Ein lesenswerter Auszug aus dem „Freitag“, in Ergänzung zu meinem Blogbeitrag mit Aufruf zur Unterzeichnung einer Solidaritätserklärung vom 30.Juli:
https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/im-jagdmodus
Dort auch sehr lesenswerte Kommentare !
Und aktualisiert mit einem Interview aus der jungen Welt:
http://www.jungewelt.de/2016/08-03/005.php
Die Polemik gegen Sahra Wagenknecht in der Linkspartei zeugt vom Verzicht auf linke Realpolitik und wirkt wie präventive Personalpolitik
Man sollte schon wissen, was es bedeutet, ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl das beste Pferd im Stall zu schlachten. Will heißen, die Kampagne in der Linkspartei gegen die Aussagen von Sahra Wagenknecht zur Flüchtlings- und Integrationspolitik der Bundeskanzlerin nimmt befremdende, teils groteske Ausmaße an. Sie zeugt vom Verzicht auf linke Realpolitik, falls es bei den Angriffen auf die Fraktionsvorsitzende tatsächlich um den Umgang mit Hilfesuchenden aus Nordafrika, dem arabischen Raum und Mittelasien geht – und nicht um präventive Personalpolitik innerhalb der Linken.
Unterstellt man ersteres, müsste sich die Parteiführung nach Angela Merkels wenig „situationsgerechter“ Pressekonferenz vom 28. Juli bei Wagenknecht bedanken, die Defizite der Regierungspolitik schon vor diesem Auftritt auf den Punkt gebracht zu haben. Um es noch einmal zu rekapitulieren – unmittelbar nach dem Attentat von Ansbach hatte sie vor gut einer Woche erklärt, dass die „Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ‚Wir schaffen das‘ uns im letzten Herbst einreden wollte“. „Der Staat“ müsse nun „alles dafür tun, dass sich die Menschen in unserem Land wieder sicher fühlen können“.
Hat die Urheberin dieser Sätze damit Koalitionsangebote an die AfD überbracht? Wurde sie zum „Teil einer linksrechten Querfront“, wie ihr unterstellt wird? Werden wir Zeugen „irgendwelcher Avancen an rechte Wähler/-innen oder Parteien“, wie das Linkenpolitiker Benjamin Hoff zumindest nicht ausschließt?
Tatsächlich wird mit dem, was Wagenknecht formuliert hat, die Mindestnorm für das Dasein einer Politikerin oder eines Politikers der Linken erfüllt: eine unbefangene, nach Möglichkeit wenig ideologiebehaftete Bestandsaufnahme vorzunehmen, um linker Realpolitik genügen zu können.
Man muss sich schon der Situation stellen, wie sie nach der Ereigniskette von Würzburg bis Ansbach auch in den Milieus wahrgenommen wird, die der Linken nicht nur nahestehen, sondern aus denen sich deren Stammwähler rekrutieren. Letztere sollte man am allerwenigsten verlieren, um politikfähig zu bleiben und ein Optimum an parlamentarischer Präsenz im Bund wie den Ländern zu sichern.
Nur so kann programmatischen Vorstellungen im Interesse des eigenen Anhangs Geltung verschafft werden. Wie sonst? Durch die „Macht der Straße“? Öffentlichen Druck? Leider entbehrt Deutschland einer französischen Protestkultur.
Es offenbarte einen gefährlichen Hang zum politischen Autismus, nicht anerkennen zu wollen, wie sehr die jüngsten Geschehnisse auf das kollektive Bewusstsein hierzulande Einfluss haben. Sicher mit unterschiedlichen Konsequenzen und Reaktionen, aber auf jeden Fall schichten- und milieuübergreifend. Da erscheint Wagenknechts Kritik an der Flüchtlingspolitik überaus „situationsgerecht“.
Es ist für eine auf Gesellschaftsveränderung bedachte linke Partei Ausweis von Daseinsberechtigung wie eine existenzielle Frage, nicht an den realen Verhältnissen und den daraus resultierenden Interessen und Stimmungen vorbei zu leben. Wer das ignoriert, wird schneller marginalisiert als gedacht.
Das Reinheitsgebot
Wenn aus der Partei der Vorwurf laut wird, Wagenknecht bringe die Linke in eine ungehörige Nähe zur AfD, ist das verstiegen und absurd. Sie hat ihren zutreffenden Befund nicht mit völkischen oder nationalistischen Parolen versehen, sondern nichts weniger getan, als die soziale Herausforderung anzudeuten, die sich mit der Aufnahme Hunderttausender Krieg und Not entronnener Menschen in einem Land ergibt, dessen soziales Gefälle unablässig krasser wird. Allein der dadurch provozierte Gefühlsstau in den Verbitterungsmilieus lässt sich schwerlich durch Appelle zur Solidarität überwinden, geschweige denn die Formel „Wir schaffen das“.
Wer die prekären, unsichern, demütigenden Jobs eines neuen Dienstleistungsproletariats erträgt, wem innerhalb der Gesellschaft keine oder nur wenig Solidarität zuteil wird, wie soll der solidarisch sein, dass es an Altruismus grenzt? Wer dann auch noch dank massenmedialer Fürsorge aufs schlichte Urteilen getrimmt wird, der muss Flüchtlinge mindestens für Rivalen halten, mit denen um die vom Staat künstlich knapp gehaltenen Ressourcen für Wohlfahrt konkurriert wird.
Die politisch-moralische „Reinheit“, gegen die sich Wagenknecht nach Ansicht ihrer parteiinternen Widersacher vergangen hat, mag ein hohes Gut sein. In manchen – eigentlich zu fast allen Zeiten – ist sie „reiner“ Luxus und fürs Hochgefühl auf Parteitagen gut, sonst nichts. Womit weder Prinzipienverzicht noch -verrat eine Bresche geschlagen sei.
Kommunistischer Sündenfall
Als 1930 die KPD ihr „Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ präsentierte, war das eine Reaktion auf die Stimmungslage in der Arbeiterschaft. Auf die berief sich die Partei mit ihrer Politik, aus der kamen die meisten Wähler.
In diesen – wenn man so will – „historischen Milieus“ der KPD verfing die nationalistische Demagogie einer erstarkenden NSDAP durchaus. Die Nazis sammelten Sympathisanten, indem sie die Reparationen des Versailler Vertrages attackierten, die es in der ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise ungemein erschwerten, dass staatliche Alimentierung den sozialen Abstieg von Millionen Menschen auffangen, wenn schon nicht aufhalten konnte.
Eine Mehrheit der davon in Deutschland Betroffenen suchte die Verantwortung dafür kaum bei den Kriegsschuldigen der alten Eliten von 1914, sondern bei den Siegermächten von 1918, die in imperialistischer Absicht durch Versailles und die Reparationen auf Jahrzehnte den „Wettbewerber“ Deutschland klein halten wollten. Soziale Befreiung konnte – unter diesen Umständen – nur dann ein realistisches Ziel sein, wenn man sich auch davon – „national“ – befreite.
Dies war kein Verrat am sozialistischen Ziel, eher ein verständlicher Versuch, um zu verhindern, dass die NSDAP über die Reparationenfrage auf KPD-Terrain wilderte. Die Kommunisten haben sich dadurch bei der NSADP weder angebiedert noch deren Propaganda kopiert. Sie agierten aus einer konkreten Lage heraus. Im Übrigen müssen nicht immer zwei das Gleiche meinen, wenn sie Ähnliches sagen.
Durch historische Vergleiche wie diesen lassen sich niemals Vergangenes und Gegenwärtiges gleichsetzen. Vielmehr kommt es darauf an, Handlungsmuster zu erkennen, um besser zu verstehen, wie und weshalb um linke Politikfähigkeit gerungen wurde. Dass die KPD seinerzeit mit ihrem „nationalen Instinkt“ zu reüssieren suchte – sei der Vollständigkeit halber angefügt –, war nicht nur auf die Nazis gemünzt. Als Hauptfeind sollten auf diese Weise besonders die „Sozialfaschisten“ der SPD bekämpft werden.
Rot-Rot-Grün
Man kann sich bei der Vehemenz der Angriffe auf Wagenknecht kaum des Verdachts erwehren, dass die Politikerin weniger wegen ihrer Aussagen zur Flüchtlingspolitik gescholten wird, sondern vielmehr andere Motiv von Belang sind. Sie gilt zu Recht als Ballast für rot-rot-grüne Resthoffnungen der Parteiführung um Bernd Riexinger und Katja Kipping.
Sollten die irgendwann das Stadium der Utopie verlassen, dürfte Sahra Wagenknecht als Inkarnation programmatischer Treue darauf achten, dass die Linke im Verbund mit zwei neoliberalen Parteien keiner Selbstverstümmlung verfällt, die irreversible Folgen hätte. Die potenziellen Partner werden schließlich eine solche Allianz auch deshalb wollen, weil sich die Linke dabei durch erzwungene Konzessionen selbst erledigen kann. Um das zu verhindern, wird Wagenknecht Rot-Rot-Grün stets am Erhalt eigener Identität messen. Mit anderen Worten, Riexinger, Kipping, auch Dietmar Bartsch, könnten vor einer Schicksalsfrage stehen: Wagenknecht demontieren, um die Bereitschaft zum Mitte-Links-Bündnis zu demonstrieren, oder dank Wagenknecht die Gewähr dafür haben, dass Rot-Rot-Grün nur dann zustande kommt, wenn dies einen authentischen Politikwechsel bewirkt.
Dazu freilich muss die Linke im Bundestag mindestens wieder so stark werden wie zu jener Zeit, als Oskar Lafontaine die Fraktion zusammen mit Gregor Gysi führte. Abhängen wird das auch davon, wie und ob es gelingt, Sozial- und Flüchtlingspolitik klientelbezogen als Einheit zu betreiben.
Und hier das Interview mit Sevim Dagdelen:
Am vergangenen Montag äußerte sich die Linke-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht zum Anschlag in Ansbach. Seitdem steht die Politikerin in der Kritik: mit ihren Aussagen fische sie im rechten Lager. Die Angriffen weisen Sie zurück, sprechen gar von einer Kampagne. Warum?
Es war bemerkenswert, wer sich nach der Mitteilung zu Wort meldete. Das reichte vom CDU-Vorsitzenden aus NRW, Armin Laschet, bis hin zu Claudia Roth von den Grünen, auch Hubertus Heil, SPD-Abgeordneter, äußerte sich. Dass ausgerechnet diese bunte Truppe Sahra Wagenknecht diffamiert, ist an Heuchelei nicht zu überbieten. Diese Politiker stimmten für Kriege, Rüstungsexporte und die Hartz-IV-Gesetze – und verteidigen diesen Kurs noch immer. Viele Zeitungen ließen nur diese Leute zu Wort kommen. Dazu kamen dann Angriffe aus den eigenen Reihen.
Sie meinen etwa den Linken-Bundestagsabgeordneten Jan van Aken, der den Rücktritt der Vorsitzenden forderte. Wird da ein bestimmtes Ziel verfolgt?
Vertreter von SPD und Grünen betonen immer wieder, dass eine rot-rot-grüne Regierung auf Bundesebene für sie nicht in Frage kommt, solange Sahra Wagenknecht Fraktionsvorsitzende der Linken ist. Daher rührt die gemeinsame Kraftanstrengung, sie zu demontieren. Auch aus den eigenen Reihen heraus wird versucht, den Weg für Rot-Rot-Grün zu ebnen.
Stein des Anstoßes ist dieser Satz der Politikerin: »Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ›Wir schaffen das‹ uns im letzten Herbst einreden wollte.« Die Kritik an der Passage lautet, mit ihr würden Geflüchtete in einen Zusammenhang mit Terroranschlägen gesetzt.
Von fehlenden Wohnungen steht in besagter Stellungnahme aber nichts. Statt dessen fordert die Fraktionsvorsitzende, die Regierung müsse wieder mehr Vertrauen in die Sicherheitsbehörden der BRD schaffen.
Sahra Wagenknecht weist auf die Unzulänglichkeiten der Integrationspolitik von Bundeskanzlerin Merkel hin. Den Neun-Punkte-Plan der Bundeskanzlerin hat sie scharf kritisiert.
Sie haben eingangs vermutet, hinter den Angriffen gegen Sahra Wagenknecht stünde der Wunsch, einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei die Bahn zu bereiten. Tut Wagenknecht das nicht von sich aus auch? Im Sommerinterview mit dem ZDF erklärte sie kürzlich, der Eintritt in eine Koalition käme in Frage, wenn sich eine sozialere Politik durchsetzen ließe.
Sie formuliert deutlicher als ihr Vorgänger unsere Bedingungen für Regierungsbeteiligungen: Nein zum Sozialabbau, Nein zu Bundeswehreinsätzen, Nein zu den Interventionskriegen der NATO. Und das ist gut so.
Sie sagte auch, die Bundesrepublik werde nicht an dem Tag, da Die Linke ins Kabinett eintritt, die NATO verlassen. Das sind doch ungewohnte Töne, oder?
Im Gegenteil. Sahra formuliert konkret unsere roten Haltelinien. Was die NATO angeht, ist ihre scharfe Kritik vernehmbar. Sie hat mit dazu beigetragen, dass Die Linke in ihrem Grundsatzprogramm den Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO als Forderung aufgenommen hat. Die NATO-Kriege sind mit der Linken nicht zu machen. Sahra Wagenknecht gehört zu denjenigen in der Linkspartei, die vor dem Stützpunkt in Ramstein gegen die Drohnenmorde und die NATO-Interventionspolitik protestierten. Das blieb nicht ohne Widerspruch. Die Diffamierungskampagne gegen sie zielt auch darauf ab, unsere außenpolitischen Positionen aufzuweichen. Das muss aufhören.
Das fordern mittlerweile mehr als 4.000 Unterzeichner, die innerhalb von nur 24 Stunden den Appell »Wir für Sahra« unterzeichnet haben. Viele davon kommen aus den verschiedensten parteipolitischen Gliederungen.