Katalonien: Unabhängigkeit für mehr soziale Rechte

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1064689.unabhaengigkeit-fuer-mehr-soziale-rechte.html

Katalonien-FlaggeLinke Parteien und Bürgerplattformen erhoffen sich von der Volksabstimmung die Entstehung einer Republik, die mehr Mitsprache ermöglicht

In Barcelona herrscht in diesen Tagen, kurz vor dem geplanten Unabhängigkeits­referendum am 1. Oktober, angespannte Stimmung. Schon seit Monaten lässt der spanische Staat nichts unversucht, um die vom Regionalparlament beschlossene und laut Umfragen von 75 Prozent der katalanischen BürgerInnen gewünschte Volksabstimmung zu verhindern.

Doch in der vergangenen Woche ist die Situation eskaliert: Madrid hat die Konten der Autonomieregierung einfrieren lassen, 13 hochrangige Regierungsmitglieder wurden verhaftet und 40 Büros beziehungsweise Wohnungen durchsucht. Nach eigenen Angaben hat die Guardia Civil zehn Millionen Wahlzettel und 1,3 Millionen Plakate beschlagnahmt. Im Hafen von Barcelona sind mehrere Tausend Polizeibeamte auf für diesen Zweck extra verlegten Schiffen untergebracht, und gegen 700 der 950 katalanischen BürgermeisterInnen laufen Strafverfahren.

Begleitend dazu ist eine Berichterstattung in den spanischen Medien zu sehen, die die Unabhängigkeitsbewegung je nach Bedarf mit der Mafia, dem Islamischen Staat oder der baskischen ETA vergleicht. Doch bislang hat man den Eindruck, als stärke die Repression nur die Unabhängigkeitsbewegung.

Als die Guardia Civil vergangene Woche mehrere katalanische Ministerien stürmte, um die für die Vorbereitung des Referendums verantwortlichen PolitikerInnen zu verhaften, strömten Zehntausende spontan auf die Straße und verhinderten fast 24 Stunden lang, dass die Polizei die Gebäude wieder verlassen konnte.

Polizeiaktionen befördern Solidarität

Die Bilder gut gelaunter und friedlicher DemonstrantInnen vor Ketten vermummter Polizisten löste eine breite Solidaritätswelle aus. Überall im spanischen Staat kam es zu – teilweise verbotenen – Solidaritätskundgebungen. Die andalusische Landarbeitergewerkschaft SAT solidarisierte sich ebenso unmissverständlich wie die meisten bekannten Gesichter der 15M-Bewegung in Madrid.

In Katalonien scheint die Polizeiaktion sowieso alle Dämme gebrochen zu haben. Die Universitäten sind besetzt, die Hafenarbeiter von Barcelona beschlossen, die vor Anker liegenden Polizeischiffe nicht mehr zu versorgen, und selbst die Gewerkschaft Comisiones Obreras, die das Referendum bislang ablehnte, hat sich an Straßenblockaden beteiligt.

Wie sehr sich das Panorama verschoben hat, illustriert nichts deutlicher als die Ereignisse vor dem Parteisitz der linksradikalen CUP vergangene Woche. Als die Polizei das Büro der Unabhängigkeitspartei (die mit 8 Prozent im Parlament vertreten ist) zu stürmen versuchte, stellten sich ihnen nicht nur CUP-AnhängerInnen, sondern auch Mitglieder der linksalternativen Stadtregierung von Bürgermeisterin Ada Colau, anarchosyndikalistische GewerkschafterInnen und der rechtsliberale Ex-Bürgermeister von Barcelona Xavier Trias in den Weg.

Genau diese Breite des Protests wird für Madrid zusehends zum Problem. Bisher war das Referendum nämlich nur von den Unabhängigkeitsparteien – dem sozialliberalen Bündnis Junts pel Sí und der CUP – unterstützt worden. Die beide Gruppen verfügen über eine absolute Mehrheit im katalanischen Parlament, aber kamen bei den letzten Wahlen zusammen nur auf 48 Prozent der Wählerstimmen (gegenüber 39 Prozent für die unionistischen Parteien Ciudadanos, PSC und PP).
Die föderalistische Linke, die zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmen erreichen kann. Sie ist das Zünglein an der Waage. Und dieses Lager, das sich um die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, schart und von Podemos, Izquierda Unida und den Linksgrünen unterstützt wird, ist gegen ein unabhängigen Staat Katalonien, aber durchaus für die Gründung einer katalanischen Republik sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Das rabiate Vorgehen der Regierung hat nun dafür gesorgt, dass dieses Spektrum sich der Unabhängigkeitsbewegung annähert.

Für Elena Jimenez setzt sich damit nur die Entwicklung der letzten Jahre fort. Jimenez, Mitte 30, gehört zum Vorstand von Omnium Cultural, der heute größten zivilgesellschaftlichen Organi­sation Kataloniens. »Was wir hier erleben, ist ein sozialer Prozess, kein identitärer. Ich zum Beispiel bin für die Unabhängigkeit, aber nicht nationalistisch. Meine Wurzeln sind in Andalusien, meine Großeltern kamen aus wirtschaftlichen Gründen hierher und haben ihr Haus mit den eigenen Händen aufgebaut – neben der Arbeit. Und so geht es den meisten Menschen hier. Sie kommen aus anderen Teilen des Staates oder aus anderen Teilen der Welt. Sehr viele von ihnen sind für ein demokratisches Referendum, und viele auch für die Unabhängigkeit. Sie betrachten es als Instrument zur Verbesserung der sozialen Situation.«

Von »Wir wollen entscheiden« zum Unabhängigkeitsanspruch

Das gängige Vorurteil lautet, dass es der katalanischen Bewegung ähnlich wie der italienischen Lega Nord nur um finanzielle Vorteile gehe. Katalonien hat zwar ein geringeres Bruttosozialprodukt als der Großraum Madrid, aber ist doch überdurchschnittlich wohlhabend. Jimenez widerspricht dieser Ansicht. Sie verweist darauf, dass die Unabhängigkeitsbewegung in den 2000er Jahren erst entstand, als die Mitte-Links-Koalition aus PSC (spanische Sozialdemokratie), Linksgrünen (ICV) und ERC (katalanische Linksrepublikaner) mit einem föderalistisch-demokratischen Reformprojekt scheiterte. »Es war der Versuch, Spanien von innen zu verändern und für die Anerkennung der Plurinationalität zu sorgen. Der Verfassungsgerichtshof in Madrid hat das Statut für verfassungswidrig erklärt. Seitdem demonstrieren jedes Jahr eine Million Menschen. Aber man darf nicht vergessen: Die erste Großdemonstration 2010 forderte nicht die Unabhängigkeit. Ihr Motto war: Volem decidir. – Wir wollen entscheiden!«

Jimenez, die sich damals in einem sozialen Zentrum in einer Kleinstadt engagierte, hält auch die Einschätzung falsch, die Unabhängigkeitsbewegung sei von regionalistischen Parteien aufgebaut worden. »Ganz im Gegenteil. Das ging aus der Gesellschaft hervor. In Hunderten Gemeinden haben sich Bürgerinitiativen gebildet und Volksbefragungen organisiert. Die Leute haben gesagt: Wenn das Verfassungsgericht das Statut suspendiert, wollen wir keine Autonomiereform mehr, sondern die Unabhängigkeit. Und diese Bewegung hat sich dann in ganz Katalonien ausgebreitet. In meiner Gemeinde waren wir zuerst 60 Leute. Dann haben sich die unterschiedlichsten Organisationen angeschlossen: Pfadfinder, Theatergruppen, Chöre … Ganz unabhängig davon, ob die Leute für oder gegen die Unabhängigkeit waren. Was uns verband, war die Tatsache, dass wir abstimmen wollten.«

Nach der Eskalation der Ereignisse vergangene Woche ist Jimenez unsicher, was am 1. Oktober und danach passieren wird. Ihre Organisation erwartet von der katalanischen Regierung, dass diese bei einem entsprechenden Ergebnis tatsächlich die Unabhängigkeit erklärt.
Doch wie man sich gegen Madrid durchsetzen will und wie der neue Staat aussehen soll, ist völlig offen. Die große Mehrheit der KatalanInnen wünscht sich einen Verbleib in der EU und mehr Korruptionsbekämpfung. Und viele Organisationen stehen auch für eine solidarischere Gesellschaft. So hat Omnium Cultural die katalanische Kampagne »Refugees Welcome« mitgetragen und zuletzt eine große Wanderausstellung »Lluites compartides« (Gemeinsame Kämpfe) über die sozialen und antifranquistischen Bewegungen seit 1950 organisiert. »Bei Omnium gibt es alle politischen Überzeugungen«, sagte Jimenez. »Von den Liberalen bis zu den Linksradikalen. Aber die Forderung nach mehr sozialen Rechten – das ist schon Konsens.«

Bürgerversammlungen diskutieren neue Verfassung

Dass die Unabhängigkeitsbewegung die Tür für Veränderungen aufstoßen wird, glaubt auch Dolors Sabater, Bürgermeisterin der 200.000-EinwohnerInnen-Stadt Badalona. Die 57-jährige Lehrerin war jahrelang in der Antimilitarismus-Bewegung aktiv. 2015 wurde sie als Kandidatin der offenen linken Liste Guanyem Badalona zur Bürgermeisterin gewählt – sehr überraschend, denn Badalona war bis dahin eine Bastion der spanischen Konservativen gewesen.

Sabater wirkt mit ihrem jugendlichen Lächeln, ihrer leisen, aber tiefen Stimme und dem weißen Pagenschnitt so überhaupt nicht wie eine Politikerin. Sie interessiert sich auch nicht dafür zu repräsentieren – sie will, dass andere selbst das Wort ergreifen. An diesem Tag hat die Stadtregierung eine Bürgerversammlung organisiert; in Kleingruppen wird über eine neue Verfassung debattiert.
Für Sabater ist das Entscheidende an der Unabhängigkeit, dass die neue Republik, die man gründen will, von unten entsteht: »In Diskussionen an der Basis wird den sozialen Rechten viel größere Bedeutung beigemessen, als wenn Entscheidungen von Experten getroffen werden. Deswegen muss ein verfassunggebender Prozess von unten getragen sein. Es kann nicht sein, dass Juristen wie 1978 in Konferenzräumen über unsere Köpfe hinweg entscheiden.«

Das Interessante an der Situation in Katalonien heute ist auch, dass die Unabhängigkeitsforderung und der »Munizipalismus« zusammentreffen. Unter diesem Begriff versteht man das Phänomen der kommunalen Bürgerlisten, die in den vergangenen Jahren Hunderte von Rathäusern in Katalonien, aber auch in anderen Teilen des Staates erobert haben. »Wir sind keine Parteibündnisse, sondern basisdemokratische Projekte«, erklärt Sabater. »Alle Entscheidungen werden auf Vollversammlungen getroffen. Jede und jeder arbeitet nur als Einzelperson.«

Tatsächlich bilden die Gemeinden das Rückgrat der katalanischen Bewegung. 720 von 950 BürgermeisterInnen haben sich dem Verbot des Verfassungsgerichts widersetzt und organisieren trotz drohender Verhaftungen das Referendum.

Sabater ist stolz auf diesen Bruch mit dem Gesetz. »Es gibt so viele Sachen, die man in Spanien nicht diskutieren darf. Zum Beispiel die Monarchie. Sie wurde von der Diktatur eingerichtet, und eine Mehrheit will heute ihre Abschaffung. Aber es gibt in der Verfassung keine Klausel, die erlaubt, das auch nur zu debattieren.« Was den 1. Oktober angeht, ist für sie deshalb eines klar: »Wir werden alles dafür tun, dass man in den Wahllokalen in unserer Gemeinde normal abstimmen kann.«

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Jochen

„Überwachung ist ein Riesenbusiness“ – Geheimdienst-Fehler, Open Source Intelligence und die Profiteure von 9/11

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der Terrorist Amri ist nicht durch deutsche Behörden mit ihrem gesamten gesetzlichen, technischen und organisatorischen Rückhalt gestellt worden, sondern durch 2 geistesgegenwärtige italienische Bahnpolizisten auf einem Routine-Kontrollgang.
Solche Polizisten sind in Deutschland schon längst wegrationalisiert worden, in Kleinstädten sind die Bahnhöfe ausgestorben. Videoüberwachung kann die 80000 gestrichenen Stellen nicht ersetzen.
Dazu Aktuell und wichtig:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1063374.ueberwachung-ist-ein-riesenbusiness.html

friedrich_moserAuszüge:

Filmemacher Friedrich Moser über Geheimdienst-Fehler, Open Source Intelligence und die Profiteure von 9/11

In Ihrer Doku sagen Sie, dass die derzeitige Terrorjagd nicht funktioniere und kritisieren das Argumentationsmuster, mit dem zum Beispiel die Massenüberwachung begründet wird. Welches Muster meinen Sie?

Das Problem ist doch Folgendes: Die Massenüberwachung hat keinen der Terroranschläge der letzten Jahre verhindern können. Von den Terroranschlägen seit 2005 bis zum letzten vor wenigen Wochen in Barcelona gab es einige Muster, die alle diese Anschläge miteinander verbinden.
Erstens: mindestens einer der Attentäter war bereits polizeibekannt oder sonstwie bei den Behörden registriert.
Zweitens: Überall wurde elektronische Kommunikation verwendet, meistens unverschlüsselt.
Drittens: Es gab in keinem dieser Fälle nur Einzeltäter. Diesen Lone Wolf, von dem Politiker immer schwafeln, den gibt es nicht.
Alle diese Täter hatten ein Netzwerk hinter sich, alle hatten eine Geschichte der Radikalisierung hinter sich und alle Täter hatten in ihren sozialen Netzwerken Fußabdrücke der Radikalisierung hinterlassen.

Was heißt das?

Das heißt, wir brauchen überhaupt kein Massenüberwachungsprogramm, es braucht keine Staatstrojaner. Wir brauchen das alles nicht, um Terroristen auffliegen zu lassen.
Das ist das Hauptargument meines Films.

Wie kann die Terrorfahndung im Netz alternativ aussehen?
Ein Weg ist dieses Programm, das ein kleines Start-up in Wien entwickelt hat. Es geht aus von den bekannten sogenannten Gefährdern und analysiert dann deren Netzwerk, ihr Kommunikationsverhalten. Dabei geht es aber nicht so sehr darum, was radikale Islamisten einander erzählen, sondern es geht darum, wer mit wem verbunden ist, es geht um ihre öffentlich einsehbaren Metadaten.
Ich glaube, dass die Diskussion, die in Deutschland, Österreich und in den anderen Ländern geführt wird, am eigentlichen Problem vorbeigeht und das mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.

Das Argument aus dem Sicherheits-Establishment gegen ihre Kritik an der Massenüberwachung wäre »Leute wie Amri oder die Attentäter in Barcelona sind uns nur knapp entwischt, wir brauchen noch mehr Befugnisse und noch mehr Überwachung«. Was würden Sie dem entgegnen?
Nachdem man so viele Fehlgriffe hatte, die immer das gleiche Muster aufweisen, müsste im Geheimdienst-Establishment eigentlich die Einsicht reifen, dass die Massenüberwachung nicht funktioniert.
Ich bin für eine wirksame Geheimdienstarbeit. Aber muss man dafür die gesamte Bevölkerung überwachen? Überhaupt nicht! Das ist Unsinn.
Ich hoffe, dass mit dem Film eine Debatte über Alternativen zur Massenüberwachung zu starten. Sicherheit entsteht nicht durch die Quantität der gesammelten Daten und Informationen, sondern es ist die Qualität der Daten, die zählt – und die Zeit.

Sie glauben an eine Geheimdienstarbeit, die mit Demokratie und Rechtsstaat vereinbar ist.
Ich glaube, dass man zurückgehen muss auf Prinzipien, die bisher bei der Polizeiarbeit schon funktioniert haben.
Das Wichtigste ist meiner Meinung nach die Gewaltentrennung. Derzeit sind viel zu viele Kompetenzen bei der Exekutive angesiedelt. Parlament und Gericht haben wenig Möglichkeiten, das zu kontrollieren, was die Exekutive bei der Terrorabwehr macht. Das haben wir in Deutschland sehr deutlich beim NSA-Untersuchungsausschuss gesehen, der einfach Akten nicht einsehen konnte, der Akten nur geschwärzt bekam.
Und diese Nonchalance, mit der die Dienste mit dem rechtsstaatlichem Instrumentarium, mit der parlamentarischen Kontrolle umgehen, ist sehr gefährlich, sie unterminiert den Rechtsstaat.
Doch eine rechtsstaatliche Terrorabwehr ist möglich – die wichtigste Voraussetzung dafür ist Gewaltentrennung. Es muss eine unabhängige Kontrolle der Terrorfahndung geben. Die Kontrolle, auch die technische Kontrolle, kann nicht von Firmen durchgeführt werden, die für diese Dienste arbeiten, sondern muss von Außenstehenden durchgeführt werden, von unabhängigen Experten. Das Stichwort dazu lautet »Privacy by Design«.

Wie sieht eine solche Achtung der Privatsphäre durch »Privacy by Design« aus?
Bei solchen Programmen sind zum Beispiel die Daten verschlüsselt und anonymisiert. Erkennt ein Analyst ein möglicherweise gefährliches Profil eines Menschen, der sich radikalisiert hat, kann er mit Zustimmung und unter Einsatz von zwei weiteren Schlüsseln, die ein Richter und eine unabhängige Kontrollbehörde einsetzen, die Daten einsehen. Das minimiert Missbrauch, etwa durch Geheimdienst-Analysten, die der eigenen Freundin nachspionieren, was vorgekommen ist, wie wir durch die Snowden-Enthüllungen *) wissen, oder politischen Gegnern. Technisch ist das durchführbar.
Die Frage ist, ob die Politik bereit ist, das gesamte Setup, also diese gesamte Konstruktion der Überwachung, derartig zu ändern. Ich denke, das ist etwas, was wir von der Politik verlangen müssen.

Was Sie vorschlagen ist eine Netzwerkanalyse des Social-Media Profils von Islamisten. Sie beschreiben das als Open Source Intelligence. Wie unterscheidet sich die von der klassischen Geheimdienstarbeit?
Die Open Source Intelligence unterscheidet sich insofern, als einfach öffentlich zugängliche verfügbare Daten analysiert werden, um Muster zu erkennen. Es ist eben schon erstaunlich, wie treffsicher dieser Ansatz ist – alles kann sie nicht wissen, aber sie kann doch relativ viel rausfinden.
Die derzeitige Geheimdienstarbeit hingegen dringt mit dem Hacken von Telefonen, von Accounts stark in die Privatsphäre der Bürger ein.

Gezielte Analyse von bekannten Gefährdern, also eher klassische Polizeiarbeit in computergestützter Form, beschreibt auch ihr Film »A Good American« von 2015. Darin untersuchen Sie das NSA-Programm »ThinThread« und porträtieren den ehemaligen technischen Direktor der NSA, William Binney.
Wieso jetzt noch ein weiterer Film zum gleichen Thema?

Binneys selbstentwickeltes und billiges Programm wurde vom NSA-Management zugunsten eines teureren Überwachungsprogramms, von dem viele Akteure des militärisch-industriellen Komplexes profitiert haben, eingestellt: Bei der Arbeit an »A Good American« wurde mir klar: Überwachung ist ein Riesenbusiness. Bei keinem anderen Filmen zur modernen Massenüberwachung, wie etwa »Citizenfour«, kommt dieser kommerzielle Aspekt vor.
Schon unter Bill Clinton gab es immer mehr Auslagerung von Militäraufgaben an private Dienstleister, das gleiche passiert beim Thema Überwachung – diese Privatisierung begünstigt das Entstehen eines militärisch-industriellen Überwachungskomplexes.
Und das ist keine keine Verschwörung, diese Firmen operieren ja nicht geheim. Sie operieren sogar relativ offen. Man muss sich nur als Journalist die Mühe machen der Spur des Geldes zu folgen.

Sie schreiben über den militärisch-industriellen Komplex, gleichzeitig glauben sie aber nicht an Verschwörungen, etwa im Zusammenhang zum 11. September 2001.
Natürlich war es damals nicht der Wunsch des NSA-Managements, dass es zu diesen großen Anschlägen mit vielen Toten kommt. Man wollte sich einfach bereichern, in dem man sich vom US-amerikanischen Kongress ein anderes, teureres Programm als »ThinThread« genehmigen ließ.
Diese Geldgier, diese Charakterlosigkeit und diese Unmoral haben letztendlich dazu geführt, dass ein Programm, das die Anschläge verhindern hätte können – wie Dokumente zeigen, die jetzt nach und nach veröffentlicht werden – eingestellt wurde.
Diese kleine Entscheidung hatte kolossale Auswirkungen, denn 9/11 hat die gesamte Welt verändert.
Die vielen Toten durch die Anschläge und ihre Folgen: Das war nicht im Interesse der damaligen NSA-Führung.
Was ihr aber sofort in den Sinn kam, war, aus den Anschlägen jede Menge Gewinn zu machen, das eigene Versagen zu vertuschen und ein Riesenbusiness aufzuziehen.
9/11 ist ein Fall von Korruption in höchstem Ausmaß, der sich bis heute für den militärisch-industriellen Überwachungskomplex tausendfach gelohnt hat.
Vielleicht sollte man sich den Fall des Anis Amri und den Berliner Anschlag auch mal unter dieser Perspektive genauer ansehen.

Zur Person

Der TV-Journalist und Dokumentarfilmer Friedrich Moser hat über 20 Dokumentationen produziert. Neben TV-Produktionen hat er 2012 die Dokumentation »The Brussels Business« über EU-Lobbyismus veröffentlicht. 2016 erschien »A Good American«. Der Film porträtiert die Arbeit des technischen Direktors der NSA, William Binney, und das von ihm entwickelte »ThinThread«-Programm. In der Doku »Terrorjagd im Netz«, die am heutigen Dienstag auf Arte läuft (20.15 Uhr), kritisiert Moser die aktuelle Terrorfahndung.
Mit dem Filmemacher sprach Moritz Wichmann.

* Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2016/05/04/snowden-enthullungen-fuhrten-zu-selbstzensur/

Jochen

Von der Selbst- zur Fremdverwaltung – Zu Privatisierung und Re-Kommunalisierung in den Kommunen – Vortrag von W.Rügemer

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Erstveröffentlichung hier: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22792

DSC_0046Beim „Arbeitnehmerempfang“ der Stadt Pforzheim (Motto: „Gewerkschaft trifft Politik“) am 29.4.2016 hielt Werner Rügemer auf Einladung des Oberbürgermeisters Gert Hager und des Landrats des Enzkreises Karl Röckinger den folgenden Vortrag.
Das offizielle Thema lautete:

„Zwischen Privatisierung und Re-Kommunalisierung – die kommunale Leistungserbringung“

Die Stadt Pforzheim ist „führend“ bei der Privatisierung der kommunalen Infrastruktur. Anfang 2016 beschloss der Gemeinderat die Übertragung des öffentlichen Nahverkehrs an eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG, zunächst für 10 Jahre. Die städtische Verkehrsgesellschaft SVP wird aufgelöst, die 240 SVP-Beschäftigten werden gekündigt.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich hoffe, Sie sind nicht über die bürokratische Sprache im Titel meines Vortrages gestolpert. Es geht um eine zentrale Frage für Bürgerinnen und Bürger, für Alt und Jung, es geht um die Sicherheit des alltäglichen Lebens, um günstige Wohnungen, ordentliche Schulen, sauberes Trinkwasser und funktionierende Abwasserentsorgung, um anregende Kultur, günstigen Nahverkehr, bezahlbare Energieversorgung, sichere Straßen, offene Freizeit- und Sportanlagen, ja auch um eine freundliche und schnelle Verwaltung und noch einiges mehr, und nicht zuletzt um gewählte Stadt- und Gemeinderäte, die Bürgerinteressen vertreten und nicht vor sich hinmauscheln. Das ist schon eine Menge. Das ist ein Kernbestand jeder Demokratie.

Wie es den Kommunen geht, auch daran zeigt sich der demokratische Zustand einer Gesellschaft. Bekanntlich haben die Gemeinden in Deutschland nach dem Grundgesetz von 1949, Artikel 28 die Garantie für gemeindliche Selbstverwaltung. So ähnlich wurde es auch für die Landesverfassungen beschlossen. Da gilt das Universalitätsprinzip, das heißt Allzuständigkeit. Die Gemeinden haben sogar das Aufgabenfindungsrecht, das heißt sie können im Interesse der Bürger auch neue Aufgaben übernehmen.

Das klingt gut. Aber wie ist die Realität? Aus der Selbstverwaltung ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weithin eine Fremdverwaltung geworden. Diese Entwicklung wurde nach der deutschen Wiedervereinigung wesentlich beschleunigt. Und diese Entwicklung ist noch immer nicht zu Ende.

In Pforzheim sind Sie gegenwärtig schon wieder in einem solchen Übergang von der Selbst- zur Fremdverwaltung. Wie wird es mit dem öffentlichen Nahverkehr in Pforzheim weitergehen? Was wird mit den bisherigen Angestellten des gemeindlichen Unternehmens Stadtverkehr Pforzheim, SVP? Und wie werden die Fahrpreise und Transportleistungen durch das neue private Unternehmen gestaltet werden, auch auf mittlere und längere Sicht?

 Kommune: Kernbestand der Demokratie

Aber kommen wir erstmal zurück zu dem, was eine Kommune, eine Gemeinde ist oder sein soll. Sie soll ein Kernbestand der Demokratie sein. „In der Gemeinde fängt die Demokratie an“, verkündete der erste Kanzler der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. Daran hat sich dieser autoritäre Knochen nicht unbedingt gehalten. Außerdem musste er den westlichen Siegermächten gehorchen. Aber sein Satz war gut.

Die Demokratie in den Gemeinden geht auf Kämpfe zurück, die in der Geschichte ausgefochten werden mussten, nicht im Himmel der Theorie und der Wünsche, sondern auf der Erde in Deutschland. Immer wieder wurde die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft – im finsteren wie dann auch im etwas helleren Mittelalter, durch die Feudalherrschaft. Einzelne Städte konnten sich teilweise daraus befreien, aber nie nachhaltig. Durch demokratische Bewegungen und besonders gefördert durch die französische Revolution wurden die Gemeinden wieder freier, sogar zeitweise auch in den Monarchien von Preußen und Bayern. Ein kräftiger Schub in Deutschland kam durch die bürgerliche Revolution von 1848/1849. Das schlug sich in der Verfassung der Paulskirche nieder, dann auch wieder in der Weimarer Verfassung. Davor musste aber erst das wilhelminische Kaiserreich abgeschafft werden. Dann erst war eine demokratische Ordnung möglich, mit selbstverwalteten Gemeinden.

Die Nazis gingen besonders antidemokratisch mit den Gemeinden um. Sofort im Februar 1933 ließ Innenminister Hermann Göring alle Gemeindevertretungen zwangsweise auflösen. Wer dem nicht folgte, wurde vertrieben oder verhaftet. Alle Parteien wurden aufgelöst beziehungsweise verboten. Es blieb nur noch die NSDAP übrig. Das Gesetz zur Gemeindeverfassung von 1933 schaffte alle kommunalen Wahlen ab. Die Bürgermeister spielten nach dem Führerprinzip den Gemeindeleiter, er wurde nicht von den Bürgern gewählt, sondern von der NSDAP beziehungsweise von den Gauleitern und den Regierungspräsidenten ernannt, und zwar auf 12 Jahre, wie im wilhelminischen Kaiserreich. In wichtigen Fälle wie in Köln griff Göring aus Berlin ein: Da durfte nicht der örtliche Gauleiter Oberbürgermeister werden, sondern ein katholischer Bankier, damit das gehobene Bürgertum mitzog.

Der Gemeindeleiter fällte seine Entscheidungen ohne Gemeinderat und in vollkommener Intransparenz. Auch die „Ratsherren“ wurden nicht gewählt, sie wurden ebenso ohne Wahl ernannt, nannten sich aber weiter Ratsherren. Und natürlich waren es fast ausnahmslos Herren. Sie besetzten auch die lukrativen Posten in den Vorständen und Aufsichtsräten der Stadtwerke und der Wohnungsgenossenschaften. Die Gemeinden wurden vom Zentralstaat gelenkt.

Die Nazis legten übrigens im Jahressteuergesetz 1933 fest, dass Schmiergelder von Unternehmen als steuerbegünstigte Betriebsausgaben anerkannt wurden. So kamen zum Beispiel Bau- und andere Unternehmer ganz „unbürokratisch“ auch an ihre kommunalen Aufträge. Und die Gemeindeleiter und hohen Beamten hatten ihren heimlichen Nebenverdienst.
Wissen Sie übrigens, wann die Steuerbegünstigung für Schmiergelder aufgehoben wurde? Das war nicht nach dem Ende der Nazizeit. Die Adenauer-Regierungen behielten das bei, auch die Nachfolgeregierungen bis 1999 betrachteten die sogenannten „nützlichen Ausgaben“ als steuerfreie Wirtschaftsförderung nicht nur im als korrupt verschrienen Ausland, sondern auch in der Bundesrepublik selbst. Erst durch öffentlichen und internationalen Druck beendete die rot-grüne Bundesregierung 1999 diesen skandalösen Zustand. Bekanntlich wurden in vielen deutschen Städten, in Nordrhein-Westfalen wie in Baden-Württemberg, während der 1990er Jahre private Müllverbrennungsöfen durch die Bestechung von Kommunalpolitikern angeschoben, zum Beispiel.

Kommunale Selbstverwaltung schrittweise ausgehöhlt

Die im Grundgesetz verankerte Garantie der kommunalen Selbstverwaltung wurde seit der deutschen Vereinigung schrittweise ausgehöhlt. Das geschah und geschieht in den unterschiedlichsten Formen. In den 1990er Jahren begann es mit der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Diese Entwicklung wurde durch die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP eingeleitet und nicht nur auf der Bundesebene praktiziert, etwa bei der Post, sondern auch auf der Landesebene und in den Gemeinden. Die private Müllentsorgung habe ich schon genannt. Sie wird ja bis heute praktiziert. In der Regel liegt sie in der Hand der großen Strom- und Energiekonzerne.

Diese Konzerne stiegen aber auch auf andere Weise in die Gemeinden ein und kauften zum Beispiel Anteile an den Stadtwerken. Als Miteigentümer der städtischen Unternehmen für Strom, Fernwärme und Gas konnten die Konzerne gleichzeitig über die Preise der von ihnen gelieferten Energie mitbestimmen. Und gleichzeitig geben die Gemeinden einen Teil ihrer Stadtwerksgewinne an diese Konzerne ab, und zwar dauerhaft. Auch deshalb wachsen die kommunalen Schulden und auch deshalb wird die kommunale Selbstverwaltung unterhöhlt.

Wahrscheinlich erinnern sich einige von Ihnen an das sogenannte Cross Border Leasing. Da haben in allen Bundesländern Städte ihre Kanalisationen, Kraftwerke, Trinkwasseranlagen, Messehallen und andere Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur an Investoren in den Vereinigten Staaten von Amerika verkauft, und zwar teilweise für 100 Jahre und wieder zurückgemietet. Das ließen sich die Gemeinden von sogenannten renommierten Banken wie der Deutschen Bank, der United Bank of Switzerland und auch Landesbanken aufschwatzen. Die Investoren hatten schon damals ihren juristischen Sitz zwar nicht in Panama, aber in der größten Finanzoase der Welt, im US-Bundesstaat Delaware – keine Bundesregierung, keine nordrhein-westfälische Landesregierung und kein schwäbischer Bürgermeister haben sich daran gestört. In Baden-Württemberg etwa war Daimler Financial Services besonders aktiv, die Finanztochter des Autokonzerns Daimler. Da fielen so manche Bürgermeister und Gemeinderäte auf die versprochenen „Barwertvorteile“ von ein paar Millionen DM herein, die am Anfang ausgezahlt wurden. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen und Landeswasserverbände war eingeschränkt, etwa bei der Bewilligung von Bauland. Die Auflösung dieser dubiosen Verträge hat in manchen Städten zur zusätzlichen Verschuldung beigetragen – statt Schulden abzubauen, wie versprochen worden war.

 Public Private Partnership – Finanzieller Irrsinn

Ein noch wesentlich schädlicheres Finanzinstrument hat die Bundesregierung aus SPD und Grünen Anfang der 2000er Jahre nach Deutschland gebracht. Es wurde aus der Finanzoase London in Großbritannien abgekupfert. Es heißt Public Private Partnership, PPP, Öffentlich-private Partnerschaft. Aber das ist keine Partnerschaft auf Augenhöhe. Die meist 30 Jahre lang laufenden Mietverträge für Schulen, Rathäuser und andere öffentliche Gebäude sollen die klammen städtischen Haushalte entlasten. Der juristischen Form nach nehmen die Gemeinden keinen Kredit auf, sie sollen ja die schwarze Null einhalten oder erreichen. Aber die Erfahrungen zeigen, dass diese Verträge in der Mehrheit zulasten der Gemeinden gehen. Pleiten der beauftragten Subunternehmen führen zu Mehrkosten ebenso wie häufige Nachforderungen der Generalunternehmer. Das ist eigentlich ein finanzieller Irrsinn, gerade heute, wo die öffentliche Hand so günstig wie nie Kredite bekommt, während auch der cleverste Investor wesentlich mehr Zinsen für seine PPP-Kredite bezahlen muss. Diese jahrzehntelang überhöhten Zinsen gehen ebenfalls in die Mieten ein, die die Gemeinden zwei bis drei Jahrzehnte zahlen müssen. Wie soll kommunale Selbstverwaltung unter solchen jahrzehntelang bindenden Verträgen möglich sein? (1)

Auch in dieser Stadt, so habe ich gehört, haben sich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen an Zinswetten etwa der Deutschen Bank und der Bank J.P. Morgan beteiligt. Die Risiken waren nicht überschaubar. Da werden seitdem jahrelange Gerichtsverfahren geführt, die Zeit und Geld kosten und ebenfalls in so mancher Stadt zu zusätzlicher Verschuldung führen. Aber von diesen vergleichsweise kleinen Sünden am Rande will ich gar nicht reden.

Da bahnte sich jedenfalls ein Ende der kommunalen Selbstverwaltung an, und das Ende ist noch gar nicht in Sicht, wenn es so weitergeht. Bei den genannten Privatisierungen, den Stadtwerksverkäufen, dem Cross Border Leasing, den PPP-Verträgen und den diversen Spekulationsgeschäften spielen private Beratungsfirmen überall eine entscheidende Rolle. Die Gemeinden und auch ihre überregionalen und bundesweiten Zusammenschlüsse wie der Deutsche Städtetag haben es bis heute nicht geschafft, sich die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit neuen Finanzprodukten und gewieften Investoren zu verschaffen.

Ich habe gehört, dass auch bei den beiden Entscheidungen, den Stadtverkehr Pforzheim damals vor einigen Jahren an den Energiekonzern Veolia und jetzt an eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG zu vergeben, nicht nur eine Beratungsfirma bezahlt wurde, sondern mindestens drei.

Die Abhängigkeit von gut honorierten privaten Beratern ist zum Dauerzustand geworden, von der Bundesregierung angefangen über die Landesregierungen und in großem Umfang in den Gemeinden. Die Berater sind selbst gewinnorientierte Unternehmen, und sie nutzen die geringen Kenntnisse in den öffentlichen Verwaltungen und bei den ehrenamtlichen Bürgervertretern aus. Der Vorteil für die Gemeinden ist, so meine Erfahrung, für die öffentliche Hand auf die Dauer und im Durchschnitt sehr zweifelhaft. Die Berater verdienen gut an der Verschuldung der Gemeinden, und die Verschuldung ist nach einigen Jahren noch höher als zuvor.

 Steuerschlupflöcher für Vermögende

Eigentlich wird, wie schon erwähnt, die kommunale Selbstverwaltung durch das Grundgesetz garantiert. Aber diese Garantie wird gerade durch den immer stärker ausgebauten Zentralstaat nicht mehr praktiziert, im Gegenteil. Die Bundesregierungen und ihre parlamentarischen Mehrheiten in Berlin lassen großflächige Steuerflucht für inländische ebenso wie für ausländische Konzerne zu. Steuerschlupflöcher für Vermögende, wie sie etwa der hier sowieso sehr nahe Nachbarstaat Schweiz dauerhaft bietet, werden auch von der gegenwärtigen Bundesregierung und ihrem schwäbischen Finanzminister nicht geschlossen. Im Gegenteil, er schützt sie verbissen, genauso wie bei Luxemburg und jetzt Panama, zum Nachteil auch der Gemeinden.
Wenn sich die Bundeskanzlerin wie die „schwäbische Hausfrau“ verhalten würde, wie sie behauptet, dann hätte sie ihren Finanzminister längst nachhause schicken müssen.

Überall müssen die Bürger Mehrwertsteuer bezahlen, und diese Steuer wurde immer weiter erhöht, schneller als alle anderen Steuern. Aber warum erhebt der Staat zum Beispiel auf Aktien- und Wertpapierkäufe und –Verkäufe überhaupt keine Mehrwertsteuer? Auf Autobenzin ja, aber nicht auf Flugbenzin? Das ist eine systemwidrige Ungleichbehandlung. Und es gibt überhaupt keinen Sinn, die heute rein spekulativen Börsengeschäfte, an denen sowieso nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung sich beteiligt, solcherart zu bevorzugen. Was meinen Sie, wieviele Milliarden Euro der Staat da jährlich an die Falschen verschenkt? Und die Gemeinden schauen in die leere Röhre.

Leider ist die Liste der Maßnahmen noch nicht zu Ende, mit denen die Selbstverwaltung der Gemeinden weiter ausgehöhlt wird. Das neue Personen-Beförderungsgesetz von 2013 haben Sie bei der damit erzwungenen Vergabe des Stadtverkehrs Pforzheim schon zu spüren bekommen.

 CETA: Rückfall hinter Europäische Wasser-Richtlinie

Aber nun sollen noch mehr internationale private Investoren, Berater und Dienstleister zum Zuge kommen, noch mehr als bisher schon möglich. Sie werden die gegenwärtig hinter verschlossenen Türen verhandelten Freihandelsverträge mitverfolgt haben. Ständig werden in den Medien und Regierungserklärungen Abkürzungen wie CETA und TTIP genannt. TISA gehört auch zu dieser Art. TISA steht für Trade in Services Agreement, also Handel mit Dienstleistungen. Da geht es ganz gezielt um die bisher noch öffentlichen Dienstleistungen, die für transatlantische Investoren geöffnet werden sollen.

Bekanntlich ist der Freihandelsvertrag CETA zwischen der Europäischen Union und Kanada zu Ende verhandelt. Im Internet können Sie die 1.650 Seiten nachlesen. Eine deutschsprachige Fassung hält die Bundesregierung zur Unterrichtung der Abgeordneten und der Bürger übrigens nicht für nötig. So können Sie sich, wenn Sie das trickreiche Handelsenglisch gut beherrschen und sich mal zwei Wochen Urlaub nehmen und sich mit einigen Fachbüchern und Lexika zum Studium zurückziehen, genauer kundig machen.

Aber wir haben Glück. Die Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft AöW hat sich aus eigenem Interesse mal die CETA-Kapitel zu Trinkwasser und Abwasser genauer vorgenommen. Die Experten der deutschen Wasserwerke haben herausgefunden: CETA fällt hinter die Europäische Wasser-Richtlinie zurück. Privatisierung in den Kommunen soll möglich sein, jedenfalls in bestimmten Teilbereichen. Und eine Re-Kommunalisierung wäre nicht möglich. Die Sonderrechte insbesondere für ausländische Investoren können in die kommunalen Rechte des Anschluss- und Benutzungszwangs, der Gebührenfestsetzung, der Festlegung von Wasserschutzgebieten, der Wegenutzung, der Wasserentnahme und Wassereinleitung eingreifen. Investoren könnten der interkommunalen Zusammenarbeit Grenzen setzen. (2)

Meine Aufzählung ist, wie Sie schon vermuten, keineswegs vollständig. Zum Beispiel von den Kosten für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen habe ich hier gar nicht erst gesprochen. 

Kommunale Selbstverwaltung zu schädlicher Fremdverwaltung geworden

 Jedenfalls, die kommunale Selbstverwaltung ist über weite Strecken zu einer für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger schädlichen Fremdverwaltung geworden. Können Bürgerinnen und Bürger dagegen etwas tun?

Ich hoffe, mit vielen anderen, dass das möglich ist. Es war ja schon in der Vergangenheit möglich. Bürgerinitiativen haben zumindest einige Privatisierungen und einige Cross Border Leasing und Public Private Partnership-Verträge verhindert. Vielleicht waren Sie aus Pforzheim ja schon bei einer der vielen kleinen und auch der großen Aktionen gegen das Freihandelsabkommen TTIP dabei?

Und vielleicht kennen Sie Initiativen aus dem bürgerschaftlichen und politischen Raum, die die große Steuerflucht verhindern wollen, die die Vermögensteuer wieder einführen wollen, die den Handel mit Aktien und anderen Wertpapieren endlich mit der Mehrwertsteuer belegen wollen und dergleichen? Überall auf diesen Gebieten regt es sich, auch wenn Sie das in Ihren beiden Lokalzeitungen und in der Tagesschau und im heute-journal noch nicht lesen und sehen können.

Wie es mit der Demokratie überhaupt und auch mit der kommunalen Selbstverwaltung ist: Sie musste immer erkämpft und dann gesichert werden. Wir sind wieder an einem solchen Punkt in der Geschichte angekommen, eigentlich schon länger. Aber jetzt bemerken das mehr Menschen als bisher.

Vor einer Woche haben sich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und gewählte Vertreter und Initiativen aus 40 Städten und Landkreisen Europas in Barcelona getroffen. Aus Spanien, Frankreich, Österreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien und auch aus Deutschland war man dabei. Vertreten waren auch die Großstädte Barcelona, Madrid, Birmingham, Wien, Grenoble und Köln. Es gibt übrigens schon 1.600 Gemeinden in der Europäischen Union, die sich per Gemeinde- und Stadtratsbeschluss für TTIP-frei erklärt haben.

Bei dem Treffen in Barcelona wurde erklärt: „Die Kommunen sind nicht nur von den intransparenten Verhandlungen völlig ausgeschlossen, die Abkommen schränken auch ihr demokratisches Selbstbestimmungsrecht massiv ein. Durch den verstärkten Privatisierungsdruck gefährden die Abkommen die öffentliche Daseinsvorsorge wie Wohnen, Gesundheit, Umwelt, soziale Dienste, Bildung, die lokale wirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit.“ Die in Barcelona anwesenden Vertreter aus Brüssel und Grenoble haben sich bereit erklärt, die nächste Versammlung der europäischen Gemeinden auszurichten. (3)

Hoffentlich können Sie Ihren Kindern und Enkeln sagen: Ja, ich habe mich gewehrt. Ja, ich bin aktiv geworden.
Oder: ich hatte zwar keine Zeit, ich musste arbeiten und noch meinen Zweitjob machen und eine neue Stelle als Busfahrer suchen und den Haushalt und die Kinder versorgen – aber ich habe diejenigen unterstützt, die aktiv sein konnten.

Ich hoffe, dass ich Sie auf diesem Wege ermutigen kann. Sie werden feststellen, dass Sie nicht alleine sind.
Schauen Sie sich um.

Fussnoten:

1 Werner Rügemer: „Heuschrecken“ im öffentlichen Raum. Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments, Bielefeld 2012. Siehe auch www.gemeingut.org

2 AöW: Wasserwirtschaft im Sog des Freihandels – CETA, Positionspapier, Berlin April 2016, S. 5

3 Attac Deutschland: TTIP-freie Kommunen in der EU formieren sich – Konferenz in Barcelona als Startschuss, Pressemitteilung 24.4.2016

Jochen