US-Geheimdienst OSS und der 20.7.1944: Verschwörung in der Verschwörung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.nachdenkseiten.de/?p=53733
Auszüge:
DSC_0046Werner Rügemer
ließ sich von den Feiern zum 20. Juli 1944 dazu animieren, etwas genauer zu recherchieren, wer beim Widerstand insgesamt noch im Spiel war: der US-Geheimdienst OSS und Allen Dulles. Seinen für die NachDenkSeiten geschriebenen Text schickte er mit dieser Anmerkung: „ich fand es wieder interessant, wie aufschluss- und ertragreich solche historischen untersuchungen sind und die herrschenden legenden so unheimlich billig gestrickt sind. und das ist alles gar nicht so aufwendig zu recherchieren. man braucht in diesem fall nur das offen verbreitete – freilich schnell vergessene – buch des geheimdienst-chefs lesen.“ Albrecht Müller.

Der US-Geheimdienst OSS unter Allen Dulles führte während des Krieges Informanten bei den Verschwörern des 20. Juli

In BILD, ZEIT, Süddeutsche, ARD, ZDF, bei der Bundeskanzlerin und auch in der aufklärerischen junge Welt: Bei allen Würdigungen des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 blieb auch zum 75. Jahrestag ein Beteiligter verbissen ausgeblendet: Der US-Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS).
Europachef Allen Dulles hatte den Widerstand von links bis rechts mit Informanten durchsetzt. Ziel: Der Widerstand durfte keinen Erfolg haben, denn der hätte nur „den Russen“ genützt und möglicherweise zu Friedensverhandlungen geführt.
Die Feindschaft des Westens gegen die Sowjetunion mit der Gefahr eines neuen Krieges hatte spätestens schon 1943 begonnen – eine Kontinuität bis heute.

Wir wissen (fast) alles haarklein genau, seit 72 Jahren, seit 1947, vom Meister der Verschwörungen selbst: Wall-Street-Staranwalt Allen Dulles war seit 1942 OSS-Europachef.
Er veröffentlichte 1947 in New York das Buch Germany’s Underground. 1948 erschien es auf Deutsch im Züricher Europa-Verlag, Titel: Verschwörung in Deutschland. 1949 erschien es mit demselben Titel als Lizenz im Kasseler Harriet-Schleber-Verlag, der von der US-Militärregierung gegründet worden war.

Dulles: Breiter Widerstand in Deutschland!

„Meine erste und wichtigste Aufgabe war“, schreibt Dulles einleitend, „herauszubekommen, was in Deutschland vorging. Washington wollte wissen, wer in Deutschland die eigentlichen Gegner Hitlers waren… Von außen hatte es den Anschein, als ob es Hitler tatsächlich geglückt wäre, das gesamte deutsche Volk für sich zu gewinnen, zu hypnotisieren oder zu terrorisieren.“

Das war auch die Analyse des Nazi-Terrorstaates, wie sie von der Kritischen Theorie in den USA verbreitet wurde.[1]
Aber Dulles konstatierte: Es gab einen breiten Widerstand. „Es gelang mir, Verbindungen mit der deutschen Untergrundbewegung aufzunehmen und schon Monate, ehe das Komplott am 20. Juli kulminierte, hatte ich mit den Verschwörern … Fühlung nehmen können. Kuriere gingen unter Einsatz ihres Lebens von und nach Deutschland mit Berichten über die Entwicklung der Verschwörung.“
Dulles’ Resumée: „Es gab eine Widerstandsbewegung in Deutschland, obgleich im Allgemeinen das Gegenteil angenommen wird. Sie setzte sich aus den verschiedenartigsten Gruppen zusammen, denen es schließlich gelang zusammenzuarbeiten und in die höchsten Kreise der Armee und der Regierungsstellen reichten. Persönlichkeiten aus allen bürgerlichen Berufsklassen, Kirchen- und Arbeiterführer …“

Damit zeichnete der Geheimdienstler ein ganz anderes Bild als damals die US-Regierung und vor allem das State Department öffentlich propagierten: Ganz Deutschland sei im Griff der Nazis, alle Deutschen seien Nazis, der Terror seit total.
Dulles schickte seine Berichte unter dem Codewort breaker (Brecher) nach Washington. Aber Roosevelt und seine Generäle logen weiter, Churchill machte begeistert mit: Alle Deutschen sind Nazis!
Im Januar 1943 bekräftigten sie in der Konferenz von Casablanca, als die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad klar war: Keine Friedensverhandlungen! Unconditional surrender – bedingungslose Kapitulation nach der endgültigen, totalen Niederlage der Deutschen![2]

Merke, auch für heute: Regierungspropaganda und reales (Geheimdienst-)Wissen sind zwei sehr verschiedene Dinge!
Fake information, fake production – sie kann auch darin bestehen, dass das Gegenteil von dem behauptet wird, was man weiß.

Die Informanten

Dulles residierte ab 1942 in der „neutralen“ Schweiz, in der Hauptstadt Bern. Formell war er Mitarbeiter der US-Botschaft, hatte auch ein Büro im Finanzzentrum Zürich.
Bei den Verschwörern führte er mehrere Informanten. Der wichtigste war Hans Bernd Gisevius. Der war Mitglied der „konservativen“ Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) gewesen.
Im NS-Regime gehörte er zunächst zur Gestapo, dann zum Stab von Admiral Canaris, dem Chef des Geheimdienstes „Abwehr“, der mit General Oster einer der Führer des militärischen Widerstands war.

Gisevius war nach einigen internen Scharmützeln zum Vizekonsul im Generalkonsulat des Deutschen Reiches in Zürich ernannt worden. Hier liefen kriegswichtige Informationen zusammen. Hier verkehrten Schweizer und deutsche Geschäftemacher, denn die Schweiz war keineswegs neutral: Schweizer Firmen lieferten wichtige Rüstungsgüter an die Wehrmacht, Schweizer Banken beschafften dem Deutschen Reich Devisen durch An- und Verkauf von Raubgold und Raubaktien.[3]

Gisevius pendelte mithilfe seines privilegierten Status ständig zwischen der Schweiz und Berlin hin und her. Das ergänzte sich: Canaris und Oster erhofften sich über Gisevius bei Dulles Hilfe der westlichen Alliierten und Dulles organisierte über Gisevius sofort ab 1942 die „Verbindung zu den Verschwörern“.
Gleichzeitig pflegte Gisevius „freundschaftliche und politische Beziehungen mit mehreren Mitgliedern des OSS“. So war der deutsche Vizekonsul „eine unschätzbare Hilfe für mich“, hielt Dulles fest. Wenn der Informant aus Berlin zurückkam, traf ihn der Geheimdienstchef nachts in Bern oder Zürich zur Übermittlung der neuesten Informationen.

Als Gisevius unter Gestapo-Verdacht geriet, beschaffte der US-Geheimdienst ihm geheime Gestapo-Kennmarken – ein Hinweis, wie tief Dulles in die Infrastruktur des NS-Terrorapparates eingedrungen war. Weitere Informanten, die hin und her reisen konnten, waren Gero von Gaevernitz, Edward Wätjen und Theodor Strünk, letzterer für Dulles „unser getreuer Bote Strünk“.

Bevorzugt: „Konservativer Widerstand“ – die Militärs

Dulles suchte vor allem Kontakt zum „konservativen“ Widerstand, der die Unternehmer- und Bankenherrschaft aufrechterhalten wollte, nur eben ohne Nazis. Der Geheimdienstchef war ja selbst Vertreter von US-Banken und US-Konzernen sowie von deutschen Konzernen wie Krupp und IG Farben, die während der Weimarer Republik mit der US-Seite zusammenarbeiteten.

Deshalb hatte Dulles seine Informanten auch in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, Bank for International Settlements, 1931 von Wall-Street-Banken gegründet).
Die hatte ebenfalls ihren Sitz in der Schweiz, in Basel. Sie wurde vom Wall-Street-Banker McKittrick geleitet, beschaffte zum Austausch für Wehrmachts-Raubgold kriegswichtige Devisen für das Deutsche Reich.
Dulles hatte die übergeordnete Aufgabe, das Eigentum und die Geschäfte von US-Unternehmen und -Banken wie Ford, General Motors, IBM, ITT, Standard Oil, Chase Manhattan und J.P.Morgan mit dem Deutschen Reich im ganzen besetzten Europa abzusichern, auch mit Blick auf die Nachkriegszeit (das erwähnt der Meister in dem Buch allerdings nicht).[4]

So etablierte Dulles im Deutschen Reich Kontakte zu „konservativen“ Militärs, neben Canaris und Oster etwa zu General Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschaftsamtes, zu Ulrich von Hassell vom Mitteleuropäischen Wirtschaftstag und Botschafter des Deutschen Reiches beim immer gut informierten, antikommunistisch aktiven Vatikan und zu General Alexander von Falkenhausen, dem Militärgouverneur von Belgien.

„Konservativer“ Widerstand – die Politiker

Ebenso etablierte Dulles Kontakte zu „konservativen“ Politikern, so zu deren politischem Haupt im Verschwörerkreis, Carl Friedrich Goerdeler, der von 1933 bis 1936 Preiskommissar unter Hitler gewesen war. Auch zu Mitgliedern der ehemaligen katholischen Zentrumspartei, etwa zum rechten Ex-Kanzler Heinrich Brüning, der in den USA eine Professur an der Universität Harvard bekommen hatte, hielt der Geheimdienstchef Kontakt, ebenso zu Joseph Wirth, dem linken und gewerkschaftsfreundlichen Zentrumspolitiker, der in der Weimarer Republik Reichskanzler und verschiedentlich Minister gewesen und in die Schweiz geflüchtet war.
Der „überzeugte Antinazi Wirth“, so Dulles, half dem OSS, um Himmlers Agenten in der Schweiz auszutricksen.

Übrigens: Den angeblichen Widerständler Konrad Adenauer, der in Deutschland von den Nazis eine hohe Pension erhielt, erwähnt Dulles nicht, gewiss zurecht.

Die Verschwörer hatten Verbindungen nach England und in die militärisch neutralen Staaten Schweden, Spanien, Schweiz und die Türkei. „Eine der besten Verbindungen im Ausland – für die Verschwörung – war der katholische Rechtsanwalt Joseph Müller, der der weltliche Verbindungsmann von Kardinal Faulhaber zum Vatikan war“, schreibt Dulles, der auch diese Kontakte abschöpfte. Müller, das war übrigens der spätere „Ochsensepp“, der Gründer der CSU.

Ebenso pflegte Dulles Kontakte zu „konservativen“ Kirchenfunktionären beider christlicher Konfessionen. „Dr. Eugen Gerstenmaier, den ich gut kennenlernte, war ein Mitglied des Kreisauer Kreises.“ Der OSS stand „in ständiger Verbindung“ mit Dr. Hans Schönfeld von der Evangelischen Kirche in Deutschland, der oft zum Weltkirchenrat nach Genf kam, ebenso mit dem Jesuitenpater Muckermann, der in die Schweiz geflüchtet war.
Dulles berichtete seiner Regierung in Washington auch über die radikaleren christlichen Oppositionellen wie Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer „und viele andere Priester, Pastoren und Laien“.

Die Roosevelt-Regierung schwieg darüber. Damit war Dulles einverstanden. Er hielt von sich aus die Berichte jüdischer und anderer Informanten über die Judenverfolgung und die KZ zurück, leitete sie nicht nach Washington weiter.
Die Aufgabe des Geheimdienstes war, alles zu wissen. Aber weder der Schutz der Nazigegner noch der Schutz der Juden gehörte zu seinen Aufgaben (über seine Behandlung der Judenverfolgung schreibt Dulles in seinem Buch nichts).

Ähnlich verhielt sich die Churchill-Regierung in England. Dulles verfolgte, dass Schönfeld und Bonhoeffer sich in Stockholm heimlich mit dem britischen Bischof von Chichester getroffen hatten. Der hatte die Umsturzpläne und die Bitten der Verschwörer um Hilfe an Außenminister Anthony Eden weitergeleitet.
„Aber die britische Regierung war nicht beeindruckt“, so der OSS-Chef.

Bankiers und Industrielle: Die Wallenbergs

Ein wichtiger OSS-Informant war der schwedische Bankier Jakob Wallenberg. Mit seinem Bruder Marc führte er die größte Banken- und Unternehmensgruppe in Schweden. Das neutrale Schweden belieferte das Deutsche Reich mit kriegswichtigen Materialien und Produkten, etwa Kohle und Kugellager.

Jakob Wallenberg war Mitglied in der gemeinsamen Regierungskommission für wirtschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden. Deshalb war er häufig in Berlin, um mit der NS-Regierung die Lieferungen abzusprechen.
Nebenbei traf er sich ab 1940 bis Ende 1943 mit Goerdeler, der ihn für die Unterstützung für einen Staatsstreich gegen Hitler gewinnen wollte. Mehrfach fanden die Treffen in Stockholm statt.

Weil die Wallenbergs auch gute Beziehungen zu Churchill hatten, hofften die Verschwörer um Goerdeler auch auf britische Hilfe. Wallenberg sollte vermitteln, blieb aber zurückhaltend. Jedenfalls hielt er Dulles über die Aktivitäten der Goerdeler-Gruppe auf dem Laufenden, auch über ihre sich intensivierenden Kontakte zu den Militärs um Stauffenberg. (In der herrschenden Weltkriegs-Legende wird über die Judenrettung des Familienmitglieds Raoul Wallenberg in Budapest berichtet, nicht aber über die kriegswichtigen Beziehungen des Wallenberg-Clans zu Hitler-Deutschland; auch Dulles erwähnt dies in seinem Buch nicht, obwohl er über Informanten in Stockholm genau im Bilde war).[5]

Sozialdemokraten, Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter

Im ausführlichen Buchkapitel „Die Linke“ schildert Dulles seine unterschiedlichen Kontakte zu den linken Verschwörern.

„Als ich mit der Untergrundbewegung in Deutschland und den von Deutschland besetzten Ländern arbeitete, nahm ich oft die Hilfe von Mitgliedern der Sozialdemokratischen Parteien und anderer Sozialisten und Gewerkschafter in Anspruch, wobei besonders die Mitglieder der Internationalen Transportarbeiter-Gewerkschaft hervorragende Dienste leisteten. Ich fand überzeugte Männer und Frauen, die bereit waren, ihr Leben für die Wiederherstellung der Freiheit in Europa aufs Spiel zu setzen.“

So pflegte der OSS Kontakte zu führenden SPD-Mitgliedern, etwa zu Wilhelm Hoegner, der in der Schweiz Exil bekommen hatte: „Immer wieder konnte er mir helfen, in der Schweiz mit Mitgliedern der deutschen Linken Fühlung zu nehmen.“ Nach dem Krieg wurde Hoegner in dem von den USA besetzten Bayern der erste Ministerpräsident.

So wusste Dulles auch über die illegalen Aktivitäten von Kommunisten Bescheid: „Ein kommunistisches Zentralkomitee leitet die kommunistische Tätigkeit in Deutschland … (und) steht in Verbindung mit dem ‘Nationalkomitee Freies Deutschland’ in Moskau und wird von der russischen Regierung unterstützt.“[6]
Ebenso wusste der OSS über die „Rote Kapelle“ Bescheid, in der Ministerialbeamte, Kommunisten und auch eine Amerikanerin heimlich Meldungen an die Sowjetunion funkten, bevor sie aufflogen und hingerichtet wurden, auch die Amerikanerin (dagegen protestierte die US-Regierung nicht).[7]

Der OSS kannte auch die illegalen und gefährlichen Aktionen von Kommunisten: Propagandamaterial in Briefkästen stecken, Sabotage in Schiffswerften, Aktionen zur Langsamarbeit, Organisierung von Fremdarbeitern. Die Informanten des OSS berichteten über lokale Bündnisse von Kommunisten und Sozialdemokraten.
Der US-Geheimdienst registrierte die „Zerwürfnisse und Spaltungen“ innerhalb der Linken und über Neuformationen, etwa die Gruppe „Neu Beginnen“ und über den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK).

Der OSS unterhielt Kontakte in den „Kreisauer Kreis“, in dem die radikaleren Offiziere wie Adam von Trott zu Solz und Claus Schenk von Stauffenberg sich auch mit Sozialdemokraten wie Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff und dem Gewerkschaftsführer Wilhelm Leuschner sowie dem katholischen Gewerkschafter Jakob Kaiser trafen.

Nur abschöpfen, nicht unterstützen

„Von Schweden wie auch der Schweiz, Spanien, der Türkei und dem Vatikan mussten die Verschwörer erfahren, dass sie auf keinerlei Versprechungen der Alliierten rechnen konnten“, fasst Dulles zusammen. Mit den „Alliierten“ meinte er die westlichen, denn zur Sowjetunion nahmen die Verschwörer des 20. Juli keine Kontakte auf.

Auch die direkten Informanten, die wie Gisevius zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her pendelten, teilten den Verschwörern die Position des OSS und von Roosevelt und Churchill immer wieder mit: Es gibt keinerlei Unterstützung!

Gisevius berichtete Dulles im Januar 1943: Die Verschwörer sind tief enttäuscht, dass die Westmächte keine Unterstützung geben. Der Geheimdienstchef beendete deshalb aber keineswegs die Aktivität seiner Informanten, im Gegenteil: Er wollte gerade deshalb genau wissen, wie die Vorbereitungen des Attentats vorangingen.
Denn der Widerstand drohte sich nach links zu radikalisieren.

Die Informanten berichteten an Dulles 1944: Der Sozialist Leuschner mache „in der Verschwörung zunehmend mehr Einfluss geltend“. „Der brillante Sozialist Dr. Julius Leber“ versuche „im letzten Moment, die Kommunisten kurz vor dem 20. Juli in die Verschwörung mit einzubeziehen“.
Der Kreis um Stauffenberg war einverstanden, dass nach dem geglückten Attentat „Leuschner, Leber und Haubach alle Kabinettsposten“ in der neuen Regierung erhalten sollten, so Dulles. Das barg die „Gefahr“: Die US-Militärs waren gerade erst in Frankreich, die Rote Armee drang immer schneller vor, die Sowjetunion bot Friedensverhandlungen an.

Das Attentat verzögern!

Dulles war über den Informanten Jakob Wallenberg informiert: Die Putschpläne des Goerdeler-Kreises waren für September 1943 fertig. Die personelle Besetzung der „Zwischenregierung“ sei geklärt, General Beck als Staatschef, mit Militärs, Ministern, Vertretern von Gewerkschaften und Gemeinden; anschließend würden Wahlen abgehalten, bei denen wahrscheinlich die Sozialdemokraten gewinnen würden.

Die Verschwörer kamen aber nicht voran, weil sie immer noch gutgläubig auf die US- und die britische Regierung hofften. Die aber blockierten absolut.
Aber auch andere bremsten, wie die Wallenbergs, berichtet Dulles: An Weihnachten 1942 trafen sich die „alten Sozialdemokraten“ Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und Emil Hank, Mitglieder des Kreisauer Kreises. Wenn Hitler jetzt beseitigt würde, entstünde „ein politisches Vakuum … Die amerikanischen und britischen Streitkräfte waren weit weg … Das Verschwinden von Hitler würde Deutschland nur zu leicht dem Kommunismus ausliefern.“
Deshalb das Motto der SPD-Leute: „Hitlers Ermordung solange hinausschieben, bis sich die amerikanischen und britischen Heere auf dem Kontinent festgesetzt hätten.“

Dulles erfuhr weiter von seinen Informanten: Die USA und England machen sich in der deutschen Bevölkerung durch die Bombardierungen der Städte – 1943 auf Hamburg auch zum ersten Mal mit Phosphor-Bomben – unbeliebt! Es entwickele sich ein „wachsender Skeptizismus in Deutschland gegenüber dem, was denn noch vom Westen zu erhoffen wäre … Es machte großen Eindruck auf die Massen, dass dieses Bombardieren nur vom Westen her kam.“

Die Gefahr des vorzeitigen Friedens!

Dulles erkannte und meldete nach Washington: Der Einfluss des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD), das mit Moskau zusammenarbeitet, wächst und wird durch die „Millionen russischer Kriegsgefangener in Deutschland wesentlich verstärkt … Das Abgleiten zur extremen Linken hat verblüffende Ausmaße angenommen und wächst ständig an Bedeutung … Die feindliche Stimmung, die bei den Arbeitern und in den Bürgerkreisen entstanden war, schwächte den Einfluss der nach Westen orientierten Verschwörer und gab denen, die ihre einzige Hoffnung auf die Sowjets setzten, Oberwasser.“

Der US-Geheimdienstchef informierte seine Regierung: Viele Verschwörer glauben inzwischen, dass „Russland“ besser ist für die Nachkriegsentwicklung in Deutschland: Russland lässt Deutschland „sich weiterentwickeln, in stärkerem Maße als England und Frankreich, die in Deutschland ja einen Mitbewerber auf dem Weltmarkt sahen.

Dulles analysierte zutreffend: „Von Russland kommen dauernd konstruktive Ideen und Pläne für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege … Im Vergleich dazu haben die demokratischen Länder der Zukunft von Zentraleuropa nichts zu bieten.“

Churchill: „Nur ein Kampf der Hunde untereinander“

So wurde der Widerstand von Kriegsbeginn an geschwächt. Das Attentat wurde immer weiter verzögert: Es wurde dann zum letztmöglichen Zeitpunkt ausgeführt und missglückte schließlich.

Radio Moskau schilderte ausführlich das Attentat, lobte die Attentäter, ließ General Walther von Seydlitz zu Wort kommen. Der hatte den Bund Deutscher Offiziere (BDO) gegründet und schloss sich später dem NKFD an.

Im Westen wurde das Attentat als bedeutungslos heruntergespielt. Churchill kommentierte im Sinne der westlichen Strategie: „Nur ein Kampf der Hunde untereinander“.

Dulles lobte nachträglich in seinem Buch die mutigen Widerständler als Vorbilder, aber er hatte sie lediglich informatorisch abgeschöpft, sie wurden mitleidlos geopfert. Ebenso wurden im weiteren Verlauf des totalen westlichen Krieges die ungleich zahlreicheren Kriegsopfer auf ziviler und militärischer Seite hingenommen: Unconditional surrender!

Fortsetzung nach dem Krieg

Übrigens: Die Kontakte und Kenntnisse, die Dulles als Chef des US-Geheimdienstes OSS während des Krieges in allen besetzten Staaten erwarb, setzte er als Chef des OSS-Nachfolgedienstes CIA nach dem Krieg weiter ein – weiter gegen die substanziellen Nazi-Gegner, weiter gegen „Russland“, weiter für die US-Dominanz im Nachkriegs-Europa.

Sozialdemokraten, die sich der CIA-Linie non-comunist left policy (Links sein, aber die Sowjetunion als Feind behandeln) anpassten, wurden gefördert.[8]
Diejenigen, die nicht einmal „konservativen“ Widerstand geleistet hatten wie Konrad Adenauer, Jean Monnet und Maurice Schuman, wurden die Gründerväter der EU.

Wer das missglückte Attentat vom 20. Juli 1944 so als Vorbild feiert – und sich zudem auch noch die Beleidigung der Attentäter durch Churchill kommentarlos gefallen lässt – wie die diskreditierte herrschende Klasse in Deutschland, scheint bereit zu sein, vergleichbare Opfer auch heute hinzunehmen. Man ist ja schon mittendrin.

[«1] Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. Zuerst New York 1942, 1944 erweiterte Fassung. Neumann schilderte den Terrorapparat, ohne auf die frühe Förderung Hitlers durch die großen Kapitalisten wie Ford und Krupp einzugehen. Neumann war auch Berater der Anklage beim Nürnberger Militärtribunal.

[«2] Paul Sparrow: The Casablanca Conference – Unconditional Surrender, fdr.blogs.archives.gov, 10.1.2017

[«3] Ingolf Gritschneder / Werner Rügemer: Hehler für Hitler. Die geheimen Geschäfte der Firma Otto Wolff, WDR „die story“/ARD 2001

[«4] Adam Tooze: The Tower of Basel, New York 2013

[«5] Raoul Wallenberg wurde von der schwedischen Regierung als Sondergesandter zur Judenrettung nach Budapest geschickt, gegen die Vorbehalte der OSS-Residentur in Stockholm: Die hatte Bedenken angemeldet wegen der engen Beziehungen der Wallenberg-Familie zu Hitler-Deutschland (Wikipedia über Rauol Wallenberg).

[«6] Das Nationalkomitee Freies Deutschland war nach der Niederlage von Stalingrad von Offizieren der Wehrmacht gegründet worden. Am 12./13. Juli 1943 tagte es, eine Woche vor dem Attentat gegen Hitler, bei Moskau, mit Teilnahme von Gewerkschaftern, Schriftstellern, Soldaten und Politikern aller politischen Richtungen.

[«7] Mildred Fish-Harnack: „Ich habe Deutschland so geliebt“, in: Werner Rügemer: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet, Köln 2017, S. 187ff.

[«8] Werner Rügemer: Hindernisse der Opposition im westlichen Kapitalismus. Wie US-Geheimdienste die antifaschistische Opposition im Europa des 2. Weltkriegs und danach infiltrierten, schwächten oder zerstörten, in: Klaus-Jürgen Bruder u.a. (Hg.): Paralyse der Kritik – Gesellschaft ohne Opposition? Gießen 2019, S. 87 – 100


Mein Kommentar: Mit diesen für die USA peinlichen Erkenntnissen ist es um so klarer, warum aus der Atlantiker-Fraktion Antisemitismus-Vorwürfe gegen Rügemer kommen: https://josopon.wordpress.com/2015/01/27/antisemitismus-vorwurf-gegen-werner-rugemer-als-lugengespinst-entlarvt/.

Jochen

Crash 2.0: Europa vor der nächsten Krise – Merkel gefährdet Europa

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zur Zeit läuft eine Medienaktion in Deutschland, um Draghi, den Präsidenten der EZB wegen seiner Abkehr vom Knausern zu diskreditieren.

Auf die Weise soll die Austeritätspolitik von J.Weidmann und der kanzlerin Merkel durchgesetzt werden, der sich immer mehr Europäische Staatschefs entziehen, damit ihnen nicht die innenpolitischen Konflikte ausser Kontrolle geraten.
Siehe dazu auch die die Blockupy-Aktionen vor der EZB, die von der deutschen Presse totgeschwiegen werden.
Hier auszugsweise:
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/november/crash-2.0-europa-vor-der-naechsten-krise
von Klaus Busch

Sechs Jahre sind seit der Lehman-Pleite inzwischen vergangen und die Börsen haben sich scheinbar längst beruhigt. Genauer gesagt: Sie feiern wieder fröhliche Aktienrekorde.
Doch dabei handelt es sich möglicherweise nur um die Ruhe vor dem Sturm. Denn die Realwirtschaft ist, national wie europäisch, von Einbußen betroffen.
Zugleich weisen der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in letzter Zeit verstärkt darauf hin, dass sich an den internationalen Finanzmärkten neue Ungleichgewichte aufgebaut haben und die Gefahr eines neuen Crashs droht.
[1]

Vier Punkte sind dafür von zentraler Bedeutung.
Erstens: Die globale Ungleichheit der Vermögensverteilung ist aufgrund der Finanzkrise 2008/2009 nicht geringer, sondern größer geworden. Wenige Prozent der Privathaushalte verfügen über mehr als 90 Prozent der Vermögen. Diese Vermögen sollen nach dem Willen der Kapitalbesitzer möglichst hohe Renditen abwerfen. Insbesondere in einer Phase der realwirtschaftlichen Wachstumsschwäche, wie seit 2010 in der Eurozone, und in einer Phase höheren Wachstums in den Schwellenländern wird ein großer Teil dieser Vermögen an den internationalen Aktien- und Anleihemärkten angelegt.

Zweitens: Obwohl die Industrieländer nach der großen Finanzkrise versprochen haben, jeden Markt, jeden Akteur und jedes Produkt auf den Finanzmärkten einer Kontrolle zu unterwerfen, ist die Bankenregulierung immer noch völlig unzureichend. Auch die Frage der Konzentration im Bankensektor (too big to fail) ist nicht gelöst, ja, aufgrund der Konzentrationsprozesse während der Krise sind die führenden Banken sogar noch größer geworden.

Mit der Regulierung des Bankensektors nimmt darüber hinaus der Bereich der bislang nur schwach regulierten Schattenbanken immer größere Ausmaße an.[2]
In Reaktion auf die „Volcker-Regel“ haben US-Großbanken ihre Investmentabteilungen aufgelöst und sich verstärkt an Hedgefonds beteiligt.
Private Equity Fonds, Hedgefonds und Geldmarktfonds kontrollieren heute bereits ein Vermögen, das einen Wert von 50 Prozent des von den regulierten Banken verwalteten Vermögens erreicht.
Der Derivatemarkt hat heute ein Volumen von rund 650 Billionen Dollar und ist größer als vor der Krise, er ist neunmal größer als das BIP der Welt. 70 Prozent der Aktivitäten des Bankensektors sind reine Interbankengeschäfte. Schon diese Zahlen dokumentieren, dass heute auf den internationalen Finanzmärkten im selben Stile spekuliert wird wie vor der Krise.

Drittens: Das Verhalten der Akteure speziell auf den Finanzmärkten unterliegt weiterhin – und nicht weniger als zuvor – den animal spirits,[3]
sprich: Es ist geleitet von Gier und Herdeninstinkt.
Steigen die Kurse wie derzeit an den Aktien- und Anleihemärkten und die Preise an den Immobilienmärkten, verlieren viele Akteure das Gefühl für die Risiken der Investments, denn es scheint ja immer nur nach oben zu gehen. Jeder will teilhaben am Reichtum, den auch andere scheinbar mühelos erwerben können.
Diese Verhaltensdispositionen der Marktteilnehmer verlangen scharfe Kontrollen und strikte Einschränkungen der Produkte, mit denen „gewettet“ werden kann, um Exzesse an den Märkten zu verhindern – doch diese fehlen nach wie vor.

Viertens: Um die verschiedenen Krisen zu überwinden, betreiben die Zentralbanken der USA, der Eurozone, Großbritanniens, Japans und der VR China seit dem Crash von 2008/2009 aus reiner Not eine ultralockere Geldpolitik. Die kurz- und langfristigen Zinsen sind global sehr stark gesunken.
Da jedoch die realwirtschaftlichen Wachstumsbedingungen selbst 2014, sechs Jahre nach Beginn der großen Krise, immer noch schlechter sind als vor 2008, stehen den Finanzmärkten immer größere Volumina an Mitteln für Spekulationen zu günstigsten Konditionen zur Verfügung.

Trügerische Ruhe

Wie instabil die Lage bereits wieder ist, zeigte sich im Sommer 2013 und Anfang 2014, als die US-Notenbank Federal Reserve (FED) ankündigte, eine Änderung der Zinspolitik zu erwägen. Ohne auch nur einen Schritt in diese Richtung getan zu haben, löste allein die Erwartung eines Politikwechsels erhebliche Turbulenzen auf den Devisen-, Aktien- und Anleihemärkten vieler Schwellenländer aus.
Denn speziell in die florierenden Schwellenländer, die hohe Zuwachsraten ihres BIP aufwiesen, waren zuvor angesichts der höheren Dividenden und Renditen sehr viele Anlagemittel aus den Industrieländern geflossen und hatten dort die Wechselkurse, die Aktien und die Anleihen nach oben getrieben und den Boom in diesen Ländern befördert.

Doch die Erwägung der FED, ihre Anleihekäufe zu reduzieren, führte in etlichen Schwellenländern zu einer Umkehr der Kapitalströme. Deren Währungen werteten plötzlich stark ab, die Aktienmärkte wiesen Kurseinbrüche auf und an den Anleihemärkten kam es zu einem markanten Renditeanstieg.
Manche Schwellenländer reagierten mit Zinsanhebungen, um die Abwertung ihrer Währungen zu bremsen. Die Turbulenzen bewirkten, dass sich deren Aktienmärkte jetzt volatiler bewegen als diejenigen der Industrieländer und der Wachstumsprozess in einigen Ländern abgeschwächt wurde, beispielsweise in Brasilien.
Diese Ereignisse führten noch einmal vor Augen, wie schnell die Realwirtschaft von Turbulenzen auf den Finanzmärkten betroffen ist.

Immerhin hat die BIZ inzwischen Frühwarnindikatoren für Bankenkrisen entwickelt. Dazu zählen neben den Schuldendienstquoten eine sogenannte Kreditquotenlücke und eine Preislücke bei Immobilien.
Die Kreditquotenlücke misst das Verhältnis von Kreditvolumen zum BIP. Diese Lücke wird dann als Vorbote einer Bankenkrise betrachtet, wenn ihr Wert im Vergleich zu historischen Langzeitgrößen um mehr als 10 Prozent nach oben abweicht. In einer bedrohlichen Lage befinden sich diesbezüglich die asiatischen Staaten China, Hongkong, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand sowie darüber hinaus Brasilien, die Türkei und die Schweiz.
Der Preisindikator bei den Immobilien misst die reale Entwicklung der Preise von Wohnimmobilien. Auch hier wird eine Abweichung vom historischen Langzeitwert von mehr als 10 Prozent als Anzeichen für eine mögliche Bankenkrise gewertet. Hierbei drohen laut BIZ ebenfalls in den genannten Staaten Asiens – ohne China – sowie in der Schweiz besondere Risiken.

Fasst man die Entwicklung dieser Ungleichgewichte auf den Aktien-, Anleihe-, Kredit- und Immobilienmärkten zusammen, ist die Gefahr eines neuen Crashs an den Märkten, also der Eintritt eines „Minski-Moments“,[4] beträchtlich.
Während in der Zeit der weitgehend strikten Regulierung der internationalen Kapitalströme, von den 50er bis in die 80er Jahre, das Phänomen der internationalen Finanzmarktkrisen unbekannt war, tritt es seit Beginn der Deregulierung der Märkte und der Liberalisierung der internationalen Kapitalbeziehungen in den 90er Jahren gehäuft auf, teilweise in Form von regionalen Krisen (Asien, Lateinamerika, Russland) und schließlich in Form der großen Krise von 2008/2009.

Es handelt sich hier keineswegs um einen sogenannten Black Swan, der unvorhersehbar und singulär ist.
Die Ursachen dieser Instabilitäten (ungleiche Vermögensverteilung, mangelhafte Regulierung, ultraleichte Geldpolitik und animal spirits) sind identifizierbar, und Indikatoren für die Ungleichgewichte auf den verschiedenen Märkten können bestimmt und gemessen werden – auch wenn der genaue Zeitpunkt des Crashs nicht vorhergesagt werden kann.

Der im Übrigen hervorragende BIZ-Jahresbericht macht vor allem die ultralockere Geldpolitik für die Zunahme des Crashrisikos verantwortlich.
Tatsächlich sind jedoch die sogenannten animal spirits und deren mangelhafte Einhegung durch den Staat als die primären Ursachen der Finanzkrise zu betrachten. Wären die Versprechen der G 8, jeden Markt, jedes Produkt und jeden Akteur auf den globalen Märkten zu kontrollieren, eingehalten worden, hätte die Geldpolitik ihre unorthodoxen Maßnahmen ins Spiel bringen können, ohne das Risiko eines neuen Crashs an den Finanzmärkten zu verstärken.

Stagnationskrise in Europa

Die EU ist auf einen Crash, der die Realwirtschaft in einen Abschwung treiben wird, alles andere als gut vorbereitet.
Fünf Jahre nach der großen Krise 2008/2009 ist die Eurozone immer noch nicht wieder auf Wachstumskurs, im Gegenteil: Nach den beiden Rezessionsjahren 2012 und 2013 befindet sie sich in einer Stagnationsphase, mit Tendenz nach unten.
Gleichzeitig schlummern in den Bilanzen der europäischen Banken weiterhin faule Kredite in Milliardenhöhe.

Dagegen befinden sich Produktion und Beschäftigung der USA seit 2010 in einer deutlichen Erholungsphase. Wo aber liegen die zentralen Unterschiede?
Einerseits zögert der europäische Bankensektor, neue Kredite zu gewähren, obwohl die Refinanzierung durch die Zentralbank sehr günstig ist.
Der Privatsektor versucht dagegen, seine Schulden zu reduzieren, konsumiert weniger und spart mehr, was sich ebenfalls negativ auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirkt.

Die Voraussetzung einer wirtschaftlichen Erholung Europas wäre deshalb zum einen die Sanierung des Bankensektors, und zwar durch Kapitalvernichtung (Pleiten) und/oder die Zufuhr frischen Kapitals, also eine Verbesserung der Eigenkapitalquote, zum anderen aber mittelfristig die deutliche Reduktion der privaten Schulden.
Erst auf dieser Grundlage können staatliche Konjunkturprogramme und eine lockere Geldpolitik der Zentralbank dauerhafte wirtschaftliche Erfolge erzielen.

Doch während in den USA seit der Krise mehr als 500 Banken abgewickelt wurden, waren es in der Eurozone gerade einmal eine Handvoll. Die Eigenkapitalquote im Bankensektor hat sich auch deshalb in den USA erheblich stärker verbessert als in Europa.
Die Reingewinne des Bankensektors stagnieren in der Eurozone, während sie in den USA seit der Krise wieder deutlich angestiegen sind.
Darüber hinaus ist auch die Entschuldung des Privatsektors in den USA deutlich stärker vorangekommen als in Europa.

Zu den finanzökonomischen Differenzen kommt ein weiterer entscheidender Faktor hinzu, die . Die unter der Führung Deutschlands intonierte Sparpolitik erzeugte in der Eurozone 2012 und 2013 erneut eine Rezession, und auch die für 2014 erwartete ökonomische Erholung ist bereits wieder ins Stottern geraten.
Dagegen bekämpften die USA die Krise auch mit einer expansiven Fiskalpolitik.
Das Ergebnis: Während in den USA die Kredite für Investitionen der Unternehmen seit 2010 kontinuierlich ansteigen, sinken sie in Fiskalpolitikder Eurozone Jahr für Jahr.

Draghis Drahtseilakt

Angesichts ihrer ökonomischen Stagnation und der mangelnden Sanierung ihres Finanzsektors würde die EU von einem erneuten Crash besonders hart getroffen werden.
Geraten Banken in Schieflagen, wird auch die Bankenunion keine große Entlastung bieten: Der Restrukturierungsfonds ist mit 55 Mrd. Euro viel zu schwach ausgelegt (und er erreicht dieses Volumen ohnehin erst im Jahre 2025).[5]
Damit kämen wieder die nationalen Staatshaushalte als Bankenretter ins Spiel, womit eine Neuauflage der Eurokrise wahrscheinlich würde.

EZB-Chef Mario Draghi ist sich der aktuellen Risiken ausgesprochen bewusst. Er fordert daher drei Maßnahmen, um der Probleme Herr zu werden:
erstens, ein Fiskalpaket zur Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (bei der insbesondere die deutsche Regierung aufgefordert wird, fiskalische Impulse zu setzen);
zweitens, ein großvolumiges Aufkaufprogramm für Wertpapiere durch die EZB, um das langfristige Zinsniveau niedrig zu halten; und
drittens, ein Kreditverbriefungsprogramm, in dessen Rahmen die EZB sogar bereit ist, von den Banken die Seniortranchen ihrer gefährlichen Asset Backed Securities (ABS) zu kaufen.

Doch obwohl der Chor derjenigen, die einen öffentlich stimulierten Investitionsschub fordern, immer größer wird (IWF, USA, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Herbstgutachten der Forschungsinstitute), sträubt Deutschland sich nach wie vor.
Auch die Bereitschaft, die Schuldenbremsen endlich zu lockern, scheint noch nicht gegeben zu sein.

Ob die beiden Maßnahmen zur Entlastung der Bankbilanzen fruchten werden, bleibt abzuwarten. Der noch in diesem Jahr durchzuführende Stresstest für die Banken der Eurozone wird zeigen müssen, bei welchen Banken und in welchen Ländern die 940 Mrd. Euro fauler Kredite schlummern.
Die Übertragung dieser Kredite vom Privatsektor auf die EZB mittels des Kaufs der ABS ist auch politisch hochbrisant, übernimmt doch damit der Steuerzahler letztlich die Risiken.

Hier zeigt sich, dass es sich bei Draghis Maßnahmen ökonomisch wie politisch um einen Drahtseilakt handelt, und das offenbart die ganze Dramatik der aktuellen Lage.

Fest steht, dass ein weiterer größerer Crash an den Finanzmärkten die Eurozone, welche die alte Krise noch immer nicht verdaut hat, in eine Zerreißprobe treiben würde – zumal die Betroffenheit zwischen den Eurostaaten sehr unterschiedlich wäre, etwa zwischen Deutschland einerseits und Italien sowie Spanien andererseits. All das könnte zur Auflösung des gemeinsamen Währungsgebiets führen, Renationalisierung wäre die Folge. Die Gewinner dürften daher heute schon feststehen: nämlich dieRechtspopulisten.

[1] Vgl. International Monetary Fund, Global Financial Stability Report, Washington, D.C. 2014 und IWF, World Economic Outlook, Washington, D.C. 2014; Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, 84. Jahresbericht, Basel 2014.

[2] Vgl. Axel Troost, Nicola Liebert und Rainald Ötsch, Der graue Markt der Schattenbanken, in: „Blätter“, 6/2012, S. 83-90.

[3] Vgl. George A. Akerlof und Robert J. Shiller, Animal Spirits: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt a. M. 2009.

[4] Vgl. Hyman P. Minski, Instabilität und Kapitalismus, hg. von Joseph Vogl, Zürich 2011.

[5] Vgl. Frank Bsirske und Klaus Busch, Die Große Koalition und die Eurokrise, in: „Blätter“, 3/2014, S. 95-102.

(aus: »Blätter« 11/2014, Seite 17-20)

Dazu ein aktueller Komentar von Michael Schlecht:

Merkel gefährdet Europa

Fünf Jahr nach dem Ausbruch der Eurokrise: Die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas verharrt auf Rekordständen. Die Eurozone befindet sich in einem wirtschaftlich höchst gefährlichen Preisverfall. Ohne einen Kurswechsel droht ein verlorenes Jahrzehnt. Möglicherweise noch Schlimmeres.

Viele hofften, dass in diesem Jahre die Eurozone aus der Krise heraus käme. Weit gefehlt. Die wirtschaftliche Entwicklung kommt nicht aus dem Keller. Und die soziale Katastrophe geht weiter: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Spanien und Griechenland bei mehr als 50 Prozent! Die Armut wächst in einem Ausmaß, den man in der Eurozone überwunden glaubte. Die Menschen in den südeuropäischen Ländern schwanken zwischen verzweifeltem Widerstand und Resignation. Deutschland schien bislang von all dem Unheil weitgehend abgekoppelt.

Das Lahmen der Wirtschaft in Deutschland im Laufe des Jahre 2014 kam für viele in Politik, Medien und Wissenschaft scheinbar unvorbereitet. Warum eigentlich? Dachte wirklich jemand, Deutschland werde bei schwacher Entwicklung der Binnennachfrage und wegbrechenden Exporten in die Eurozone dauerhaft schadlos bleiben? Immerhin gehen immer noch knapp 40 Prozent der Exporte in die Eurozone. Die von Merkel und Co. aufgeherrschten Kürzungsprogramme für die Eurozone mussten auf Deutschland zurückwirken.
 
„Die Eurokrise ist vor allem eine Staatsschuldenkrise“, so Kanzlerin Merkel. Ihr Rezept: Kürzen auf Teufel komm raus.
 
Die deutsche Regierung setzte durch, dass die Ausgaben der Staatshaushalte in den Krisenländern zusammengestrichen wurden. Betroffen sind vor allem soziale Leistungen, Rentnerinnen und Rentner sowie die Bezahlung und die Verringerung der Staatsbeschäftigten.
 
Zum anderen wurden die Arbeitsbedingungen für Beschäftige auch der privaten Wirtschaft verschlechtert. Zu dem Arsenal der Maßnahmen gehören: Leiharbeit und Werkverträge sowie Befristungen ausweiten, Gewerkschafts- und Tarifrecht einschränken. Mindestlöhne reduzieren und Kündigungsschutz verschlechtern. Das Resultat: Die Löhne, gerade auch in der Privatwirtschaft wurden abgesenkt.
 
Hierdurch wurde die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder gesteigert. Dies führte zwar zu einer Verbesserung der Wettbewerbsposition, sodass die Exporte stiegen.
 
Gleichzeitig wurde mit den Lohn-, aber auch Sozialkürzungen die Nachfrage, die Kaufkraft massiv beschnitten und damit auch die Importe, auch aus Deutschland. Massiver Rückgang der zahlungsfähigen Nachfrage in ohnehin geschwächten Ökonomien lässt diese weiter abrutschen. So hinken oder sinken Steuereinnahmen, trotz Erhöhung der Steuersätze, und Sozialkosten steigen, trotz beständiger Kürzung der Sozialleistungen. Die Neuverschuldung blieb bis 2013 hoch. Auch das von Merkel und Co. ausgegebene Ziel die Staatsverschuldung zu senken, konnte so nicht erreicht werden.
 
Dazu kommt, dass die fehlende Nachfrage auf die Preise drückt. Die Eurozone nähert sich gefährlich der Deflation, also einem Preisverfall. Einige Länder, wie Griechenland und Italien, sind bereits in der Deflation.
 
Die extreme Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank, mit der sie sich gegen die Deflation stemmt, ist das Spiegelbild der anhaltenden Eurokrise, die von der herrschenden Politik nicht gelöst wurde. Mittlerweile ist auch die europäische Zentralbank mit ihrem Latein am Ende. Die für die Zentralbank ungewöhnlichen Appelle zu höheren Löhnen und mehr öffentlichen Investitionen sind nur Ausdruck dessen.
 
Die brutale, krisenverschärfende Kürzungspolitik muss beendet werden. Einen sofortigen Stopp der Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen sowie der Massenentlassungen ist dringend nötig.
Die von Deutschland ausgehenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte sind die zentrale Ursache der Krise. Ohne ihre Überwindung können die Probleme der europäischen Wirtschaft nicht grundlegend gelöst werden.
 
Zentrale Richtschnur muss die Stärkung der Binnenwirtschaft in Deutschland sein. Dies beinhaltet vor allem deutlich höhere Lohnsteigerungen und öffentliche Investitionen.

 Der Kommentar ist eine Zusammenfassung zum aktualisierten Positionspapier „Merkel gefährdet Europa“, das auf www.michael-schlecht-mdb.de runtergeladen werden kann.