Welchem Zweck Staatsschulden dienen, und warum Regierung und Leitmedien uns nicht die Wahrheit sagen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aufschlussreicher Artikel im Neuen Deutschland -einfach erklärt und verständlich
http://www.neues-deutschland.de/artikel/984347.eine-verteilungsfrage.html
Auszüge:

Eine Verteilungsfrage

Welchem Zweck Staatsschulden dienen, wann sie zu einem Problem werden – und für wen: eine Aufklärung

Die Furcht vor der Staatsverschuldung wird befeuert, sie dient als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, werden Staatsschulden dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«.

Schulden gelten einerseits als schlecht. Gleichzeitig aber macht der Staat immer neue.
Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man Staatsschulden als das betrachtet, was sie sind – ein Instrument, mit dem die Regierung einen bestimmten Zweck erreichen will: Wirtschaftswachstum.

Wenn ein Staat feststellt, dass seine geplanten Ausgaben über seinen geplanten Einnahmen liegen, könnte er schlicht die Steuern erhöhen. Damit aber würde er dem privaten Sektor Mittel entziehen, was unter Umständen nicht erwünscht ist.
Daher verlegt sich eine Regierung auf Verschuldung: Sie konfisziert das benötigte Geld nicht von Unternehmen und Privatpersonen, sondern sie leiht es sich, verschafft sich damit zusätzliche Mittel und den Gläubigern einen Anspruch auf Zinseinnahmen.
Damit will der Staat den Widerspruch auflösen, dass er einerseits die Wirtschaft fördern will, andererseits aber dieser Wirtschaft immerzu Kosten verursacht.

Mit dem geliehenen Geld finanziert der Staat seine Ausgaben. Vor allem versucht er, die Standortbedingungen zu verbessern und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Über das »angemessene« Volumen der Staatsverschuldung, wie viele Schulden es sein dürfen, kann man also nicht mehr sagen als: nicht »zu viele«.
Dieses »Zuviel« kennt in der Praxis einen Maßstab: das Wirtschaftswachstum. Ihm sollen Staatsschulden dienen, dieses Wachstum dürfen sie nicht beschädigen. Ein Staat muss sich seine Verschuldung also leisten können. Die Frage, ob Staatsschulden nun gut oder schlecht sind, läuft also auf die Frage hinaus: Wie gut oder schlecht ist kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Dass Staatsschulden das Wirtschaftswachstum erhöhen können, ist keine Streitfrage, sondern Fakt. Dabei ist es egal, ob die Schulden passiv hingenommen (bei Steuerausfällen) oder für »aktive Wirtschaftspolitik« gezielt aufgenommen werden.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Stimmen einiger Ökonomen und Institutionen (IWF, OECD) zu verstehen, die nach Jahren von wirtschaftlicher Stagnation und drohender Deflation, vor allem in der Euro-Zone, der staatlichen Verschuldung durchaus auch Positives abgewinnen können – wenn es denn dem Aufschwung, dem Wirtschaftswachstum dient.

Ebenso Fakt ist aber, dass es ein Problem ist, wenn den höheren Schulden kein entsprechend höheres Wirtschaftswachstum und keine höheren Staatseinnahmen gegenüberstehen und darüber immer größere Teile des Staatshaushaltes in die Schuldenbedienung fließen.

Staatsschulden sind also – wie die Schulden von Unternehmen – eine Art vorfinanziertes Wachstum. Über die staatliche Kreditaufnahme spekulieren Regierungen und ihre Geldgeber – die Finanzmärkte – darauf, dass die Schulden mehr Wirtschaftsleistung und mehr Staatseinnahmen generieren.
Mit ihrer Verschuldung macht eine Regierung ihre Bevölkerung dafür haftbar, dass diese Rechnung aufgeht. Bebildert wird diese Haftung durch die Zahl »Staatsschulden pro Kopf der Bevölkerung«.

In die Irre führt die Frage, ob Staatsschulden »für uns« oder für »Deutschland« ein Problem sind. Denn die Menschen sind von diesen Schulden sehr unterschiedlich betroffen – je nach ihrer Stellung und Funktion in der Wirtschaft.
Für die Gläubiger sind die Staatsschulden Geldkapital, also sich vermehrender Reichtum. Über Zinszahlungen profitieren sie von der Schuldenlast.

Dass diese Rechnung aufgeht, dafür müssen andere einstehen. Dies sieht man besonders deutlich, wenn ein Staat Probleme mit der Schuldenbedienung bekommt und »sparen« will.
Dieses »Sparen« trifft logischerweise immer dieselben: die Empfänger von staatlichen Transferleistungen, die Arbeitnehmer, die Konsumenten.
Ge- und befördert werden dagegen die »Träger des Wachstums«, also die Unternehmen und die Finanzinstitute. Sie sollen investieren und Kredite vergeben, sie sollen verdienen, sie sollen Arbeitsplätze »schaffen« und so die Wirtschaftsleistung steigern.
Dass Mehrwertsteuererhöhungen, Lohn- und Rentensenkungen die Massenkaufkraft mindern, die gesellschaftliche Nachfrage reduzieren und damit das Wachstum schädigen, ist ein Widerspruch bei diesem Programm. Mit ihm wird aber klargestellt, an wem »gespart« wird, wenn es heißt: »Wir müssen sparen.«

Ob und wie eine Regierung sparen muss, ist zuweilen aber nicht von ihrer Entscheidung oder vom Verhalten der Finanzakteure abhängig, sondern auch von der Haltung des Auslands. So kann in der EU und in der Eurozone de facto kein Land autonom über sein Finanzgebaren entscheiden – vor allem Deutschland redet bei der Frage mit, ab wann eine Verschuldung zu groß ist und ein Eurostaat Maßnahmen ergreifen muss.
Die Grenzen der Staatsverschuldung sind in der Euro-Zone institutionell geregelt durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt, neuerdings auch durch den Fiskalpakt. Die Unterwerfung unter den Stabilitätspakt war eine Bedingung, unter der die Bundesregierung bereit war, die D-Mark gegen den Euro einzutauschen. Die EU-Kommission und die Euroländer haben seitdem ein Auge auf die Finanzpolitik ihrer Europartner, die immer auch Konkurrenten sind. Trotz gleicher Währung waren und sind auch einige Länder gleicher als andere. Während etwa Frankreich oder Berlin es durchaus mal erlaubt ist, das Defizitziel zu verfehlen, ohne gleiche einen blauen Brief der EU-Kommission zugestellt zu bekommen, war man bei anderen Ländern nicht so großzügig – vor allem nicht in der Krise. Zu spüren bekam dies besonders die griechische Bevölkerung.

Doch die gegenseitige Kontrolle der europäischen Staaten geht weit über die Staatseinnahmen und -ausgaben hinaus. Um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, prüft die EU-Kommission inzwischen regelmäßig eine Vielzahl von ökonomischen Kennzahlen – von der Exportentwicklung über Außenhandelsdefizite, Lohn- und Preisentwicklung in den Ländern. Überschreitet ein Land dauerhaft bestimmte Grenzwerte, kann ihm die EU Vorschriften machen, wie es seine Politik zu ändern hat.
Allgemeines Ziel dieser makroökonomischen Überwachung ist die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten und darüber die Wettbewerbsfähigkeit der EU als Ganzes. Dies soll auch politischen Zwecken dienen: »Vor allem müssen wir […] die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum unserer Bemühungen stellen«, sagte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im März 2011, »denn nur ein wettbewerbsstarkes Europa hat Gewicht in der Welt.«

Zur Erhöhung dieser Wettbewerbsfähigkeit sind in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von »Strukturreformen« in Europa umgesetzt worden, die die Bedingungen für Investitionen verbessern sollen. Hier geht es zum einen um die Liberalisierung bislang regulierter Märkte, um den Abbau von Bürokratie und staatlichen Kontrollen und um die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, sprich: um die Entmachtung der Gewerkschaften zum Zwecke der Senkung der Lohnstückkosten. Man sieht, welch weitreichende Konsequenzen die Kontrolle von Verschuldung und Staatsfinanzen hat.

Angemerkt sei hier noch: Zwar wird ständig darüber geklagt, der Staat gebe zu viel aus – obwohl seit der Großen Finanzreform 1969 in Deutschland Kredite ein reguläres Instrument zur Finanzierung von Staatsaufgaben sind -, selten kritisiert wird aber die Einnahmeseite. Dabei gibt es hier zwei kritikwürdige Entwicklungen. Erstens: Es ist ja klar, dass der Staat das Finanzkapital auch besteuern könnte, statt es zu leihen und dafür Zinsen zu zahlen. Doch dies tut er nicht.

Zweitens ist bemerkenswert, von wem der Staat eigentlich Geld einnimmt, um seine Schulden zu bedienen – wer also für die Schulden (Zinsen) bezahlt. Hier ist die Entwicklung eindeutig: Seit 1977 wird die Steuerbelastung in Deutschland – und nicht nur dort – vermehrt von den Lohnabhängigen (die auch zum großen Teil die Mehrwert- und Verbrauchersteuern zahlen) getragen. Die Belastung von Gewinnen und Vermögen hingegen sinkt. Die Steuerquote geht seit Jahrzehnten tendenziell zurück, die Vermögen wachsen, und seit 1997 ist die Vermögensteuer de facto abgeschafft.
Man sieht: Steuerpolitik ist wesentlich Umverteilungspolitik. Dieser Trend wird durch die Krise verschärft: Die Politik setzt bei der Sanierung der Staatsfinanzen zunehmend auf die Besteuerung des Verbrauchs, so wurde in allen Euro-Krisenländern die Mehrwertsteuer deutlich erhöht.

Die Lohnabhängigen wiederum, die etwa zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens tragen, zahlen also nicht bloß für den Großteil der Staatsverschuldung. Sie sollen sich außerdem in Lohnzurückhaltung üben und müssen gleichzeitig seit Jahren die Folgen der Kürzungen von staatlichen Sozialleistungen hinnehmen.

Somit ist auch die Schuldenfrage eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage. Das musste selbst die FAZ eingestehen, die die Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck zu Wort kommen ließ: »Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen.« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20.8.2011).

Trotz des offiziell ausgerufenen Kreuzzugs gegen die Staatsverschuldung ist sie in den letzten Jahren weiter gestiegen. Dies erkennen die Regierungen und Eliten durchaus als eine Gelegenheit, ihr neoliberales Programm von Deregulierung, Liberalisierung und Senkung der Lohnstückkosten durchzusetzen. Die hohe Verschuldung dient hier als Druckmittel.
Zum Beispiel im Fall Griechenlands: »Für viele Ökonomen (ist) die hohe Verschuldung ein wichtiges Disziplinierungsinstrument zur Durchsetzung struktureller Reformen, die sonst nicht zielstrebig durchgeführt würden.«

Ähnlich argumentierte bereits vor bald 15 Jahren der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: »Am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht gerüttelt werden. Zwar sind seine Referenzwerte wissenschaftlich nicht begründbar [sic!]; sie haben aber erstaunliche Konsolidierungsbemühungen und Konsolidierungserfolge bewirkt und sollten unbedingt beibehalten werden.«

Die Idee, die Angst vor Schulden politisch zu nutzen, nannte David Stockman, Ronald Reagans ehemaliger Direktor des Office of Management, »strategisches Defizit«. In einem Interview machte er deutlich, dass Reagan nie so recht an die neoliberale Angebotspolitik geglaubt habe, stattdessen habe er einen »schlanken Staat« zum Ziel gehabt.

Ähnliches gibt es aus Großbritannien zu berichten, dem zweiten Land, das bei der Durchsetzung neoliberaler Politik eine Vorreiterrolle spielte. Der leitende Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher, Alan Budd, gab dem »Observer« Anfang der 1990er Jahre zu Protokoll: »Die Politik der 1980er Jahre, die Inflation durch Druck auf die Wirtschaft und Kürzung der öffentlichen Ausgaben zu bekämpfen, war ein Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen. Das Ansteigen der Arbeitslosigkeit war sehr erwünscht, um die Arbeiterklasse zu schwächen. […] Seitdem konnten die Kapitalisten immer größere Profite machen

So dient die Furcht vor der Staatsverschuldung als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, wird sie dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«, die eine Art nationalen Notstand schafft und außergewöhnliche Maßnahmen erfordert.
Dieses Bedrohungsszenario nutzt die Politik anschließend, um die Staaten in ein »Paradies der Gläubiger« (Mark Blyth) und Investoren zu verwandeln.

Mein Kommentar: Unsere „Leitmedien“ machen das alles mit, aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei winken das duch und haben dem Fiskalpakt und der Schuldenbremse zugestimmt. Sonst könnte man hier wunderbar mit der Sanierung der Infrastruktur, mit Investitionen in Bildung und Kultur, Arbeitsplätze schaffen und auch alle Flüchtlinge gut versorgen. Für die Bankenrettung waren auch Milliarden übrig.
Verschwiegen wird auch immer noch, dass eine bisher immer wieder zitierte wissenschaftliche Studie renommierter Ökonomen, Staatsverschuldung sei eine Bremse für die Wirtschaft, sich als fehlerhaft herausgestellt hat.

Jochen

Warum Griechenland? Eine nüchterne Analyse aus der Schweiz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier ist eine sehr sachliche Analyse erschienen, mittlerweile gibt es auch schon 170 Kommentare dazu: http://blog.tagesanzeiger.ch/nevermindthemarkets/index.php/36810/warum-griechenland/ Bisher ist die Situation für die griechische Regierung immer noch ungeklärt. Gut in Szene gesetzt wurden die Auswirkungen auf die dortige bevölkerung in der letzten Folge der „Anstalt“ im ZDF. Auszüge:

Markus Diem Meier am Montag den 30. März 2015

Eine Menge Klischees «erklären», wie Griechenland in seine schier ausweglose Lage geraten ist. Versuchen wir es mit einer nüchternen Analyse.

Nicht zum ersten Mal ist Griechenland im Zentrum der Eurokrise. Nicht zum ersten Mal droht der finanzielle Kollaps des Landes und nicht zum ersten Mal wird diese Debatte mit sehr vielen Klischees geführt. Häme prasselt vor allem über die Griechen herein. Da herrscht nicht das Bild der stolzen Wiege Europas mit seinen grossen Philosophen vor, wie es die alte Geschichte vermittelt. Gemäss den gängigen Klischees steht das Wesen der Griechen ihrer eigenen ökonomischen Entwicklung und den Erfordernissen der Eurozone sogar im Weg. In der primitivsten Form lautet das Klischee dann, die Griechen seien eben faul. Das ist vollkommener Quatsch.

Eine nüchterne ökonomische Antwort auf die Frage zu den Ursachen der Probleme von Griechenland untersucht die Institutionen und die durch sie geprägten Anreizstrukturen. Versuchen wir also die Besonderheiten der institutionellen Situation von Griechenland herauszuschälen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –, die zur speziell schweren Krise dort geführt hat:

  • Schwache und instabile Institutionen

Den demokratischen und staatlichen Institutionen fehlt die Effektivität und Effizienz, über die andere hoch entwickelte Länder verfügen. Ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der gesamten Gesellschaft ist wenig entwickelt. Die Staatsführung und Politiker generell geniessen wenig Vertrauen. Das führt dazu, dass öffentliche Güter wie zum Beispiel ein funktionierendes Steuersystem schlecht funktionieren und nach Möglichkeit ausgetrickst werden. Ineffizient sind auch die staatlichen Unternehmen. Korruption und eine wenig effiziente Bürokratie sind weitere Probleme.

Diese Probleme haben aber nichts mit der Eigenart der Griechen zu tun, sondern vielmehr mit der Entwicklung der öffentlichen Institutionen. Diese geniessen eine sehr geringe Legitimität, was sich durch die Geschichte leicht erklären lässt. Seine Unabhängigkeit erhielt der griechische Staat erst 1821, zuvor war das Land über Hunderte von Jahren Teil des osmanischen Reiches (den Vorläufern der Türkei) und damit unter der Herrschaft einer fremden Religion. Und selbst danach war die Geschichte des Landes geprägt von Bürgerkriegen, politischen Wirren und der Besetzung durch andere Länder. Noch zwischen 1967 und 1974 wurde das Land von einer Militärdiktatur regiert. Und auch die Demokratie danach war geprägt durch die Regentschaft durch wenige Clans. Ökonomisch schlug sich diese schwierige Geschichte Griechenlands etwa im Umstand nieder, dass das Land sich in der Hälfte aller Jahre seit 1800 im Zustand des Staatsbankrotts befand, wie die Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in ihrem Bestseller «Diese Mal ist alles anders» über die Geschichte von Finanzkrisen schreiben. Schwache Institutionen sind nichts typisch Griechisches. Sie zeigen sich auch in vielen anderen Ländern. Selbst dort, wo das Glück modernen Staaten in ihrer jüngsten Geschichte besser mitgespielt hat, dominierten in der Vergangenheit politische Wirren, Kriege und die Herrschaft weniger Clans. Noch bis zur Gründung des Bundesstaates selbst in der Schweiz.

  • Das Problem mit der Währungsunion

Griechenland hätte angesichts der oben erwähnten schwachen Institutionen nie in die Währungsunion aufgenommen werden dürfen, wie sie aktuell ausgestaltet ist. Gerade auch deren eigene institutionelle Schwächen haben wesentlich zur Katastrophe beigetragen.

In den ersten Jahren wurden die Zeichen allerdings komplett falsch gedeutet: Das Land erzielte eindrückliche Wachstumsraten, die deutlich höher lagen als zum Beispiel jene Deutschlands. Die folgende Grafik zeigt die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts der gezeigten Länder in den Jahren von 1999 bis 2007 (Datenquelle: IWF):

Auch die Zinsen, die Griechenland für seine Staatsschulden bezahlen musste, fielen radikal. Konkret sanken die Langfristzinsen (Rendite der Staatsanleihen) auf praktisch das gleiche Niveau wie jene Deutschlands, wie die Grafik unten zeigt. Auf dem Tiefstpunkt im Jahr 2004 lag der Zinsunterschied nur noch bei rund 0,2 Prozent. Anders gesagt wurde auf den Märkten das Länderrisiko von Griechenland gleich tief bewertet wie jenes von Deutschland (so viel zum Sprichwort «der Markt hat immer recht») Was damals wie ein Erfolg aussah, war in Wahrheit der erste Akt des Dramas, das die Eurozone in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Die tiefen Langfristzinsen waren Ergebnis massiver Kapitalzuflüsse nach Griechenland, die immer höhere Aussenhandelsdefizite finanziert haben. Sie waren es letztlich, die das starke Wachstum des Landes ermöglicht haben.

Jedoch war Griechenland mit dieser Entwicklung keine Ausnahme. Hohe Kapitalimportüberschüsse bzw. korrespondierende Leistungsbilanzdefizite verzeichneten auch die anderen späteren Krisenländer wie zum Beispiel Spanien oder Irland. Gefördert wurde diese Entwicklung noch durch die damals angesichts des Booms für diese Länder zu tiefen Leitzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB). Die EZB nahm damit vor allem Rücksicht auf Deutschland, die grösste europäische Wirtschaftsmacht Europas. Das Land galt wegen seiner damals schwachen Wirtschaftsentwicklung als «kranker Mann Europas».

  • Staatsverschuldung statt private Verschuldung

Spanien und besonders Irland wurden wegen ihrer beeindruckenden Wachstumszahlen in den 2000er-Jahren noch mehr als Griechenland als Vorbilder für eine gelungene ökonomische Entwicklung betrachtet. Dass auch dort die beeindruckende Inlandentwicklung zu gefährlichen Ungleichgewichten in den Aussenbeziehungen und auf dem Kapitalmarkt geführt hat, fand lange Zeit wenig Beachtung. Selbst in der Schweiz wurde breit darüber debattiert, was Irland besser gemacht hat als wir.

Der Unterschied zwischen Spanien und Irland auf der einen und Griechenland auf der anderen Seite lag darin, dass bei Letzterem sich vor allem der Staat massiv verschuldet hat. Im Fall von Spanien und Irland war es der Privatsektor. Angesichts des Boom-getriebenen Wachstums in Spanien und Irland sank die Verschuldungsquote des Staates dort stark, während sie in Griechenland drastisch zunahm.

Dieser Punkt für sich genommen ist aber nicht entscheidend für Unterschiede zur Entwicklung in Spanien oder Irland. Eine destabilisierende private Überschuldung ist nicht besser als eine entsprechende Verschuldung des Staates, wenn die privaten Schulden am Ende (durch die Rettung der Banken und den Konjunktureinbruch) doch beim Staat landen, wie das in Spanien und in Irland letztlich geschehen ist. In allen Fällen waren nicht nur die Länder gerne bereit, sich zu verschulden (ob Privatsektor oder Staat), sondern auch die Banken und Investoren in anderen Ländern – wie vor allem aus dem damals wirtschaftlich leidenden Deutschland – noch so gerne bereit, das Geld zu senden. Das zeigen alleine die gesunkenen Langfristzinsen.

  • Gefangen in der Euro-Zwangsjacke

Auch ein Land wie Griechenland mit schwachen institutionellen Strukturen erreicht hohe Wachstumsraten, wenn sie durch hohe Kapitalimporte finanziert werden, und in diesem Fall eine hohe Staatsverschuldung ermöglichen. Aber ein solches Land hat besonders grosse Schwierigkeiten, die resultierenden Ungleichgewichte wieder abzubauen – besonders als Mitglied der Eurozone:

  • Um die Schuldenquote auf ein erträgliches Mass senken zu können (ohne einen weiteren Schuldenverzicht), sind harte Sparmassnahmen nötig, also eine Politik, die die Wirtschaftsentwicklung für sich genommen dämpft. Das ist umso problematischer, wenn nicht andere Einflussfaktoren, wie eine hohe Innovationskraft und Produktivität, das Wachstum befeuern. Doch dagegen sprechen die oben erwähnten institutionellen Schwächen. Die Schwächung der Wirtschaft durch die Sparmassnahmen bremst daher die Reduktion der Schuldenquote.
  • Angesichts der Schwäche der inländischen Wirtschaft liegt die Hoffnung auf einer steigenden Nachfrage aus dem Ausland, wozu auch der Tourismus zählt. Doch steigende Exporte erfordern einen sinkenden realen Wechselkurs. Die Währung selbst kann Griechenland allerdings nicht selbst steuern.
  • Was bleibt, ist dann eine sogenannte interne Abwertung über tiefere Preise und Löhne. Doch das verschärft die Verschuldung, die so schwerer zu bedienen ist bzw. kaufkraftbereinigt (real) an Wert zulegt.
  • Die Angleichungspolitik über Aussenhandelsüberschüsse ist überdies umso schwieriger, als die gleiche Politik auch die anderen Euroländer anstreben, selbst das starke Deutschland.
  • Die Folgen zeigen sich in Griechenland mittlerweile seit vielen Jahren: an einer Wirtschaftskrise, die der Grossen Depression der 1930er-Jahre entspricht, einer sehr hohen Arbeitslosenquote von 26 Prozent und 51 Prozent bei den Jungen bis 25-Jährigen und einer Deflation (das heisst einem sinkenden Preisniveau).
  • Diese schwere und anhaltende Krise untergräbt nicht nur die Stabilität der griechischen Wirtschaft, sondern auch der Politik noch weiter und führt zu massiven Abflüssen von Euro aus dem Finanzsystem. Anders als bei einer unabhängigen Währung ist die Folge aber nicht eine (in dieser Situation hilfreiche) Abwertung, sondern eine drohende Liquiditätskrise, was die Gefahr der Instabilität weiter erhöht.
  • Es existiert keine eigene Zentralbank, die in diesem Fall gegen einen Run auf die Banken in einem Mass bereitsteht, um das Vertrauen in die volle Rückzahlung der Einlagen zu garantieren. Das macht einen Run wahrscheinlicher und verstärkt die Kapitalflucht.

Fazit: Griechenlands Probleme sind grösser und im Moment drängender als die anderer Euroländer. Dennoch sind sie nicht von einer grundlegend anderen Qualität. Das Problem der Bewältigung einer zu hohen Verschuldung haben andere auch, genauso wie die Schwierigkeit, im engen Korsett der Einheitswährung wieder zu ausreichendem Wachstum mit einer tieferen Arbeitslosigkeit zu finden.

Grundsätzlich sind die Ungleichgewichte in der Eurozone mindestens ebenso sehr in den mangelhaften Strukturen der Eurozone selbst zu finden wie in den Krisenländern selbst.

Die Krise mit der griechischen Eigenart erklären zu wollen, lenkt von den wirklich wichtigen Fragen zur Zukunft der Währungsunion ab, verschlechtert die Beziehungen zwischen den Ländern weiter und gibt destruktiven politischen Kräften überall noch mehr Auftrieb. 

Jochen