Wahlen in Spanien: Aus Österreich 6 Thesen zum Fall der alten Ordnung

Schon über eine Woche alt, trotzdem noch ganz aktuell:

http://mosaik-blog.at/wahlen-in-spanien-sechs-thesen-zum-fall-der-alten-ordnung/

Die Wahlen im spanischen Staat am vergangenen Sonntag haben die alte Ordnung zu Fall gebracht: Das Zweiparteiensystem ist Geschichte. Die Bewegungen haben in Form von Podemos eine Bresche in der Mauer der Institutionen geschlagen und dem autoritären Neoliberalismus in Europa zumindest eine vorläufige Niederlage zugefügt. Sechs Thesen zum Wahlergebnis und seinen Folgen.

1. Die neoliberale Kürzungspolitik wurde abgewählt.

Die konservative PP, die in den letzten vier Jahren Arbeits- und Gewerkschaftsrechte schliff und tiefe Einschnitte in die soziale Infrastruktur zu verantworten hat, erlebt ein Debakel mit einem Verlust von 16 Prozent. Aber auch die Sozialdemokratie (PSOE), die in der Vorgängerregierung den Startschuss für die Kürzungspolitik gab und sich davon bis heute nicht klar distanziert, verliert rund 7 Prozent.

Ebenso enttäuschte die „neue“ neoliberale Partei Ciudadanos, welche die spanischen Machteliten als „eine Art Podemos für die Rechten“, so der Präsident einer der größten Banken des Landes, zur Rettung der alten Ordnung in Stellung brachten. Nur 14 Prozent: Trotz all der Spendenmillionen, ist aus dem Projekt der nahtlosen Fortsetzung des Bisherigen in neuen Farben nichts geworden. Für eine rechte Regierung gibt es keine Mehrheit; Ciudadanos ist vorerst gescheitert.

2. Das Ergebnis ist eine Niederlage nicht nur der spanischen, sondern auch der europäischen Machteliten.

Das gestrige Ergebnis geht weit über die Grenzen des Landes hinaus: Nach Griechenland, den spanischen Kommunalwahlen und Portugal erlebt die europäische Krisenpolitik ein weiteres Debakel an den Urnen. Darin spiegelt sich das Abschmelzen des Konsenses für neoliberale Politik, ohne dass sich noch, wie Griechenland gezeigt hat, dauerhafte Alternativen etablieren können.

Der Erfolg von Podemos zeigt auch, dass die brutale Abschreckungsstrategie der neoliberalen Eliten am Beispiel Griechenlands vorerst nicht aufging. Dabei schien es eine Zeit lang so, als könnte die Niederlage Syrizas auch für Podemos zu einem Problem werden. Das Begehren nach Veränderung hat die Wahlpropaganda von PP und Ciudadanos, die sich als Garanten der Stabilität inszenierten, übertrumpfen können.

3. Die Re-Politisierung der spanischen Gesellschaft hat die Bewegungen in die Rathäuser und Parlamente getragen.

Der erst vor einem Jahr gegründeten linken Partei Podemos gelingt mit rund 21 Prozent ein beachtlicher Erfolg. Die mit dem Platzen der Immobilienblase und der dadurch ausgelösten Krise einsetzende Verallgemeinerung der Widerständigkeit und Selbstorganisierung, die ihren Ausgang in den Platzbesetzungen 2011 nahm, ist am Sonntag auch in den Institutionen des spanischen Staates angekommen.

Zentral für den Wahlerfolg von Podemos war jedoch auch die Erfahrung der linken Städte, der Bürgermeisterinnen und Bewegungskandidaturen. Ada Colau in Barcelona, Manuela Carmena in Madrid und viele andere mehr bewiesen, dass eine erfolgreiche Politik für die popularen Klassen und vor allem mit ihnen möglich ist. Sie stützen sich dabei auf ein Geflecht aus zivilgesellschaftlich-basisdemokratischen Akteurinnen und eine institutionelle Linke, die im Prozess lernte, an einem Strang zu ziehen. Die demokratische Mobilisierung durch die linken Stadtregierungen war ausschlaggebend für den Erfolg von Podemos.

4. In einem unübersichtlichen Szenario steht die Linke vor schwierigen Herausforderungen.

Podemos gelang es, die sozialen Umbrüche der letzten Jahre in die alten Institutionen zu tragen und sie in eine produktive Instabilität überzuführen. Eine tragfähige Regierungsmehrheit ist nur durch eine große Koalition zu erreichen. Die sozialdemokratische PSOE wird sich jetzt entscheiden müssen, ob sie ihrer griechischen Schwesterpartei PASOK folgt und sich als Juniorpartnerin der PP für die Fortführung des Neoliberalismus und die Einheit des spanischen Staates opfert, oder ob sie sich für grundlegende demokratische Reform öffnet. Eine „linke“ Regierung unter Einbindung von Podemos und der Regionalparteien ist nicht völlig ausgeschlossen, aber äußerst unwahrscheinlich. Sie müsste eine grundlegende Abkehr von der neoliberalen und zentralistischen Orientierung des spanischen Staates bedeuten. Es ist kaum vorstellbar, dass die Eliten in der PSOE dazu bereit sind.

Trotz eines vor wenigen Wochen kaum mehr für möglich gehaltenen Wahlerfolges wird sich auch die Podemos-Führungsriege um Iglesias schwierigen Fragen stellen müssen. War es ein Fehler, den Antritt im Bündnis mit der traditionellen Linkspartei Izquierda Unida im Sommer zurückzuweisen? In einem komplexen Wahlsystem, das starke Parteien besonders begünstigt, hat Podemos – zumindest wahlarithmetisch betrachtet – 16 Mandate liegen gelassen. Die stärksten Ergebnisse gab es in jenen Regionen, wo die Parteiführung aufgrund eigener Schwäche gezwungen war, eine Öffnung zuzulassen, wie in den katalanischen, galicischen und valencianischen Bündniskandidaturen. Dort gab es eine enge Kooperation mit der Izquierda Unida und anderen linken Kräfte, vor allem aber ließ man auch ein Element der Unkontrollierbarkeit in Form einer starken Bewegungs-Mobilisierung zu. Der Alleinvertretungsanspruch und das rigide Top-Down-Modell von Podemos sind mit diesem Ergebnis in Frage gestellt.

5. Ein konstituierender Prozess muss jetzt das „Vorhängeschloss von 1978“ aufbrechen.

Die Wahlen haben greifbar gemacht, dass die alte Ordnung, die durch die Verfassung von 1978 abgesichert wird, nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht, die sich einsetzend mit den Platzbesetzungen von 2011 grundlegend geändert hat. Gleichzeitig ist Podemos teils geplant (dafür stehen die äußerst erfolgreichen Regionalbündnisse in Katalonien, Galicien und Valencia), teils überraschend (ohne ein entsprechendes Bündnis einzugehen, belegte Podemos völlig überraschend den ersten Platz im Baskenland) zur Sprecherin der Autonomiebewegungen in Madrid gewählt worden.

Diese Konstellation lässt die von den Bewegungen erhobene Forderung nach einem konstituierenden Prozess nahezu als einzige Option erscheinen: Durch eine radikal-demokratische Debatte der Vielen über die Zukunft des Gemeinsamen könnte das „Vorhängeschloss von 1978“ aufgebrochen werden. Die neue Verfasstheit wäre auch eine Chance, jene 4,8 Millionen Migrant*innen mit dem Wahlrecht auszustatten, die bei den Wahlen am Sonntag von der Mitbestimmung über das Gemeinsame ausgeschlossen waren, obwohl sie unter anderen am stärksten von der Krisenpolitik betroffen und aktiver Teil der Kämpfe dagegen waren. Entsprechend enttäuschend ist es daher, dass Pablo Iglesias vor einigen Wochen von der Forderung nach einem konstituierenden Prozess abging und seitdem nur noch von einer punktuellen Reform der Verfassung spricht. Jetzt ist es an der Zeit, diese Position zu revidieren.

6. Die Hegemoniekrise setzt sich fort.

Mit Antonio Gramsci gesprochen: „Das Alte ist tot, das Neue kann nicht zur Welt.“ Aus emanzipativer Perspektive bedeutet dies Chance und Gefahr gleichzeitig. Auf der eine Seite stehen die beängstigenden autoritären Entwicklungen der letzten Jahre und Monate: Antidemokratische Krisenpolitik, Aufstieg der extremen Rechten, Institutionalisierung explizit rassistischer Positionen und Normalisierung des Ausnahmezustandes. Gleichzeitig öffnen sich aber auch Aussichten auf Veränderung, die noch vor wenigen Jahren als utopisch galten.

Eine Linke, welche die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Situation nicht zur Kenntnis nimmt, läuft Gefahr, erhebliche Chancen ungenützt zu lassen. Die Linke braucht den Mut zu neuen Formen des Politischen, die dieser veränderten Situation gerecht werden und den fatalen Kompromiss mit der alten Ordnung aufbrechen. Insbesondere dort, wo Podemos in den Bewegungen verankert ist, wo es ihnen gegenüber Rechenschaft ablegt, wo es dazu beiträgt die Eitelkeiten der Linken abzulegen und einen gesellschaftsübergreifenden Prozess der demokratischen Mobilisierung lostritt, kann Podemos ein Vorbild sein, aus dem sich auch für die europäische Linke vieles lernen lässt. Jetzt gilt es, den Druck zu erhöhen, um die Aufbruchsstimmung im spanischen Staat nicht über punktuelle Zugeständnisse in den Dienst der Stabilisierung der Verhältnisse zu stellen.

Marcel Andreu ist politischer Geschäftsführer der Jungen Grünen und Redakteur von mosaik. Er studiert Informatik und Philosophie an der Uni Wien.

Lukas Oberndorfer ist Wissenschafter in Wien und arbeitet vor allem zur europäischen Krise und ihrer autoritären Bearbeitung. Er ist Redakteur von mosaik und blog.arbeit-wirtschaft.at. Derzeit befindet er sich in Madrid, um von den Ereignissen in Spanien zu berichten. Du kannst ihm auf Twitter oder Facebook folgen.

Der NSU-Komplex: Wer ermittelt gegen den Verfassungsschutz? Geht mit Florian H. die Mordserie weiter ? Droht der „tiefe Staat“?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Spinnenkampf_mZwei wichtige Veröffentlichungen zum Thema in den „Blättern“, die man sich anschauen sollte, so lange sie noch frei zugänglich sind:
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/januar/der-nsu-komplex-wer-ermittelt-gegen-den-verfassungsschutz
Auszüge:

Zwei Jahre nach Aufdeckung des Terrortrios Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, zwei Jahre nach intensiver Beschäftigung durch Journalisten, Rechtsanwälte, Untersuchungsausschüsse sowie nach einem halben Jahr eines Prozesses in München mit bereits über 70 Verhandlungstagen muss man gestehen: Wir wissen noch immer nicht, was der NSU, der „Nationalsozialistische Untergrund“, tatsächlich war.
Im Gegenteil: Immer neue Fragen tauchen auf. Der Komplex erscheint wie eine Hydra: Eine Frage wird beantwortet, zwei neue wachsen nach.

„Wir wissen nicht, was der NSU war.“ Das können wir deshalb sagen, weil wir inzwischen eben sehr viel wissen. Weil wir Dutzende von handelnden Personen kennen, Tat- und Handlungsorte, weil es objektive Widersprüche gibt, weil wir wissen, wo wir suchen müssen.
Der NSU-Komplex wird immer größer – und er wird für die Demokratie gefährlicher.
Zur Aufklärung stehen mindestens zehn Morde, ein schwerer Bombenanschlag, zwei Sprengfallen, 15 Raubüberfälle auf Banken, Poststellen und einen Supermarkt.
Alles verübt innerhalb von 14 Jahren, durch drei Personen, aus dem Untergrund heraus – und nur von diesen drei.
So jedenfalls sieht es die Bundesanwaltschaft und so ist die Anklage formuliert. Doch, weil wir inzwischen viel wissen, wissen wir auch, was der NSU nicht war: Es war eben nicht ausschließlich dieses Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe.

Die Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft ist, gelinde gesagt, diskussionswürdig.
Eine Konsequenz dieser Konstruktion ist zum Beispiel: Wenn es nur diese drei waren und die beiden Haupttäter obendrein tot sind, muss man nicht mehr weiterermitteln.
Gegen Tote wird nicht ermittelt. Tote haben auch keine Verteidigung. Toten muss die Tat nicht nachgewiesen werden.
Sie zu Alleintätern zu machen, ermöglicht zum Beispiel, nicht in Richtung Verfassungsschutz ermitteln zu müssen.
Allerdings zerbröselt die Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft an immer mehr Tatorten. Doch noch revidiert die oberste Anklageinstanz der Bundesrepublik ihre Anklage nicht.
Fest steht: Der NSU-Komplex ist nicht Vergangenheit, sondern wir stecken mittendrin.

Was wir bis heute tun, ist, Puzzlestücke zusammenzutragen für die Beantwortung der einen, zentralen Frage: Wer war der NSU – oder besser: Wer „ist“ der NSU?
Denn der Komplex lebt. Wie sonst könnten 2012 und 2013 Akten verschwinden oder manipuliert werden?

Und es gibt einen neuen Todesfall. Am 16. September 2013 verbrannte der 21jährige Florian H. aus dem Kreis Heilbronn morgens um 9 Uhr in seinem Auto auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart. Er arbeitete eigentlich bei einer Baufirma im Remstal.
Am Nachmittag desselben Tages um 17 Uhr hatte er einen Termin mit der NSU-Ermittlungsgruppe „Umfeld“ des Landeskriminalamtes, das auch in Bad Cannstatt sitzt (übrigens auch der Verfassungsschutz).

Florian H., der sich in der rechten Szene bewegt hatte, war schon einmal, im Januar 2012, vom LKA im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex vernommen worden.
Er soll Kolleginnen gesagt haben, er kenne die Polizistenmörder von Heilbronn. Laut den Akten bestritt Florian H. dies allerdings bei seiner Vernehmung. Aber er erwähnte ein gemeinsames Treffen von NSU und einer bisher unbekannten Gruppierung namens Neo-Schutz-Staffel, NSS, in Öhringen.
Laut der Auskunft der Ermittler habe das nicht belegt werden können. Doch der Sachverhalt wurde mit dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses in Berlin Ende August 2013 erstmals öffentlich.

Für die Stuttgarter Polizei war der Tod Florian H.s eine Selbsttötung. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
Die Eltern und die vier Geschwister sehen es anders; sie schließen Selbstmord aus. Die Familie berichtet von mehreren seltsamen Defekten an ihren Autos in der Zeit davor.
Der Leichnam wurde ohne Zutun der Familie eingeäschert. Sie will unbedingt, dass weiter ermittelt wird.

Bereits im August 2013 war in de n“Blättern“ folgendes zu lesen:
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2013/august/auf-dem-weg-zum-%C2%BBtiefen-staat%C2%AB
Auszüge:

von Hajo Funke und Micha Brumlik

Dass die repräsentative, die wohlfahrtsstaatlich-parlamentarische Demokratie ihre besten Zeiten hinter sich hat und dank Globalisierung und Neoliberalismus auch in den Staaten des Westens zunehmend durch ein Regime der „Postdemokratie“ ersetzt wird, ist seit den Analysen von Colin Crouch und Wolfgang Streeck kaum noch bestreitbar.
Parallel dazu werden nun aber offenbar seit Jahren währende, bewusst betriebene Strategien bekannt, auch Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit auszuhöhlen.
Dabei geht es – ganz altmodisch – um die möglichst geheim gehaltene Institutionalisierung eines „Ausnahmezustandes“, der die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik zum Souverän jedenfalls über die Sicherheit macht – vorbei an Parlament und Regierung.
Speziell der rechtskonservative Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, möchte über den Weg einer neuen Sicherheitsarchitektur – und gegen das Parlament und seinen Aufklärungsanspruch – die Parallelwelt des Bundesamts und seiner Geheimstrukturen stärken.
Dabei wird die wesentliche Mitschuld gerade dieser Institutionen am Sicherheitsversagen im Fall des NSU derzeit immer klarer.
Offenbar will Friedrich damit einen autoritären Backlash in undemokratische Zeiten proben.
Zumindest in Ansätzen existiert auch in diesem Land also das, weswegen – unter anderem – der Türkei die Aufnahme in die EU verweigert wird:

ein „tiefer Staat“ der Geheimdienste.

All das haben der Bundestagsausschuss zur Ermittlung des Behördenversagens im Fall der NSU-Morde sowie eine Reihe couragierter und investigativer Journalisten und Medien inzwischen zu Tage gefördert.
Seit jüngstem ist – vor allem durch einen Beitrag des ARD-Magazins „Report Mainz“ vom 21. Mai 2013 – einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass die Verfassungsschützer, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, spätestens seit dem Frühjahr 2000 über die Existenz der Terrorgruppe NSU und ihr Vorhaben, schwerste Straftaten zu begehen, umfangreich informiert waren.
Am 28. April 2000 wussten vier Landesämter und das Bundesamt, bei dem zentrale Informationen wie etwa Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen zusammenlaufen, von einem rechtsterroristischen Netzwerk – bestehend aus dem Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe sowie ihren Mittätern und Unterstützern (aus dem Landser– sowie dem Blut-und-Ehre-Netzwerk). „Report Mainz“ zitiert einen Brief des Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz Sachsen, Olaf Vahrenhold (der im Untersuchungsausschuss davon nichts verlauten ließ), in dem die Existenz einer Terrorgruppe von mehr als drei Personen klar und genau beschrieben ist.
In ihm beantragt Vahrenhold, für das Trio Beschränkungsmaßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz (G 10) anzuordnen. Das Schreiben richtet sich unter anderem an den Staatsminister des Inneren, Herrn Hardrath, und den Staatssekretär Ulbricht.
In dem Antrag heißt es unter Punkt drei: „Trotz der seit etwa zwei Jahren andauernden Flucht der Betroffenen 5-7 [dem Trio] bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Zweck der Vereinigung, schwere Straftaten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu begehen, auch in Zukunft unverändert fortbesteht und sich auf die Betroffenen 1-4 [das sind Andreas G., Thomas S., Mandy S. und Jan W.] erstreckt.“ Weiter heißt es: „Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen.“ Diese Kenntnisse wurden nicht ins Zentrum der Terrorabwehr gestellt, sondern verharmlost und teilweise geleugnet.
Doch mehr noch: Der Einsatz von aus der neonazistischen Szene gewonnenen Informanten war bereits vor dem Beginn der Mordserie von zentraler Bedeutung für die Terrorgruppe, nämlich im Prozess ihres Untertauchens.
All dies dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Sicherheitsbehörden, und an deren Spitze Bundesinnenminister Friedrich und dessen Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, dem Untersuchungsausschuss entweder nur zögerlich zugearbeitet haben oder aber weiterführende Auskünfte bis heute verweigern.
Nur unter höchstem Druck wird nach wie vor das Allernötigste an Akten und Informationen weitergegeben – und zwar vorselektiert.

Das „Trio“ war den Sicherheitsbehörden also durchaus bekannt. Damit erledigt sich die lange Zeit immer wieder wie ein Mantra vorgetragene Schutzbehauptung der Sicherheitsbehörden, sie hätten sich die Existenz einer solchen rechtsterroristischen Gruppe nicht vorstellen können.
Dies war und ist eine strategische Lüge der Verfassungsschützer: Sie wussten von ihr. Das gilt sowohl für Olaf Vahrenhold, Verfasser des oben zitierten Dokuments, als auch für den langjährigen Leiter des Landesamts für Verfassungsschutz in Sachsen, Reinhard Boos. Beide haben bewusst und wiederholt vor Untersuchungsausschüssen gelogen.
Obwohl ihnen bekannt war, dass es sich um eine rechtsradikale Terrorgruppe handelt, die sich in der Tradition des weißen Rassismus und des historischen Nationalsozialismus sieht, haben sie und die ihnen unterstehenden Institutionen nichts Angemessenes unternommen, die späteren Morde zu verhindern: Bereits fünf Monate nach dem Wissensaustausch der Verfassungsschützer, nämlich am 9. September 2000, kam es zum ersten Mord, dem an Enver Simsek in Nürnberg.

Schon zwei Jahre zuvor, am 14. Februar 1998, hatte der Rechtsterrorexperte des BKA, Michael Brümmendorf, im Zuge der „Garagenfunde“ in Jena die Adressliste von Uwe Mundlos in den Händen – und damit ein Who‘s Who des Terrornetzwerks und seiner Unterstützer (darunter mindestens fünf V-Leute, unter anderen Kai D.). Doch nach Prüfung der Adressliste erklärte er diese für irrelevant (!).
Ebenso verhielt sich ein Teil des LKA in Thüringen, unter anderem der für die Auswertung der Garagenfunde zuständige Kriminalist Jürgen Dressler: Dieser hatte vor dem Untersuchungsausschuss zunächst bestritten, die Adressliste überhaupt zu kennen, und sich erst unter dem Druck einer Gegenüberstellung mit Brümmendorf wieder daran erinnert.
Ende 1997/Anfang 1998 wurden die Zielfahnder, eine Unterabteilung des LKA Thüringen, ihren glaubwürdigen Angaben zufolge von Verfassungsschützern offenkundig mutwillig an ihren Versuchen gehindert, die Untergetauchten zu stellen.
Und bereits im Herbst 1998 informierte der von dem damaligen Mitarbeiter des brandenburgischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath, im LfV Brandenburg geführte V-Mann „Piatto“ (Carsten Szczepanski) das Landesamt darüber, dass die Untergetauchten auf der Suche nach Waffen seien, „weitere Überfälle“ planten und hierbei der Kontakt zu Jan W. (ein Mitglied des rechtsextremen Netzwerks Blut und Ehre) von größter Bedeutung sei. Piatto selbst war an der Beschaffung der Waffen für das Terrortrio offenkundig beteiligt.

Diese Belege zeigen: Seit Herbst 1998 und erst recht seit dem Frühjahr 2000 wussten die Verfassungsschützer, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass es sich bei dem Trio und seinem Umfeld um eine gewaltbereite rechtsterroristische Gruppe handelt. Vor allem im Jahr 2000 wurde dies mehrfach auch auf Bundesebene, zum Teil mit dem Bundeskriminalamt und dem Generalbundesanwalt, erörtert.
Doch all das blieb ohne Konsequenzen: Die Informationen über den Charakter einer Terrorgruppe wurden zum Teil ernst genommen, geeignete Maßnahmen zu ihrer Verfolgung wurden aber nicht getroffen.


Meine Frage: Sollte hier ein Kern einer Todesschwadron aufgebaut werden wie in den Diktaturen Südamerikas, um im rechten Moment in Zusammenarbeit mit „befreundeten“ Geheimdiensten jagd auf linke Politiker, Gewerkschaftler und Künstler zu machen ?

Jochen