Sahra Wagenknecht: Warum wir eine neue Sammlungsbewegung brauchen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ausnahmsweise in der WELT bekommt sie Gelegenheit, sich zu erklären:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article178121522/Gastbeitrag-Warum-wir-eine-neue-Sammlungsbewegung-brauchen.html

Dazu auch noch ein Interview in der Rhein-Neckar-Zeitung, in dem sie ausführlicher auf die geplante Bewegung eingeht:

https://www.rnz.de/politik/hintergrund_artikel,-sahra-wagenknecht-im-rnz-interview-kein-grund-meine-position-zu-veraendern-_arid,364713.htm

Auszüge:

Die liberale Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise. Äußeres Zeichen sind die Wahlsiege rechtsnationaler, offen illiberaler Kräfte – von Donald Trump über Victor Orbán bis zu Matteo Salvini.
Auch in Deutschland taumeln die ehemaligen Volksparteien von einer Wahlniederlage zur nächsten und erreichen gemeinsam gerade noch ein gutes Drittel aller Wahlberechtigten.

Die Ursache solcher Verschiebungen in der politischen Tektonik liegt auf der Hand: Es ist die Enttäuschung, Verärgerung, ja aufgestaute Wut erheblicher Teile der Bevölkerung über politische Entscheidungsträger, die seit vielen Jahren nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können, im Auftrag oder auch nur im Interesse der Mehrheit zu handeln.

Die Diskrepanz zwischen Wählerwille und Regierungsbildung wurde in Deutschland nach der Wahl im September 2017 augenfällig. Obwohl Union und SPD vom Wahlvolk mit desaströsen Ergebnissen abgestraft wurden, merkelten sie genau da weiter, wo sie vor der Wahl aufgehört hatten. Aber auch Jamaika hätte – wie die Sondierungsergebnisse zeigen – nichts Wesentliches anders gemacht. So wie vorher schon Schwarz-Gelb und noch früher Rot-Grün unter Gerhard Schröder.

Wahlen sind nur noch eine Farce

Die einstigen Volksparteien, einschließlich ihrer liberalen und grünen Partner, sind mittlerweile so ununterscheidbar geworden, dass Wahlen zur Farce und demokratische Rechte substanzlos werden.
Alle genannten Parteien stehen für eine Globalisierung nach dem Gusto transnationaler Großunternehmen – als wäre das die einzige Möglichkeit, internationalen Austausch im Zeitalter der Digitalisierung und moderner Transportwege zu organisieren.

Sie alle predigen die vermeintliche Unfähigkeit des Nationalstaats, seine Bürger vor Dumpingkonkurrenz und dem Renditedruck internationaler Finanzinvestoren zu schützen.
Sie alle vertreten somit einen Wirtschaftsliberalismus, der die Warnungen der Freiburger Schule vor der Konzentration von Wirtschaftsmacht in den Wind geschrieben hat und deren fatale Folgen nicht nur für Innovation und Kundenorientierung, sondern auch für die Demokratie ignoriert.

Und sie alle haben diesem Uralt-Liberalismus, der aus der Zeit vor der Entstehung moderner Sozialstaaten stammt, die glitzernde Hülle linksliberaler Werte übergestreift, um ihm ein Image von Modernität, ja moralischer Integrität zu geben. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.

Und es widerspricht sich ja nicht: Ehe für alle und sozialer Aufstieg für wenige, Frauenquote in Aufsichtsräten und Niedriglöhne dort, wo vor allem Frauen arbeiten, staatlich bezahlte Antidiskriminierungsbeauftragte und staatlich verursachte Zunahme von Kinderarmut in Einwandererfamilien.

Im Ergebnis dieses Policy Mix wurden einerseits die Rechte vormals ausgegrenzter und diskriminierter Minderheiten real gestärkt, andererseits wächst die Ungleichheit und schmilzt der Wohlstand der Mitte.
Das gilt nicht nur für Länder mit großen ökonomischen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit.

Auch in Deutschland haben die unteren 40 Prozent der Bevölkerung laut DIW heute weniger Kaufkraft als Ende der Neunzigerjahre. Der von der Agenda 2010 geschaffene Niedriglohnsektor und die Kürzung sozialer Leistungen, etwa bei Rente und Arbeitslosengeld, schlagen sich in dieser Zahl nieder.

Die Vermögensungleichheit ist wieder so hoch wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Die Unsicherheit wächst.
Und die Aufnahme Hunderttausender Zuwanderer, vor allen in den Jahren 2015 und 2016, hat akute Probleme wie den Mangel an Sozialwohnungen und Kita-Plätzen oder die hoffnungslose Überforderung von Schulen in sozialen Brennpunkten weiter verschärft.

Große Unternehmen regieren das Land

Auch wenn der Chef des Dax-Konzerns Daimler, Dieter Zetsche, damals jubelte, „genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land“, lässt sich kaum behaupten, dass diese Politik den Rückhalt gesellschaftlicher Mehrheiten besaß.

Vor einiger Zeit wurden von einem WDR-Filmteam Bürgerinnen und Bürger gefragt, wer ihrer Meinung nach in Deutschland die Macht hat.
Die wenigsten glaubten, dass die Macht bei den Politikern liegt oder gar bei den Wählern. Nahezu alle gingen davon aus, dass die Wirtschaft, insbesondere die großen Unternehmen, unser Land regieren.

Ob die großzügige Bankenrettung oder die Rückgratlosigkeit der Politik im Umgang mit den Abgasbetrügern (selbstverständlich wäre es möglich, Unternehmen per Gesetz zur Nachrüstung der Hardware zu verpflichten), ob der fahrlässige Verzicht auf den Schutz unserer Privatsphäre vor Facebook, Google und Co. (die EU-Datenschutzgrundverordnung quält Mittelständler und ficht die Datenkraken nicht an) oder die politische Untätigkeit angesichts des dreisten Steuerdumpings der Konzerne (das sich durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen auch ohne „europäische Lösung“ beenden ließe) – es gibt unzählige Beispiele, die die Befragten in ihrer Einschätzung bestätigen dürften.

Demokratie verlangt Wahlfreiheit, also die Möglichkeit, sich zwischen Regierungen mit grundsätzlich unterschiedlichen Programmen entscheiden zu können.
Wo die globalisierte Wirtschaft regiert und die Politik sich für machtlos erklärt, gibt es keine demokratische Gestaltung und folglich auch keine Alternativen mehr.

Dass sich gerade Ärmere und Abstiegsgefährdete von einer Fassadendemokratie abwenden, die ihnen täglich demonstriert, dass ihre Bedürfnisse kein Gewicht mehr haben, ist wenig erstaunlich.

Auch die Aggressivität, mit der progressive liberale Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht.

Leistungsgerechte Verteilung

Für sie sind Minderheitenrechte und Antidiskriminierungspolitik heuchlerische Facetten eines politischen Programms, das sich als edel, hilfreich, solidarisch und gut inszeniert, obschon seine Protagonisten ihrem Wunsch nach einem Leben in bescheidenem, halbwegs gesichertem Wohlstand seit jeher mit völliger Gleichgültigkeit, ja Verachtung begegnen.

Genau deshalb ist die Liaison von Linksliberalismus und Goldman-Sachs-Kapitalismus so gefährlich. Sie untergräbt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Zustimmung zu liberalen Grundwerten.
Es ist dringend an der Zeit, dass der Unmut wieder eine progressive Stimme und letztlich auch die Macht bekommt, die Politik in unserem Land zu verändern.

Wir brauchen eine neue Sammlungsbewegung: zur Wiedergewinnung der Demokratie, für Fairness im Umgang untereinander, für eine leistungsgerechte Verteilung und für eine Politik der guten Nachbarschaft im Verhältnis zu anderen Ländern.

„Kein Grund, meine Position zu verändern“

Linken-Fraktionschefin sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden

Von Andreas Herholz, RNZ Berlin

Leipzig. Sahra Wagenknecht (48) ist Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die gebürtige Ostdeutsche lebt im Saarland zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine.

Frau Wagenknecht, monatelang hat die Linke vor allem über den Kurs in der Flüchtlingspolitik gestritten. Auf dem Leipziger Parteitag gab es darüber offene Auseinandersetzungen. Kein bisschen Frieden in der Partei?

Viele an der Parteibasis haben die Grabenkämpfe satt. Inhaltliche Debatten dürfen nicht mit Diffamierungen verbunden werden. Wir brauchen eine sachliche Debatte über die Flüchtlingspolitik. Wenn mir und anderen aber Nähe zur AfD oder Rassismus vorgeworfen wird, ist das keine sachliche Diskussion. Das ist einfach unanständig.

Ist der Machtkampf jetzt entschieden, oder werden die innerparteilichen Auseinandersetzungen weitergehen?

Ich hoffe, dass jeder sich von jetzt an auf seine Aufgaben konzentriert. Die Fraktionsspitze ist ebenso gewählt wie die Parteispitze. Ich wünsche mir, dass man das gegenseitig akzeptiert. Die persönlichen Angriffe müssen beendet werden. Etwa, wenn der Eindruck erweckt wird, wer die Forderung „Offene Grenzen für alle“ nicht unterstützt, dem wäre Elend und Not auf der Welt gleichgültig. Da wird mit verletzenden Unterstellungen gearbeitet. Unter diese Art der Debatte muss ein Schlussstrich gezogen werden.

Parteichefin Katja Kipping fordert, dass das Votum des Parteitags für offene Grenzen jetzt akzeptiert und respektiert wird …

Ich sehe keinen Grund, wegen der Annahme des Leitantrages meine Position zu verändern. Die Forderung „Offene Grenzen für alle“ – also jeder, der will, kann nach Deutschland kommen – findet sich im Leitantrag nicht. Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen und Hilfe für Menschen, die vor Krieg und Not fliehen. Auch brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Das stellt niemand in der Partei in Frage.

Wir stehen zum Asylrecht und verteidigen es. Für Menschen, die verfolgt werden, muss es offene Grenzen geben. Aber offene Grenzen für alle sind weltfremd.

Der Kontrollverlust, den es im Herbst 2015 gab, hat dieses Land verändert, und zwar nicht zum Besseren. Das darf sich nicht wiederholen.

Aber der Parteitag hat sich mit der Zustimmung zum Leitantrag gegen eine striktere Begrenzung der Zuwanderung und für offene Grenzen ausgesprochen …

Nein. Es gibt unterschiedliche Meinungen über den Kurs in der Flüchtlingspolitik in der Partei. Aber damit kann man umgehen. Niemand sollte versuchen, die eigene Position allen anderen aufzuzwingen. Meine Position ist: Mehr Zuwanderung heißt immer auch mehr Konkurrenz um Jobs, vor allem im Niedriglohnsektor. Und natürlich auch eine stärkere Belastung der sozialen Infrastruktur.

Wir können Integration immer nur in einem bestimmten Rahmen bewältigen. Wir machen die Welt außerdem nicht gerechter, indem wir Migration fördern, im Gegenteil, das macht die armen Länder noch ärmer. Denn es ist immer die Mittelschicht, die abwandert, die Ärmsten sind dazu gar nicht in der Lage. Deshalb müssen wir vor Ort helfen.

Sie sprechen von einer großen Sehnsucht vieler Menschen nach mehr Schutz durch den Staat. Was meinen Sie konkret?

Die Politik hat die Menschen in Deutschland seit Jahren ihrer sozialen Sicherheit beraubt. Viele Menschen haben Angst vor sozialem Abstieg. Sie haben Angst vor Betriebsverlagerungen und Dumpingkonkurrenz. Aber Globalisierung ist kein Naturgesetz. Die Staaten können ihre Bürger vor einem entfesselten globalen Finanzkapitalismus schützen. Das Steuerdumping der Konzerne kann auch durch nationale Gesetze verhindert werden, etwa durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen erheben. Die Regierung kann dafür sorgen, dass es im Niedriglohnsektor nicht noch mehr Konkurrenz gibt.

Gute Löhne und soziale Sicherheit sind unverändert möglich, wenn die Politik die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, statt die Wünsche der Konzernchefs umzusetzen.

Sie werfen der Parteispitze vor, die Linke zu schwächen und kritisieren, dass die Partei nicht dir richtigen Milieus anspricht. Was läuft aus Ihrer Sicht falsch?

Die Linke ist gegründet worden, um denen eine Stimme zu geben, die unter sozialen Kürzungen und rücksichtslosem Renditedruck zu leiden haben. Das sind nicht nur die Ärmeren, das ist auch die Mittelschicht, die bei den anderen Parteien schon lange keine Lobby mehr hat. Wir haben zwar bei der letzten Bundestagswahl eine halbe Million Stimmen dazugewonnen. Aber gerade in ärmeren Stadtteilen im Westen wie im Osten haben wir teilweise massiv verloren. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Wenn Arbeitslose und Geringverdiener das Gefühl bekommen, die Linke ist nicht mehr für sie da, treiben wir sie in die Arme der AfD. Dann sind wir mitverantwortlich für das Erstarken der Rechten. Das wäre grob fahrlässig. Diejenigen, die jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen, müssen spüren, dass wir an ihrer Seite stehen.

Gemeinsam mit Ihrem Mann Oskar Lafontaine und prominenten Unterstützern wollen Sie eine neue linke Sammlungsbewegung gründen. Parteifreunde werfen ihnen vor, die Linkspartei zu spalten. Was ist das Ziel des neuen Projektes?

Es geht doch nicht darum, die Linke zu spalten oder zu schwächen. Es geht nicht um eine Alternative zur Linken, sondern um ein breiteres Bündnis. Die Linke liegt stabil bei 10 bis 11 Prozent. Damit sind wir aber weit davon entfernt, die Politik in diesem Land verändern zu können, weil wir keine Partner haben. Es ist der Linken leider nur begrenzt gelungen, die Millionen Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, die sich von der SPD in den letzten Jahren abgewandt haben.

Die Sammlungsbewegung ist ein überparteiliches Projekt, mit dem wir diese Menschen wieder erreichen wollen. Wir brauchen einen neuen Aufbruch, wenn wir die Politik in unserem Land verändern wollen. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, gibt es Beispiele dafür, dass ein solches Vorhaben erfolgreich sein kann. Und ich freue mich, dass unsere Idee schon jetzt, obwohl sie offiziell noch gar nicht gestartet wurde, unglaublich viel Resonanz erfährt.

Aus der Sammlungsbewegung soll am Ende keine Partei werden?

Nein. Wir sind sehr froh, dass auch linke SPD-Mitglieder zu den Initiatoren unserer Bewegung gehören. Sie würden sich definitiv nicht beteiligen, wenn es auf eine konkurrierende Partei hinausliefe. Ich bin auch überzeugt: Viele Menschen finden sich in Parteien nicht mehr wieder. Es ist die Zeit der Bewegungen. Eine starke Bewegung kann und wird auch die Parteien verändern.

Der G7-Gipfel endet mit einem historischen Debakel ohne gemeinsame Erklärung. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Treffens?

Es ist offenkundig, was Trump für eine Agenda hat. Er vertritt kompromisslos die Interessen der amerikanischen Wirtschaft und ist dafür auch bereit, immer wieder Absprachen zu brechen. Darüber kann man lamentieren, besser wäre es, wenn die europäischen Länder endlich beginnen, souverän und selbstbewusst die Interessen der in Europa lebenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und dabei möglichst geeint auftreten.

Der Ruf wird lauter, Russland wieder an den Verhandlungstisch zu holen. Ist es dafür nicht noch zu früh?

Worauf wollen wir noch warten? Eine Verbesserung des Verhältnisses zu Russland ist im ureigenen Interesse Europas. Als Signal sollten die unsinnigen Sanktionen aufgehoben werden. Sie schaden nicht nur der russischen Wirtschaft, sondern auch der europäischen, vor allem deutschen Unternehmen. Ja, der Bruch des Völkerrechts ist kein Kavaliersdelikt.

Aber man sollte nicht einäugig sein. Nicht nur der Anschluss der Krim an Russland widersprach dem Völkerrecht. Der Irakkrieg oder die Aufrüstung islamistischer Terrorgruppen in Syrien waren ungleich gravierendere Völkerrechtsbrüche. Wenn wir die Probleme der Welt lösen wollen, brauchen wir Russland mit am Tisch.

Wie lässt sich ein Handelskrieg mit den USA noch abwenden?

Die Sprache, die Trump versteht, ist die Drohung harter Gegenmaßnahmen. Wenn Trump ernsthaft mit Gegenmaßnahmen rechnen muss, die die US-Wirtschaft hart treffen würden, wird er sich überlegen, ob er diesen Weg weitergehen will.

Anmerkung: Dass dieser wichtige Beitrag ausgerechnet den Untertitel sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden“ trägt, auf den im weiteren Text kaum eingegangen wird bzw. der den Sinn von Sahras Aussage entstellt, ist wieder eine Meisterleistung, an der Goebbels seine Freude hätte. Wieder geht es vor allem darum, Differenzen in der Linken zu beleuchten, um vom emanzipatorischen Impuls abzulenken.

Jochen

SPD läutet traditionelles linkes Halbjahr vor wichtigen Wahlen ein

Auszugeweise aus dem Postillon http://www.der-postillon.com/2017/02/traditionelles-linkes-halbjahr.html

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Glocke des kleinen Mannes

Berlin (dpo) – Es ist wieder soweit: Die Führungsspitze der SPD hat heute Morgen bei einem Treffen im Willy-Brandt-Haus in Berlin den Beginn des traditionellen linken Halbjahres vor den nächsten Bundestagswahlen eingeläutet. In dieser Zeit ist das Spitzenpersonal darum bemüht, die SPD wie eine Partei wirken zu lassen, die Politik für Arbeiter und Geringverdiener macht.
„Liebe Genossinnen und Genossen, das traditionelle linke Halbjahr vor der Bundestagswahl ist hiermit feierlich eröffnet“, verkündete der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann und klingelte laut hörbar mit der sogenannten „Glocke des kleinen Mannes“. Nachdem der Applaus abebbte, erklärte er: „Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir uns für einige Monate auf unsere sozialdemokratischen Wurzeln zurückbesinnen.“
Ab sofort sei es SPD-Wahlkämpfern zur Schärfung des linken Profils der Partei ausdrücklich erlaubt, soziale Forderungen zugunsten der Arbeiterschaft zu formulieren: „Höhere Löhne, eine Abkehr von der Agenda 2010, Steuern runter, Steuern rauf für Reiche, höhere Renten – völlig egal!“, so Oppermann. „Aber bitte beachtet, liebe Genossen: Am Montag nach der Wahl werde ich diese Glocke noch einmal läuten. Und ab diesem Zeitpunkt muss das alles wieder vergessen sein.“

Traditionelle linke Halbjahre vor Wahlen seit 2005:

Wir erinnern uns:

 

spd2005

 So sah das traditionelle linke Halbjahr vor der Bundestagswahl 2005 aus. Vorher (1998-2005): Mehrwertsteuer rauf, Privatisierungen, Hartz IV, Arbeitsmarktflexibilisierung usw….

 

spd2009

Das traditionelle linke Halbjahr 2009. Vorher (2005-2009): Geld für Bankenrettung, Rente mit 67

 

spd2013

Das traditionelle linke Halbjahr 2013. Danach (2013-2017): Vorratsdatenspeicherung, Freihandelsabkommen, Andrea Nahles

 

Parteienforscher versuchen bis heute herauszufinden, warum es in Deutschland Wähler gibt (immerhin 20 bis 30 Prozent), die immer noch auf das traditionelle linke Halbjahr der SPD hereinfallen. „Hier scheinen ähnliche psychische Prozesse abzulaufen wie bei einer vom Partner misshandelten Person“, erklärt Parteienforscher Walter Rebke. „Der Wähler redet sich vor jeder Wahl ein, dass die reumütige SPD es dieses Mal ernst meint und ihr Verhalten wirklich zugunsten der Schwächeren in unserer Gesellschaft ändert.“

Doch damit sieht es schlecht aus. Üblicherweise folgen nämlich auf das traditionelle linke Halbjahr vor Wahlen die traditionellen dreieinhalb arbeitgeberfreundlichen Jahre, die von Freihandelsabkommen, Privatisierungen, Klientelpolitik und sozialen Kürzungen geprägt sind.

Anmerkung des Fachmanns: Hiermit ist wohl der Freudsche Wiederholungszwang gemeint. gegen den hilft nur eine psychoanalytische Behandlung.

Ich habe vor einiger Zeit zum Thema Kanzlerkandidatenkür der SPD hier eine Satire wiedergegeben, die durch die Wirklichkeit nun übertroffen wird:

Der SPD-Kandidat – «nennen Sie die Art des politischen Notfalls!»

Daraus: „Der Daseinszweck der SPD besteht darin, in den Wahlbürgern vergebliche Hoffnung auf Veränderung zu wecken. Die Existenz einer Partei, die annähernd gleich stark ist wie die Union – früher war sie das jedenfalls –, wahrt den Anschein, der Wähler habe eine echte Alternative. Die Deutschen haben nämlich aufgrund schmerzhafter historischer Erfahrungen ein ausgeprägtes Misstrauen gegen die jahrzehntelange Alleinherrschaft einer Partei. … Ihr letzter Kandidat vermochte nicht einmal diesen Anschein einigermaßen glaubwürdig zu wahren. Er verkörperte mit seinem Managementvokabular, seiner Chefetagen-Aura und seinem Raubtierlächeln alle Klischees über Kapitalisten. Die Tatsache, dass wir alle in diesem Raum gläubige Kapitalismus-Anhänger sind, bedeutet keineswegs, dass wir auch nach außen hin so erscheinen dürfen. Das wäre Gift für den Anschein demokratischer Alternativen in unserem Land. Da also echte Politiker es nicht einmal mehr schaffen, ehrlich zu erscheinen, muss eine scheinbare Figur kreiert werden, die Echtheit glaubwürdiger zu simulieren versteht. …

Ihr letzter Kandidat bedeutete Hoffnungslosigkeit, und ohne Hoffnung ist das Leben für die Wahlbürger unerträglich. Hoffnung ist es, was die Leute ruhig hält, was sie immer und immer wieder dazu bringt, sich ohne Gegenwehr den staatsmännischen Maßnahmen zu beugen, die wir ihnen leider Gottes zumuten müssen. Es gibt eigentlich nur noch zwei Gründe dafür, warum es in Deutschland nicht längst zu einer Revolution gekommen ist….

Grund 1: Den meisten Menschen geht es noch relativ gut. Und Grund 2. Sie hegen noch Hoffnung auf einen friedvollen Wandel. Grund 1 wird in Zeiten immer knapper werdender Kassen bald wegfallen. Bleibt Grund 2: Und da kommt ihr ins Spiel, die SPD. …

Außerdem hat sich die SPD bestens bewährt, um notwendige Umstrukturierungen durchzusetzen, die einem CDU-Regierungschef vielleicht die Kanzlerschaft gekostet hätten. Denken Sie an Hartz IV. Dieses verdienstvolle Projekt konnte nur deshalb realisiert werden, weil die beiden stärksten politischen Kräfte des Landes es einhellig wollten. Die SPD hat Großartiges dabei geleistet, die Stimmen sozial bewusster Bürger einzusammeln und sie dem gegnerischen Lager zuzutragen. Nun, wie wir alle wissen, konnte nicht einmal die geradezu lächerliche Neoliberalismus-Frömmigkeit der SPD verhindern, dass am Ende das Original gewählt wurde, nicht die Kopie. Die Folge ist, dass Ihre Partei kontinuierlich schrumpft wie ein zu heiß gewaschenes T-Shirt, und genau das wird allmählich gefährlich für die politische Kultur im Land. Sprich: für den Anschein von Wahlalternativen. Wirkliche Gewissenshelden wie die Geschwister Scholl oder Martin Luther King starben für ihre Ideale; die SPD stirbt groteskerweise durch ihren vollkommenen Mangel daran. …

Das Volk verlangt nach einen unverbrauchten Parteirebellen, einem jüngeren Mann oder einer Frau, jemandem mit eigenen Ideen. Denken Sie mal an den jungen Oskar Lafontaine. Das Problem ist nur: Sollte es so eine Person irgendwo in Deutschland noch geben – er oder sie wird den Teufel tun und in die völlig unkreative SPD eintreten.

Und sehen Sie, genau deshalb müssen wir uns eine solche Person selbst backen.

Welchem Zweck Staatsschulden dienen, und warum Regierung und Leitmedien uns nicht die Wahrheit sagen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aufschlussreicher Artikel im Neuen Deutschland -einfach erklärt und verständlich
http://www.neues-deutschland.de/artikel/984347.eine-verteilungsfrage.html
Auszüge:

Eine Verteilungsfrage

Welchem Zweck Staatsschulden dienen, wann sie zu einem Problem werden – und für wen: eine Aufklärung

Die Furcht vor der Staatsverschuldung wird befeuert, sie dient als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, werden Staatsschulden dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«.

Schulden gelten einerseits als schlecht. Gleichzeitig aber macht der Staat immer neue.
Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man Staatsschulden als das betrachtet, was sie sind – ein Instrument, mit dem die Regierung einen bestimmten Zweck erreichen will: Wirtschaftswachstum.

Wenn ein Staat feststellt, dass seine geplanten Ausgaben über seinen geplanten Einnahmen liegen, könnte er schlicht die Steuern erhöhen. Damit aber würde er dem privaten Sektor Mittel entziehen, was unter Umständen nicht erwünscht ist.
Daher verlegt sich eine Regierung auf Verschuldung: Sie konfisziert das benötigte Geld nicht von Unternehmen und Privatpersonen, sondern sie leiht es sich, verschafft sich damit zusätzliche Mittel und den Gläubigern einen Anspruch auf Zinseinnahmen.
Damit will der Staat den Widerspruch auflösen, dass er einerseits die Wirtschaft fördern will, andererseits aber dieser Wirtschaft immerzu Kosten verursacht.

Mit dem geliehenen Geld finanziert der Staat seine Ausgaben. Vor allem versucht er, die Standortbedingungen zu verbessern und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Über das »angemessene« Volumen der Staatsverschuldung, wie viele Schulden es sein dürfen, kann man also nicht mehr sagen als: nicht »zu viele«.
Dieses »Zuviel« kennt in der Praxis einen Maßstab: das Wirtschaftswachstum. Ihm sollen Staatsschulden dienen, dieses Wachstum dürfen sie nicht beschädigen. Ein Staat muss sich seine Verschuldung also leisten können. Die Frage, ob Staatsschulden nun gut oder schlecht sind, läuft also auf die Frage hinaus: Wie gut oder schlecht ist kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Dass Staatsschulden das Wirtschaftswachstum erhöhen können, ist keine Streitfrage, sondern Fakt. Dabei ist es egal, ob die Schulden passiv hingenommen (bei Steuerausfällen) oder für »aktive Wirtschaftspolitik« gezielt aufgenommen werden.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Stimmen einiger Ökonomen und Institutionen (IWF, OECD) zu verstehen, die nach Jahren von wirtschaftlicher Stagnation und drohender Deflation, vor allem in der Euro-Zone, der staatlichen Verschuldung durchaus auch Positives abgewinnen können – wenn es denn dem Aufschwung, dem Wirtschaftswachstum dient.

Ebenso Fakt ist aber, dass es ein Problem ist, wenn den höheren Schulden kein entsprechend höheres Wirtschaftswachstum und keine höheren Staatseinnahmen gegenüberstehen und darüber immer größere Teile des Staatshaushaltes in die Schuldenbedienung fließen.

Staatsschulden sind also – wie die Schulden von Unternehmen – eine Art vorfinanziertes Wachstum. Über die staatliche Kreditaufnahme spekulieren Regierungen und ihre Geldgeber – die Finanzmärkte – darauf, dass die Schulden mehr Wirtschaftsleistung und mehr Staatseinnahmen generieren.
Mit ihrer Verschuldung macht eine Regierung ihre Bevölkerung dafür haftbar, dass diese Rechnung aufgeht. Bebildert wird diese Haftung durch die Zahl »Staatsschulden pro Kopf der Bevölkerung«.

In die Irre führt die Frage, ob Staatsschulden »für uns« oder für »Deutschland« ein Problem sind. Denn die Menschen sind von diesen Schulden sehr unterschiedlich betroffen – je nach ihrer Stellung und Funktion in der Wirtschaft.
Für die Gläubiger sind die Staatsschulden Geldkapital, also sich vermehrender Reichtum. Über Zinszahlungen profitieren sie von der Schuldenlast.

Dass diese Rechnung aufgeht, dafür müssen andere einstehen. Dies sieht man besonders deutlich, wenn ein Staat Probleme mit der Schuldenbedienung bekommt und »sparen« will.
Dieses »Sparen« trifft logischerweise immer dieselben: die Empfänger von staatlichen Transferleistungen, die Arbeitnehmer, die Konsumenten.
Ge- und befördert werden dagegen die »Träger des Wachstums«, also die Unternehmen und die Finanzinstitute. Sie sollen investieren und Kredite vergeben, sie sollen verdienen, sie sollen Arbeitsplätze »schaffen« und so die Wirtschaftsleistung steigern.
Dass Mehrwertsteuererhöhungen, Lohn- und Rentensenkungen die Massenkaufkraft mindern, die gesellschaftliche Nachfrage reduzieren und damit das Wachstum schädigen, ist ein Widerspruch bei diesem Programm. Mit ihm wird aber klargestellt, an wem »gespart« wird, wenn es heißt: »Wir müssen sparen.«

Ob und wie eine Regierung sparen muss, ist zuweilen aber nicht von ihrer Entscheidung oder vom Verhalten der Finanzakteure abhängig, sondern auch von der Haltung des Auslands. So kann in der EU und in der Eurozone de facto kein Land autonom über sein Finanzgebaren entscheiden – vor allem Deutschland redet bei der Frage mit, ab wann eine Verschuldung zu groß ist und ein Eurostaat Maßnahmen ergreifen muss.
Die Grenzen der Staatsverschuldung sind in der Euro-Zone institutionell geregelt durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt, neuerdings auch durch den Fiskalpakt. Die Unterwerfung unter den Stabilitätspakt war eine Bedingung, unter der die Bundesregierung bereit war, die D-Mark gegen den Euro einzutauschen. Die EU-Kommission und die Euroländer haben seitdem ein Auge auf die Finanzpolitik ihrer Europartner, die immer auch Konkurrenten sind. Trotz gleicher Währung waren und sind auch einige Länder gleicher als andere. Während etwa Frankreich oder Berlin es durchaus mal erlaubt ist, das Defizitziel zu verfehlen, ohne gleiche einen blauen Brief der EU-Kommission zugestellt zu bekommen, war man bei anderen Ländern nicht so großzügig – vor allem nicht in der Krise. Zu spüren bekam dies besonders die griechische Bevölkerung.

Doch die gegenseitige Kontrolle der europäischen Staaten geht weit über die Staatseinnahmen und -ausgaben hinaus. Um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, prüft die EU-Kommission inzwischen regelmäßig eine Vielzahl von ökonomischen Kennzahlen – von der Exportentwicklung über Außenhandelsdefizite, Lohn- und Preisentwicklung in den Ländern. Überschreitet ein Land dauerhaft bestimmte Grenzwerte, kann ihm die EU Vorschriften machen, wie es seine Politik zu ändern hat.
Allgemeines Ziel dieser makroökonomischen Überwachung ist die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten und darüber die Wettbewerbsfähigkeit der EU als Ganzes. Dies soll auch politischen Zwecken dienen: »Vor allem müssen wir […] die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum unserer Bemühungen stellen«, sagte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im März 2011, »denn nur ein wettbewerbsstarkes Europa hat Gewicht in der Welt.«

Zur Erhöhung dieser Wettbewerbsfähigkeit sind in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von »Strukturreformen« in Europa umgesetzt worden, die die Bedingungen für Investitionen verbessern sollen. Hier geht es zum einen um die Liberalisierung bislang regulierter Märkte, um den Abbau von Bürokratie und staatlichen Kontrollen und um die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, sprich: um die Entmachtung der Gewerkschaften zum Zwecke der Senkung der Lohnstückkosten. Man sieht, welch weitreichende Konsequenzen die Kontrolle von Verschuldung und Staatsfinanzen hat.

Angemerkt sei hier noch: Zwar wird ständig darüber geklagt, der Staat gebe zu viel aus – obwohl seit der Großen Finanzreform 1969 in Deutschland Kredite ein reguläres Instrument zur Finanzierung von Staatsaufgaben sind -, selten kritisiert wird aber die Einnahmeseite. Dabei gibt es hier zwei kritikwürdige Entwicklungen. Erstens: Es ist ja klar, dass der Staat das Finanzkapital auch besteuern könnte, statt es zu leihen und dafür Zinsen zu zahlen. Doch dies tut er nicht.

Zweitens ist bemerkenswert, von wem der Staat eigentlich Geld einnimmt, um seine Schulden zu bedienen – wer also für die Schulden (Zinsen) bezahlt. Hier ist die Entwicklung eindeutig: Seit 1977 wird die Steuerbelastung in Deutschland – und nicht nur dort – vermehrt von den Lohnabhängigen (die auch zum großen Teil die Mehrwert- und Verbrauchersteuern zahlen) getragen. Die Belastung von Gewinnen und Vermögen hingegen sinkt. Die Steuerquote geht seit Jahrzehnten tendenziell zurück, die Vermögen wachsen, und seit 1997 ist die Vermögensteuer de facto abgeschafft.
Man sieht: Steuerpolitik ist wesentlich Umverteilungspolitik. Dieser Trend wird durch die Krise verschärft: Die Politik setzt bei der Sanierung der Staatsfinanzen zunehmend auf die Besteuerung des Verbrauchs, so wurde in allen Euro-Krisenländern die Mehrwertsteuer deutlich erhöht.

Die Lohnabhängigen wiederum, die etwa zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens tragen, zahlen also nicht bloß für den Großteil der Staatsverschuldung. Sie sollen sich außerdem in Lohnzurückhaltung üben und müssen gleichzeitig seit Jahren die Folgen der Kürzungen von staatlichen Sozialleistungen hinnehmen.

Somit ist auch die Schuldenfrage eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage. Das musste selbst die FAZ eingestehen, die die Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck zu Wort kommen ließ: »Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen.« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20.8.2011).

Trotz des offiziell ausgerufenen Kreuzzugs gegen die Staatsverschuldung ist sie in den letzten Jahren weiter gestiegen. Dies erkennen die Regierungen und Eliten durchaus als eine Gelegenheit, ihr neoliberales Programm von Deregulierung, Liberalisierung und Senkung der Lohnstückkosten durchzusetzen. Die hohe Verschuldung dient hier als Druckmittel.
Zum Beispiel im Fall Griechenlands: »Für viele Ökonomen (ist) die hohe Verschuldung ein wichtiges Disziplinierungsinstrument zur Durchsetzung struktureller Reformen, die sonst nicht zielstrebig durchgeführt würden.«

Ähnlich argumentierte bereits vor bald 15 Jahren der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: »Am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht gerüttelt werden. Zwar sind seine Referenzwerte wissenschaftlich nicht begründbar [sic!]; sie haben aber erstaunliche Konsolidierungsbemühungen und Konsolidierungserfolge bewirkt und sollten unbedingt beibehalten werden.«

Die Idee, die Angst vor Schulden politisch zu nutzen, nannte David Stockman, Ronald Reagans ehemaliger Direktor des Office of Management, »strategisches Defizit«. In einem Interview machte er deutlich, dass Reagan nie so recht an die neoliberale Angebotspolitik geglaubt habe, stattdessen habe er einen »schlanken Staat« zum Ziel gehabt.

Ähnliches gibt es aus Großbritannien zu berichten, dem zweiten Land, das bei der Durchsetzung neoliberaler Politik eine Vorreiterrolle spielte. Der leitende Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher, Alan Budd, gab dem »Observer« Anfang der 1990er Jahre zu Protokoll: »Die Politik der 1980er Jahre, die Inflation durch Druck auf die Wirtschaft und Kürzung der öffentlichen Ausgaben zu bekämpfen, war ein Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen. Das Ansteigen der Arbeitslosigkeit war sehr erwünscht, um die Arbeiterklasse zu schwächen. […] Seitdem konnten die Kapitalisten immer größere Profite machen

So dient die Furcht vor der Staatsverschuldung als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, wird sie dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«, die eine Art nationalen Notstand schafft und außergewöhnliche Maßnahmen erfordert.
Dieses Bedrohungsszenario nutzt die Politik anschließend, um die Staaten in ein »Paradies der Gläubiger« (Mark Blyth) und Investoren zu verwandeln.

Mein Kommentar: Unsere „Leitmedien“ machen das alles mit, aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei winken das duch und haben dem Fiskalpakt und der Schuldenbremse zugestimmt. Sonst könnte man hier wunderbar mit der Sanierung der Infrastruktur, mit Investitionen in Bildung und Kultur, Arbeitsplätze schaffen und auch alle Flüchtlinge gut versorgen. Für die Bankenrettung waren auch Milliarden übrig.
Verschwiegen wird auch immer noch, dass eine bisher immer wieder zitierte wissenschaftliche Studie renommierter Ökonomen, Staatsverschuldung sei eine Bremse für die Wirtschaft, sich als fehlerhaft herausgestellt hat.

Jochen