Philosoph Robert Pfaller: Was sind für Sie Pseudolinke?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Philosoph Robert Pfaller spricht mit uns über Gendersternchen als neoliberales Distinktionsinstrument von Kulturlinken.hecimfdjmaplapai

taz FUTURZWEI: Fangen wir mit einer komplizierten Frage an, Herr Pfaller: Gibt es einen Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Infantilisierung der Menschen und einer Erosion von Demokratie?

ROBERT PFALLER: Ja. Denn Demokratie beruht auf dem Prinzip, dass alle sich um das kümmern, was alle angeht. Wenn durch Infantilisierung Leute zunehmend dazu erzogen werden, sich nur noch um das zu kümmern, was sie persönlich betrifft, dann ist eine Voraussetzung von Demokratie zerstört. Sie hören dann auf, politische Bürger, Citoyens, zu sein, und werden zu bloßen Bourgeois – oder, wie man die nur um das Eigene Besorgten im alten Griechenland nannte: zu Idioten. Um das zu regeln, was alle betrifft – wie zum Beispiel die zunehmende Entdemokratisierung innerhalb der EU –, muss man in der Lage sein, von seinen persönlichen Betroffenheiten abzusehen und sich mit anderen zusammenzuschließen, die ganz andere Betroffenheiten haben. Erst indem alle ihren persönlichen Ärger klein halten, kommen sie überhaupt in die Lage, sich über das zu ärgern, was sie klein hält.

Die persönliche Betroffenheit und Kränkung, sich von selbsternannten Paternalisten infantilisiert zu finden, ist aber ein politischer Ausgangspunkt?

Nicht immer ist man persönlich gekränkt. Man kann sich auch unpersönlich ärgern – indem man sich denkt: »Eigentlich ist das eine Frechheit. Man müsste sich darüber aufregen.«
Das ist, glaube ich, ein guter Ausgangspunkt einer Politisierung.

Das »zarte Sprechen«, wie Sie das nennen, das korrekte Sprechen, habe eine auf soziale Gerechtigkeit zielende Politik ersetzt. Warum?

Seit den 1980er-Jahren hat die sozialdemokratische Linke in den kapitalistischen Ländern keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik mehr betrieben – also jene an den Prinzipien von John Maynard Keynes orientierte Politik, die in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten für zunehmenden Wohlstand und zunehmende Gleichheit gesorgt hatte.
Unter dem Schock von Reagan und Thatcher und ihrer neoliberalen Einflüsterer haben auch die Sozialdemokraten nur noch neoliberale Austeritätspolitik betrieben und volkswirtschaftlich relevante Sektoren wie Gesundheit, Infrastruktur, Altersvorsorge oder Bildung zunehmend betriebswirtschaftlichen Normen unterworfen.
Um sich aber wenigstens irgendwie von ihren Gegnern noch zu unterscheiden, haben sie die politischen Probleme kulturalisiert. Ab da war Politik vorwiegend nur noch Symbolpolitik.

Beispiele?

Statt Kinderbetreuungseinrichtungen bekamen wir das Binnen-I, statt Chancengleichheit bot man uns »diversity«, und anstelle von progressiver Unternehmensbesteuerung erhielten wir erweiterte Antidiskriminierungsrichtlinien.
Das entspricht dem Grundprinzip neoliberaler Propaganda: Alle Ungleichheit beruht demnach lediglich auf Diskriminierung. Sie ist nur ein Vorurteil, das sich durch liberale Gesinnung überwinden lässt; und nicht etwa ein Effekt starrer oder sich gar noch verhärtender Eigentumsverhältnisse.

Sie lehnen »Gendersprache« ab. Ein Binnen-I hier, ein Sternchen da schaden doch nicht?

Finden Sie? Haben Sie das schon einmal ausprobiert bei einer Formulierung wie »der Obmann und sein Stellvertreter«? Diese Spracheingriffe sind doch durchwegs völlig dilettantisch und lassen sich in den meisten Fällen weder schreiben noch sprechen.
Die Einzigen, die an solchen unbeholfenen Sprachverbesserungen wirklich Interesse haben, sind Vertreterinnen und Vertreter in diversen Gremien, die im Namen von anderen sprechen, aber in Wirklichkeit nur ihre eigenen Pfründe behaupten.
Für ein Binnen-I oder ein Sternchen hat sich noch nie irgendjemand etwas kaufen können – außer eben diesen Gremialbonzen. Und -*bonzinnen, korrekterweise.

Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit so einem klaren und harten Sprechen statt des zarten: Linksliberale fallen Ihnen dankbar um den Hals?

Na klar! Und wie. Denn die sogenannte Kulturlinke ist ja der Profiteur dieser neoliberalen Ideologie. Mit ihr verschafft sie sich Distinktion.
Und so sehr sie behauptet, auf Verletzlichkeiten zu achten, so großzügig zeigt sie sich andererseits, wenn es darum geht, Leute, die nicht ihrer Meinung sind, zu beschimpfen und sie, wenn nur irgendwie möglich, zu Unpersonen vom Kaliber der Rassisten, Sexisten, alten weißen Männer oder anderer »deplorables« abzustempeln.

Auf Twitter gibt es die Gepflogenheit, Fotos von FDP- oder CSU-Fraktionen zu posten, auf denen die Köpfe der – wenigen – Frauen eingekreist sind.
Das ist als harte Kritik an der fehlenden Geschlechterparität gemeint. Wie finden Sie das?

Um ein soziales Objekt wie eine Partei oder auch eine Gesellschaft zu beurteilen, muss man sich ansehen, wie sie als Ganze funktioniert, und nicht darauf, wie sie sich in Fraktionen oder Regierungskabinetten repräsentiert. Man kann sich auch perfekt paritätische, vollkommen »diverse« Gremien vorstellen, die dennoch eine vollkommen ungleiche Gesellschaft produzieren oder reproduzieren.
Und umgekehrt: Es ist nicht ausgeschlossen, dass zum Beispiel eine nicht paritätisch zusammengesetzte Regierung eine Politik perfekter Chancengleichheit für alle betreibt. Viele westliche Regierungen der 1970er-Jahre waren zwar ungleich zusammengesetzt, haben tatsächlich aber weitaus mehr Gleichheit hergestellt als heutige Kabinette, die symbolpolitisch mit ihrer »Parität« oder »Diversität« protzen.

Haben die liberalen Demokratien ihren Fokus auf Identitätspolitik gelegt, weil die Mehrheit das wollte, oder gibt es tatsächlich eine »neoliberale« Verschwörung, bei der die korrekte Anwendung des Gendersternchens den Blick auf die Verluste des unteren Teils der Gesellschaft durch die politischen Deregulierungen verschleiert?

Die Sache hat Methode – wie zum Beispiel Nancy Fraser, Slavoj Žižek oder Frank Furedi seit Langem gezeigt haben. *)
Aber das bedeutet nicht, dass dahinter eine Verschwörung stecken würde oder dass alles von Anfang an von einem Superhirn geplant gewesen wäre.
Das geht weitaus einfacher. Da genügen ein paar nützliche Idioten, die wittern, dass sie mit ihren Unternehmungen Rückenwind genießen.
Der Großteil der Identitätspolitiken wird von Rückenwind-Profiteuren betrieben – zum Beispiel von opportunistischen Kunstkuratoren, denen klar ist, dass sie mit einem harmlosen und schicken Pseudothema wesentlich leichter zu Förderungen gelangen, als wenn sie die gravierenden und mühselig zu behandelnden Probleme der Mehrheiten in der Gesellschaft angreifen.

Bei genauerer Betrachtung der Problematisierung von Identitätspolitik kommt man auf Unterschiede: Die »linke« These besagt, dass man den Klassenkampf gegenüber Gleichberechtigungsansprüchen vergessen habe und die gute Rente vor lauter Genderklos.
Die »bürgerliche« These ist, dass man es »übertrieben« habe mit den emanzipatorischen Projekten diskriminierter Gruppen, weshalb es nun zu kulturellen Verwerfungen kommt. Sie sind nach dem, was wir bisher von Ihnen hören, Vertreter der »linken« These?

Ich vertrete eine linke Position, vergleichbar der des amerikanischen Antirassismus-Theoretikers Adolph Reed. Man muss das Problem wie folgt stellen: Wenn es in einer Gesellschaft keine ungleichen Plätze – also Klassen – gibt, dann kann man gar niemanden diskriminieren, selbst wenn man es aufgrund alter Vorurteile vielleicht möchte. Wenn man hingegen nur daran arbeitet, Diskriminierung zu verhindern, aber nichts gegen die klassenbedingte Ungleichheit unternimmt, dann erreicht man bestenfalls, dass alle Gruppen der Gesellschaft jeweils entsprechend ihrem Anteil auf einer weiterhin sehr hierarchischen Stufenleiter verteilt werden.

Das heißt konkret?

Wie Reed schreibt, würden innerhalb einer solchen »moralischen Ökonomie« dann weiterhin ein Prozent der Bevölkerung neunzig Prozent der Ressourcen kontrollieren, nur wären innerhalb dieses einen Prozents – in den USA – dann eben elf Prozent schwarz, zwölf Prozent Latino, fünfzig Prozent Frauen und irgendein entsprechender Anteil LGBT-Leute.
Der entscheidende Punkt einer linken Position in dieser Frage besteht meines Erachtens darum nicht darin, zu sagen, dass nun die Probleme der Klasse anstelle jener Identität behandelt werden müssten.

Was ist Ihr Punkt?

Was es zu erkennen gilt, ist vielmehr, dass die Identitätspolitik nicht einmal den Identitätsgruppen hilft.
Gerade um für sie etwas zu tun, ist es notwendig, auf einer anderen Ebene – jener der klassenbedingten Ungleichheit – etwas zu verändern. Genau das aber wird durch Identitätspolitik verhindert.

Kann man mit den Begriffen »links« vs. »bürgerlich« überhaupt noch sinnfällig etwas beschreiben, wenn ja, was?

Es gibt eine klassische und ehrenwerte bürgerliche Position, die in vielen Punkten mit jener der Linken übereinstimmt: etwa in der Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz, ohne Ansehen der Person; oder auch in der Forderung nach Aufrechterhaltung von elementaren Rechtsstandards wie zum Beispiel der Unschuldsvermutung, etwa bei Anschuldigungen von sexueller Belästigung, der Anhörung von Beschuldigten, der Revisionsmöglichkeit im Fall der Verurteilung etcetera; oder in der Forderung nach Rede- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft.
Das sind entscheidende Errungenschaften meistens bürgerlicher Revolutionen, und sie sind auch für die Linke maßgebend. Bürgerliche und Linke müssen diese gemeinsamen Werte und Interessen erkennen und gemeinsam für sie eintreten – wie es derzeit meines Erachtens exemplarisch die Zeitschriften Novo Argument oder Spiked vorführen.

Eine neue Allianz von bürgerlichem und linkem Denken, also?

Ja. Ihr gemeinsamer Gegner ist einerseits die Rechte, die massiv an der Zerstörung einer aufgeklärten Öffentlichkeit arbeitet, zum Beispiel eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks, sowie an der Liquidation einer demokratischen Gewaltenteilung.
Und andererseits jene kulturalistische Pseudolinke, die ihrerseits unentwegt nach Verboten ruft und Kategorien wie das persönliche Empfinden zu Rechtsmaßstäben erheben möchte.

Eine besondere Herausforderung besteht ganz offenbar darin, dass die aufsteigenden Autoritären das Spiel spielen, das in der Folge von 1968 die Linksliberalen als ihres betrachteten, sie also die Opferverhältnisse umdrehen. Hier die Befreiung aus autoritärem Mief, dort die Rettung vor liberalem Wirrwarr.
Was ist die Antwort darauf?

Dass die Rechte sich die Dummheiten der Pseudolinken zunutze macht und nun auch in zynischer Weise Identitätspolitik für ihre vorwiegend ländlichen und suburbanen Wählergruppen betreibt, ist nur ein kleiner und meines Erachtens überschätzter Teil ihres Erfolges. Man darf nicht übersehen, dass manche regierende Rechte wie zum Beispiel Salvini und Orban derzeit – mit Ausnahme der Sozialdemokraten Portugals – die Einzigen sind, die lautstark auf die Austeritätsgebote der Maastricht-Verträge pfeifen und eine Sozialpolitik betreiben, die man früher sozialdemokratisch genannt hätte.
Auch Trump hatte zwei aus Sicht der Lohnabhängigen attraktive wirtschaftspolitische Versprechen: Begrenzung der Kapitalmigration sowie der Migration von Billigarbeitskräften.
Und auf der ideologischen Ebene hat die kulturalistische Pseudolinke solchen Leuten wie Trump eine Räuberleiter gebaut.
Denn indem sie, zum Beispiel in der Genderfrage, sich immer elitärer gebärdete und auch so wahrgenommen wurde, ermöglichte sie es Trump, sich mit einigen gezielten Vulgaritäten als Vertreter der »einfachen Leute« zu präsentieren.

Jetzt stehen fast nur noch Identitätsfragen im Vordergrund, jeder will sagen, wer er ist und vor allem, wer er nicht ist.
Anerkennung und Heimatgefühle gibt es aber rechts wie links nur für Abgrenzung, nicht für die Suche nach dem Gemeinsamen.

In diesem einen Punkt stimme ich mit Chantal Mouffe, die diese Auffassung vertritt, nicht überein. Um Einigkeit, Identität, »Wir-Gefühl« etcetera entwickeln zu können, braucht man nicht immer einen äußeren Feind. Man kann sich auch in Bezug auf eine große gemeinsame Aufgabe zusammenschließen, zum Beispiel für Wiederaufbau und Schaffung von Wohlstand, wie dies in den sogenannten großen Koalitionen in Österreich zwischen Konservativen und Sozialdemokraten sowie anfangs auch den Kommunisten von 1945 bis 1966 der Fall war.
Das wäre auch heute eine Chance – denn die aktuellen Herausforderungen im Sozialen und in der Ökologie sind ja auch nicht gerade gering.

Sie plädieren ja für »Erwachsenensprache«, das heißt, auf das Allgemeinwohl zielend zu sprechen – ohne eigene Besonderheiten, Empfindlichkeiten, um sowohl in sich selbst als auch im Gegenüber das Allgemeine zu finden. Stimmt das so und wie kommt das voran?

Das ist richtig. Man darf hier eines nicht übersehen: In aktuellen Debatten wird oft einem öffentlichen Streitgegenstand – etwa einer Karikatur, einem Film, einer Äußerung oder auch einer Geste – ein persönliches Empfinden, zum Beispiel religiöser Art, oder ein persönliches Gefühl, etwa verletzter Intimität, gegenübergestellt.
Aber das ist eine irreführende Gegenüberstellung. Sie reduziert religiöse Menschen, Frauen oder Angehörige von Minderheiten lediglich auf deren Empfindung. Damit macht man sie zu bloßen Empfindungsmaschinen, die zu keinem reflektierten Urteil fähig sind.
Doch jeder und jede, egal, woher sie kommen und was sie glauben, können mehr als nur empfinden. Sie können auch ihre Empfindungen kritisch reflektieren, sie unter Umständen auch revidieren – denn Empfindungen sind bekanntlich das Trügerischste – und zu einem Urteil gelangen.

Zunehmend fühlen sich Menschen verletzt und wollen darüber sprechen.

Es ist unzureichend, zu sagen: »Ich fühle mich verletzt«; man kann aber sehr wohl sagen: »Ich beurteile das als verletzend.« Dabei kann man sich dann allerdings auch irren und den Irrtum nachgewiesen bekommen.
Diese Urteilsfähigkeit ist das Allgemeine an uns, und das Einzige, was Anerkennung ermöglicht und verdient. Diese Fähigkeit darf man von jedem und jeder verlangen. Diskriminierung hingegen beginnt genau damit, dass man – meist in wohlmeinender Absicht – bestimmten Leuten diese Fähigkeit abspricht und aufhört, sie ihnen abzuverlangen.

Wie sähe Erwachsenenpolitik aus?

Sie würde eben diese Urteilsfähigkeit von allen erwachsenen Mitgliedern der Gesellschaft erwarten. Hier zeigt sich übrigens ein Unterschied zwischen Bürgerlichen und Linken.
Die Bürgerlichen sehen unter den derzeit am meisten gefährdeten Rechtsgütern vor allem die Redefreiheit – etwa, wenn an den englischen und amerikanischen Universitäten Vortragende mit kontroversen Ansichten am Reden gehindert werden.
Aus linker Perspektive aber geht dabei noch etwas anderes, vielleicht noch Wichtigeres verloren: nämlich gesellschaftliche Solidarität. Wenn ich nicht darauf vertrauen darf, dass der andere ebenfalls ein erwachsener Mensch ist und als solcher, genau wie ich, gelernt hat, seine Empfindlichkeiten und sonstigen Macken ein Stück weit hinter sich zu lassen, dann habe ich gar nichts mehr mit ihm gemeinsam.

Gibt es real existierende Politikerinnen und Politiker, die man in diesem Sinn als erwachsen bezeichnen könnte?

In den USA ganz offensichtlich der so vernünftige wie radikale Bernie Sanders, vielleicht auch Alexandria Ocasio-Cortez.
In Deutschland scheint mir Sahra Wagenknecht am ehesten dieser Beschreibung zu entsprechen. Vor allem auch deshalb, weil sie immer wieder die typisch erwachsene – und in unserer Medienöffentlichkeit zunehmend kostbare – Fähigkeit beweist, das Bedeutende vom Unbedeutenden zu unterscheiden. Leider scheint dies aber nicht auf alle ihrer Mitstreiter zuzutreffen.

Ist es nicht eine Pointe von historischer Bedeutung, dass mit #FridaysForFuture ausgerechnet Kinder eine erfolgreiche soziale Bewegung gestartet haben?

Die Ziele der Bewegung sind wohl durchwegs vernünftig und erwachsen. Aber die Kinder können nichts dafür, dass sie von den Erwachsenen die Rolle zugeschoben bekommen, sich dafür einzusetzen.
Ich habe den Eindruck, wir lassen die Kinder etwas sagen, das wir selbst auch denken, aber eben nicht sagen – weil wir uns stattdessen um die Erhaltung von Arbeitsplätzen und Lebensstandards, also um den Fortbestand unserer »imperialen Lebensweise« kümmern, wie der Politikwissenschaftler Ulrich Brand dies genannt hat. Dass wir uns das, was wir selbst denken, von den Kindern sagen lassen, beweist unsere Infantilität.

Reden wir als Erwachsene: Wie sieht die nächste Moderne aus? Oder etwas kleiner: Was sind die nächsten unabdingbaren Schritte im zivilisatorischen Prozess?

Nun, wenn wir das aus einer so makrohistorischen Sicht betrachten wollen, dann müssen wir uns wohl eingestehen, dass wir bei der Erledigung der letzten großen modernen bürgerlichen Menschheitsaufgabe – der Überwindung der Feudalherrschaft – systematisch geschummelt haben: Soziale Sicherheit, Zunahme von Gleichheit, Menschenrechte, Demokratie, auf die wir stolz sind, und auf deren Verallgemeinerbarkeit wir noch bis vor Kurzem hofften, gab es tatsächlich nur für relativ wenige und immer auf Kosten einerseits der Kolonien und andererseits der Umweltressourcen. Von diesen beiden Altlasten werden wir derzeit in die Zange genommen.

Aber weil auch die Fortschritte in Sozial-, Gerechtigkeitspolitik und Emanzipation auf Ausbeutung von Kolonien und Umwelt beruhen, ist ein klassischer Linksschwenk eben auch keine Lösung.

Einerseits wollen wir soziale Errungenschaften erhalten, aber die schwinden dahin, weil sie offenbar an ökonomisches Wachstum gebunden waren. Und andererseits müssen wir das ökonomische Wachstum bremsen oder so umgestalten, dass wir noch weiterhin auf dem Planeten leben können.
Also entweder werden wir selbst zunehmend zu unseren eigenen ausgebeuteten Kolonien voll von sogenannter »Neuer Armut«, oder wir ruinieren weiter die Umwelt – oder wir machen sogar beides zugleich, wie es oben meist der Fall ist. Und wenn es in den 1970er-Jahren vielleicht noch so ausgesehen haben mag, als ob die ökologische Riesenaufgabe die Menschen vereinen könnte, ist heute völlig offensichtlich, dass sie sie in Wirklichkeit nur weiter spaltet.
Wir können uns hier also nicht bequem auf das wachsende Bewusstsein der bedrohten Natur verlassen, sondern müssen mithilfe politischer Institutionen eine Lösung erarbeiten und erkämpfen. Ich bin davon überzeugt, dass man auf diese Weise eine Gesellschaft zunehmender Gleichheit aufbauen kann – und zwar auch ohne jene Art von Wachstum, die die Umwelt zerstört. Man kann stattdessen ja in Richtung Gleichheit wachsen.

Trump hat diese Idee des Gemeinsamen offiziell aufgegeben. Die Silicon-Valley-Jungs bauen Bunker in Neuseeland und planen ihre Zukunft auf dem Mars.
Derweil wird auch die ökologische Frage als identitätspolitische inszeniert zwischen angeblichen Autohassern und angeblich verantwortungslosen Rasern.
Was beiden Gruppen nicht hilft, sondern nur vom Gemeinsamen ablenkt?

Manche Innenstädte der USA werden von Radfahrern bewohnt, die sich die hohen Wohnungsmieten leisten können. Die Leute aber, die ihnen den Kaffee und die Brötchen servieren und für sie putzen, müssen weiter draußen wohnen und brauchen darum Autos.
Es ist klar, dass man das ökologische Problem hier nicht gesondert von dem der Klassen lösen kann und dass es zu nichts führt, einer Gruppe die Schuld zu geben oder sie steuerlich noch stärker zu belasten. Die »gilets jaunes« haben dies, wie ich finde, trotz der massiven Diffamierungen, denen sie ausgesetzt waren, sehr gut klargestellt.

Und Trump?

Und was Trump betrifft, würde ich sagen, dass seine Politik sich in diesem Punkt nicht allzu sehr von der seiner Amtsvorgänger unterscheidet, da ja die Demokraten, als sie regierten, oft sogar noch in massiverer Weise militärische Angriffe auf andere Länder und Versuche des sogenannten »regime change« unternommen haben.
Die Eliten, vor allem der USA, haben die ökologische Bedrohung sehr gut begriffen. Aber sie arbeiten nicht an einer Lösung für alle.
Vielmehr sorgen sie darum mit massiven Militärinterventionen und Landnahmen dafür, dass für sie eben als Letzte das Öl, das Wasser und alles andere knapp wird.
Darum wird sich das alles, wie Jean Ziegler vor Kurzem richtig bemerkt hat, nicht durch Überzeugungsarbeit, sondern nur durch Gewalt lösen lassen.
Und wir können von Glück reden, wenn diese die Form zivilisierter, politischer, demokratisch legitimierter staatlicher Gewalt annimmt

Der Mann
Philosophieprofessor. Lehrt an der Kunstuniversität Linz. Geboren 1962 in Wien. Radikaler Gegner von Rauchverboten, obwohl er wegen Nebenhöhlenproblemen kaum raucht.
Seine Aphorismen sind legendär, etwa: »Wir sollten nicht den Tod fürchten, sondern das schlechte Leben« oder »Statt zu fragen, wofür wir leben, fragen wir uns nur noch, wie wir möglichst lange leben«. Lebt in Wien.

Das Werk (u. a.)
Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. S. Fischer 2011
Kurze Sätze über gutes Leben. S. Fischer 2015
Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. S. Fischer 2017 .

*: Hierzu hat auch Naomi Klein schon oin ihrem Buch „No Logo“ Stellung genommen.
Zu einem ähnlichen Thema auch der Soziologe Wolfgang Streeck:
https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/realistischer-antikapitalismus-statt-moralische-umerziehungsversuche-3645/

und auch schon Joachim Keiser 2016 hier: https://josopon.wordpress.com/2016/08/05/fuer-einen-linken-populismus/

Jochen

So können wir es schaffen: Interview mit der jungen US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez

Wer will es in Bayern besser haben ?

Hier ein Hinweis auf ada: »Es gibt eine Riesenchance, unsere eigene Macht aufzubauen« – Ada Magazin

»Es gibt eine Riesenchance, unsere eigene Macht aufzubauen«

Alexandria_Ocasio-CorteDer neue Star der US-amerikanischen Linken, Alexandria Ocasio-Cortez, spricht mit Daniel Denvir in einem ausführlichen Interview für Jacobin Magazine.

Es hat etwas gedauert, mit Alexandria Ocasio-Cortez einen Termin für ein Interview zu finden. Schließlich waren die letzten Wochen recht hektisch für sie.

Ende Juni hat Ocasio-Cortez völlig unvorhergesehen den seit zehn Legislaturperioden amtierenden Joe Crowley geschlagen, ein Schwergewicht der Demokratischen Partei, in New Yorks 14. Wahlkreis.
Damit hat ein 28-jähriges Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA), die letztes Jahr noch als Barkeeperin gearbeitet hat, gegen jemanden gewonnen, der möglicherweise Sprecher des Repräsentantenhauses für die Demokraten geworden wäre.

Daniel Denvir traf Ocasio-Cortez für seinen Jacobin-Podcast The Dig und sprach mit ihr über die Struktur ihrer Kampagne, die Verwundbarkeit von Demokratinnen der Mitte gegenüber Herausforderungen von links, die Notwendigkeit von mutigen Visionen politischer Kandidatinnen, die Entrechtung der Wählerschaft, den politischen Status Puerto Ricos und vieles mehr.

Beginnen wir mit einer ganz pragmatischen Frage: Wie hast Du gewonnen? Wie sah die Arbeit Deiner Unterstützerinnen vor Ort aus?

Am Anfang meiner Kampagne wusste ich noch nicht genau, was auf mich zukommen würde, aber ich hatte eine klare Vorstellung davon, was mein Gegner machen würde: eine normale, unternehmerische, DCCC (Democratic Congressional Campaign Committee) Kampagne. Bei solchen Kampagnen steht die Arbeit auf der Straße normalerweise nicht im Vordergrund.
Meine Rolle in diesem Wahlkampf war die der Organisatorin, die Menschen zusammenbringt, Bündnisse schmiedet und mit anderen Organisatorinnen zusammenarbeitet.
Der Fokus der Kampagne lag auf der tatsächlichen Organisierung von Menschen und einer digitalen Netzwerkarbeit, die das unterstützt.

Fast jede, die in diesem Wahlkampf mitgewirkt hat, hat das zum ersten Mal gemacht. Ich habe Beziehungen zu anderen Organisatorinnen aufgebaut, aber von denen, die ich kannte, hatten viele noch nie in einem Wahlkampf mitgearbeitet.
Ich komme eigentlich aus dem Schulwesen und viele der Aktivistinnen und Organisatorinnen, die ich kannte, standen einer Wahlpolitik sehr zynisch gegenüber und sind ihr ganz bewusst aus dem Weg gegangen.
Ich habe ungefähr sechs Monate damit verbracht, mit diesen Basis-Organisationen wieder Vertrauen und Glaubwürdigkeit aufzubauen, um auch solche Menschen zu inspirieren, die normalerweise nichts von Wahlpolitik halten.

Wir haben an 120.000 Türen geklopft. Wir haben 170.000 SMS geschickt. Wir haben noch einmal 120.000 Anrufe gemacht.
Ein Jahr bevor wir überhaupt damit angefangen haben, registrierte Demokraten-Wählerinnen an die Urnen zu bringen, hatten wir eine eigene „Registriert euch“-Kampagne, weil New York einer der Bundesstaaten ist, die die Anmeldung zur Wahl am schwierigsten machen.
Eine Person, die bereits als parteilose oder unabhängige Wählerin in New York registriert ist, muss mindestens ein Jahr vorher ihre Registrierung ändern, um in einer Vorwahl abstimmen zu dürfen.

Das hat der Bernie-Kampagne sehr geschadet.

Ja, wir haben drei Millionen unabhängige und parteilose Wählerinnen im Bundesstaat New York. Es ist die größte Wählergruppe und sie wird ständig entrechtet.

Ein Jahr vor der Wahl haben wir eine Registrierungsaktion veranstaltet, bei der wir jede unabhängige oder parteilose Wählerin herausgesucht haben. Da haben wir noch einmal zwischen 10.000 und 13.000 Anrufe gemacht und diesen Menschen gesagt: „Es wird nächstes Jahr eine progressive Kandidatin für einen Platz im Kongress geben. Sie nimmt kein Geld von Unternehmen an.
Aber wir können diese Wahl nur dann gewinnen, wenn Menschen wie Du sich als Demokratinnen registrieren lassen und wir auf ihre Stimmen nächstes Jahr zählen können!“

Ich muss zugeben, dass das der schwierigste Teil des Wahlkampfes war. So vieleTüren, die mir ins Gesicht geschlagen wurden, so viele Menschen, die mich angeschrien haben.
Und denen habe ich gesagt, „Ich versteh’s ja. Ich verstehe, dass Du keine Demokratin sein willst.“
Wir wissen noch nicht einmal, wie effektiv diese ganze Aktion war, weil der Bundesstaat es jemandem (verständlicherweise) nicht möglich macht, nachzuvollziehen, ob eine Person sich wirklich angemeldet hat, nachdem wir sie auf die Registrierungs-Website geschickt haben.

Trotz alledem haben wir durch diesen Aufwand vor einem Jahr, ob er jetzt erfolgreich war oder nicht, viel über die Grundlagen des Wahlkampfs auf der Straße gelernt: das Gebiet aufzuteilen und Unterstützerinnen zu identifizieren. Damit haben wir das Fundament für unsere ganze Kampagne gelegt.

Wir haben uns nicht auf Menschen verlassen, die schon wussten, wie man das alles macht. Wir haben darauf gesetzt, dass wir eine Vision haben, die die Menschen anspornt.
Wenn sie uns dann gefragt haben, was sie tun können, haben wir sie selbst ausgebildet und gesagt: „Pass auf, das ist alles gar nicht so schwer. Lad’ diese App herunter. Mach das und das.“

Einen Wahlkampf zu organisieren ist gar nicht so schwer. Natürlich gibt es ein paar Vorgaben dafür, aber nach einer Stunde Übung kannst Du den Rest auf der Straße lernen.
Und genau das haben wir gemacht. Wir haben ganz normale Menschen, die mitmachen wollten, ausgebildet und ihnen gezeigt, was das A und O ist.

Unsere Kampagne bestand im Grunde nur aus dieser Arbeit auf der Straße. Wir schalteten überhaupt keine Fernsehwerbung, wohingegen unser Gegner den ganzen Juni über Werbung gezeigt hat. Er hat zehn bis fünfzehn Hochglanzbroschüren an fast jede registrierte Demokratin geschickt. Ich habe sie den „Victoria’s Secret-Katalog“ genannt.

Direkt in den Mülleimer damit.

Ja, das waren diese Vierfarben-Hochglanz-Dinger mit einem Porträt auf der Titelseite. Und damit wurden die Briefkästen vollgestopft.
Wir haben ungefähr drei Postkarten an fünfzigtausend Personen geschickt, weil das alles war, was wir uns leisten konnten. Wir waren also völlig unterlegen im Bereich Fernseh- und Postwerbung.

Aber wir waren überlegen auf der Straße. Da hatte er nur ganz wenig Leute. Wir hatten Hunderte an Freiwilligen.
Am Ende sind manche aus Massachusetts rübergefahren, aus Ohio. Einer ist aus Iowa eingeflogen.
Das ist der Vorteil, wenn es eine Schere gibt zwischen dem Enthusiasmus: für unsere Kampagne gab es kaum Interesse in den Medien, aber bei den normalen Leuten schon.

Manche Personen aus dem Establishment haben versucht, Deinen Sieg darauf zu reduzieren, dass Du besser zur Demografie Deines Wahlkreises passt. Das schien mir vor allem wie ein Weg, das Ausmaß der aktuellen Rebellion, die ja auch genau auf diese Personen abzielt, zu minimieren.
Was hältst Du von der Art, wie das System Deinen Sieg interpretiert und ihm einen solchen Dreh verleiht?

Das macht mir keine Sorgen. Am Anfang, in den ersten 24 bis 48 Stunden, habe ich die ganzen Ausreden zu meinem Sieg gesehen.
Das hat mich nicht so gekümmert, weil keine von diesen Personen diesen Wahlkampf beobachtet oder analysiert hatten.

Ich habe auch gewusst, dass ein Teil der Dynamik eine „Des Kaisers neue Kleider“-Situation war, sowohl für das politische Establishment als auch für die Mainstream-Medien, weil es ja diese riesige, schockierende politische Entwicklung gab, der niemand Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Vielen von den Leuten, die auf einmal versucht haben, diesen Wahlabend zu verstehen, hatten bereits erklärende Pressemitteilungen von meiner Kampagne.
Schon vor der Wahl hatte ich stundenlang mit Reportern der New York Times geredet, sie waren also durchaus informiert. Sie hatten sich aber dafür entschieden, nicht über diese Wahl zu berichten. Das war also nicht irgendeine kleine Nachricht, die unterm Radar geflogen ist.
Es wirkte dann so, als ob sie aus dem Nirgendwo gekommen ist, aber das war nicht richtig.

Es war ja nicht so, dass ich vor der Wahl keine Präsenz in den sozialen Medien hatte. Jetzt ist das natürlich anders, aber schon vor unserem Sieg hatte ich 50.000 Follower auf Twitter – Reporterinnen von CNN, der New York Times, MSNBC. Als ich nach dem Sieg zu Chris Hayes ins Fernsehen gegangen bin, hat er dort live gesagt: „Ich habe diesen Wahlkampf schon seit Langem verfolgt.“

Unser Wahlkampf wurde sehr wohl beachtet. Ich denke, dass es mehr eine Sache mit den Sendern war – und dem politischen Establishment –, die aktiv die Entscheidung getroffen haben, über diesen Wahlkampf nicht zu berichten. Und ich muss auch sagen, das ist OK, weil das auf eine gewisse Art und Weise unserer Kampagne sogar geholfen hat.

Ich erinnere mich daran, dass ich sehr überrascht war, als mir nach dieser mit Medienterminen vollgestopften Woche viele Journalistinnen genau die gleichen Fragen stellten. Mehrere Reporterinnen von Univision, mit denen ich ein Interview hatte, haben mich gefragt: „Wie definieren Sie sich selbst?“
Das war das erste Mal, dass mir eine Reporterin, besonders eine aus dem Fernsehen, diese Frage gestellt hat.

Was war Deine Antwort?

Ich habe gesagt: „Ich bin eine Lehrerin, eine Organisatorin und eine kompromisslose Kämpferin für arbeitende Familien.“ Ich sehe mich selbst als Organisatorin.
Kein anderer Sender hat mich diese Geschichte so erzählen lassen, und das ist in Ordnung. Ich denke sogar, dass das gut ist.
Es ist gut, wenn das politische Establishment meinen Sieg aus oberflächlichen Gründen abtun möchte. Wenn jemand sagt, dass ich nur aufgrund der Demografie gewonnen habe, dann halte ich das zwar ehrlicherweise für intellektuelle Faulheit, aber warum nicht.

Sie sollen meinetwegen nichts davon lernen, denn die Menschen, die progressive Bewegung, die Bewegung für arbeitende Familien, die Bewegung für wirtschaftliche, soziale, und racial Gerechtigkeit, die Bewegung, die die Arbeiterklasse stärken will, die Bewegung für Puerto Rico, die Bewegung für Ferguson, die Bewegung für eine Reform der Strafjustiz – diese Menschen passen auf. Und diese Menschen sagen: „Wie hat sie tatsächlich gewonnen?“

Du stellst mir diese Frage. Die DSA stellt mir diese Frage. Sie wollen es verstehen, denn es sind diese Gemeinschaften, aus denen wir ein Bündnis geschmiedet haben.

DSA war sehr wichtig, aber auch Black Lives Matter aus dem Großraum New York, auch die Organisation Justice Democrats, auch viele einzelne Organisatorinnen für Arbeiterinnen und Mieterinnen, Organisatorinnen von muslimischen und jungen, jüdischen Gruppen. Wir haben ganz bewusst ein Bündnis von Menschen geschaffen, die als Aktivistinnen innerhalb der progressiven Bewegung ganz vorne sind.

Ich hätte nicht ohne die Unterstützung der DSA gewinnen können, aber unser Erfolg liegt nicht nur an einer einzigen Gruppe. Wenn man das überhaupt sagen könnte, dann höchstens Justice Democrats or Brand New Congress, weil sie es waren, die mich überzeugt haben, überhaupt zu kandidieren.
Ohne diesen Anschub hätte ich das nicht gemacht, aber unser Erfolg in der Organisation des Wahlkampfs liegt in der .Bündnisbildung

Im Fernsehduell mit Crowley gab es diesen unglaublichen Moment, als er versprach, Dich zu unterstützen, wenn Du die Vorwahl gewinnst. Dann hat er versucht, Dich in eine Falle zu locken, indem er Dich gefragt hat, ob Du bei seinem Sieg dasgleiche tun würdest.
Deine Antwort war, dass Du zu Deinen organisierten Unterstützerinnengruppen zurückgehen müsstest, wie zum Beispiel die DSA, dass Du diese Entscheidung eben nicht allein treffen könntest.

Ich hatte diese Frage nicht erwartet. Meine Antwort hatte ich nur deswegen so schnell parat, weil ich diese ganze Arbeit für das Bündnis selbst gemacht hatte, da habe ich nicht jemanden anderen geschickt.
Es war ja nicht mal so, dass ich irgendwie die Organisatorinnen dieser Gruppen in mein eigenes Team geholt habe. Ich bin persönlich zu all diesen Organisationen gegangen.
Für die DSA bin ich zur Queens Wahlgruppe gegangen, zur Bronx Wahlgruppe, dann zur allgemeinen Queens-Ortsgruppe, zur allgemeinen Bronx-Ortsgruppe und schließlich zur Gesamtgruppe der Stadt. Und das war für nur eine Organisation.

Die Frage von Crowley kam aber auch schon früher auf. Diese Gruppen habe mich genau das gefragt.
Deswegen wusste ich, als man mir diese Frage live im Fernsehduell stellte, dass es Menschen gibt, die ein großes Problem damit hätten, wenn ich so eine Entscheidung allein und live treffen würde.

Meine Kandidatur ist eine Kandidatur der Bewegungen. Sie funktioniert auf eine sehr eigenwillige Art, weil ich mir am Anfang dieses Wahlkampfs überlegt habe, wie Kandidatinnen so etwas nur für sich selbst machen.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass jemand aufwacht und sich sagt: „Ich möchte Kongressabgeordnete oder Senatorin werden“. Sie richten ihre ganze Kampagne auf die Identität dieser einen Person aus. Sie sagen, „Ich bin die beste Person für diesen Job“ und versuchen dann tatsächlich, Tausende Menschen auf die Parole „Ich bin großartig“ einzustimmen.

Für mich wäre das viel zu viel Druck. Und ich denke, dass das auch nicht bei den Menschen ankommt. Sogar bei Barack Obama und all den Leuten, die sich hinter ihm versammelt haben – unabhängig jetzt davon, was man von seiner Politik hält – da hat man gesehen, dass es auch darum ging, was er für diese Leute bedeutet hat.
Und mir war damals eben klar, dass ich eine Bewegung repräsentiere, eine Bewegung, zu der man auch beitragen kann.

Ich habe danach viel Ärger mit dem Establishment bekommen, aber die einzigen Personen, die sich darüber aufgeregt haben, waren die, die schon für die Demokratische Partei arbeiteten.
Von den Wählerinnen habe ich dafür viel Respekt bekommen. Ein oder zwei Wochen nach der Debatte bin ich zu unserem Eckladen gegangen und da war mein Cousin mit ein paar Freunden. Und sie hatten die Debatte geguckt und meinten: „Das war krass“.

Ich hatte sowas noch nie gesehen.

Es gibt diese Vorstellung unter den amtierenden Demokratinnen, dass die New Yorkerinnen sie und das demokratische Establishment lieben.

Einfach nur, weil sie immer wiedergewählt werden.

Das ist eine Geiselnahme-Situation. Weil niemand für die Republikanische Partei stimmt, es aber gleichzeitig immer auch stark kontrolliert wird, wer die Kandidatin der Demokratischen Partei wird, werden New Yorkerinnen gezwungen, für die Demokratin zu stimmen, die eben im November auf dem Wahlzettel steht.

Das gilt besonders, weil unser Vorwahlsystem so kaputt ist und bewusst so wenig von den Medien beachtet wird. Es soll keine Aufmerksamkeit für die demokratischen Vorwahlen geben. Die demokratischen Vorwahlen sind die Wahl, besonders in New York City. So oder so denke ich, dass ich nur das gemacht habe, was die Bewegung in dem Moment von mir erwartet hat.

Wie hast Du vor, diese Rechenschaft auch in Zukunft abzulegen?

Ich will auf jeden Fall weiterhin an der Basis arbeiten. Gerade letzte Woche hatten wir ein Treffen in diesem kleinen Festsaal in Queens mit all den Freiwilligen und Organisatorinnen.
Ich würde sagen, dass es einen harten Kern von ungefähr 150 in unserem Wahlkreis gibt. Es gibt diese ganzen Artikel jetzt mit Titeln wie „Was ist ihr nächster Schritt?“, oder „Was macht sie als nächstes?“ Aber aber ich treffe nur wenige von diesen Entscheidungen alleine.

Diese erste Woche nach unserem Sieg war für mich persönlich sehr schwierig, weil ich noch nie so lange a) weg von meinem Wahlkreis und b) weg von der ständigen Kommunikation mit unseren Organisatorinnen war. Das war emotional schwierig, weil es wie ein ständiges Gespräch ist.
Wir haben diese ganzen verschiedenen Plattformen – ein Gruppenchat für alle Unterstützerinnen, ein Gruppenchat für die Organisation auf der Straße, ein Gruppenchat für das Presseteam, ein Organisations-Gruppenchat auf Spanisch, einer in mehreren Sprachen.
Immer, wenn ich wollte, konnte ich den Gruppenchat aller Unterstützerinnen aufmachen und ein Gefühl dafür bekommen, wie die Stimmung ist. Und dann hin und wieder selbst was dazu sagen. Und das war in allen Gruppen so.

Deswegen war es einfach für mich am Ball zu bleiben, nicht nur, weil ich auf der Straße war und selbst an Türen geklopft habe, sondern auch, weil ich die Geschichten gelesen habe, die andere ständig erzählt haben.
Die ersten paar Tage nach unserem Sieg waren sehr seltsam, weil ich 14 Stunden am Tag einen Medientermin nach dem anderen hatte und nicht mehr die Möglichkeit hatte, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Jetzt, wo sich alles etwas beruhigt hat, können wir uns da wieder drauf konzentrieren.

Es gab also dieses Treffen mit den 150 Personen und da haben wir uns zwei Fragen gestellt. In kleineren Gruppen haben wir dann überlegt, a) was der Kern unserer Kampagne über die nächsten drei Monate sein sollte und b) mit welchen spezifischen Lösungen wir die Schwächen und Ungerechtigkeiten, die wir noch in der Kampagne haben, angehen können.

Denn jedes Mal, wenn eine Gruppe von Menschen zusammenkommt, tun sich auch systemische Ungerechtigkeiten und systemische Schwächen auf. Und wenn wir uns die bewusst machen und aktiv und regelmäßig darüber nachdenken, wie wir damit umgehen, dann können wir einen Zusammenbruch der Kommunikation oder der Organisation verhindern.
Und das ist mir wichtig zu erhalten.

Ich glaube nicht, dass Wahlkampf wirklich je aufhört. Und das hat eine negative und eine positive Seite.
Die negative Seite ist die, dass es sich in unserer Welt mit großem Einfluss von Geld auf Wahlen und nach der Citizens United-Entscheidung anfühlt, als ob der geschäftliche Teil des Wahlkampfs nie aufhört – und das macht müde, weil ich nicht das ganze Jahr Wahlkampfplakate sehen will. Andererseits finde ich, dass das Organisieren nie aufhören sollte.

Eine wichtige Herausforderung für Kandidatinnen von links ist überall, die niedrige Wahlbeteiligung für uns zu nutzen – die Wählerinnenbasis zu vergrößern und die Amtsinhaberinnen zu überraschen.

Auf jeden Fall. Ich halte es für Ressourcenverschwendung, sich nur auf die Mitte zu konzentrieren. Denn die Mitte entscheidet sich erst in der Woche vor der Wahl.
Und wenn Du bis zur Woche davor nicht weißt, für wen Du stimmst, dann wird keine Menge an Geld und Materialien Dich dazu bringen, diese Entscheidung früher zu treffen.

Wir müssen uns zusammentun und größer werden. Es gab Menschen, die in ihrem Leben noch nie gewählt haben, aber sich schon Monate vor der Wahl sicher waren, dass sie für uns stimmen würden, weil wir mit ihnen gesprochen haben. Sie wussten, dass sie uns wichtig sind.
Ich habe mich aber auch nicht nur auf die eine Zielgruppe von Wählerinnen konzentriert, die schon in den letzten drei Vorwahlen die Demokratinnen gewählt haben. Denn es ist Unsinn nur diese Wählergruppe anzusprechen.

Ich wusste, dass diese Zielgruppe nicht an erster Stelle auf meiner Liste war. Ich wusste, dass sie an zweiter oder dritter kommen würde. Die Menschen, die aufgeregt sind, die die Gesundheitsvorsorge für Alle unterstützen, die öffentliche Universitäten ohne Studiengebühren wollen – das sind die Menschen, die sofort mit an Bord kommen, wenn man diese Positionen vertritt. Und das sind die Menschen, denen es wichtig genug ist, dass sie dann auch ihre Freundinnen und Familie organisieren.

Senatorin Tammy Duckworth hat vor Kurzem gesagt, dass Dein Ansatz im Herzen des Landes nicht funktionieren würde – dass Deine Strategie irgendwie Bronx-spezifisch ist.
Da fand ich Deine Antwort großartig. Du hast all die Bundesstaaten genannt, in denen Bernie die demokratischen Vorwahlen gewonnen hat, von denen viele im mittleren Westen waren, die dann in der Präsidentschaftswahl von den Republikanerinnen gewonnen wurden, und Du hast gefragt: „Wie verhindern wir, dass sich das wiederholt?“

Ich rede ständig mit Wählerinnen, und wir sagen: „Wir haben Tausend Sitze verloren, wir haben das Repräsentantenhaus und den Senat verloren. Wir haben die Präsidentschaft in einer Wahl verloren, die wir mit Sicherheit hätten gewinnen sollen. Sollen wir weiterhin für die gleichen Menschen stimmen, die gleiche Strategie und den gleichen Plan?“
Denn wir haben, als Partei, unseren Spielplan nicht geändert. Es gibt wirklich fast keine Änderung in unserem Plan. Was haben wir aus 2016 gelernt? Was machen mir anders?

Die Demokratinnen haben ihre Strategie ausprobiert und sind gescheitert.

Das war mein Argument: „Sollen wir weiterhin diesen Kurs fahren, mit dem wir wirklich alles verloren haben?“

Ich denke, dass Menschen fordern, dass das Establishment sich neu ausrichtet, obwohl wir eigentlich das Establishment ersetzen und diese Neuausrichtung selbst durchführen sollten.

Die Wahlkampffinanzierung meines Gegners kam zu 99 Prozent von Unternehmen, Lobbyisten und von Großspenden. Weniger als 1 Prozent kam von Kleinspenden.
Bei mir war es umgekehrt. Wenn ein Amtsinhaber fast vollständig von Unternehmen und unternehmensnahen Stiftungen finanziert wird und das Gleiche wie im September 2016 sagt, dann sollte man sich Sorgen machen.

Wenn die Trump-Präsidentschaft eine Person nicht dazu bringt, ihren grundsätzlichen Ansatz zu ändern, dann wird sie sich nie ändern.
Manche haben sich verändert. Ich sage nicht, „Lasst uns alles abreißen“, weil ich glaube, dass es wirklich ein paar Leute gibt, die sich verändert haben.

Zugegebenermaßen, Crowley hat sich nicht verändert und einfach das gleiche gemacht wie vorher. Ich habe seine Briefe bekommen – er hat mich nicht aus seiner Verteilerliste gestrichen – und habe deswegen zehn von seinen Broschüren bekommen und von denen haben viele Trumps Gesicht drauf.

„Dieser Kerl ist unheimlich, aber ich kann gegen ihn kämpfen!“ – und das war’s.

Ja.

Das hat er im Fernsehduell auch gemacht?

Ja, das war seine Linie. Das war übrigens auch die Strategie bei der letzten Präsidentschaftswahl: „Trump is ein schrecklicher Demagoge und wird ein Desaster für unsere Demokratie sein“.
Und ratet mal – Trump ist ein schrecklicher Demagoge und ein Desaster für unsere Demokratie, aber mit dieser Erzählung haben wir die Wahl verloren.
Es fühlt sich an, als ob viele demokratische Amtsinhaberinnen auf Autopilot laufen.

Ich glaube, dass es nach meiner Wahl diesen Versuch gab, mich dazu zu bringen, jetzt wirklich gegen das Establishment zu wettern und einen antagonistischen Kampf aufzunehmen.
Ich wollte das nicht, weil das eine Erzählung von ein paar Leuten war, aber nicht mein Plan. Ich werde es nicht zulassen, dass diese Bewegung von so einer antagonistischen Energie übernommen wird, wenn wir doch eigentlich eine positive und progressive Vision für die Zukunft Amerikas ausdrücken möchten.

Ich werde mich auch nicht in parteiinternen Streitereien verlieren – nicht dem Establishment zuliebe, sondern weil wir eine Bewegung schaffen müssen. Und ich konzentriere mich auf das, was wir erreichen wollen.

Viele Menschen hoffen, dass Dein Sieg eine Reihe von sozialistischen und linken Kandidatinnen inspiriert und stärkt.
Wie siehst Du die Zukunft der Bewegung? Und an welchen bevorstehenden Wahlen bist Du am meisten interessiert?

Es gibt eine Riesenchance, unsere eigene Macht aufzubauen, und das kann überall passieren. Man muss nicht unbedingt einen Sitz im Kongress anstreben – es gibt viele Sitze, wo es so eine Chance gibt.

Viele Menschen sind zynisch und unzufrieden und glauben, dass sich Engagement bei Wahlen nicht lohnt. Ich hoffe, dass diese Menschen wissen, dass ich sie und ihren Zynismus verstehe. Aber ich bitte sie auch, sich das noch einmal zu überlegen, weil Wahlkampf eben nicht so ein unglaublich schwieriges Ding ist.
Geld ist bisher nur deswegen so wichtig in der Politik, weil die Menschen vor Ort oft faul sind*). Viele von diesen „unbezwingbaren“ Politikmaschinen sind nur Hüllen – ohne große Unterstützung. Sie sind altersschwach.

Viele der demokratischen Verbände – besonders auf bundesstaatlicher Ebene – fliegen blind und wurden vereinnahmt als kleine, legale Geldwäschezellen. Dafür werden sie genutzt, zumindest in meiner Umgebung.
Der Bezirksverband der Demokratischen Partei in Queens wurde für so mächtig gehalten, aber das lag nur an den Lobbyisten, die über sie Geld in lokale Wahlkämpfe gewaschen haben.
Aber sie hatten keine Basis. Wenn du eine Basis mobilisieren kannst, dann kannst du was verändern.

Ich denke, dass ist die wirkliche Lektion aus dem Wahlkampf in 2016. Danach waren viele zynisch. Aber wichtig war vor allem, dass Bernie – der am Anfang nach meiner Einschätzung ja eigentlich gar nicht gewinnen wollte – das System überrascht hat und zeigen konnte, dass der Kaiser keine Kleider trägt, und damit fast die schon gekrönte Fahnenträgerin geschlagen hat.
Es zeigt, dass sie eben doch nicht so mächtig sind, wie wir glauben.

Ja, und viel Macht basiert auf genau dieser Illusion. 90 Prozent meines Wahlkampfs wurde in Wohnzimmern geplant.
Ich habe in einem Restaurant gearbeitet. Diese Kampagne habe ich aus einem Einkaufsbeutel geholt. Und das ist nicht einfach so eine nette Anekdote, sondern die Wahrheit.
Nach der Arbeit habe ich meine Wechselklamotten aus der Trader Joe’s-Tüte geholt und dann hatte ich da noch mein kleines Klemmbrett.
Es gab vielleicht eine Person, die interessiert war. Und die hat dann ihre Freundinnen und Nachbarinnen zu sich ins Wohnzimmer eingeladen und ich habe den Zug dahin genommen und mit den Menschen geredet, zehn zu einer Zeit, über acht Monate.

Das war mein Wahlkampf. Diese kleinen Gruppen von fünf, zehn Leuten – daraus wurde dann schließlich der harte Kern der Unterstützerinnen in unserer Kampagne.
Bei diesen Treffen habe ich dann immer die Geschichte vom „Zauberer von Oz“ erzählt. Wir hatten unser kleines, bunt gemischtes Team und sind die gelb gepflasterte Straße entlang gelaufen bis zur Smaragdstadt und haben da die Tür eingetreten und diesen riesigen, furchteinflößenden Giganten gesehen, der in Wahrheit nur ein kleiner Mann hinterm Vorhang ist.
Und wenn das erst einmal bekannt wird, dann verstehen alle, dass es nur dieser eine kleine Mann ist.

Mit einem großen Mikrofon.

Mit einem großen Mikrofon. Und er bestimmt das Schicksal von Tausenden, Hunderttausenden Menschen.
Und dann merkt man, dass man das vielleicht doch ändern kann, sogar mit einer kleinen, bunt gemischten Gruppe. Und es gibt so viele Orte, wo das so ist.

Die Demokratische Partei hat für eine sehr lange Zeit keinerlei Ressourcen in die Organisation vor Ort gesteckt. Und deswegen konnten wir da viele Schwachstellen ausnutzen.
Ich hoffe, dass mein Sieg zeigt, was die wahre Stärke jeder Partei sein sollte, die sich den arbeitenden Menschen verpflichtet fühlt.

Es gibt eine ganze Industrie von Wahlberaterinnen, die Kandidatinnen empfehlen, Geld auszugeben.
Viele Beraterinnen bekommen 10 Prozent für jeden Werbespot, die sie für eine Kandidatin im Fernsehen schalten. Die empfehlen dann nicht Sachen, die funktionieren, sondern Sachen, für die sie eine Kommission bekommen. So sehen die Marktzwänge in großen Teilen dieser Industrie einfach aus.

Wir wissen, wie man gewinnt: durch Türklopfen, Anrufen und direkten Kontakt mit den Wählerinnen. Aber damit verdient niemand Geld. Und das wussten wir.
Mir war klar, dass Crowley Geld für die Broschüren ausgeben würde und für Fernsehspots. Aber ich hatte das Gefühl, dass er nicht viel Geld auf der Straße ausgeben würde, weil man da eben keine Kommission bekommt, und weil es viel Aufwand bedeutet.

Wir gewinnen auf der Straße. Alle, die eine erfolgreiche Basiskampagne fahren möchten, müssen zählen, an wie viele Türen sie geklopft haben und wieviele Menschen sie wählen würden – das sind die Einser und Zweier . Du triffst also eine Wählerin und schätzt sie jedes Mal auf einer Skala von eins bis fünf ein.
Wir haben 15.900 Einsen und Zweien gezählt und 15.900 Menschen haben am Ende für uns gestimmt. Das war kein Zufall.

Ich war überrascht, weil es für mich, als Organisatorin, offensichtlich ist, dass ich mitzählen muss, wie viele Menschen für mich stimmen würden. Und da habe ich mit jemandem geredet, der in vielen anderen Wahlkämpfen involviert war, und ich habe ihn gefragt, ob jede ihren Wahlkampf so führt, und er meinte: „Nein“, und ich habe gefragt: „Was machen sie denn stattdessen?“
Er hat gesagt, dass sie Werbung in Radio und Fernsehen schalten, und vielleicht fünf bis zehn Prozent ihrer Zielmenge an Wählerinnen erreichen. Wenn man also 15.000 Stimmen braucht, dann zählt man 1.500 Menschen.
Und ich meinte: „Wie weiß denn so jemand, ob sie gewinnt?“ Und er hat gesagt: „Sie weiß es nicht. Sie gibt viel Geld für die Werbung aus, ein bisschen für die Arbeit auf der Straße und dann betet man einfach.“ Und ich habe gefragt: „So fährt man eine 3-Millionen-Dollar-Kampagne?“ „Ja, so in etwa.“

Das ist der Grund, weshalb wir verlieren. Und das ist der Grund, dass ich es für so wichtig halte, da endlich drüber nachzudenken.

Mit Ausblick auf Deinen Einzug in den Kongress (ich bin mir da relativ sicher, aber will auch nichts beschwören) denke ich an Gruppen wie den Freedom Caucus, mit dem die Rechte ihre Agenda nach vorne bringt. Denkst Du, dass der Progressive Caucus, der schon lange weit weniger, aber immer noch etwas relevant ist, etwas Ähnliches für die Linke sein kann?

Es gibt da ein Potenzial. Das hängt alles davon ab, wie gut dieser Caucus zusammenhält. Der Freedom Caucus ist nicht deswegen so wichtig, weil er so groß ist, sondern weil er einheitlich handelt. Der Progressive Caucus ist sogar größer als der Freedom Caucus. Aber manchmal stimmt er einheitlich ab und manchmal nicht.

Ein Caucus bekommt nur dann Einfluss, wenn er en bloc abstimmt. Es würde schon reichen, wenn wir einen Unterkreis des Progressiven Caucuses bilden könnte, der tatsächlich en bloc agiert, um wirklich Einfluss aufzubauen.

Aber wir werden sehen. Ich bin zwar kompromisslos und stark was meine Vision und meine Überzeugungen angeht, aber als Mensch bin ich Konsensfinderin. Ich denke, ich kann Menschen überzeugen. Vor allem davon, dass es auch pragmatischen Sinn hat, etwas sehr Ambitioniertes zu wagen.
Das heißt jetzt nicht, dass ich einen ganzen Caucus alleine tragen kann, aber ich denke, dass es da gerade eine Änderungsbereitschaft gibt, und wir werden sehen, ob es die im Januar auch noch gibt. Ich denke, dass man sogar mit einem Caucus von zehn oder dreißig Leuten starke Forderungen aufstellen kann, wenn man en bloc agiert.

Dein Sieg gibt mir mehr Zuversicht denn je, dass die Linke auf mittlere Sicht, die politische Mehrheit dieses Landes wird.
Aber viele von unseren Institutionen sind radikal undemokratisch und es erscheint mir wahrscheinlich, dass eine konservative Minderheit über die nächsten Jahre Institutionen wie den obersten Gerichtshof (Supreme Court) oder den Senat nutzen wird, um den Willen der Bevölkerung zu blockieren.

Der Politologe David Faris hat vor Kurzem ein Buch herausgebracht, in dem er eine Reihe an Maßnahmen vorstellt, mit denen man über die Verfassung das US-amerikanische System demokratischer machen könnte. Dazu gehört, die Anzahl der Richterinnen am Supreme Court zu erhöhen, und Washington DC und Puerto Rico zu eigenen Bundesstaaten zu machen.
Ich glaube, dass die Bevölkerung Puerto Ricos über ihre Zukunft entscheiden sollte, aber diese zwei Sitze im Senat würde ich begrüßen.
Außerdem noch Gesetzgebung auf Bundesebene, die Bundesstaaten zwingt, das Wählen einfacher statt schwerer zu machen.

Denkst Du, dass es an der Zeit ist, über radikalere Maßnahmen auf der Verfassungsebene nachzudenken, mit denen das System demokratischer gemacht werden könnte?

Auf jeden Fall. Es ist schade, was heutzutage schon als radikal gilt. Das Wählen möglich machen für Amerikanerinnen, die verfassungsrechtlich bereits das Wahlrecht haben – das soll radikal sein? So weit sind wir schon? Aber leider ja. Ich unterstütze das voll und ganz. Wenn wir heutzutage eine Frist haben, sich als Wählerin zu registrieren, dann ist die künstlich. Mit heutiger Technologie gibt es keinen Grund dafür.

Ich als Puerto Ricanerin besinne mich auf die Älteren in meiner Gemeinschaft und versuche, ein authentisches Gespräch für den Status Puerto Ricos zu haben.
Die Tatsache, dass es Millionen von Menschen gibt, die US-amerikanische Bürgerinnen, aber bis heute entrechtet sind und in der Präsidialwahl nicht wählen dürfen, ist eine der größten Ungerechtigkeiten unserer Demokratie.

Und da geht es nicht nur um Puerto Rico. Es geht um die US Virgin Islands, Guam, jedes Territorium der Vereinigten Staaten – also Kolonien. Puerto Rico ist eine Kolonie der Vereinigten Staaten.
Die Tatsache, dass man in den Vereinigten Staaten als amerikanische Bürgerin geboren sein kann und trotzdem auf Bundesebene kein Mitspracherecht hat – das ist der Grund dafür, dass in Puerto Rico 4.000 Menschen gestorben sind.

Ich lege mich nicht fest, ob Puerto Rico Bundesstaat sein sollte oder nicht, aber wenn Puerto Ricanerinnen Stimmen in der Präsiddentschaftswahl gehabt hätten, wenn sie zwei Senatorinnen gehabt hätten, wenn sie ein Mitspracherecht hätten, dann kann ich garantieren, dass keine 4.000 Menschen gestorben wären. Das ist widerlich und zynisch, aber wahr.
Aber die politische Situation von Puerto Ricanerinnen und Menschen, die von den Vereinigten Staaten kolonisiert wurden, macht sie zu Bürgerinnen zweiter Klasse. Es ist nicht radikal, alle Bürgerinnen der Vereinigten Staaten zu Personen mit vollen Rechten zu machen.

Hast Du noch ein paar Gedanken zum Ende dieses Gesprächs, die du loswerden willst?

Es gibt noch eine Reihe von Vorwahlen vor September und Raum für Überraschungen. Innerhalb des Bundesstaats denke ich an Wahlen in New York City.
Ich bin sehr gespannt auf Julia Salazar, sie ist unglaublich und großartig.
Auf Bundesebene bin ich gespannt auf Kaniela Ing in Hawaii und Menschen wie Brent Welder in Kansas. Brent kann mit seiner progressiven Vision gewinnen, und zwar nicht nur in den Vorwahlen, sondern auch in einem Wahlkreis, der normalerweise von den Republikanern gewonnen wird. Und das ist aufregend. Und auch Cori Bush in Ferguson.

Ich will vor allem, dass diesen Kandidatinnen eine Chance gegeben wird, denn auch meine Kandidatur wurde als chancenlos abgetan. Und das war schwierig für mich.
Vor meinem Sieg hatte ich bereits die erste Vorwahl für Demokratinnen seit 14 Jahren in meinem Wahlkreis ausgelöst. Das liegt daran, dass man in New York tausende Unterschriften sammeln muss auf eine Art, die für arbeitende Menschen unmöglich ist.

Ich hatte also die erste Vorwahl seit 14 Jahren ausgelöst und mir wurde immer noch keine Chance zugesprochen. Wir hatten schon vor der Wahl Geschichte geschrieben und wurden immer noch als chancenlos angesehen.

Ich möchte, dass Leute Cori Bush als wirkliche Herausforderin sehen, denn sie ist eine. Ich möchte, dass Leute Julia Salazar als wirkliche Herausforderin sehen, denn das ist sie.
Das sind echte Kandidatinnen, Organisatorinnen an der Basis, und selbst wenn niemand anderes ihnen eine Plattform geben will, dann mache ich das gerne.
Ich denke, darum geht es. Rausgehen und Menschen organisieren: Darum geht es in unserer Demokratie.

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch bei unserem Kooperationspartner Jacobin-Magazine. Übersetzung von Simon Huesken

*: Ich glaube nicht, dass diese Menschen faul sind. Sie sind lethargisch, weil ihnen bisher im Leben das Gefühl der Selbstwirksamkeit vorenthalten worden ist, und das ganz gezielt. durch die Produktion  von Untertanen mittels „Erziehung“ -. Siehe Alice Miller und E.A.Rauter. Man kennt das auch als „erlernte Hilflosigkeit“. Eine Kultur der Angst und Bestrafunghttps://josopon.wordpress.com/2018/05/24/der-westen-auf-die-couch-unsere-gesellschaft-leidet-an-sadistischer-personlichkeitsstorung/

Jochen

Natürlich ist Vollbeschäftigung möglich – Interview mit Stephan Schulmeister

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1056325.natuerlich-ist-vollbeschaeftigung-moeglich.html

Stephan Schulmeister über sinnloses Leid durch Sparpolitik, Wachstum in China und alternative Politik in der EU

Stephan Schulmeister (Jahrgang 1947) ist Wirtschaftsforscher und unterrichtet an der Universität Wien und der Wirtschaftsuni Wien. Er war zeitweise an Unis in den USA und beim Internationalen Währungsfonds tätig. Er sagt: Viele G20-Regierungschefs haben keine Idee, wie sie Wirtschaftswachstum fördern könnten.
Und er erklärt, wieso die EU an der Sparpolitik festhält. Mit ihm sprach Eva Roth.

Herr Schulmeister, zur G20 gehören so unterschiedliche Länder wie USA und Mexiko, Deutschland und China. Die Regierungschefs dieser Länder verfolgen nach eigenem Bekunden ein gemeinsames Ziel: Sie streben ein ausgewogenes Wachstum an, um den Menschen bessere Lebensbedingungen zu bieten.
Ist das mehr als eine hohle Phrase?

Natürlich wollen die Eliten auf der Welt mehr Wachstum und weniger Armut. Aber das sind Wünsche ans Christkind.
Es gibt keinen Konsens, wie nachhaltiges Wachstum erreicht werden soll. Viele Regierungschefs haben nicht einmal eine Idee, wie sie Wachstum fördern könnten.

Was verbindet dann diese Gruppe der politisch Mächtigen?
Die Staats- und Regierungschefs der G20 haben sich zum ersten Mal 2008 getroffen, damals herrschte Panik, wegen der globalen Finanzkrise. Das gemeinsame Interesse der G20 war es, alles zu tun, um eine Ausweitung der Krise zu verhindern.
Die Eliten fürchteten zu Recht: Wenn es zu einer Totalentwertung des Finanzkapitals kommt, wenn die Aktienkurse weiter abstürzen, dann ist die Krise nicht mehr aufzuhalten.

Ein Verfall der Aktienkurse ist verhindert worden. Wie?
Die USA haben – viel konsequenter als die EU – Banken und Versicherungen verstaatlicht und den Spielraum für Finanzspekulationen eingeschränkt. Gleichzeitig haben die USA und Deutschland die staatlichen Ausgaben erhöht, um die Nachfrage zu stützen. All diese Beschlüsse widersprachen der herrschenden marktliberalen Politik, die die Regierungen über Jahrzehnte verfolgt hatten.
Als die Aktienkurse im Frühjahr 2009 wieder stiegen, kehrte insbesondere die politische Elite in Europa wieder zu den alten Rezepten zurück. Dadurch wurde die Krise in Europa vertieft. Wir sind heute in einer Situation, die durchaus mit den 1930er Jahren vergleichbar ist.

Aber die Lage in Europa ist heute doch nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren, als die Nazis an die Macht gewählt wurden!
Das nicht, trotzdem ist die Analogie erlaubt. Wir haben es heute mit einem Giftcocktail zu tun, der die gleichen Zutaten enthält wie damals, nur die Dosis ist geringer.
2008 gab es wie 1929 zunächst eine Finanzkrise. In beiden Fällen folgten eine Sparpolitik, Sozialkürzungen und eine hohe Arbeitslosigkeit. Menschen wurden deklassiert und Rechtspopulisten gewannen an Zulauf.
Was bisher gefehlt hat, war der Protektionismus, der in den 1930er Jahren enorm zugenommen hat. Das könnte jetzt hinzukommen, nach dem Brexit und der Wahl von Trump als US-Präsident.
Aber, und das ist wichtig: Die Giftdosis ist geringer. Man kann die Wut auf Muslime und Flüchtlinge in der Intensität nicht vergleichen mit dem Antisemitismus der Nazis.
Aber die zugrunde liegenden Gefühle sind die gleichen: Rechtspopulisten lenken die Verbitterung von Deklassierten auf Sündenböcke.

Die EU tritt derzeit als Verfechter offener Märkte auf und warnt vor Nationalismus. Und Sie sagen nun: Die EU selbst hat mit ihrer marktliberalen Politik Nationalisten stark gemacht?
Die neoliberale Politik dominiert seit ungefähr 30 Jahren in ganz Europa. Sie wurde und wird auch von der EU verfolgt.
Die Sparpolitik in der Krise war eine Fortsetzung dieser Politik. Sie hat eine wachsende Zahl von deklassierten Menschen hervorgebracht, die für Nationalisten ansprechbar sind. Insofern hat auch die EU den Nationalismus gefördert, auch wenn sie das natürlich nicht wollte.

Unter der EU-Sparpolitik leidet vor allem Südeuropa. Dort sind rechte Kräfte nicht so stark. Wieso haben ausgerechnet die Briten für den EU-Austritt gestimmt?
Die Ungleichheit ist dort doch schon in den 80er Jahren stark gestiegen, in jüngster Zeit hat sich nicht viel verändert.

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In Großbritannien ist die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts am weitesten fortgeschritten, gerade weil Thatcher schon in den 80er Jahren damit begonnen hat. Die Verbitterung der Verlierer kann auf die Mühlen von nationalistischen Populisten gelenkt werden, was zum Brexit geführt hat.
Diese Menschen können aber auch für sozialstaatliche Ideen gewonnen werden, wie der Erfolg des Labour-Chefs Corbyn zeigt. Corbyn ist wie der Sozialist Sanders in den USA eine Persönlichkeit, die ungeachtet der 40-jährigen marktreligiösen Vernebelung so etwas wie Prinzipien hat.

Befürworter der EU-Sparpolitik sagen: Die Wirtschaft in Europa wächst wieder stärker. Das zeigt, dass unsere Rezepte wirken.
Dass die Wirtschaft in Fahrt kommt, stimmt. Wobei der Aufschwung mit Abstand der schwächste seit 1945 ist. Die Erklärung ist aber falsch.
Den Aufschwung gibt es, seit die Europäische Zentralbank die Zinsen auf Null gesetzt hat und seit Länder wie Spanien, Frankreich und Portugal die EU-Defizitregeln einfach ignorieren und mehr Geld ausgeben, als der Fiskalpakt erlaubt.
Die EU-Kommission hat die höhere Verschuldung von Spanien toleriert, weil sie gespürt hat, was politisch auf dem Spiel steht, nachdem die beiden großen Parteien massiv an Zustimmung verloren haben.
Vielleicht wollte die Kommission auch einen Sieg der linken Podemos verhindern. Griechenland wird dagegen weiter ein harter Sparkurs verordnet, dort ist kein Aufschwung in Sicht.

Und warum steht dann der Zuchtmeister Europas relativ gut da?
Deutschland hat in den vergangenen Jahren dem Rest Europas einen Sparkurs verordnet und selbst klammheimlich keynesianischen Wein getrunken.
In der Krise 2008/2009 hat der Bundestag Konjunkturprogramme beschlossen und Kurzarbeit massiv gefördert. Das war ziemlich erfolgreich. Deutschland hatte 2009 den stärksten Wirtschaftseinbruch in ganz Europa, trotzdem ist die Arbeitslosigkeit fast nicht gestiegen, insbesondere dank der Kurzarbeit.
Später hat der Bundestag das Kindergeld erhöht, Investitionen in die Energiewende massiv gefördert, den Mindestlohn eingeführt und die Rente mit 63 beschlossen.
Diese expansiven Maßnahmen haben die Wirtschaft stabilisiert.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Arbeiter – In einem abgekoppelten Waggon – Interview mit Klaus Dörre

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute im Neuen Deutschland:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1055031.in-einem-abgekoppelten-waggon.html

Klaus_DoerreDer Soziologe Klaus Dörre über rechtspopulistische Erfolge unter Arbeitern – und wie man diesen begegnen kann

Auszüge:
Nicht nur der britische Punkmusiker John Lydon brachte die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und den Brexit in Verbindung mit der »Arbeiterklasse«.
Viele Beobachter stellen eine solche Verbindung her – in Deutschland am Beispiel der AfD. Lassen sich all diese Erscheinungen tatsächlich in einen Topf werfen?

Alle diese Parteien haben Anhänger in allen gesellschaftlichen Schichten. Dennoch haben sie eine einschlägige Gemeinsamkeit: Sie vollziehen seit geraumer Zeit eine Entwicklung von einem radikalisierten Neoliberalismus hin zu einer sozial-nationalen Ausrichtung. Wie im Zeitraffer zeigt dies die Entwicklung der AfD. Während die Apparate und Kader dieser Parteien überwiegend kleinbürgerlich sind, haben sie doch viele Anhänger unter Arbeitern.
Arbeiter haben den Brexit überproportional unterstützt, Trump wäre ohne rund zehn Millionen Stimmen aus dem Gewerkschaftslager nicht gewählt worden.
Bei ihrem spektakulären Erfolg bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und den nachfolgenden Landtagswahlen in 2016 war die AfD die von Arbeitern meistgewählte Partei – und in Österreich stimmten 86 Prozent der Arbeiter bei der Präsidentschaftswahl für den Kandidaten der FPÖ.
Auch wenn die Arbeiter in Europa mehrheitlich nicht für solche Kräfte stimmen, ist das sehr bedenklich.

Dass auch organisierte Arbeiter nicht gegen Rechtsradikalismus gefeit sind, sondern solche Einstellungen in bestimmten Segmenten der Gewerkschaftsmitgliedschaft überrepräsentiert sind, haben für Deutschland Studien schon im vergangenen Jahrzehnt gezeigt.
Neu ist, dass diese Stimmungen, die in Deutschland zuvor als Unterströmungen in demokratischen Organisationen und Gewerkschaften präsent waren, nun mit der AfD auf ein politisches Angebot außerhalb des etablierten Spektrums treffen und dadurch virulent werden.
Dabei spielen die Krise von 2008/2009 und ihre Folgen eine wichtige Rolle. Die Krise war ein Signal dafür, dass die Zeiten hohen Wachstums in den westlichen Industriegesellschaften vorbei sind und sich Verteilungskämpfe verschärfen. Klassenspezifische Ungleichheiten treffen jedoch in vielen Ländern auf geschwächte Gewerkschaften. Außerdem setzte sich die Entproletarisierung der sozialdemokratischen und Mitte-Links-Parteien fort.
So entstand ein politisches Vakuum, das nun von den Rechtspopulisten gefüllt werden kann.

Nun vertritt die AfD teils »Arbeiterinhalte«, etwa eine Begrenzung von Leiharbeit oder einen längeren Bezug von Arbeitslosengeld I. Dennoch muss jeder sehen, wie neoliberal zugleich etwa die Steuerkonzepte sind. Warum stimmen die Arbeiter unter den AfD-Wählern gegen ihr objektives Interesse?
In der Tat ist demokratische Umverteilung von oben nach unten für diese Parteien Teufelszeug. Sie vertreten eine individualistische Ideologie, die soziale Pflichten des Einzelnen betont, zugleich aber bürokratische Bevormundung und kollektiv verordnete »Zwangssolidarität« im Wohlfahrtsstaat ablehnt. Verpflichtungen des Einzelnen gibt es hauptsächlich gegenüber einem ethnisch homogen gedachten Volk.
Auf diese Weise lassen sich beispielsweise Fluchtmigranten als Gruppe klassifizieren, die unberechtigte Ansprüche auf Anteile am Volksvermögen stellt und kulturelle »Umvolkung« betreibt.
Arbeiter, die zum Rechtspopulismus neigen, sehen für sich geringe Chancen im Verteilungskampf mit einem »Oben« und werden so anfällig für eine Umdeutung dieser Konflikte nach den Kategorien »Innen« und »Außen«.
Kern dieser Stimmung ist ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden: Jahrzehnte haben sie gehört, dass es unumgänglich sei, an ihnen zu sparen – und dann stoßen sie etwa in der Bundesrepublik plötzlich auf die ja zunächst emphatisch aufgenommene Fluchtbewegung. Und plötzlich geht vieles, was vorher nicht ging. Es gibt Geld für Integrationskurse, Lehrer, Infrastruktur. Und das für Leute, so die Wahrnehmung, die nichts in die Sozialkassen eingezahlt haben.
Die Reaktion ist: Wir verteidigen unser Stück am Wohlstandskuchen, indem wir die Schleusen dichtmachen und die Fremden, die Migranten abwehren. Bei solchen Haltungen kommt man mit dem Beschwören »objektiver Klasseninteressen« nicht weit. Die Kälber wählen ihren Metzger selber, um sich wieder als Subjekte zu erleben: Plötzlich haben »die da oben« Angst vor ihnen, wenn sie für die Rechtspopulisten stimmen.

Es geht also mehr um Sentiment als Interessen. Seit »New Labour« herrscht eine Politik der »Flexibilisierung« von Arbeit, also der Verunsicherung – und nun ist soziale Sicherheit ein rechtes Thema?
Das ist etwas zu einfach. Natürlich geht es auch um Interessen, aber Interessen sind stets widersprüchlich und politisch interpretierbar. Unsicherheit und Angst spielen eine Rolle, man findet derartige Orientierungen aber auch bei Arbeitern mit relativ gutem Einkommen in vergleichsweise sicheren Verhältnissen.
Man muss genau hinschauen: Bei unseren Studien sind uns Familien begegnet, in denen der Mann, fest angestellt, 1600 brutto nach Hause bringt und die Frau im festen Job ebenso viel hinzuverdient. Man hat zwei Kinder und braucht Autos, um zur Arbeit zu kommen. Am Ende bleiben dann 1000 Euro für Essen, Kleidung usw. So wird jede größere Anschaffung zum Problem. Urlaub und Restaurant am Wochenende sind nicht drin.
Diese Leute sagen nicht, dass sie Angst hätten. Sie fühlen sich auch nicht arm. Sie verorten sich eher in der Mitte. Aber sie stehen unter einem Druck, der sich nicht auflösen will, sie haben das Gefühl, in ihrer Lage festzustecken und dass sich diese allenfalls zum Schlechten ändern kann.
Und dann sind sie mit medialen Inszenierungen konfrontiert, nach denen es dem Land »gut geht« und die Dinge immer besser werden.

Das führt zu Ausschlussgefühlen.
Man sieht sich als Insasse in einem Waggon, der vom Wohlfahrtszug abgekoppelt ist. Das fügt sich auch deswegen so gut in Deutungsmuster von »Innen« gegen »Außen«, weil es gegenüber dem »Oben« kein positives Selbstbewusstsein mehr gibt, keinen kollektiven Produzentenstolz, wie man ihn noch aus den 1960er oder 1970er Jahren kennt. So wird aus dem politischen Klassen- ein von Ressentiments getriebener Statuskampf. Das halte ich für einen sehr wichtigen Faktor.
Der französische Soziologe Didier Eribon hat das in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« beschrieben. Wenn Begriffe von Oben und Unten, wenn die Zusammenhänge von Armut und Reichtum dethematisiert sind, wirken Klassenverhältnisse über kollektive Abwertung. Man wertet sich selbst auf, indem man andere – Fluchtmigranten oder Hartz-IV-Bezieher – abwertet.

Gibt es dabei in Deutschland regionale Unterschiede?
Im Osten haben sich wegen langjähriger rechtsradikaler Präsenz entsprechende Deutungsmuster tief eingeschliffen. Hier hat auch die Christdemokratie etwa in Sachen Migration oft eine sehr grobe, ausgrenzende Rhetorik an den Tag gelegt. Außerdem hat es in den ostdeutschen Arbeitermilieus nie eine enge Bindung an die Linke oder die Sozialdemokratie gegeben.
Politisch sind gerade auch jüngere Arbeiterinnen und Arbeiter oft heimatlos. Sich gewerkschaftlich zu organisieren und zugleich Busse für Pegida zu organisieren, ist für nicht wenige subjektiv kein Widerspruch.

Mit »Aufklärung« ist solchen habitualisierten Neigungen kaum beizukommen – wie sonst? Hilft, wie man mit der Politologin Chantal Mouffe sagen könnte, gegen den rechten nur ein linker Populismus?
Nein! Ich halte nichts von binären Denkschemata, die mit einer schlichten Anti-Establishment-Sprache arbeiten. Die sind auch dann problematisch, wenn sie von links kommen. Sofern man darunter Leidenschaft im Streit versteht und nicht die holzschnittartige Gegenüberstellung eines homogenen »Volkes« und »korrupter Eliten«, sage ich aber auch: Ohne einen »Schuss Populismus« gibt es keine erfolgreiche Politik. Mit Antonio Gramsci und Stuart Hall sollten wir aber zwischen »populistisch« und »popular« unterscheiden.

Was meinen Sie damit?
Es gilt, eine populare Klassenpolitik von unten zu erfinden, deren Horizont Gleichheit ist und nicht nur schwammige Gerechtigkeit. Eine solche Politik muss es freilich vermeiden, die Konfliktlinie »Klasse« etwa gegen »Umwelt« oder »Gender« auszuspielen. An einer solchen rückwärtsgewandten Politik ist schon die einst mächtige Kommunistische Partei Frankreichs eingegangen.
Inspirierend können Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Großbritannien sein. Beide zeigen, dass eine solche Politik nicht von gestern ist, sondern junge Leute begeistert.
Weniger bekannt ist die Schweizer Sozialdemokratie, die sich jüngst eine wirtschaftsdemokratische Agenda gegeben hat, die über die Programmatik der deutschen Linkspartei hinausgeht. Vor einer Politik, die demokratisch polarisiert, haben die Rechtspopulisten Angst, weil sie zwischen ihren bürgerlich-nationalen und ihren sozial-nationalen Flügel Keile treiben könnte.

Dass man von einer solchen weit entfernt ist, hat auch mit der Abwesenheit der Kategorie Klasse in den Unis zu tun. Trotz der offensichtlich zunehmenden sozialen Spaltung dominieren in der Soziologie Konzeptionen, die vom Ende der »Großgruppen« in einer individualisierten Welt ausgehen.
In der Tat fehlt es der Soziologie an einer kohärenten und der heutigen Zeit angemessenen Neukonzeption des Klassenbegriffes, der die erwähnten Gegenwartsdiagnosen aus den 1980er Jahren ablösen könnte.
Eine zeitgemäße Klassenkonzeption muss anerkennen, dass nicht Klassen oder Milieus, sondern Individuen handeln. Sie muss die Ebene von Subjektivität und Handeln der Einzelnen mit der Ebene gesellschaftlicher Struktur verbinden, ohne das eine einfach aus dem anderen abzuleiten. Wünschenswert wäre ein großer Sonderforschungsbereich, der interdisziplinär an einer zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Klassenkonzeption arbeitete.
Ich selbst bin dafür zu alt. Aber ich bin sicher, dass sich andere finden werden, das vorzubereiten und durchzusetzen.

Über eine »Arbeiterbewegung von rechts« diskutieren bis Samstag, 24. Juni, Wissenschaftler verschiedener Disziplinen auf Einladung der DFG-Forschergruppe »Postwachstumsgesellschaften« an der Uni Jena.

Klaus Dörre, 1957 in Nordhessen geboren, ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Interview mit Velten Schäfer erklärt er, warum ein rationaler Appell an »objektive Interessen« in der Auseinandersetzung mit AfD-wählenden Arbeitern verpufft, wie eine »populare« gegenüber einer »populistischen« linken Politik aussehen sollte – und fordert eine Rückkehr der Kategorie »Klasse« in die Theoriebildung und Forschungspraxis der Sozialwissenschaft.

 

Jochen

Weiterleitung von Marianne Grimmenstein: Aufruf für eine Volksgesetzgebung

Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer der NachDenkSeiten,

mein Name ist Marianne Grimmenstein und ich bin die Initiatorin der ersten Verfassungsbeschwerde fast mit 70.000 Unterstützern gegen das Freihandelsabkommen CETA zwischen Kanada und EU.

Mit einem wichtigen Anliegen möchte ich mich heute an Sie wenden und um Ihre persönliche Unterstützung bitten.
Der US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders rief kürzlich auf zum Handeln: „Die Menschheit befindet sich an einem Scheideweg. Wir können den aktuellen Weg der Gier, des Konsums, der Oligarchie, der Armut, des Krieges, des Rassismus und der Umweltzerstörung fortsetzen.
Oder wir können die Welt in eine ganz andere Richtung führen.
Wir werden nicht in der Lage sein, diese Ziele zu erreichen, wenn wir die Demokratie als Zuschauer betrachten, in der Annahme, die anderen
werden es für uns tun.

Es ist unsere Pflicht, nicht zuzulassen, dass die sozialen und ökologischen Grundlagen unserer Gesellschaft für die kurzfristigen Profitinteressen EINER
KLEINEN MINDERHEIT SYSTEMATISCH VERNICHTET WERDEN.
Freihandelsabkommen CETA, TiSA, JEFTA (Japan/EU), 350.000 BürgerInnen ohne Strom, Gentechnik, Erlauben von Glyphosat, galoppierendes Artensterben, wachsende Waffenexporte, fehlendes zukunftsfähiges Energiekonzept, Privatisierungen (z. B. Autobahnen, Schulgebäude…), marode Infrastrukturen (Bildungssystem, Straßen, Brücken, Schulen…), krankes Finanzsystem usw. zeigen, dass wir Bürgerinnen und Bürger alle wichtigen Entscheidungen besser selbst treffen.
Wir können nicht mehr länger warten, dass unsere Politikerinnen und Politiker sich aufs GEMEINWOHL besinnen.
Wir müssen handeln! Worauf warten wir?

Um die notwendigen Entscheidungen selbst treffen zu können, brauchen wir VOLKSGESETZGEBUNG (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid)
auf Bundesebene, wo die wichtigsten Entscheidungen fallen.
Zur Einführung des Volksentscheids aus Bundesebene braucht man keine Grundgesetzänderung mit Zwei-Drittel-Mehrheit, sondern nur ein regelndes Ausführungsgesetz – so wie beim Wahlrecht auch.
Heribert Prantl (Jurist und Journalist) hat in diesem Sinne über die Rechtslage zur Volksabstimmungen ausführlich informiert in seinem Kommentar vom 26. Juni 2012 in der Süddeutschen Zeitung:

http://www.sueddeutsche.de/politik/verfassungsmaessigkeit-von-plebisziten-die-zeit-ist-reif-fuer-volksentscheide-1.1392376

Dieses Gesetz haben uns die Politiker bis jetzt verweigert, deshalb regeln wir diese Angelegenheit eigenverantwortlich.
WIR, die Wählerinnen und Wähler, sind nach Artikel 20 Grundgesetz der Souverän, d.h. das oberste Staatsorgan (=Arbeitgeber). „ALLE STAATSGEWALTGEHT VOM VOLKE AUS“ (s. Grundgesetz Artikel 20) und nicht vom Bundestag oder Bundesregierung (=Arbeitnehmer).
Die Ausübung der Staatsgewaltdurch das Volk geschieht nach Artikel 20 Grundgesetz in Wahlen UND Abstimmungen. Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein in beiden UN-Menschenrechtspakten festgeschriebenes NATURRECHT eines jeden Volkes (=Völkerrecht): „(1)
Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie FREI über ihren politischen Status und gestalten in FREIHEIT ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“

Das Völkerrecht ist ein Bestandteil des Grundgesetzes. Weitere Argumente für die direkte Demokratie finden Sie unter:

http://www.der-souverän.de/gegenargumente/index.html

NEHMEN SIE IHR NATURRECHT WAHR! NEHMEN SIE teil an der VOLKSABSTIMMUNG zu Volksentscheiden auf Bundesebene!
Wir haben bereits einen Vergleich von vier Gesetzentwürfen – SPD, MEHR DEMOKRATIE e.V., DIE LINKE, INITIATIVE VOLKSENTSCHEID -gemacht und Sie verstehen ihn sicherlich. Bitte stimmen Sie für den Gesetzentwurf, der Ihnen am besten gefällt.

Den Text der vier Gesetzentwürfe und auch die jetzt beigefügten Unterlagen finden Sie unter:

http://www.der-souverän.de/abstimmungsgesetz/index.html

Helfen Sie mit, dass viele an der Abstimmung teilnehmen. Wir sammeln die Abstimmungsformulare 12 Monate.
Die Abstimmungsunterlagen mit dem Abstimmungsergebnis, dem Gesetzentwurf, der eine einfache Mehrheit erhalten hat, übergeben wir zur Annahme der Bundestagspräsidentin/dem Bundestagspräsidenten. Wir fordern von ihr/ihm die Veröffentlichung des vom Volk angenommenen Gesetzentwurfes im Bundesgesetzblatt.

Die entstandenen Zustände sind nicht Folgen von Naturgesetzen. Wir können unsere Probleme gemeinsam lösen. 82 Millionen Deutschen – genügend Kapazität zur Krisenbewältigung. Eine andere Politik, die dem Gemeinwohl wirklich dient, können wir nur durch eine breite Solidarität erreichen.
WAHLEN ändern NICHTS –

nur unsere MITBESTIMMUNG. PACKEN WIR’S AN!

Für Ihre Aufmerksamkeit bedanke ich mich herzlich.

Mit herzlichen Grüßen
Marianne Grimmenstein
Corneliusstr.11
58511 Lüdenscheid
Tel. 02351-27573
Email: mgrimmenstein

Das Abstimmungsformular kann hier mittels Rechtsklick heruntergeladen werden:

http://www.der-souverän.de/downloads/abstimmung-fuer-volksentscheid.pdf

Anmerkung: Unser Verein „Offene Linke Ries“ hat sich inzwischen gegründet und bietet einmal monatlich dienstags abends in Nördlingen ein Diskussionsforum u.a. zu diesem Thema. Näheres auf Anfrage.
Jochen

Noam Chomsky: Sozialismus in Zeiten der Reaktion

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Im Original hier:
https://diefreiheitsliebe.de/politik/sozialismus-in-zeiten-der-reaktion-im-gespraech-mit-noam-chomsky/
Auszüge:

chomsky american dreamObwohl er auf die 90 zugeht, wächst Noam Chomskys Werk immer noch. Und er gibt, zum Glück für die internationale Linke, noch immer Interviews. Wenige Tage vor seinem 88. Geburtstag gab Chomsky ein Interview in seinem Büro in Cambridge, Massachusetts. Das Gespräch führte Vaios Triantafyllou, ein Student an der Universität von Pennsylvania.
Chomsky sprach über alles von Sozialismus, die menschliche Natur und Adam Smith, bis zu Donald Trump. (Das Transkript wurde aus Gründen der Lesbarkeit verdichtet und redigiert.)

Mit Trump im Amt sieht Chomsky eine Zukunft in Bigotterie und Kleinkrämerei. Aber wir haben noch immer die Wahl: „Ob sie gelingen“, sagt Chomsky über die „teile und herrsche“-Taktiken, „hängt von der Art des Widerstands ab, die Menschen wie du dem entgegensetzen.“

Jacobin Mag: Wie sollten Sozialisten über die Beziehung von Reformen zur Humanisierung des bestehenden Produktionssystems (wie es Bernie Sanders vorschlägt) und dem langfristigen Ziel einer gänzlichen Abschaffung des Kapitalismus denken?

Noam Chomsky: Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass der Begriff „Sozialismus“, wie alle Begriffe des politischen Diskurses, mehr oder weniger seine Bedeutung eingebüßt hat. „Sozialismus“ hat mal etwas bedeutet. Wenn wir weit genug zurückblicken, war damit die Kontrolle über die Produktion durch die Produzenten gemeint, die Abschaffung der Lohnarbeit, die Demokratisierung aller Lebenssphären: Produktion, Handel, Bildung, Medien, Arbeiterkontrolle über die Betriebe, gesellschaftliche Kontrolle der Gesellschaft usw. Das hieß „Sozialismus“ früher.

Aber diese Bedeutung hat er keine hundert Jahre beibehalten. Tatsächlich waren die sogenannten sozialistischen Länder die anti-sozialistischten Länder der Welt.
Arbeiter hatten mehr Rechte in den Vereinigten Staaten und in England als in Russland, und dennoch wurde es Sozialismus genannt.

Was Bernie Sanders betrifft, ist er ein anständiger und ehrbarer Mensch, den ich unterstütze. Doch was er als „Sozialismus“ bezeichnet, ist Liberalismus im Stile des New Deal. Wahrscheinlich wären seine aktuellen Forderungen keine große Überraschung für General Eisenhower.
Dass sie als politische Revolution bezeichnet werden, zeigt, wie sehr das politische Spektrum nach rechts gerückt ist – vor allem in den letzten 30 Jahren, seit die neoliberalen Programme institutionalisiert wurden. Was Sanders fordert, ist eine Restauration des New Deal-Liberalismus, was eine sehr gute Sache ist.

Zurück zu deiner Frage, sollten wir uns fragen: Sollten Leute, die sich um andere Menschen, um deren Leben und ihre Bedürfnisse kümmern, versuchen, das bestehende Produktionssystem zu humanisieren, so wie du es sagst? Die Antwort ist: Auf jeden Fall – es ist besser für die Menschen.

Sollten sie sich gleichzeitig weiter für das langfristige Ziel einsetzen, die kapitalistische Organisationsweise der Produktion abzuschaffen? Selbstverständlich. Sie hatte ihre Erfolge. Aber sie basiert auf sehr brutalen Annahmen, unmenschlichen Annahmen.
Die Grundannahme ist, dass eine Klasse von Menschen, kraft ihres Besitzes und ihres Reichtums einer anderen, gewaltigen Klasse befehlen kann.
Und dass diese andere diesen Befehlen zu folgen hat, weil ihnen der Zugang zu Wohlstand und Macht fehlt. Das ist inakzeptabel.

Also, ja, der Kapitalismus sollte abgeschafft werden. Aber es handelt sich hier nicht um Alternativen. Es sind Vorgänge, die zusammengehen.

Jacobin Mag: Eines der Hauptargumente, das gegen Sozialismus vorgebracht wird, ist, die menschliche Natur selbst wäre von Egoismus und Konkurrenzdenken geprägt. Wie würdest du antworten?

Noam Chomsky: Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bisher nur eine kurze Periode der menschlichen Gesellschaft darstellt. Es gab nie einen reinen Kapitalismus, sondern immer nur die eine oder andere Variante. Der Grund dafür: Reiner Kapitalismus würde sich sofort selbst vernichten.
Also haben die geschäftstüchtigen Klassen immer massive staatliche Interventionen gefordert, um die Gesellschaft vor den zerstörerischen Effekten der Marktkräfte zu schützen. Es sind oft Geschäftsleute, die hier die Führung übernehmen, weil sie nicht wollen, dass alles zerstört wird.

Es gab also die eine oder andere Form von Staatskapitalismus während einer extrem kurzen Spanne der Menschheitsgeschichte, aber das sagt uns sehr wenig über die menschliche Natur. Bei der Betrachtung menschlicher Gesellschaften und Beziehungen kann man alles finden: Egoismus, Altruismus, Mitgefühl.

Nehmen wir Adam Smith, den Schutzheiligen des Kapitalismus. Was dachte er darüber? Er hielt Mitgefühl für den menschlichen Hauptinstinkt. Man muss sich ansehen, wie er den Begriff der „unsichtbaren Hand“ verwendete. Auf welche Art er diesen Begriff verwendete. Es ist nicht schwer, das heraus zu finden, weil er es maßgeblich zwei mal getan hat: jeweils in seinen beiden Hauptwerken.

Einmal erscheint der Begriff in Wohlstand der Nationen und läuft auf eine Kritik neoliberaler Globalisierung hinaus. Was er sagt, ist, dass wenn England, wenn die Fabrikanten und Kaufleute im Ausland investierten und von dort importierten, Gewinne machen könnten. Doch das wäre schädlich für England. Aber ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrem Heimatland reiche aus, so dass es unwahrscheinlich sei, dass sie das täten – geschützt durch eine „unsichtbare Hand“ bliebe England von dem verschont, was wir neoliberale Globalisierung nennen. Das ist das eine Mal.

Das andere Mal benutzt er den Begriff in Theorie der ethischen Gefühle (das nicht oft gelesen wird, doch Smith selbst hielt es für sein Hauptwerk). Er ist ein Egalitarier.
Er glaubte an Gleichheit als Resultat, nicht Gegensätzlichkeit. Adam Smith ist eine Figur der Aufklärung, eine vor-kapitalistische.

Er sagt, wenn, vermutlich in England, ein Landeigner das meiste des Landes besäße und andere Menschen hätten nichts mehr, wo sie leben könnten, so wäre das nicht schlimm – der reiche Landeigner, kraft seines Mitgefühls für andere, würde die Ressourcen unter ihnen verteilen. Mit einer „unsichtbaren Hand“ landeten wir in einer ziemlich egalitären Gesellschaft. Das ist sein Konzept der menschlichen Natur.

Das ist nicht die Art, in welcher „die unsichtbare Hand“ von Leuten gebraucht wird, mit denen man Kurse besucht oder deren Bücher man liest. Das zeigt einen Unterschied in der Doktrin – aber nicht in der menschlichen Natur. Was wir über die menschliche Natur wissen, ist, dass sie all diese Facetten hat.

Jacobin Mag: Denkst du, es ist notwendig, konkrete Vorschläge für eine zukünftige sozialistische Ordnung zu entwerfen, eine solide Alternative, die bei den meisten Menschen Anklang findet?

Noam Chomsky: Ich glaube, viele Menschen haben Interesse an authentischen sozialistischen Langzeitzielen (die nicht das sind, was für gewöhnlich „Sozialismus“ genannt wird). Sie sollten sorgfältig darüber nachdenken, wie so ein Projekt funktionieren sollte – ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn vieles kann nur im Experiment erlernt werden. Und wir wissen auf keinen Fall genug darüber, wie Gesellschaften im Detail geplant werden könnten.
Der große Rahmen aber könnte ausgearbeitet werden und viele der spezifischen Probleme können diskutiert werden.

Und das sollte Teil des allgemeinen Bewusstseins sein. So könnte der Übergang zum Sozialismus stattfinden. Wenn er ein Teil der Erkenntnis, des Bewusstseins und des Strebens einer großen Mehrheit der Bevölkerung wird.

Sehen wir uns als Beispiel eine der großen Leistungen in diese Richtung an, vielleicht die größte: Die anarchistische Revolution in Spanien 1936.
Sie wurde jahrzehntelang vorbereitet: in der der Bildung, im Aktivismus und in den Bemühungen, erlitt manchmal Rückschläge, doch als der Faschismus angriff, hatten die Menschen eine Vorstellung davon, welche Gesellschaftsorganisation sie wollten.

Wir haben auch andere Beispiele. Sagen wir, der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Auswirkung des Zweiten Weltkriegs waren für den größten Teil Europas verheerend.

Doch es brauchte nicht lange, die staatskapitalistischen Demokratien wieder aufzubauen, denn sie waren in den Köpfen der Leute vorhanden.

In anderen Teilen der Welt, die verwüstet wurden, war das nicht möglich. Die Leute hatten kein Konzept im Kopf. Menschliches Bewusstsein macht eine Menge aus.

Jacobin Mag: Syriza kam mit dem Versprechen von Sozialismus an die Macht. Doch schlussendlich kooperieren sie mit der EU und sind auch nicht zurückgetreten, nachdem sie gezwungen wurden, die Austeritätspolitik zu übernehmen. Wie können wir einen ähnlichen Ausgang in Zukunft vermeiden?

Noam Chomsky: Ich denke, die wahre Tragödie Griechenlands – abseits der Brutalität der europäischen Bürokratie, der Brüsseler Bürokratie, und die der nordischen Banken, die wahrlich bestial waren – dass die Griechenland-Krise gar nicht hätte ausbrechen müssen. Man hätte sie verhältnismäßig leicht ganz zu Anfang bewältigen können.

Aber es ist soweit gekommen, und Syriza mit dem erklärten Versprechen ins Amt eingezogen, die Krise zu bekämpfen. Tatsächlich haben sie ein Referendum abgehalten, das Europa entsetzt hat: Der Gedanke, dass es Menschen erlaubt sein sollte, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden, ist schlicht ein Anathema für die europäischen Eliten – wie kann Demokratie nur wirklich gestattet werden (selbst in dem Land, in dem sie erfunden wurde)?

Als Ergebnis dieses kriminellen Akts, Menschen zu fragen, was sie wollen, wurde Griechenland noch mehr bestraft. Die Forderungen der Troika wurden wegen dem Referendum viel harscher. Sie befürchteten einen Dominoeffekt – wenn wir Rücksicht auf die Nöte der Menschen nehmen, könnten andere auf denselben Gedanken kommen und sich die Plage der Demokratie verbreiten. Also müssen wir sie an der Wurzel ausrotten.

Danach hat Syriza kapituliert und seitdem Dinge getan, die ich für inakzeptabel halte.

Du fragst, wie die Menschen darauf antworten sollen? Sie sollten etwas besseres schaffen. Das ist nicht einfach, besonders, wenn sie isoliert sind. Griechenland allein ist in einer sehr verletzlichen Lage. Wenn die Griechen die Unterstützung progressiver linker und populärer Kräfte woanders in Europa gehabt hätten, hätten sie den Forderungen der Troika vielleicht Widerstand leisten können.

Jacobin Mag: Was denkst du über das System, das Castro nach der Revolution in Kuba geschaffen hat?

Noam Chomsky: Ja, was Castros tatsächliche Ziele waren, das wissen wir nicht. Vom ersten Moment an wurde er massiv eingeschränkt durch die raue und grausame Attacke der herrschenden Supermacht.

Wir müssen uns erinnern, dass buchstäblich innerhalb von Monaten, nachdem Castro ins Amt kam, Flugzeuge von Florida aus anfingen, Kuba zu bombardieren.
Innerhalb eines Jahres beschloss die Eisenhower-Administration im Geheimen, aber mit Nachdruck, die Regierung [auf Kuba] zu stürzen.
Danach kam die Invasion in der Schweinebucht. Die Kennedy-Administration war rasend über das Scheitern der Invasion und begann augenblicklich einen großen Terrorkrieg, einen Wirtschaftskrieg, der über die Jahre immer schärfer wurde.

Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass Kuba überlebt hat. Es ist eine kleine Insel direkt vor der Küste einer großen Supermacht, die sie zu zerstören versucht, und war offensichtlich zum Überleben ihre ganze vorherige Geschichte von den USA abhängig. Aber irgendwie haben sie überlebt. Es ist war, dass es eine Diktatur war: viel Grausamkeit, viele politische Gefangene, viele wurden getötet.

Man muss sich vorstellen, dass der US-Angriff auf Kuba ideologisch als absolut notwendig dargestellt wurde, um uns vor den Russen zu verteidigen. Aber sobald die Russen verschwunden waren, wurde der Angriff noch schärfer. Es gab dazu kaum Erklärungen, aber es bestätigt dir, dass die vorherigen Behauptungen Lügen waren, die sie mit Sicherheit waren.

Wenn man sich interne US-Dokumente ansieht, dann wird klar, welche Bedrohung von Kuba ausging. Damals in den 60ern betrachtete das Außenministerium die von Kuba ausgehende Gefahr als Castros erfolgreiche Missachtung der US-Politik, welche auf die Monroe-Doktrin zurück ging.
Die Monroe-Doktrin begründete den Anspruch – sie hatten es damals noch nicht durchsetzen können, aber es war der Anspruch – die westliche Hemisphäre zu beherrschen. Und Castro hatte das erfolgreich infrage gestellt.

Das kann nicht toleriert werden. Es ist, wie wenn jemand sagt, „lasst uns in Griechenland Demokratie einführen“, und wir können das einfach nicht tolerieren, also müssen wir die Bedrohung mit ihren Wurzel ausreißen. Niemand darf erfolgreich den Meister der Hemisphere, eigentlich der Welt, herausfordern – darum diese Rage.

Aber die Reaktionen blieben gemischt. Es gab Errungenschaften, wie das Gesundheitssystem, die Alphabetisierung und so weiter. Der Internationalismus war unglaublich.
Es gibt einen Grund, warum Nelson Mandela nach Kuba reiste, um Castro zu loben und dem kubanischen Volk zu danken, kaum war er aus dem Gefängnis entlassen.
Das ist eine Dritte-Welt-Reaktion, und das verstehen sie.

Kuba spielte eine enorme Rolle bei der Befreiung Afrikas und der Überwindung der Apartheid. Es hat Ärzte und Lehrer in die ärmsten Gegenden der Welt geschickt: nach Haiti, nach Pakistan nach dem Erdbeben, beinahe überall hin. Der Internationalismus ist einfach erstaunlich. Ich denke, so etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

Die Errungenschaften im Gesundheitssystem waren erstaunlich. Die Gesundheitsstatistiken in Kuba waren ähnlich denen in den Vereinigten Staaten – bei diesem Unterschied an Reichtum und Macht.

Auf der anderen Seite gab es eine scharfe Diktatur. Also gab es beides.

Ein Übergang zum Sozialismus? Darüber können wir nicht einmal sprechen. Die Bedingungen machten es unmöglich, und wir wissen nicht einmal, ob das gewollt war.

Jacobin Mag: In den vergangen Jahren sind in den USA zahlreiche Bewegungen entstanden, die die derzeitige soziale und wirtschaftliche Organisationsform kritisieren. Wie dem auch sei: Die meisten haben sich gegen einen gemeinsamen Feind vereint, anstatt sich um eine gemeinsame Vision zu sammeln. Wie sollten wir über die Lage sozialer Bewegungen und deren Fähigkeit, sich zu einen, denken?

Noam Chomsky: Nehmen wir die Occupy-Bewegung. Occupy war keine Bewegung, es war eine Taktik. Man kann nicht für immer in einem Park nahe der Wall Street sitzen. Nicht länger als ein paar Monate.

Es war eine Taktik, die ich nicht voraus gesehen hatte. Wenn mich jemand gefragt hätte, ich hätte davon abgeraten.

Aber es war ein großer Erfolg, ein enormer Erfolg, mit einer großen Auswirkung auf das Denken und Handeln der Menschen. Das ganze Konzept, wie Reichtum konzentriert wird (1 Prozent und 99 Prozent) – das Wissen war sicherlich da, irgendwo im Hintergrund, aber so wurde es nach vorn gekehrt.
Es wurde sogar in den Massenmedien herausgestellt (z.B. im Wall Street Journal) – und es führte zu vielen Formen von Aktivismus, es stärkte Menschen und so weiter. Aber es war keine Bewegung.

Die Linke, in einem übergreifenden Sinne, ist sehr atomisiert. Wir leben in hoch atomisierten Gesellschaften. Die Leute sind ziemlich oft allein: Nur du und dein iPad.

Die großen Organisationszentren, wie etwa die Arbeiterbewegung, wurden ernstlich geschwächt, in den Vereinigten Staaten sehr ernstlich, von der Politik.
Das passierte nicht wie ein Hurrikan. Die Politik wurde so gestaltet, um die Organisationen der Arbeiterklasse zu untergraben.
Der Grund dafür ist nicht nur, dass Gewerkschaften für die Rechte von Arbeitern kämpfen, sondern auch, dass sie einen demokratisierenden Effekt haben.
Es sind Institutionen, in denen Menschen ohne Macht zusammenkommen können, sich gegenseitig unterstützen, etwas über die Welt lernen, ihre Ideen ausprobieren, Programme initiieren können – das ist gefährlich. Das ist wie ein Referendum in Griechenland. Es ist zu gefährlich, um es zu erlauben.

Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass es während des Zweiten Weltkrieges und der Großen Depression einen Aufschwung breiter, radikaler Demokratie gab, überall auf der Welt. Er nahm verschiedene Formen an, aber er war da, überall.

In Griechenland war es die Griechische Revolution. Und sie musste niedergeschlagen werden. In Ländern wie Griechenland wurde sie mit Gewalt nieder gerungen.
In Ländern wie Italien, wo amerikanische und britische Truppen 1943 einmarschierten, wurde er nieder gerungen durch Angriffe auf und die Zerschlagung anti-deutscher Partisanen und die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung.
In Ländern wie den Vereinigten Staaten wurde dieser Aufschwung nicht mit Gewalt niedergeschlagen – der Kapitalismus hat diese Macht hier nicht – aber es wurden, beginnend in den späten 1940ern, große Anstrengungen unternommen, um die Arbeiterbewegung zu unterminieren und zu zerstören. Und es ging weiter.

Das wurde wieder fortgeführt unter Reagan, es wurde fortgeführt unter Clinton, und heute ist die Arbeiterbewegung extrem schwach (in anderen Ländern hat es andere Formen angenommen). Aber das war eine dieser Institutionen, in welcher Menschen zusammen kamen, um gemeinsam zu handeln und mit gegenseitiger Unterstützung, und auch andere solche Institutionen wurden stark dezimiert.

Jacobin Mag: Was können wir von Donald Trump erwarten? Bereitet sein Aufstieg den Boden für eine Neudefinierung und Vereinigung einer sozialistischen Bewegung um eine gemeinsame Vision in den Vereinigten Staaten?

Noam Chomsky: Die Antwort darauf liegt grundsätzlich bei dir und deinen Freunden. Es hängt wirklich davon ab wie Menschen, besonders junge Menschen, reagieren.
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die ergriffen werden könnten. Aber das ist auf keinen Fall zwangsläufig.

Nehmen wir an, was wahrscheinlich geschehen wird. Trump ist extrem unvorhersehbar. Er weiß selbst nicht, was er plant. Aber was passieren könnte, ein Beispiel für ein mögliches Szenario: Viele Menschen, die für Trump gestimmt haben, Menschen aus der Arbeiterklasse, haben 2008 für Obama gestimmt. Sie wurden verführt von Slogans wie „Hope“ und „Change“. Sie haben weder Hoffnung noch Veränderung bekommen, sie wurden desillusioniert.

Dieses Mal haben sie für einen anderen Kandidaten gestimmt, der Hoffnung, Veränderung und eine ganze Reihe toller Sachen versprochen hat. Aber er wird sie nicht liefern. Also, was wird in ein paar Jahren geschehen, wenn er nicht geliefert hat und dieselbe Wählerschaft wieder desillusioniert ist?

Wahrscheinlich macht das herrschende System das, was es unter solchen Umständen für gewöhnlich macht. Unter den noch Verwundbaren einen Sündenbock suchen, um sagen zu können: „Ja, ihr habt nicht bekommen, was wir versprochen haben – und der Grund sind diese wertlosen Menschen, die Mexikaner, die Schwarzen, die syrischen Immigranten, die Sozialschmarotzer. Das sind diejenigen, die alles zerstören. Wir müssen sie verfolgen! Die Schwulen, das sind die Schuldigen!“

Das könnte passieren. Das ist in der Geschichte wieder und wieder passiert mit allen hässlichen Konsequenzen.

Ob sie Erfolg haben werden, liegt an der Art des Widerstands, den Menschen wie du dem entgegensetzen. Die Antwort auf die Frage liegt bei dir, nicht mir.

Veröffentlicht im Jacobin Mag und übersetzt von David Dannys.

 

Jochen

Für einen linken Populismus

Jens_WernickeEin Gastbeitrag von Joachim Keiser auf der facebook-Seite von Jens Wernicke

https://www.facebook.com/JournalistJensWernicke/posts/883900435048458:0

Angesichts der jüngsten Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien in Gestalt der AfD und der FPÖ und angesichts der inzwischen nur als fatal zu bezeichnenden politischen Verhältnisse, ist eine strate­gische Diskussion, wie die politische Linke dieser Entwicklung etwas entgegensetzen kann, dringend geboten. Die katastrophale politische und gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte beruht auf der politischen Hegemonie des Neoliberalismus. Alle im Bundestag und in den Landesparlamenten vertretenen Parteien, inklusive der AfD, mit Ausnahme von Teilen der Partei „DIE LINKE“, vertreten diese neoliberale Ideologie und somit die Interessen der herr­schenden Eliten . Jeder Versuch des Widerstandes gegen die neoliberale Ideologie wird sofort durch die deutschen „Qualitätsmedien“ und den politischen Apparat der öffentlichen Diffamierung überantwortet. Eine Kostprobe davon ist die aktuelle Kampagne gegen Sahra Wagenknecht, die durch die opportunistische Karrierefraktion ihrer eigenen Partei, unter kräftiger Mithilfe der „Qualitätsmedien“, initiiert wurde. Besonders elend ist dabei die Tatsache, dass sich die parteiinternen „Kritiker“ bereitwillig zu Stichwortgebern der „Qualitätsmedien“ machen, obwohl diese die Linke bisher entweder totgeschwiegen oder diffamiert haben.

Wer, wie Sahra Wagenknecht, Fragen nach den Gründen oder Folgen der, von der Regierung Merkel betriebenen Einwanderungspolitik stellt, womöglich gar vermutet, dass dahinter ein klares innenpolitisches Kalkül steckt, dass Flüchtlinge und Migranten gegen Erwerbslose, Hartz-IV Bezieher und prekär Beschäftigte ausgespielt und so von den Folgen der neoliberalen Politik ablenken soll, wird umgehend in die „rechte Ecke“ gestellt. Hier ersetzt moralische Verurteilung eine angemessene politische Analyse. Dass sich das sonst so kritisch gebende linke und linksliberale Milieu diese Sichtweise aktuell zu eigen gemacht hat, kann nur als politisches Versagen desselben bezeichnet werden, das von zunehmender politischer Orientierungslosigkeit und der Unterwerfung unter die politische Hegemonie des Neoliberalismus zeugt.

Die Frage, die diesbezüglich zu stellen ist, ist vor allem jene, welches politische Konzept es ermöglicht, die politische Hegemonie des Neoliberalismus zu brechen und die Menschen für den Widerstand gegen diese menschenverachtende Ideologie und ihre Auswüchse zu mobilisieren. Ein mögliches politisches Konzept soll im Folgenden zur Diskussion gestellt werden und einen Denkanstoß liefern.

Verfolgt man die politische Entwicklung der letzten Monate, lässt sich etwas Bemerkenswertes feststellen: Während sich in Europa und selbst in den USA linker Widerstand gegen den Neoliberalismus formiert, artikuliert sich sozialer Protest in Deutschland vor allem über die rechtsnationalistische AfD, wie deren Wahlerfolge in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen. Die LINKE musste dagegen eine fatale Wahlniederlage hinnehmen und sich in Sachsen-Anhalt sogar hinter der AfD geschlagen geben. Dabei ist sicher zu berücksichtigen, dass die politische Linke in Deutschland und explizit die Partei DIE LINKE mit schwierigen Gegebenheiten konfrontiert ist. So steht ihr die gesamte „Qualitätspresse“ inklusive der Hetzblätter des Springer-Konzerns komplett ablehnend gegenüber. Eine objektive Berichterstattung ist hier nicht zu erwarten. Der durch Nazi-Diktatur und Kalten Krieg, tief im deutschen Unterbewusstsein verwurzelte Anti-Kommunismus spielt hier eine weitere nicht zu unterschätzende Rolle.

Doch zeigt die gestiegene Wahlbeteiligung gerade in Sachsen-Anhalt, die offenbar primär der AfD zugutekam, dass eine politische Mobilisierung der Menschen gegen die bestehenden Verhältnisse durchaus möglich erscheint. Dennoch gelingt es der politischen Linken in Deutschland nicht, die wachsende Wut der Menschen über die Folgen der neoliberalen Politik aufzugreifen und auf den richtigen Gegner zu lenken. Nun richtet sich diese Wut mit der wachsenden sozialen Polarisierung und dem Anwachsen materieller Not vor allem gegen jene, die aus dem Blickwinkel der Menschen in der gesellschaftlichen Hierarchie noch weiter unter ihnen stehen. Gerade deswegen ist die Frage zu stellen, was getan werden muss, um den Unmut gegen die neoliberale Agenda auf eine breite Basis zu stellen und in die richtige Richtung zu lenken? Nicht gegen Flüchtlinge, Migranten, Erwerbslose und Hartz IV-Bezieher, sondern gegen das oberste eine Prozent! Die Aufmerksamkeit sollte sich dabei auf eine politische Strategie richten, die etwa die Podemos in Spanien und die Syriza in Griechenland zum politischen Erfolg geführt hat.

Bei den spanischen Parlamentswahlen Ende Dezember des vergangenen Jahres erzielte mit der Podemos eine linke Basisbewegung einen überwältigenden Wahlerfolg. Die Podemos wurde aus dem Stand zur drittstärksten Partei im spanischen Parlament und liegt nun bei den aktuellen Umfragen sogar auf Platz Zwei. Schon in den vorausgegangenen Regional- und Kommunalwahlen konnten linke Bündnisse und Basisgruppen in Spanien große Erfolge erzielen und unter anderem mit der Aktivistin Ada Colau die Bürgermeisterin der zweitgrößten spanischen Stadt, Barcelona stellen. Ada Colau war dabei die Kandidatin, der aus dem Kampf gegen Zwangsenteignungen entstandenen basisdemokratischen Bewegung Barcelona en Comú. Der Podemos und ihrem politischen Umfeld ist dabei eine Repolitisierung vor allem der jüngeren Generation gelungen.

Mit dem Erringen der parlamentarischen Mehrheit durch linke Parteien erlebte mit Portugal im vergangenem Jahr ein weiteres europäisches Land die Abkehr vom neoliberalen Austeritätsdiktat. Bereits im Januar 2015 konnte mit der Syriza in Griechenland eine weitere linke Bewegungen die Regierung stellen, die während des Wahlkampfes explizit gegen neoliberale Austeritätspolitik Position bezog (wobei deren letztendliche Kapitulation vor dem Diktat der Troika an anderer Stelle diskutiert werden muss). Mit der Wahl Jeremy Corbyns zum neuen Labour-Vorsitzenden konnte im September 2015 ein weiterer dezidierter Gegner des Neoliberalismus politisch reüssieren. Gerade der Erfolg des linken Labour-Abgeordneten Corbyn bei der Wahl zum Labour-Vorsitzenden basiert insbesondere darauf, dass es ihm gelang, viele, auch gerade junge Menschen jenseits der Parteiorganisation zu mobilisieren. Und selbst in den USA zeigt der bis vor kurzem nicht für möglich gehaltene Erfolg des linken Bernie Sanders in den Vorwahlen, dass die neoliberale Politik, der immer weiteren sozialen Polarisierung an ihre Grenzen stößt und die Menschen beginnen Widerstand zu leisten.

Die Podemos, die Syriza und besonders linke politische Bewegungen in Südamerika, verdanken ihre Erfolge einem politischen Konzept, dass sich nicht darauf beschränkt, einen politischen Wechsel allein über Parteipolitik in den Parlamenten zu erreichen. Dies entspringt der Erkenntnis, dass immer mehr Menschen wahrnehmen, dass ihre Interessen, die Interessen der Mehrheit, von den Herrschenden einfach ignoriert werden. Der britische Soziologe Colin Crouch bezeichnet die parlamentarische Demokratie nur noch als eine Scheindemokratie und Showveranstaltung zur Beruhigung der Massen, die noch nach formalen demokratischen Regeln zu funktionieren scheint, eine soziale und politische Partizipation der Bevölkerung findet aber nur noch marginal oder gar nicht mehr statt. In seinem im Jahre 2005 erschienen Buch „Postdemokratie“, schreibt Crouch:

„Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.“

Besonders deutlich wird dies, wenn man die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa betrachtet, denn dann wird klar, dass diese längst zu Agenten des Neoliberalismus degeneriert sind: Die Parteiapparate erweisen sich als geschlossene Systeme mit verbrauchten Figuren, die angesichts wachsender sozialer Spaltungen den Kontakt mit der gesellschaftlichen Basis längst verloren haben. Gerade die SPD befindet sich in der Endphase ihres Niedergangs, wie die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt drastisch verdeutlichen. Das brutale von Merkel und Schäuble am Verhandlungstisch durchgesetzte Austeritätsdiktat gegen Griechenland wurde von der SPD bedingungslos unterstützt und von der europäischen Sozialdemokratie weitgehend akzeptiert. Und auch der letzte Parteitag der SPD im Dezember vergangenen Jahres hat mit der Zustimmung zum transatlantische Freihandelsabkommen TTIP wieder deutlich gezeigt: Wer sich auf die SPD verlässt, ist verlassen; ein Impuls für eine gesellschaftliche und politische Veränderung ist von dieser Partei nicht mehr zu erwarten.

Die Hoffnung auf die Brechung der neoliberalen Hegemonie allein über den Pfad des Parlamentarismus ist damit illusorisch. Mit dem Wahlerfolg der AfD sowieso, da sich mit dieser Partei das Paradox ergibt, dass sie ihren erdrutschartigen Sieg etwa in Sachsen-Anhalt zwar der Wut und Enttäuschung über die Zumutungen des Neoliberalismus verdankt, selbst aber eine dezidiert neoliberale bis libertäre Position vertritt. Für wirksamen Widerstand gegen den Neoliberalismus und seiner menschenverachtenden Ideologie bedarf es daher einer neuen linken Bewegung, die vor allem eine außerparlamentarische Bewegung sein muss, um die neoliberale Einheitsfront in den Parlamenten aufbrechen zu können. Das hierzu notwendige politische Konzept eines linke Populismus hätte vor allem den Unmut der Menschen aufzugreifen und gegen jene zu lenken, welche die ökonomische und politische Verantwortung für die permanente Verschlechterung der Lebensumstände der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger tragen. Jakob Augstein hat dies in einer seiner Kolumnen treffend formuliert: „Demonstriert lieber gegen die Banken!“

Die Erfolge der Podemos beruhen denn auch auf einer solch expliziten Kenntlichmachung des gesellschaftlichen Antagonismus zwischen dem Volk auf der einen sowie den ökonomischen und politischen Eliten auf der anderen Seite: Die Podemos betonte in ihren politischen Stellungnahmen stets, wie verrottet das ganze politische System Spaniens ist, und dass man es hinwegfegen müsse; ein System, in dem die großen Parteien – Sozialisten und Volkspartei, die politischen Pendants von SPD und CDU – gleichermaßen der Oligarchie dienen.

Der Frontmann der Podemos, der Politikwissenschaftler Pablo Iglesias lehnt sich in seiner politischen Analyse und Praxis dabei an das politische Konzept eines linken Populismus des argentinischen Philosophen Ernesto Laclau und dessen Frau Chantal Mouffe an. Letztere formuliert die Notwendigkeit eines linken Populismus so:

„In einem Kontext, in dem der herrschende Diskurs verkündet, es gebe keine Alternativen zur heutigen neoliberalen Form der Globalisierung, weshalb ihre Diktate akzeptieren sollten, überrascht es nicht, wenn eine wachsende Zahl von Menschen jenen Gehör schenkt, die eben doch Alternativen ankündigen und den Menschen vorgaukeln ihnen Entscheidungsmacht zurückzuerstatten.“

Damit spricht Mouffe einen entscheidenden Aspekt an: Nach mehr als dreißigjährigem Wüten des Neoliberalismus sind die westlichen Marktgesellschaften tiefer gespalten als jemals zuvor nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Politisch verantwortlich dafür ist das neoliberale Parteienkartell der sogenannten Mitte.

Das Aufgreifen des Konzeptes eines linken Populismus ist aktuell um so dringender, als es Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik gelungen ist, die politische Linke zu vereinnahmen und zu paralysieren. Die entscheidende Frage nach dem alles bestimmenden gesellschaftlichen Antagonismus, dem Unterschied zwischen Arm und Reich, zwischen den herrschenden Eliten und der großen Mehrheit der Bürger, wird von vielen Linken kaum mehr gestellt. Die politische Dichotomie bewegt sich heute stattdessen fast ausschließlich an der Scheidelinie, welche Position man zur Aufnahme der Flüchtlinge einnimmt. Die Bewertung ist dabei eine rein moralische: Entweder ist man für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen oder man ist dagegen. So wird jeder sofort in die rechte Ecke gestellt, der nach den Bedingungen für eine gelingende Integration und insbesondere nach den sozialen und ökonomischen Gründen sowie Auswirkungen der forcierten Massenmigration vor dem Hintergrund der neoliberalen Austeritätspolitik fragt.

Eine alte Wahrheit, die der Arbeiterbewegung stets dienlich war, droht hierüber nun vollends in Vergessenheit zu geraten. Es ist dies das alte Marx-Wort, das da lautet: „Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, nicht zwischen den Völkern“.

Abschließend sei der Dramaturg Bernd Stegemann zitiert, der in einem Gastbeitrag in der Zeit, die zustellenden Forderungen gerade eines linken Populismus in absoluter Klarheit formuliert:

„Wer eine Willkommenskultur fordert, ohne über die Eigentumsverhältnisse zu sprechen, verschweigt die Hälfte der Wahrheit. (…) Die richtige Antwort auf die Wähler der AfD ist keine Anbiederung, indem zum Beispiel die Asylgesetze verschärft werden, und es ist auch nicht ihre moralische Verdammung als Rassisten. Die einzig richtige Antwort wäre die Herstellung einer sozialen Gleichheit aller Lebensbedingungen.“

Damit wäre die politische Zielrichtung eines linken Populismus bestimmt. Die Wichtigkeit der Findung und Etablierung einer solch neuen und kämpferischen linken politischen Strategie jenseits eines vom Neoliberalismus dirigierten „Parlamentarismus“ ist dringender denn je. Gelingt dies nicht, wird der Neoliberalismus das Ende der Demokratie sein.


Zu den Themen linker Populismus, Flüchtlingspolitik und AfD:

Chantal Mouffe im Interview – „Konsens gefährdet die Demokratie“ http://www.wienerzeitung.at/…/758416_Konsens-gefaehrdet-die…

Chantal Mouffe – Über das Politische – Wider die kosmopolitische Illusion
http://www.suhrkamp.de/…/ueber_das_politische-chantal_mouff…

Die andere Hälfte der Wahrheit
http://www.zeit.de/…/fluechtlingspolitik-deutschland-angela…

Die große Aggressionsverschiebung – Über Pegida, diffuse Ängste und die Reaktion der Politik
http://www.hintergrund.de/…/die-grosse-aggressionsverschieb…

Prekariat auf Abwegen
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47975/1.html

Rechtsruck
http://www.nachdenkseiten.de/?p=33137

„Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Fluchtursachen schweigen“
http://www.nachdenkseiten.de/?p=30582

Können Marktradikale und Nationalchauvinisten eine „Alternative für Deutschland“ sein?
http://www.nachdenkseiten.de/?p=16524

„Alternative für Deutschland“: Das AfD-Programm ist ein Plan für Reiche
http://www.fr-online.de/…/-alternative-fuer-deutschland—d…

Faschismus in der AfD?
http://www.heise.de/tp/artikel/45/45182/1.html

Varoufakis: Wir brauchen eine »progressive Internationale«

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Varoufakis_mHier spricht mir wieder einer aus der Seele. Ich habe große Sympathien für das griechische Volk, genau so wie für die Spanier, Portugiesen und Italiener. Und die Franzosen natürlich mit ihrem fortgesetzten Kampf um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Eine neue Internationale ist das Einzige, was den Lohnabhängigen helfen kann gegen die neoliberale Dumpingkonkurrenz der Staaten.
Da fällt mit ein – hat es so was nicht schon mal gegeben ? Und ist mit Willy Brandt auch die Sozialistische Internationale gestorben?

Und wie kann man Mitglied dieser neuen Internationale werden ? Was ist mit denen, die keine Fremdsprachen sprechen ?

Also, Registrieren geht ganz einfach, nämlich hier und auch auf Deutsch:

https://www.diem25.org/forum/ucp.php?mode=register

Man soll sich die Teilnahmebedingungen bzw. den Nutzungsvertrag unbedingt durchlesen. Er ist sehr sorgfältig formuliert und verdient Respekt. Siehe unten!

Und: Wer kann in Deutschland, in Frankreich eine sozialistische Führungspersönlichkeit sein wie Sanders in den USA oder Corbyn in Großbritannien ? Solche Leute sind in der SPD seit Willy Brandt und Oskar Lafontaine nicht mehr zu finden.
Hier auszugsweise der Artikel aus dem Neuen Deutschland:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1020848.varoufakis-wir-brauchen-eine-progressive-internationale.html

DiEM25-Mitgründer: Rechte und Neoliberale sind »Komplizen« / Plädoyer für »grünes Bretton Woods«

Berlin. Vor dem Hintergrund des europaweiten Aufstiegs rechter Parteien und der Krise de s etablierten Politikbetriebs hat der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mehr Anstrengungen zur Schaffung »einer internationalen progressiven Bewegung« gefordert. »Die Politik in den Industrieländern des Westens steckt inmitten eines politischen Umbruchs, wie man ihn seit den 1930er Jahren nicht erlebt hat«, schreibt der Ökonom im »Project Syndicate«. Die auf beiden Seiten des Atlantiks um sich greifende Große Deflation sorge »für eine Wiederbelebung politischer Kräfte, von denen man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nichts mehr gehört hat«.

Die Rechte nutze dabei »den berechtigten Zorn und die enttäuschten Hoffnungen der Opfer aus, um ihre widerliche Agenda voranzutreiben«, warnt Varoufakis. Grund für die wachsende Zustimmung für Parteien wie den »Front National« in Frankreich oder die Rechtsaußen-AfD in Deutschland sei nicht zuletzt die Politik der neoliberalen Deregulierung, der Bruch mit der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods, die »den politischen Konsens der Nachkriegszeit prägte und auf einer ›gemischten‹ Ökonomie, Beschränkungen der Ungleichheit und starker Finanzregulierung beruhte«, so Varoufakis.

Das sich heute verbreitende Elend und die wachsende soziale Spaltung seien »natürliche Auswirkungen der Implosion zentristischer Politik aufgrund einer Krise des weltweiten Kapitalismus, im Rahmen derer ein Finanzcrash zu einer Großen Rezession und anschließend zur Großen Deflation von heute führte«.
Das Resultat der von Neoliberalen vorangetriebenen »extremen Finanzialisierung« der Ökonomie seien »enorme Ungleichheit und umfassende Schutzlosigkeit«.

Varoufakis zeichnet vor diesem Hintergrund ein Bild von zwei neuen Blöcken, die derzeit die politische Landschaft bestimmten: »Der eine Block besteht aus der alten Troika der Liberalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung.« Dieser Blocks befände sich teils »noch immer an der Macht, aber sein Marktwert fällt rasch, wie David Cameron, Europas Sozialdemokraten, die Europäische Kommission und sogar Griechenlands Post-Kapitulationsregierung von der SYRIZA bezeugen können«.

Den anderen Block nennt Varoufakis »eine nationalistische Internationale« aus rechten und »illiberalen« Regierungen – er reicht vom rechtspopulistischen Milliardär und Präsidentschaftskandidat Donald Trump in den USA über Großbritanniens rechte Brexit-Befürworter bis zu den Rechtsregierungen Polens und Ungarns sowie zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Sie eint die Verachtung der liberalen Demokratie und die Fähigkeit, jene zu mobilisieren, die diese Demokratie gerne vernichten würden«, so Varoufakis.

»Eigentlich keine Feinde, sondern Komplizen«

Was wie ein Konflikt zwischen diesen beiden Blöcken aussieht – die aktuellen Schlagzeilen zeugen europaweit davon – sei zwar auf der einen Seite eine reale Auseinandersetzung um Macht, andererseits »aber auch irreführend«. Die Widersacher »sind eigentlich keine Feinde, sondern Komplizen, verstrickt in eine Endlosschleife wechselseitiger Bestärkung, wobei sich jede Seite darüber definiert, wogegen sie ist – und ihre Anhänger auch auf dieser Grundlage mobilisiert«, so der frühere Finanzminister.

Varoufakis sieht aus der als politisch höchst gefährlich eingeschätzten Lage nur einen Ausweg: »progressiver Internationalismus auf Grundlage der Solidarität zwischen großen Mehrheiten auf der ganzen Welt, die bereit sind, demokratische Politik auf weltweiter Basis wieder aufleben zu lassen«.
Auf zu erwartende Skepsis, weil diese Forderung zu utopisch klingt, antwortet der Ökonom schon vorab: Es gebe bereits Ansätze dafür, es komme nun darauf an, diese zu stärken.

Zu den »Vorboten einer internationalen progressiven Bewegung« zählt er den Wahlkampf des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders in den USA, das Ringen des linken Labourchefs Jeremy Corbyn in Großbritannien und nicht zuletzt die von ihm selbst mitinitiierte linke Europabewegung DiEM25.
Die »Große Deflation« und ihre sozialen wie ökonomischen Folgen würden »eine große Frage« aufwerfen, so Varoufakis: »Gelingt es der Menschheit ohne Massenelend und Zerstörung wie sie dem ursprünglichen Bretton Woods vorangegangen waren, ein neues, technologisch fortgeschrittenes, «grünes» Bretton Woods zu konzipieren und umzusetzen?«

Entsprechende Vorschläge hatte der Ökonom bereits früher lanciert, unter anderem mit einem globalen Ausgleich von Handelsungleichgewichten, mit einem weltweiten Staatsfonds zur Förderung regenerativer Energien und nachhaltiger Technologien sowie starker Einhegung der Finanzmärkte. Es liege an den progressiven Internationalisten, diese Frage zu beantworten. Denn, so Varoufakis: »Keiner der derzeit im Westen um die Vorherrschaft ringenden politischen Blöcke möchte, dass diese Frage überhaupt gestellt wird.«

Kipping: Linke dürfen historische Chance nicht verpassen

Ähnlich hatte sich zuletzt auch die Vorsitzende der deutschen Linkspartei, Katja Kipping, geäußert. »Die europäische Idee ist in einer existenziellen Krise und uns droht die Wiederkehr der unseligen Zeiten nationalistischer und chauvinistischer Wallungen«, warnte sie in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter Rundschau«. Der Nationalismus mache »unser Leben nicht besser, er macht die Armen nur ärmer, er nimmt nichts den Reichen, sondern macht Flüchtlinge und Migranten zu Schuldigen der allgegenwärtigen Misere«, so Kipping.

Auch die Linkenpolitikerin setzt auf »eine demokratische Dissidenz jenseits der Hetze der Rechten und jenseits des marktradikalen Weiter-so der Etablierten«. Sie verwies auf »eine Kultur der Solidarität und Hilfe für Neuangekommene in diesem Land« sowie »wirkungsmächtige Proteste gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP«. Auch »das Engagement vieler in Stadtteilen, Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Bewegungen« gehöre dazu.
»Bisher haben eine postdemokratische EU-Kommission und ein anwachsender nationalistischer Furor die Zukunft des Kontinents weitgehend unter sich ausgemacht«, so Kipping. Nun müsse »eine solidarische Alternative auf europäischer Ebene« gestärkt werden. »Denn sozial geht in Zeiten globaler Finanzmärkte, von Klimawandel und Fluchtbewegungen nicht mehr national«, so die Bundestagsabgeordnete.

Die Krise biete »auch eine historische Chance, die linke, progressive und demokratische Milieus in Deutschland nicht verpassen dürfen«. Ein sozialer Aufbruch in Europa müsse etwa auf ein EU-weites Zukunfts- und Investitionsprogramm für die öffentliche Daseinsfürsorge und gegen Massenerwerbslosigkeit drängen sowie die Kontrolle der Banken, eine Finanztransaktionssteuer und eine tatsächliche Unternehmenssteuer zum Ziel haben.
Es sei »an der Zeit, die Demokratiefrage europäisch zu denken«, so Kipping. »Anstatt also nationale Egos zu bedienen, sollten sich alle progressiven Kräfte an das Erbe der Aufklärung erinnern und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit stellen – offensiv und radikalvk

Richtlinien für DiEM25-Freiwillige

https://diem25.org/richtlinien-fur-diem25-freiwillige/

Nach dem Berlin-Event hatte DiEM25 ziemlich schnell mehr als 17.000 Mitglieder, von denen sich mehr als 12.000 als freiwillige Helfer angeboten haben. Das ist großartig! Das verdeutlicht, wie groß das Bedürfnis nach Demokratie in Europa ist, und dass die Menschen bereit sind, selbst anzupacken, um dieses Ziel zu erreichen. Die Kerngruppe, die DiEM25s Infrastruktur geschaffen hat, zählt jedoch nicht mehr als eine Handvoll Menschen. Selbst wenn 100 weitere Koordinierende gefunden würden, könnten sie keine 12.000 Freiwilligen koordinieren.

Also wird DiEM25 zu radikalen Mitteln greifen: den eingereichten Bewerbungen nach sind die meisten Freiwilligen offenbar sehr kluge und fähige Menschen.Nutzt diese Fähigkeiten, um euch selbst zu organisieren und DiEM25 voranzubringen. Wir vertrauen euch. Wartet nicht’ auf Anweisungen, sondern tut euch mit ein paar weiteren Mitgliedern zusammen, nutzt eure Intelligenz, um eigenständig Strategien zu entwickeln, wie ihr DiEM25 zum Erfolg bringen könnt, und wartet nicht auf Genehmigung, legt einfach los!

Für DiEM25 sind Freiwillige viel mehr als nur Freiwillige, helft uns DiEM25 zusammen aufzubauen.

DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs) – DiEM25 Spontane Gemeinschaften

Unsere Idee ist nicht neu. Unter anderem greift sie auf das Konzept der “spontanen Ordnung” aus der schottischen Aufklärung zurück, auf gewisse Ideen oder Praktiken der Selbstverwaltung und Genossenschaften und auf Rick Falkvinges “Schwarm”. Bei DiEM25 geben wir diesen Erkenntnissen über die Fähigkeit der Teilnehmenden, sich selbst zu organisieren, nun neuen Schwung, indem wir Versammlungen in Stadthallen (aus welchen schließlich Koordinationskomitees entstehen) mit digitalen Teams aus DiEM25-Mitgliedern kombinieren, die wiederum ihren Teil dazu beitragen, die Ziele unseres Manifests voranzutreiben. Hoffentlich gefällt euch unser Neologismus: DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs) – DiEM25 Spontane Gemeinschaften

Einige Richtlinien für den Aufbau und die Inganghaltung von DSCs DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs)

Lokal – Für die meisten Aktivitäten bietet es sich an, mit Leuten in eurer Umgebung eine DSC zu gründen, damit ihr die Möglichkeit habt, euch ohne Sprach- und Kulturbarriere zu treffen. Daher ist der erste Schritt auf dem Weg zur Gründung einer DSC, das Forum eures jeweiligen EU-Mitgliedsstaats zu besuchen und ein paar Leute in eurer Umgebung zu finden. Ihr braucht nicht viele zu sein – die effizienteste Gruppengröße ist 7 oder weniger.

Horizontal – Niemand in eurer DSC (und niemand in ganz DiEM25!) kann euch etwas vorschreiben. Dennoch solltet ihr eine Person auswählen, die dafür verantwortlich ist, die Kommunikation zwischen DiEM25 und eurer DSC aufrechtzuerhalten. Wenn ihr etwas unternehmt, lernt oder einen Erfolg feiert, sollte die für die Koordination verantwortliche Person im entsprechenden EU-Mitgliedsstaat-Forum darüber berichten. Der oder die Koordinierende sollte auch Ideen und Erkenntnisse aus der größeren Organisation an eure DSC weiterleiten. Es ist sinnvoll, eine Stellvertreterin oder einen Stellvertreter für die Koordinatorin oder den Koordinator zu wählen, falls er oder sie sehr beschäftigt oder im Urlaub ist.

Verantwortungsvoll – Ihr werdet DiEM25 in der Öffentlichkeit repräsentieren, zumindest für diejenigen, die euch sehen. Aus diesem Grund vertrauen wir darauf, dass ihr keine anderen Angelegenheiten oder Werte vertretet als die im Manifest umrissenen sowie die aktuelle(n) Kampagne(n). Wenn ihr euch für andere Dinge einsetzen wollt, bitte tut dies als Individuen. Um sicherzustellen, dass alle Aktionen der einzelnen Zellen mit dem Manifest übereinstimmen, und um eine gewisse Kontrolle darüber zu behalten, wie DiEM25 in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, bittet fünf DiEM25-Mitglieder (können Zellenmitglieder sein, müssen aber nicht), alle Texte / Bilder / Videos / Aktionen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, abzusegnen. – wenn ihr die Zustimmung von fünf Mitgliedern habt, dann dürft ihr sie offiziell im Namen von DiEM25 posten.

Wer will mitmachen ?

Jochen

Klaus Dörre: Das wirkungsvollste Gegenmittel gegen die Neue Rechte und deren gewaltaffine Radikalisierung ist eine Politik demokratischer Umverteilung !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eigentlich müsste es RÜCKVERTEILUNG heißenl … Hier bringt es Klaus Dörre auf 5 aktuelle Thesen, die erfreulich fundamental und weitblickend sind.
https://www.jungewelt.de/2016/07-27/055.php
Auszüge:

Der neue ReKlaus_Doerrechtspopulismus deutet die soziale Frage in einen Verteilungskampf um. Thesen über Pegida, AfD und darüber, wie der wachsende Zuspruch für sie zustande kommt

Nachfolgend konzentriere ich (Klaus Dörre) mich auf den Zusammenhang von Rechtspopulismus und sozialer Frage. Meine Sicht der Dinge präsentiere ich in thesenförmiger Zuspitzung und beziehe mich dabei auf eigene empirische Untersuchungen.

These 1: Der neue Rechtspopulismus ist vor allem eine Bewegung gegen die Zumutungen und Zwänge des Marktes.

Formationen wie der Front National oder die FPÖ haben immer wieder spektakuläre Wahlergebnisse bei Arbeitern und in Milieus erzielt, in denen linke Parteien und Gewerkschaften lange hegemonial waren. Bei den österreichischen Bundespräsidentenwahlen stimmten im ersten Wahlgang 72 Prozent der Arbeiter für den rechtspopulistischen Kandidaten Norbert Hofer; bei den Angestellten bekam Hofer immerhin noch 37 Prozent und lag damit auch in dieser Gruppe an der Spitze.
In Deutschland gibt es eine ähnliche Tendenz. Die AfD war bei den Landtagswahlen 2016 in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei männlichen Arbeitern und Arbeitslosen besonders erfolgreich. In Sachsen-Anhalt stimmten 37 Prozent der Arbeiter und 38 Prozent der Arbeitslosen für die rechtspopulistische AfD; in diesen Gruppen lag sie vor CDU, SPD und Linken. In Baden-Württemberg votierten 30 Prozent der Arbeiter und 32 Prozent der Arbeitslosen für die rechtspopulistische Partei; in Rheinland-Pfalz waren es immerhin noch 26 Prozent der Arbeitslosen.

Die hohe Zustimmung von Arbeitern und Arbeitslosen erfolgt, obwohl das Programm der AfD trotz Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels noch immer marktradikale Elemente enthält. Wichtigstes Motiv für die Wahl der AfD ist, neben der Flüchtlingsthematik, die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Das dürfte bei den Protestmotiven von Pegida-Anhängern nicht anders sein. Pegida richtet sich gegen die Universalisierung von Marktvergesellschaftung und Konkurrenz und vor allem gegen deren Folgen. Ökonomische Marktmacht wirkt diffus und abstrakt, sie lässt sich selten eindeutig zuordnen, und die Kritik an ihr kann in unterschiedliche Richtungen politisiert werden.
Bewegungen gegen den Markt können, wie die frühen sozialistischen Arbeiterbewegungen, systemtranszendierende Ziele verfolgen; sie können aber auch bloßen Schutz vor marktvermittelter Konkurrenz einfordern und reaktiv-nationalistische oder, wie im Falle faschistischer Mobilisierungen, geradezu terroristische Züge annehmen.
Im Unterschied zu den Implikationen des Marxschen Klassenuniversalismus, der unterstellte, die Exploitation des Weltmarktes werde die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestalten, muss in Anlehnung an den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1886–1964) von einer Vielfalt marktkritischer Gegenbewegungen ausgegangen werden. Nivellierende Marktmacht kann unter Lohnabhängigen eine endemische Tendenz bestärken, klassenunspezifische Grenzen abzustecken, auf deren Basis sie beanspruchen können, vor dem Mahlstrom des Marktes und der Konkurrenz geschützt zu werden.

Genau das leistet Pegida. Sie betreibt eine Politik, die auf Statuserhalt und Schutz der eigenen Lebensweise mittels Flüchtlingsabwehr zielt. Unmut, Unzufriedenheit, Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, die unter Lohnabhängigen weit verbreitet sind, dienen dieser Bewegung als Problemrohstoff, der völkisch-ethnopluralistisch verarbeitet wird.
Dabei gelingt es einer winzigen, mit Personen aus lumpenproletarischen Kreisen durchsetzten Führungsgruppe, Arbeiter, Angestellte und kleine Selbständige mit überdurchschnittlicher Bildung und leicht überdurchschnittlichem Einkommen zu mobilisieren, die ihren sozialen Status mit dem Mittel des Ressentiments zu verteidigen suchen.

These 2: Rechte Orientierungen unter Lohnabhängigen sind kein neues Phänomen. Es gab sie in Ost und West schon lange vor Pegida und der AfD. Grundsätzlich muss zwischen »konformistischen«, »konservierenden« und »rebellischen« Orientierungen unterschieden werden.

Die »rebellische« Variante findet sich vor allem bei Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Ihnen dient das Feindbild der Anderen, Fremden, Ausländer etc. vor allem dazu, mittels Abgrenzung positiv besetzte eigene Zugehörigkeiten zu konstruieren.

Auf die »konservierende« Variante stoßen wir insbesondere bei formal gut integrierten Beschäftigten, die sich mit drohendem sozialen Abstieg konfrontiert sehen oder zumindest von Abstiegsängsten getrieben werden. Sie versuchen, ihre eigene soziale Position zu verteidigen, indem sie Ressentiments als Triebfeder »gesellschaftlicher und politischer Aktion« nutzen, wie der französische Soziologe Robert Castel (1933-2013) schreibt. Ressentiments gegen andere werden gezielt als Mittel in der Konkurrenz um Ressourcen und gesellschaftlichen Status eingesetzt. Im Grunde geht es diesen Beschäftigten darum, das Sicherheitsversprechen des Sozialkapitalismus zu bewahren, indem die Zahl der Anspruchsberechtigten nach ethnischen, nationalen oder kulturellen Kriterien begrenzt wird. Entsprechende Orientierungen umfassen Elemente einer Arbeitersolidarität, deren Funktionsfähigkeit in den Augen der Betroffenen jedoch durch ethnische oder nationale Heterogenität gefährdet wird.
In diesem »reaktiven Nationalismus« paart sich ein rudimentärer Klasseninstinkt mit einer Mischung aus Missgunst und Verachtung, »die auf Unterschieden zwischen sozialen Lagen fußt und bei der man die Verantwortung für das eigene Unglück bei jenen Gruppen sucht, die sich auf der sozialen Leiter knapp oberhalb oder knapp unterhalb der eigenen Position befinden« (Castel).

Der »konformistische« Rechtspopulismus ist vor allem bei Menschen in höheren, abgesicherten beruflichen Positionen anzutreffen. Um eine »konformistische« Variante handelt es sich, weil sie wesentlich auf Überanpassung an hegemoniale Normen beruht und sich durch eine eher affirmative Haltung zum marktzentrierten Umbau des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells der Bundesrepublik auszeichnet. Charakteristisch für diese Variante ist, dass Team, Belegschaft und Nation als Gemeinschaften hart arbeitender Menschen konstruiert werden. Wer den Leistungserwartungen dieser Gemeinschaften nicht entspricht, dem wird die Zugehörigkeit verweigert. Was sie von sich selbst erwarten, die vorbehaltlose Erfüllung vorgegebener Leistungsnormen, verlangen die Betreffenden auch von anderen. Das eigene Streben nach nahtloser Integration in die betriebliche Arbeitswelt dient als normative Referenzfolie, um gesellschaftliche Probleme zu bewerten. Integration, etwa von Geflüchteten, ist dann nur noch als Assimilation, als nahtlose Anpassung an die dominante Kultur denkbar.

Wer solchen Leitvorstellungen nicht entspricht, läuft Gefahr, als nicht integrationsfähig, mithin ausgrenzbar, abqualifiziert zu werden. Solche Orientierungen haben sich über Jahrzehnte hinweg als rechtspopulistische Unterströmung bemerkbar gemacht, die in demokratischen Parteien, aber auch in den Gewerkschaften wirkten.
Neu ist nun, dass sich diese Unterströmung zu einer eigenständigen politischen Kraft formiert, sich organisatorisch verselbständigt und in Gestalt der AfD möglicherweise auf nationaler Ebene etabliert. Das war lange Zeit nicht möglich, weil es dem organisierten Rechtspopulismus an geeignetem Führungspersonal fehlte, vor allem aber, weil es ihm nie gelang, sich glaubwürdig von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren.
Das ist nun anders. Die neue Rechte hat Massenanhang, und mit jedem Tabubruch erweitert sie das Terrain und den Handlungsspielraum auch für die militante Rechte. Die Distanzierung vom historischen Faschismus ist allenfalls noch als taktisches Manöver nötig. Nazis laufen bei Pegida und den AfD-Aufmärschen mit – und keinen der Demonstranten stört es. Thügida, offen »national-sozial«, zieht an Hitlers Geburtstag durch das thüringische Jena. Die AfD flankiert mit einer kleinen Anfrage im Landtag und will wissen, ob die Jenaer Universität Räume zur Vorbereitung von Gegendemonstrationen und für Blockadetrainings zur Verfügung gestellt hat. Und die Justiz sieht keinen Grund für ein Verbot der Thügida-Demo, weil diese sich offiziell nur gegen die »linke Diktatur« in Jena richtet – ein Phänomen, das bekanntlich nichts mit dem Hitler-Geburtstag zu tun hat.
Das Zusammenspiel von militanten Neo- und Protofaschisten, parlamentarischem Rechtspopulismus und begünstigenden Staatsapparaten erzeugt eine neue »national-soziale« Gefahr. Diese Gefahr entsteht daraus, dass der zeitgenössische National-Sozialismus als radikale Variante der »Volksmeinung« erscheint. Deshalb ist es alles andere als beruhigend, wenn sich der größte Teil der Pegida-Sympathisanten nicht mit rechtsextremer Programmatik identifiziert.
Das Problem ist ein anderes. Auch die indifferenten »Wutbürger« finden nichts dabei, ihre Pegida-Happenings gemeinsam mit Alt- und Neofaschisten zu begehen. So wird der »National-Sozialismus« zu einer Meinung unter anderen, wie sie in einem Konzert pluraler Stimmen eben immer auftritt. Dass diese »nationalen Sozialisten« Demokratie und Meinungsfreiheit abschaffen wollen, dass sie Menschen- und Grundrechte, die eine Voraussetzung moderner Demokratien sind, mit Füßen treten, bleibt völlig unerwähnt. Von solcher Duldsamkeit ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu jenen Vigilanten, die Gewalt gegen Geflüchtete als legitime Selbstjustiz begreifen, die den Willen der Mehrheit praktische Tat werden lässt.

These 3: Je auswegloser es erscheint, als ungerecht empfundene Verteilungsverhältnisse mittels demokratischer Umverteilung von oben nach unten und von den Starken zu den Schwachen zu korrigieren, desto eher tendieren Lohnabhängige spontan zu exklusiver, ausschließender Solidarität. Das macht sie für rechtspopulistische Anrufungen empfänglich.

Beschäftigte, die sich im finanzkapitalistischen Wettbewerbsregime permanent auf die Probe gestellt sehen, neigen spontan zu Unduldsamkeit gegen schwächere, weniger leistungsbereite Gruppen. Wir haben dieses Phänomen in unseren Belegschaftsbefragungen sowohl in Ost-, als auch in Westbetrieben erfasst. Und wir haben es auch in Dresden gefunden. Ständige Bewährungsproben begünstigen ein Verhalten, das auf exklusive Solidarität, auf eine kollektive Abwertung sozialer Gruppen durch andere hinausläuft. So waren trotz mehrheitlicher Ablehnung von Hartz IV 54 Prozent der von uns befragten Arbeiter eines Automobilherstellers der Ansicht, es müsse mehr Druck auf Langzeitarbeitslose ausgeübt werden. 51 Prozent meinen, eine Gesellschaft, in der man jeden auffange, sei auf Dauer nicht überlebensfähig.
Diese Aussage als Indikator für sozialdarwinistische Haltungen fand im Westen noch größere Zustimmung als im Osten. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass der Betrieb und die Stammbelegschaft auch als soziale Orte ausgrenzender Integration funktionieren. Statusgenerierend ist die Leistungsgemeinschaft der produktiv Beschäftigten.
Wer nicht dazu gehört – seien es Hartz-IV-Bezieher oder Schulden machende Griechen –, hat im Zweifelsfall keinen oder doch nur einen verminderten Anspruch auf Solidarität.

Auffällig ist, dass das Statement »Eine Gesellschaft, in der jeder aufgefangen wird, ist auf Dauer nicht überlebensfähig« bei Arbeitern und produktionsnahen Angestellten die größte Zustimmung findet; am geringsten ist sie bei den Sachbearbeitern. Dem scheint auf den ersten Blick zu widersprechen, dass die produktionsnahen Befragten die Arbeitsmarktreformen am deutlichsten ablehnen und in »Hartz IV« vor allem ein Mittel zur Disziplinierung der Arbeitenden sehen. Und doch ist es die gleiche Statusgruppe von Arbeitern und produktionsnahen Angestellten, die mehrheitlich und im Gruppenvergleich am häufigsten größeren Druck auf Arbeitslose befürwortet.
Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, lässt sich erklären, wenn man die Relevanz der jeweiligen Statements für die jeweils eigene Statusposition reflektiert. »Hartz IV« als Disziplinierungsmittel betrifft die soziale Positionierung von Arbeitern und produktionsnahen Angestellten, die näher an der Zone der Verwundbarkeit angesiedelt ist als die von Angestellten und Führungskräften. Wer sich aktuell einigermaßen sicher fühlt, weiß doch, dass das soziale Netz im Falle des Arbeitsplatzverlustes durchlässiger geworden ist. Ein Arbeiter, der den gut bezahlten Job in der Exportwirtschaft verliert, wird selbst in prosperierenden Regionen nicht umstandslos einen gleichwertigen Arbeitsplatz finden. Im schlimmsten Fall droht bei längerer Dauer der Erwerbslosigkeit »Hartz IV« und damit der Rückfall auf eine Position unterhalb einer Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität. Schon die diffuse Befürchtung, dass dergleichen drohen könnte, löst Verunsicherung aus.

Die Tendenz zu exklusiver Solidarität richtet sich vor allem gegen Arbeitslose und Ausgeschlossene. Wer arbeitet und leistungsbereit ist, der sieht sich von »Hartz IV« zu Unrecht auf die Probe gestellt. Und dieses Ungerechtigkeitsbewusstsein sucht sich häufig ein Ventil. Der Zorn richtet sich gegen jene, die – vermeintlich – die Bewährungsproben meiden und sich so dem Gebot der Leistungsgerechtigkeit entziehen. Das Verhalten von Erwerbslosen, Hilfe­bedürftigen und auch von Geflüchteten erscheint den Festangestellten als Gerechtigkeitsproblem. Die abgewerteten Gruppen verhalten sich in den Augen der klassifizierenden Arbeiter geradezu anti­emanzipatorisch, weil sie sich mit äußerster Entfremdung, mit Situationen vollständigen Ausgeliefertseins arrangieren.
Personen und Gruppen, die sich derart vollständig unterwerfen, die sich einer Situation totaler Entfremdung wehrlos ausliefern, sind gerade aus der Perspektive gewerkschaftlich organisierter Arbeiter und Angestellter eine latente oder gar eine manifeste Bedrohung jeglicher Solidarität von Lohnabhängigen.
Das gilt umso mehr, wenn Geflüchtete als Argument herhalten müssen, Ausnahmen vom Mindestlohn zu machen und auf diese Weise in unmittelbare Konkurrenz zu den verwundbarsten Gruppen am Arbeitsmarkt gesetzt werden.

Hinzu kommt: Die Welt der Prekarisierten und Ausgegrenzten lässt sich nicht mehr aus der Welt der noch einigermaßen geschützten Lohnarbeit heraushalten. Wenn nicht im eigenen Werk, so begegnet man der bedrohlichen Realität im Nachbarbetrieb oder im Wohngebiet. Abgrenzung, Distinktion oder gar kollektive Abwertung können dazu dienen, den Wettkampf mit prekarisierten Gruppen mit dem Mittel des Ressentiments zu bestreiten.
Doch je näher entsprechende Lebensrealitäten rücken und je stärker sie Personen betreffen, die man selbst kennt, desto schwerer wird es, Vorurteile zu konservieren und sie strategisch zur Selbstaufwertung und damit zur Stigmatisierung anderer einzusetzen. Die unterschiedlichen Auffassungen in der Belegschaft und die innere Widersprüchlichkeit der Sichtweisen jener Befragten, die zu exklusiver Solidarität tendieren (gegen Hartz IV, aber für mehr Druck auf Langzeitarbeitslose), machen deutlich, dass sich entsolidarisierende Mechanismen nicht zwangsläufig und auch nicht im Selbstlauf durchsetzen. Offenbar existiert Spielraum für Handlungsstrategien, die auf eine inklusive Solidarität mit prekär Beschäftigten, Erwerbslosen und auch mit Geflüchteten zielen.

These 4: Eine große Herausforderung für die Gewerkschaften besteht darin, dass sich rechte Orientierungen häufig bei jungen, aktiven, neu gewonnenen Mitgliedern finden.

Neu ist, dass vor allem jüngere Beschäftigte, gerade auch im Osten, wahrgenommene Verteilungsungerechtigkeit nicht mehr passiv hinnehmen. Das mobilisierungsfähige Thema in den meisten von uns untersuchten ostdeutschen Betrieben ist der Lohn.
Lohnforderungen werden aber von Menschen aus höchst unterschiedlichen Lebenslagen und Erfahrungsräumen erhoben. In ihnen artikulieren sich lang anhaltende Stagnationstendenzen bei den Einkommen Festangestellter und daraus erwachsende Kritik an als ungerecht empfundenen Verteilungsverhältnissen ebenso wie fortbestehende Ost-West-Differenzen oder besondere Diskriminierungen von Frauen, prekär Beschäftigten, gering Qualifizierten und Migranten.
In einer zerklüfteten Arbeitswelt erweist sich der Lohn als verbindendes Thema – auch weil er eine Quantifizierung von qualitativ Verschiedenem leistet. In den Arbeitskonflikten geht es daher auch, aber eben nie ausschließlich ums Geld. Gekämpft wird für »Living Wages«. Löhne zum Leben müssen aus der Arbeitskraftperspektive nicht nur deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen, sondern auch Zugang zu gesellschaftlichen Basisgütern sichern. Mit der Forderung nach gerechter Entlohnung sind in den von uns untersuchten Betrieben Themen wie Arbeitszeit, Leistungsintensivierung, Flexibilisierungsdruck, Planungsunsicherheit im Privatleben und nicht zuletzt die Kritik an autoritativen betrieblichen Kontrollregimes verkoppelt. Gewerkschaftliche Organisierungserfolge gelingen vor allem bei Angehörigen jüngerer Alterskohorten mit eher schwach ausgeprägter Bindung an Arbeitsplatz, Betrieb, Unternehmen und Region, die »jetzt« einen höheren Lohn und ein besseres Leben wollen. Gewerkschaftliche Organisierung ist für sie kein Wert an sich, schon gar kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um in Verteilungskämpfen für sich das Beste herauszuholen; sie stehen für ein »Ende der Bescheidenheit« im Osten. Ihre gewerkschaftliche Überzeugung ist allerdings ähnlich fragil wie die Identifikation mit Betrieb und Unternehmen. Diese Gruppe erweist sich – trotz gewerkschaftlicher Organisierung – für rechtspopulistische und auch rechtsextreme Anrufungen als besonders empfänglich.

Befragte Gewerkschaftssekretäre haben uns immer wieder darauf hingewiesen, dass die Wahl zum Jugendvertreter und »Likes« bei rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien durchaus keinen Widerspruch darstellen. Eine fragile gewerkschaftliche Grundüberzeugung reicht offenbar nicht aus, um das subjektive politische Weltbild von Arbeitern und Angestellten zu strukturieren. Man mag das bedauern. Ich plädiere für eine andere Sicht.
Offenbar gehören die Gewerkschaften zu den wenigen demokratisch-zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die frustrierten Arbeitermilieus der Republik überhaupt noch erreicht. Hier liegt die eigentliche gesellschaftliche Bedeutung dessen, was wir an anderer Stelle als (nachholende) Demokratisierung der betrieblichen Arena bezeichnen.
Wer sich selbstbewusst und in demokratischer Form für seine eigenen Interessen und gegen wahrgenommene Ungerechtigkeit engagiert, der ist für die Demokratie noch lange nicht verloren. In der Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Orientierungen haben die Gewerkschaften einen Spagat zu vollführen. Einerseits tendieren Gewerkschafter zu einer Politik der »klaren Kante« gegenüber Formationen, die sie als zutiefst antidemokratisch wahrnehmen. Sie schrecken nicht davor zurück, entsprechende Mitglieder aus der Organisation auszuschließen. Andererseits wollen sie sich dem Dialog mit Kolleginnen und Kollegen nicht verweigern, deren Protesthaltung sie nachvollziehen können. In solchen Auseinandersetzungen dürften, so befragte Sekretäre, die Gewerkschaften nicht als Establishment-Organisation wahrgenommen werden. Häufig glichen die Auseinandersetzungen einem »Geschwimme, das uns überfordert, weil wir von den Kapazitäten nicht darauf eingerichtet sind«.

Wichtig ist indessen, dass die Auseinandersetzung überhaupt geführt wird. Als der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann im Oktober des vergangenen Jahres in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte, »Wer hetzt, fliegt«, flogen tatsächlich Mitgliedsbücher. Genau dies kann zu defensiven Reaktionen führen, weil Gewerkschafter und Betriebsräte wegen drohender Austritte vorsichtshalber auf eine Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Tendenzen verzichten.
Umso wichtiger ist, dass es in der Arbeitswelt überhaupt Aktive gibt, die Diskussionen mit potentiellen Wählern und Sympathisanten rechtspopulistischer Formationen bestehen. Bei der Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht und Handlungsfähigkeit geht es daher um sehr viel mehr als um die Zukunft einer altehrwürdigen Interessenorganisation. Es geht um die Zukunft der Demokratie in einem sozial gespaltenen Land.

These 5: Das wirkungsvollste Gegenmittel gegen die Neue Rechte und deren gewaltaffine Radikalisierung ist eine Politik demokratischer Umverteilung.

»Wir müssen den Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen. Und das ist allein dadurch zu bewerkstelligen, dass man auf die globale Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten besteht … Vielleicht ist eine solche globale Solidarität eine Utopie. Doch wenn wir nichts tun, dann sind wir wirklich verloren – und wir verdienen es, verloren zu sein«, schreibt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in der Streitschrift »Der Neue Klassenkampf«. Um handlungsfähig zu werden, müsse die Linke mit einigen Tabus brechen. Dazu gehöre die verbreitete Vorstellung, »der Schutz der eigenen Lebensweise sei an sich protofaschistisch oder rassistisch«.
Den Sorgen der einfachen Leute, die um die Bedrohung der eigenen Lebensweise kreisten, könne auch von einem linken Standpunkt aus begegnet werden – Bernie Sanders, demokratischer Sozialist und Herausforderer von Hillary Clinton, sei der lebendige Beweis. Der Schutz der eigenen Lebensweise dürfe nicht als solcher zurückgewiesen werden. Vielmehr müsse gezeigt werden, dass eine Verteidigung durch Rechtspopulisten diese Lebensweise in viel größerem Maße bedrohe als »alle Einwanderer zusammen«.

Ich fürchte, Zizek hat recht. Ohne die Frage nach demokratischer Umverteilung – nicht nur zwischen oben und unten, sondern auch zwischen starkem Exportsektor und abgewerteten reproduktiven Sektoren, zwischen starken und schwachen Ländern in Europa und der Welt, zwischen Klimagewinnern und Klimaverlierern – anzugehen, kann die soziale Frage den Rechtspopulisten nicht mehr genommen werden.
Deshalb wäre es auch für die Gewerkschaften und die politische Linke wichtig, Walter Korpis Idee des demokratischen Klassenkampfs mit neuem Leben zu füllen. Dabei handelt es sich um einen Kampf, der, ungeachtet aller Härte der Auseinandersetzungen, auf der Grundlage verbriefter ökonomischer und sozialer Rechte der Lohnabhängigen ausgetragen wird. Die Grundidee besagt, dass Konflikt und Dissens auch in Betrieb und Arbeitswelt eine Bedingung funktionierender Demokratie sind. Sie nicht anzugehen bedeutete, dem Rechtspopulismus und seiner autoritären Ideologie das Feld zu überlassen.

Literatur

– Castel, Robert: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. VSA, Hamburg 2005

– Dörre, Klaus/Goes, Thomas/Schmalz, Stefan/Thiel, Marcel: Streikrepublik Deutschland. Campus, Frankfurt am Main 2016

– Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. VSA, Hamburg 2013

– Korpi, Walter: The democratic class-struggle. Routledge, London 1983

– Zizek, Slavoj: Der neue Klassenkampf: Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Ullstein, Berlin 2015
Klaus Dörre ist Professor für Soziologie an der Universität Jena. Dieser Artikel ist die vorab veröffentlichte und gekürzte Fassung eines Aufsatzes von Klaus Dörre, der im September im von K.- S. Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig herausgegebenen Sammelband: »Pegida. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und Wende-Enttäuschung? Analysen im Überblick« erscheinen wird. Wir danken dem Transcript-Verlag für die Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Jochen

Sozialismus auf Amerikanisch: Bernie Sanders und Wirtschaftspolitik für die Mittelschicht

Was in der EU und Deutschland so keine Entsprechung hat, bis auf J.Corbyn Großbritanniern – :Gute Übersicht hier:

http://www.flassbeck-economics.de/sozialismus-auf-amerikanisch-bernie-sanders-und-wirtschaftspolitik-fuer-die-mittelschicht/

BernieSandersAuszüge:

Amerika befindet sich im Wahlkampftrubel. Der neue Präsident wird zwar erst im November gewählt werden, aber der Wahlkampft ist bereits seit Monaten in Gang. Es geht in dieser Frühphase des politischen Wettbewerbs der Ideen zunächst um die Bestimmung der jeweiligen Spitzenkandidaten der beiden Parteien. Das geschieht in den sogenannten „primaries“ oder „caucuses“, Versammlungen, in denen die jeweiligen Parteianhänger der Republikaner und Demokraten in den einzelnen Bundestaaten ihre Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Der Prozess begann am 1. Februar im Bundesstaat Iowa und wird sich bis Mitte Juni hinziehen (hier eine Übersicht).

Bei den Republikanern hat zurzeit der Immobilien- und Casino-Mogul Donald Trump die Nase vorn, der am 9. Februar im Bundesstaat New Hampshire einen deutlichen Sieg einfahren konnte. Bei den Demokraten dagegen hat der „einzige Sozialist im amerikanischen Kongress“, Bernie Sanders, Senator aus dem Bundestaat Vermont, einen Sieg mit rund 20 Prozentpunkten Abstand gegenüber Hillary Clinton errungen, die eigentlich innerhalb der Demokratischen Partei als haushoher Favorit ins Rennen gegangen war. Sie gilt aber auch weiterhin als Favorit. Noch viele Schlachten sind im weiten Land zu führen bis der Sieger, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, endlich ermittelt sein wird – um dann den eigentlichen Wettstreit um die Präsidentschaft führen zu dürfen. Doch die Popularität und das bisherige Abschneiden von Bernie Sanders überascht so manchen Beobachter. Noch vor wenigen Monaten hätte ihm das kaum jemand zugetraut. Sanders trat erst vor kurzer Zeit überhaupt wieder der Demokratischen Partei bei, um sich auf diesem Ticket als Präsident zu bewerben. Er war lange parteiunabhängig und galt für viele als so etwas wie ein unabhängiger sozialistischer Dinosaurier. Jetzt hat dieser einsame Sozialist die Einsamkeit verlassen, um Amerika zu verändern, genauer: um Fehlentwicklungen der letzten 40 Jahre umzukehren. Seine steigende Popularität unter liberalen Amerikanern deutet darauf hin, dass er mit diesem Wunsch vielleicht doch nicht ganz allein ist.

Noch viel krasser ist in der republikanischen Partei zu beobachten, dass sich die amerikanische Gesellschaft in beide Richtungen von der Mitte wegbewegt. Sowohl der frühere Präsident Bill Clinton als auch seine Ehefrau Hillary Clinton und auch der jetzige Präsident Barack Obama sind in der Mitte der Partei angesiedelt. Nach deutschen Maßstäben sind sie in meiner Wahrnehmung allesamt kaum links von Angela Merkel. Sanders dagegen ist Vertreter des linken Flügels der Demokraten. Aus Sicht der extrem Konservativen, welche die republikanische Partei heute beherrschen, wirkt es wohl so, als wolle sich damit schon wieder ein Satan, diesmal ein weißer Jude, um das Präsidentenamt bewerben.

In der Mitte der amerikanischen Gesellschaft scheint sich so einige Frustration angesammelt zu haben. Das ist eigentlich auch wenig verwunderlich, weil die Mittelschicht seit geraumer Zeit der klare Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklungen in Amerika ist. Gemehrt wird nicht mehr der Wohlstand der Nation, sondern in erster Linie Prunk und Vermögen der Mega-Reichen. Warum man rechts von der Mitte ausgerechnet bei einem Multi-Milliardär Segen sucht, dessen besondere Fähigkeit darin zu bestehen scheint, innerhalb von nur fünf Minuten fast den gesamten Rest der Menschheit, merkwürdiges „Englisch“ stammelnd, beleidigen zu können, das vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen. Zuflucht nach links sucht Amerika dagegen neuerdings bei einem „Sozialisten“ – oder zumindest bei einem, der von den Medien als solcher bezeichnet wird. Allerdings bezeichnet sich Bernie Sanders auch selbst als „demokratischer Sozialist“. Der Frust der schwindenden Mittelschicht – mit Drift nach links und rechts – ist dabei auch verbunden mit hochgradiger Frustration über das politische Establishment allgemein. Sowohl Trump als auch Sanders sind Ausdruck dieser Anti-Establishment Bewegung, während jemand wie Hillary Clinton natürlich auch als Sinnbild des Establishments angesehen wird. Sanders erfährt zwar zunehmenden Zuspruch innerhalb der Demokratischen Partei, aber insbesondere unter den „unabhängigen“ (parteilosen), die in Bundestaaten wie New Hampshire ebenfalls ihre Stimme zur Wahl des Spitzenkandidaten abgehen durften, hat Sanders die Favoritin Hillary Clinton klar ausstechen können.

Wofür steht dieser Bernie Sanders nun? Ich habe mir hierzu einmal sein Wahlkampfprogramm angeschaut, das auf seiner Webseite (hier) zu finden ist. Ich will mich hier auf einige seiner wirtschaftspolitischen Kernideen konzentrieren. Auf seiner Webseite findet man unter der Überschrift: Themen/Streitfragen folgende Einleitung:

„Das amerikanische Volk hat eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Fahren wir einfach fort mit dem 40-jährigen Niedergang der Mittelschicht und der wachsenden Kluft zwischen den sehr Reichen und allen anderen, oder kämpfen wir für eine fortschrittliche wirtschaftspolitische Agenda, die Beschäftigung schafft, Löhne erhöht, die Umwelt schützt und ein Gesundheitswesen für alle bereit hält? Sind wir bereit dazu, uns der enormen wirtschaftlichen und politischen Macht der Milliardär-Klasse entgegenzustellen, oder sinken wir weiter in eine wirtschaftliche und politische Oligarchie? Dies sind die wichtigsten Fragen unserer Zeit, und die Antworten, die wir darauf geben, werden die Zukunft unseres Landes prägen.“ (“The American people must make a fundamental decision. Do we continue the 40-year decline of our middle class and the growing gap between the very rich and everyone else, or do we fight for a progressive economic agenda that creates jobs, raises wages, protects the environment and provides health care for all? Are we prepared to take on the enormous economic and political power of the billionaire class, or do we continue to slide into economic and political oligarchy? These are the most important questions of our time, and how we answer them will determine the future of our country.”)

Der Aufruf zum Angriff auf die krasse Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen in Amerika ist Nummer eins auf Sanders Liste: „Da läuft etwas zutiefst falsch, wenn eine einzige Familie so viel Vermögen besitzt wie 130 Millionen Amerikaner zusammen. Die Wirklichkeit ist, dass Wall Street und die Milliardär-Klasse 40 Jahre lang die Spielregeln gebogen haben, um Vermögen und Einkommen zu Gunsten der reichsten und mächtigsten Leute dieses Landes umzuverteilen.“(„There is something profoundly wrong when one family owns more wealth than the bottom 130 million Americans. The reality is that for the past 40 years, Wall Street and the billionaire class has rigged the rules to redistribute wealth and income to the wealthiest and most powerful people of this country.”)

Unter den Maßnahmen findet man u.a. folgende geplante Initiativen:

Reiche und Unternehmen sollen ihren fairen Anteil an Steuern leisten. Die Steuerflucht der Großunternehmen ins Ausland soll beendet werden. Eine progressive Erbschaftssteuer sowie eine spezielle Steuer für „Wall Street Spekulanten“ soll eingeführt werden. Der Mindestlohn soll bis 2020 auf $15 angehoben werden. In den nächsten fünf Jahren sollen Infrastrukturinvestitionen in Höhe von $1 Billion durchgeführt werden. Bestimmte Außenhandelsabkommen sollen aufgehoben werden, weil sie amerikanische Jobs kosten und für Lohndruck nach unten sorgen. Benachteiligte junge Amerikaner sollen durch Arbeitsprogramme unterstützt werden. Das Sozialversicherungs- und Gesundheitswesen sollen in mehrfacher Hinsicht ausgeweitet werden. Gewerkschaften sollen gestärkt werden. Große Finanzinstitutionen sollen zerschlagen werden, um das „too big to fail“ Problem zu lösen.

Diese Positionen werden dann mit etwas mehr Details unterfüttert. Weibliche Wähler spricht Sanders vor allem dadurch an, dass er das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ betont und die schlechtere Bezahlung weiblicher Arbeitnehmer beständig zum Thema macht. Besonders unter jungen Wählern schneidet Sanders im Vergleich zu Hillary Clinton deutlich besser ab. Sein Programm betont das Ziel der Senkung von Studiengebühren und Studienkrediten. Das Studium an öffentlichen Colleges und Universitäten soll kostenlos werden. Studienkredite sollen billiger und Stipendien großzügiger werden. Zur Finanzierung ist hierfür die Steuer auf Wall Street Spekulanten vorgesehen.

Allgemein sind in Sanders Programm Steuererhöhungen vorgesehen, die speziell reiche und mega-reiche Bürger stärker belasten sollen. Dies soll insbesondere durch den Abbau heute geltender Steuerbegünstigungen geschehen, die ohnehin allein betuchten Steuerzahlern nützen. Das alles steht im frontalen Gegensatz zu den Plänen der republikanischen Mitstreiter um Donald Trump. Dort will man die ohnehin sehr niedrigen Steuern auf Erbschaften und Kapitalgewinne möglichst ganz abschaffen, was offensichtlich die „top 1 per cent“ nur noch reicher machen würde.

Ist Bernie Sanders schon deshalb ein Sozialist, weil er diese dumme Nummer nicht mehr mitmachen will? Lächerlich! Sanders steht für die wahren Interessen der amerikanischen Mittelschicht, will gesellschaftliche Fairness wieder herstellen. Das kann bestenfalls dann mit Sozialismus verwechselt werden, wenn man dem „trickle down“ Märchen aufgesessen ist, wonach der grenzenlose Reichtumszuwachs der Mega-Reichen irgendwie und irgendwann auch den Rest der Gesellschaft reich machen soll. Dass das nicht so ist, zeigt die Entwicklung der letzten 40 Jahre zwar allzu offensichtlich auf. Aber so mancher Geist ist nachhaltig verblendet worden. Eingelullt von der Massenverdummungsmaschinerie der Medien (kontrolliert von einigen Mega-Reichen), verwechseln viele Normalbürger ihren eigenen Interessen und die Ideale einer freien und fairen Gesellschaft mit den spezifischen Interessen der Milliardär-Klasse.

Jedoch nicht alle. Sanders ruft auf seiner Webseite zu Wahlkampfspenden mit den Worten „Dies ist deine Bewegung“ auf. Anders als die anderen Kandidaten, finanziert er seinen Wahlkampf aus Kleinspenden. Eine Gefolgschaft von immerhin drei Millionen Personen hat er aufzuweisen. Wahlkampf in Amerika ist lang und extrem teuer – und nicht öffentlich finanziert. Allgemein bauen die Kandidaten auf Spenden von Unternehmen und Reichen. Ein höchstes Gerichtsurteil von vor einigen Jahren hat hierzu fast alle Beschränkungen beseitigt. Demokratie ist damit schamlos käuflich und für die Mega-Reichen ist Einfluss auf die politische Macht geradezu billig. Wie in der von extremer Ungleichheit geprägten Wirtschaft gilt damit auch in der Politik: „one dollar, one vote“ statt „one person, one vote“. Trump gewinnt Anhänger mit der Behauptung, er sei nicht käuflich, weil er seinen eigenen Wahlkampf selbst finanziert. Sanders hat selber nur geringes Vermögen. Er setzt auf Spenden von Normalbürgern.

Es mag zunächst verwundern, dass man auf Sanders Webseite zum Thema Haushaltsdefizite und öffentliche Schulden nichts findet. Auch öffentlich spricht er sich nicht für höhere Defizite aus. Gleichwohl hat er sich mit Stephanie Kelton als ökonomische Beraterin eine Vertreterin der „Modern Money Theory“ (MMT) ins Lager geholt. Natürlich wäre es bei all der öffentlichen Hysterie zu diesem Thema politisch unklug, hieraus ein Wahlkampfthema machen zu wollen. Das machen die Konservativen ja ohnehin bis zum Erbrechen – als Erpressungsmittel zum Schrumpfen des Staates (immer mit Ausnahme des Ressorts zur Führung sinnloser Kriege) und für weitere Steuererleichterungen für die angeblich steuerüberbelasteten Mega-Reichen. Aber auch ökonomisch ist hier kein Widerspruch. Haushaltsdefizite sind auch aus MMT Sicht kein wirtschaftspolitisches Ziel. Vielmehr sind sie im hohen Maße endogen, vom Wirtschaftsverlauf bestimmt. Die hohen Defizite seit 2009 waren Reflex der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Haushaltsdefizite zur Zielgröße an sich zu machen, kann eigentlich nur Schaden anrichten; wie in der Eurozone nur zu gut zu sehen ist. Wer dagegen produktive Staatsausgaben erhöht und die Steuerbelastung zu Lasten der Reichen und zu Gunsten der Mittelschicht verschiebt, kann Defizite auch durch mehr Wachstum und Beschäftigung senken. Der „balanced budget multiplier“ war selbst dem Mainstream nicht immer unbekannt. Die Vernunft dieser Überlegungen übersieht nur, wer sie übersehen will oder mittels neoliberaler Ideologie blind gemacht wurde.

Sanders will übrigens umweltfreundliches Wachstum in Amerika. Er unterstützt das Pariser Klimaabkommen. Die republikanischen Kandidaten dagegen wollen allesamt daraus aussteigen. Amerikas Kohleindustrie hat viel Kohle. Überhaupt sprudeln die Spenden der fossilen Energie-, Finanz- und Pharmaindustrien in die Taschen ihrer politischen Interessenvertreter, damit sich auch an den klar zu beobachtenden gravierenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bloß nichts ändern wird. Sanders ruft hier die Mahnung des republikanischen Präsidenten Abraham Lincoln in Erinnerung: „beschließen und sicherstellen, dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von dieser Welt verschwinden möge“ („resolve … that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth”).

Die republikanische Partei hat einige sehr weise Präsidenten hervorgebracht – aber das ist sehr lange her.

Amerika wird im November den nächsten „Führer der freien Welt“ wählen. Es geht dabei um Amerikas Mittelschicht und um eine freie und faire Gesellschaft. Aber auch um vieles mehr. Die immer mehr gespaltene amerikanische Gesellschaft hat dabei tatsächlich in vielfacher Hinsicht eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Vielerlei Entwicklungen in Amerika – und natürlich auch und besonders in Europa! – stimmen mich zunehmend sorgenvoll. Kollektiver Wahnsinn scheint immer mehr um sich zu greifen. Bernie Sanders wirkt da wie ein seltener Hoffnungsstrahl. Insbesondere auch, weil der 74-Jährige speziell unter jungen Amerikanern wachsende Popularität genießt.