durch Bildungsanstrengungen für Kinder in benachteiligten Familien, die Bekämpfung der wachsenden Altersarmut und schließlich – mit Blick auf die regionale Zerrissenheit – durch einen Länderfinanzausgleich, der tatsächlich denjenigen Regionen in der Bundesrepublik zugute kommt, die sich nicht mehr am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können.

Doch die Große Koalition verschließt die Augen und ist nicht gewillt, an dieser beschämenden Situation etwas zu ändern. Denn der Geburtsfehler dieser Koalition liegt in der Tabuisierung jeglicher Steuererhöhungen.

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Solange der Staat in diesem fünfreichsten Land der Erde darauf verzichtet, sehr große Vermögen, sehr hohe Einkommen genauso wie Erbschaften und Kapitalerträge stärker zu besteuern, so lange bleibt jegliche Debatte darüber eine rein akademische Übung.

Über fünf Billionen Euro privaten Geldvermögens werden in Deutschland auf Konten, in Aktienpaketen oder Lebensversicherungen gehortet. Um 36 Prozent ist dieser Geldberg – Krise hin oder her – in den letzten zehn Jahren gewachsen; in den letzten 20 Jahren sogar um märchenhafte 145 Prozent!
Wohlgemerkt: Es geht nicht um Produktionsstätten, um Grundstücke, Häuser oder Wälder. Es geht allein um Geldvermögen, das bei ziemlich wenigen zu finden ist.
Die reichsten 10 Prozent in Deutschland teilen ganze 58 Prozent des gesamten Vermögens unter sich auf. Jeder dritte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, fließt am Ende in diese Haushalte.

Darunter leiden die Armen ebenso wie die öffentlichen Haushalte. Deren Finanznot stellt mittlerweile nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch eine echte Bedrohung unseres Sozialstaates dar.
In den Kommunen besteht ein Investitionsrückstand von fast 100 Mrd. Euro. Über ein Viertel davon entfällt allein auf Schulen und andere Bildungs- und Erziehungseinrichtungen. Sporthallen und Spielplätze sind vielerorts in marodem Zustand. Schwimmbäder, Büchereien und Theater werden geschlossen. Jugendzentren und Projekte in sogenannten sozialen Brennpunkten sind genauso Opfer dieser Entwicklung wie Seniorentreffs oder familienunterstützende Dienste – Einrichtungen, die für die Lebensqualität in einer Kommune von zentraler Bedeutung sind.[5]

Wer Armut ernsthaft und substanziell bekämpfen will, muss endlich etwas gegen diese extreme verteilungspolitische Schieflage tun.
Alles andere ist nur Kosmetik – und einer sozialen Demokratie unwürdig.

Jochen

Lehrbeispiel Privatisierung: Neuseeland – alles andere als ein Wohlstandsparadies

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wichtiger Überblick über das, was einem Land unter neoliberaler Herrschaft so alles passieren kann:
http://www.gegenblende.de/++co++ac85268a-df5d-11e3-82f0-52540066f352
Wer will das hier auch so haben ?
Ansätze davon sind hier schon lange zu erkennen. Aber auch in Großbritannien läuft es ähnlich – wenm nutzt es ? Und ist den Ukrainern, die nach der EU gieren, das bewusst ?
Auszüge:
von: Helen Kelly

In Europa gibt es wieder Forderungen nach einer stärkeren Liberalisierung der Wirtschaft, z.B. in Form einer Deregulierung der Arbeitsmärkte oder einer Privatisierung staatlicher Aufgaben.
Welche Folgen dies für die Beschäftigten haben könnte, lässt sich abschätzen, wenn man einen Blick auf die Folgen ähnlicher Politiken in Neuseeland wirft. Hierzu zählte unter anderem ein in den 1980er Jahren gestartetes umfassendes Programm, das in diesem Jahr seinen Höhepunkt in der Privatisierung der meisten Stromerzeuger fand.
Von der Weltbank wird Neuseeland seit diesen Maßnahmen regelmäßig als eine der „unternehmensfreundlichste Ökonomien“ der Welt eingestuft.

Die Auswirkungen der Arbeitsmarktderegulierung sind ein Teil der über die letzten Jahrzehnte voran schreitenden und umfassenden Liberalisierungspolitik.
Andere Beispiele betreffen die Deregulierung der Bauindustrie in den 1990er Jahren. Danach bestanden für die Bauunternehmen nur noch wenige Restriktionen hinsichtlich des für Neubauten verwendeten Baumaterials.
Als Resultat dessen müssen nun Tausende Häuser aufgrund von Feuchtigkeitsschäden grundsaniert werden. Die Kosten hierfür werden auf über 11 Mrd. neuseeländische Dollar geschätzt (1 € = 1,58 NZD).
Von 1994 an wurde die Stromindustrie privatisiert und dereguliert und alleine in den letzten Jahren sind die Strompreise für die Verbraucher um 22 Prozent gestiegen.
Grundlegende Versorgungsleistungen, wie das Luftverkehrs- und Eisenbahnwesen, wurden privatisiert und ausgeschlachtet.
Schließlich musste der Staat die Unternehmen zurückkaufen und sanieren, um zu retten, was noch zu retten war.

Der Arbeitsmarkt

Bis in die 1980er Jahre besaß Neuseeland ein System industrieller Beziehungen, das auf Branchenverhandlungen sowie starken Industriegewerkschaften und Arbeitgeberverbänden basierte. Zudem genoss das Tarifverhandlungssystem einen starken staatlichen Rückhalt.
Dieses System wurde durch eine Reihe von Maßnahmen aufgelöst, insbesondere im Jahr 1991, als praktisch alle Beschäftigungsverhältnisse quasi ‚über Nacht’ dereguliert wurden.
Das Ergebnis war, dass nahezu 80% aller Beschäftigten in ein System direkter, individueller Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wechselten. Das bewirkte einen dramatischen Niedergang der Mitgliedszahlen der Gewerkschaften und der Kollektivverhandlungen.
Während dieser Zeit beruhten die meisten Beschäftigungsverhältnisse auf individuellen Verträgen ohne jeglichen Einfluss der Gewerkschaften. Es gab keine gesetzlichen Mittel zur Anerkennung von Gewerkschaften und auch das Streikrecht war hochgradig reguliert.
Im Jahr 2000 wurde zwar ein neues Gesetz erlassen, das auf vertrauensvolle Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern abstellte, in der Realität blieben Kollektivverhandlungen für die meisten Beschäftigten jedoch weiterhin nur auf Unternehmensebene möglich.
Das Gesetz reichte nicht aus, um das Kollektivverhandlungssystem wieder herzustellen und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften liegen im Privatsektor heute auf einem Rekordtief von nur 12%.

Kollektivverhandlungen sind der einzige Weg, der den Beschäftigten zur Verfügung steht, um auf die Einkommensverteilung Einfluss zu nehmen.
Im letzten Jahr erhielten 46% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Neuseelands überhaupt keinen Lohnzuwachs. Nahezu ein Drittel der Beschäftigten erhält gerade oder annähernd den Mindestlohn und zwei Drittel verdienen weniger als den Durchschnittslohn. Die Lohnquote ist im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte dramatisch gefallen und ist nun eine der niedrigsten in der OECD, lediglich unterboten von Mexiko, der Türkei und der Slowakei. Zugleich wächst die Ungleichheit schneller als in den meisten anderen OECD-Ländern. Über 265.000 Kinder leben unterhalb der Armutsgrenze, wobei eines von drei dieser Kinder in einem Haushalt mit einer vollzeitbeschäftigten Person lebt.

Das ist aber noch nicht alles. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts hatte dramatische Auswirkungen auf die Arbeitssicherheit. Die Rate der Arbeitsunfälle ist in Neuseeland sechsmal so hoch wie in Großbritannien, denn mit dem Arbeitsrecht wurde zugleich auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz dereguliert.
Zusammen mit dem Mangel an gewerkschaftlicher Vertretung und unzureichenden Arbeiterrechten hatte diese Entwicklung verheerende Folgen. So gab es eine Reihe aufsehenerregender Unfälle. Im Jahr 2010 kam es in einem Minenbergwerk nach nur einem Jahr im Betrieb zu mehreren Explosionen, bei denen 29 Bergleute ums Leben kamen.
Die Bergbausicherheit war in den 1980er Jahren mit dem Abbau von Regulierungen für den Bergbau und der Einschränkung des Inspektorats auf nur einen Bergbauinspektor pro Mine dereguliert worden.
Obwohl von den Bergleuten über 200 Beinahe-Unfälle und Sicherheitsvermerke gemeldet worden waren, wurde nichts unternommen, um die Sicherheit der Mine zu gewährleisten. Als sich die Explosion ereignete, existierte weder ein zweiter Ausgang, über den die Bergleute hätten entkommen können, noch gab es Sicherheitsbereiche mit Frischluft, in die sie sich hätten retten können.
Es gab auch kein angemessenes Gasfrühwarnsystem, obwohl die Mine allgemein als gashaltig galt. Von den verantwortlichen Minenbetreibern wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Beispiel Forstwirtschaft

Die Forstwirtschaft Neuseelands stellt ein weiteres, allerdings weitaus weniger offenkundiges Beispiel dafür dar, wie sich die Deregulierung auf die Beschäftigten auswirkt.
Nach der Deregulierung in den 1980er Jahren wurden die vormals staatlichen Wälder privatisiert und dann weiterverkauft. Infolge der damit verbundenen Fragmentierung wird diese Industrie – die hinsichtlich der Exporteinkünfte Neuseelands an dritter Stelle liegt – nun von neun großen und überwiegend in ausländischem Besitz befindlichen Investmentgesellschaften kontrolliert.
Darunter beschäftigen über 300 kleine Vertragsunternehmen die rund 6.500 Holzarbeiter. Die Deregulierung hatte zur Folge, dass diejenigen, die die Arbeit machen, nun zwei Subebenen von denen entfernt sind, die von der geleisteten Arbeit profitieren. Die beschäftigenden Vertragsfirmen wiederum werden in einem Preiswettbewerb gegeneinander ausgespielt. Die Konsequenz sind sehr schlechte Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.

Die Holzarbeiter hatten eine gewerkschaftliche Vertretung, die allerdings im Zuge der Deregulierung und Privatisierung verschwand. In einer solchen Industrie und im Kontext eines Beschäftigungssystems, das auf unternehmensbezogenen Verhandlungen basiert, wurde die Aufrechterhaltung einer Industriegewerkschaft unmöglich. Die Gewerkschaft brach dann auch zwangsläufig zusammen und existiert nun nicht mehr.
Der Lohnanteil in der Forstindustrie ging währenddessen von 70% in den späten 1980er Jahren auf gerade einmal 19% heute zurück. Forstarbeiter haben nun extrem lange Arbeitszeiten bei sehr niedrigen Löhnen.

Die anschaulichste Art zu beschreiben, wie das Leben eines Forstarbeiters heutzutage aussieht, ist anhand der Geschichte eines der zehn Arbeiter, die im letzten Jahr in unseren Wäldern ums Leben kamen. Charles Finlay arbeitete 27 Jahre im Wald. Am Abend bevor er ums Leben kam, war er um 18 Uhr nach Hause gekommen. Um 3 Uhr morgens stand er wieder auf, um gegen 4 Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Um 5:30 Uhr, noch bevor es hell war, war er tot. Es war mitten im Winter an einem dunklen Ort zu Beginn seines 11-Stunden-Tages. Charles verdiente nach all den Jahren 16 Dollar (9,90€) die Stunde. Seine Geschichte ist kein Einzelfall. Charles hinterlässt Zwillinge im Alter von 10 Jahren und einen 22 Jahre alten Sohn.

Forstarbeiter arbeiten unter extremem Produktionsdruck. In der Regel werden sie weder für die Fahrtzeiten (oft benötigen sie über eine Stunde pro Fahrt zur Arbeit) noch für schlechtwetterbedingte Arbeitsausfälle entlohnt.
Für die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in Neuseeland gibt es – solange keine Tarifvereinbarung besteht – keine Begrenzung der maximalen Arbeitszeit. Die Arbeit wird pauschal und nicht nach geleisteten Stunden entlohnt.
Es besteht ein deutlicher Anreiz, Arbeitskräfte mit sehr langen Arbeitszeiten und sehr geringen Löhnen zu beschäftigen.
Neuseeland verfügt über eines der weltweit führenden Systeme der Unfallentschädigung für Beschäftigte. Im Gegenzug zu einer verschuldensunabhängigen Versicherung, die über den ganzen Tag sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause besteht, gibt es in Neuseeland kein Recht, wegen eines Unfalls zu klagen.
Solange die Beschäftigten keinen Anlass zu einer Klage haben, ist dies grundsätzlich vorteilhaft. Das Gegenstück zu dieser Regelung sollte allerdings eine rigorose Überwachung der Sicherheits- und Gesundheitsstandards sein, die gemeinsam mit Durchsetzungsmechanismen eine strafrechtliche Verfolgung von Arbeitgebern, die ihren Pflichten nicht nachkommen, ermöglicht.
Wie oben jedoch dargestellt, wurde dieses System ebenfalls nieder gerissen bzw. „modernisiert“, so dass sich Arbeitgeber „selbstregulierend“ verhalten und der Staat nur geringfügig eingreifen sollte.
Dies hatte zur Folge, dass nur sehr wenige Arbeitgeber in der Forstwirtschaft strafrechtlich verfolgt wurden und nicht ein Waldbesitzer angeklagt wurde.

Von den insgesamt relativ wenigen Forstarbeitern kamen seit 2009 28 ums Leben und über 900 wurden schwer verletzt. Zwar ist die Forstindustrie bei weitem die gefährlichste in Neuseeland, die Rate der Arbeitsunfälle ist aber durchweg hoch. Einer Gewerkschaft beizutreten, ist für die Forstarbeiter ein Risiko.
Die Chancen, durch Kollektivverhandlungen die Sicherheitsstandards zu erhöhen, sind überaus gering. Es gibt keinen „trickle down“-Effekt in dieser Industrie und die Deregulierung des Arbeitsmarktes war für die Arbeitskräfte ein Desaster.

Tatsächlich zahlen einige der produktivsten Industrien Neuseelands die niedrigsten Löhne. Die exportorientierte Landwirtschaft ist zum Beispiel völlig gewerkschaftsfrei, hat sehr niedrige Löhne, extrem lange Arbeitszeiten und eine fürchterliche Unfallbilanz.

Beispiel Bausektor

Die Bauindustrie ist ebenso gewerkschaftsfrei und durch Vergabeverhältnisse geprägt. Im Zuge des Wiederaufbaus von Neuseelands größter Stadt Christchurch nach dem schweren Erdbeben sind in der Bauindustrie wieder Jobs zu haben. Zugleich verweist der Wiederaufbau von Christchurch auf einen weiteren Bereich, der den Deregulierungspolitiken der vorherigen und der jetzigen Regierung zum Opfer gefallen ist: die Industrieausbildung

Neuseeland hat keine aktive Arbeitsmarktpolitik und wird in internationalen Studien als ein Land mit sehr geringem Beschäftigungsschutz klassifiziert.
In den späten 1980er Jahren wurden die Planung, das Management und die Kontrolle der industriellen Ausbildung der Industrie überlassen. Dies führte zu einem starken Rückgang der Ausbildungsplätze und dementsprechend zu einem erheblichen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. In einigen unserer grundlegendsten Berufe haben wir sehr wenige Auszubildende und die Industrie ruft nach vermehrter Zuwanderung, um die Lücke zu schließen. Gleichzeitig haben wir eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Überall im Bausektor ist die Knappheit ernsthaft. Beim Wiederaufbau von Christchurch sind über die Hälfte der Arbeitskräfte über Leiharbeitsverträge beschäftigt. Der Wiederaufbau wird von einer kleinen Zahl großer Baufirmen dominiert, die wiederum kleinere Unternehmen mit der Durchführung beauftragen. Und letztere nutzen dann die Leiharbeit.
All dies resultiert aus einer zu geringen Beschäftigungssicherheit, die keine ausreichenden Qualifizierungsanreize bietet. In Zeiten einer hohen Nachfrage hält dies natürlich auch die Löhne niedrig, da Beschäftigte, die möglicherweise Kollektivverhandlungen anstreben, leicht entlassen werden können.
Die langfristige Aussicht für die Bevölkerung Neuseelands ist dementsprechend die einer Ökonomie, welche auf niedrigen Löhnen und geringen Qualifikationen basiert. Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes wurden die Anreize, Arbeitskräfte auszubilden, verringert.
In der Abwesenheit von Industrielöhnen finden sich ausbildende Arbeitgeber mit dem Problem konfrontiert, dass die dann qualifizierten Arbeitskräfte schnell von anderen, nicht ausbildenden Arbeitgebern mithilfe etwas höherer Löhne abgeworben werden. Einerseits beschäftigen die Arbeitgeber, die am besten in der Lage wären auszubilden (die großen Bauunternehmen), selbst nur einen geringeren Teil der Arbeitskräfte. Und andererseits haben zahlreiche Arbeitskräfte (Leiharbeitskräfte) keinerlei Garantie auf eine dauerhafte Beschäftigung.
In der Konsequenz werden die Planungsmöglichkeiten hinsichtlich einer qualifizierten Arbeiterschaft ernsthaft eingeschränkt. Ohne industrieweite Verhandlungen gibt es auch keine starken Arbeitgeberverbände mehr und es existiert nicht einmal mehr ein Forum, in dem derartige Diskussionen entwickelt werden könnten.

Neuseeland hat eine ganze Menge zu bieten. Es ist dünn besiedelt, liegt in einem schönen Teil der Welt, das allgemeinbildende Schul- und das Gesundheitssystem sind ausgezeichnet und die soziale Sicherung vergleichsweise hoch. Ohne Institutionen, welche die Interessen der Arbeiterschaft fördern, sind diese Stärken weniger wert.
Niedrigere Löhne führen zu niedrigeren Steuereinnahmen und einer erhöhten Nachfrage nach Unterstützungsleistungen, um die Lücke zwischen Löhnen und Lebenshaltungskosten zu schließen.
Längere Arbeitszeiten belasten die Familien und entziehen den Gemeinden Ressourcen. Verletzte oder ums Leben gekommene Arbeiterinnen oder Arbeiter stürzen Familien ins Unglück.
Eine hohe Konzentration des Reichtums bringt die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht und unterwirft sie noch stärker der Einflussnahme durch die Vermögenden.
Geringe Ausbildungsinvestitionen lassen ganze Generationen mit wenig Hoffnung auf ein angemessenes und interessantes Arbeitsleben zurück.
Wir hoffen, in Europa ausgewogenere Modelle der wirtschaftlichen Entwicklung und der industriellen Beziehungen zu finden.
Deutschlands Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen jeglicher Rhetorik widerstehen, die auf eine Verringerung ihrer Mitsprachemöglichkeiten am Arbeitsplatz und ihrer politischen Macht in der Gemeinschaft abzielt.
Und wenn es der Nachhilfe bedarf, warum diese Errungenschaften wichtig sind – dann schaut nach Süden!

(Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Beck)

Helen Kelly ist Präsidentin des Neuseeländischen Gewerkschaftsbundes CTU

Jochen