Was Mittelschicht genannt wird, ist in Wahrheit schon die Reichenschicht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

n_haeringDas schreibt Norbert Haering: https://norberthaering.de/news/mittelschicht-oder-reich/
Auszüge:

26. 12. 2020 | Die Bevölkerung hat eine völlig verzerrte Vorstellung davon, wie wenig DurchschnittsbürgerInnen verdienen und haben.
Deshalb darf sich noch zur Mittelschicht zählen, wer eigentlich klar zu den Reichen gehört.
Politik für die sogenannte Mittelschicht wird dann schnell zur Elitenförderung.

Anders als etwa in den USA ist reich zu sein in Deutschland eher peinlich.
pexels-photo-259027.jpegAlle wollen zur Mittelschicht gehören, nicht nur Multimillionäre wie Friedrich Merz (CDU) oder Sehrgutverdiener wie Finanzminister Olaf Scholz (SPD).

Fragt man die Deutschen, wo das Reichsein anfängt, setzen sie die Untergrenze dafür in etwa bei einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 7000 und 10.000 Euro, berichtet Judith Niehues, Leiterin Methodenentwicklung beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Handelsblatt.
Die Deutschen gehen der Expertin zufolge davon aus, dass ein Fünftel der Bevlkerung so viel Geld jeden Monat verdient.

Doch die Realität sieht ganz anders aus: Allenfalls drei Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen laut IW über dieses monatliche Nettoeinkommen. Betrachtete man die einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte in Deutschland als reich, dann wäre man bereits mit einem Nettomonatseinkommen von knapp 3000 Euro reich.

Legt man diesen Mastab an, wäre Finanzminister Scholz ohne Zweifel dem Kreis der Reichen zuzurechnen. Der SPD-Politiker hatte krzlich eine Debatte ausgelöst, indem er auf die Interview-Frage, ob er sich als reich bezeichnen würde, geantwortet hatte, er verdiene ganz gut.
Er würde sich aber nicht als reich empfinden, hatte der SPD-Kanzlerkandidat ergänzt.

Als Bundesminister bekommt Scholz nach Angaben des Bundesfinanzministeriums inklusive Zuschläge ein monatliches Gehalt in Höhe von rund 15.500 Euro. Seine Ehefrau, die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst, bezieht rund 14.000 Euro monatlich.
Zusammen kommt das kinderlose Ehepaar also auf knapp 30.000 Euro Bruttoverdienst pro Monat.

Großzügige Mittelschichts-Obergrenzen

Für IW-Expertin Niehues beginnt die obere Mittelschicht beim Eineinhalbfachen des mittleren monatlichen Nettoeinkommens von knapp 2000 Euro und reicht bis zum Zweieinhalbfachen dieses Betrags: Das wären dann knapp 4900 Euro.
Einkommensreichtum beginnt für sie über diesem Schwellenwert. Nur 3,3 Prozent der Haushalte in Deutschland sind einkommensreich nach dieser Definition das Ehepaar Scholz zählt demnach dazu. 15 Prozent der Bevölkerung gehören dagegen laut dieser Definition zur oberen Mittelschicht.

Stefan Bach, Steuer- und Verteilungsexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), verortet die Obergrenze der Mittelschicht noch höher.
Für ihn ist man mit 60.000 Euro netto im Jahr Besserverdiener, ein Zwischenschritt zum Einkommensreichen. Viele darüber fühlen sich sicher noch als Mittelschicht, nicht nur Herr Merz, urteilt Bach.

Bach zieht die Grenze zum Einkommensreichtum dort, wo das oberste Hundertstel der Einkommen beginnt.
Um zu diesem Kreis zu gehören, muss man mindestens 160.000 Euro brutto im Jahr verdienen.
Auch bei dieser Definition zählte Scholz zu den Reichen im Lande.

Noch schwerer ist es, zu den Einkommensreichen zu gehören, wenn man die Reichensteuer zum Maßstab nimmt, die als Alleinstehende ab einem steuerpflichtigen Einkommen von 265.327 Euro einen erhöhten Steuersatz von 45 Prozent zahlen müssen.
Das trifft 163.000 Steuerzahler
oder rund 0,2 Prozent der Bevölkerung.

Wie Haushalte vergleichbar gemacht werden

In der Mitte der Verteilung liegt man nach einer Aufstellung von Bach mit 22.500 Euro Jahresbrutto pro Haushaltsmitglied.
Die genannten Grenzen der Einkommensschichten beruhen auf dem sogenannten äquivalenzgewichteten Haushaltseinkommen pro Person, das die OECD anlegt. Dabei wird das Gesamteinkommen auf alle Haushaltsmitglieder aufgeteilt.

Das erste erwachsene Haushaltsmitglied wird dabei mit eins, jedes weitere ab 14 Jahren mit 0,5 angesetzt, Kinder mit dem Faktor 0,3. Das soll die Ersparnisse in der gemeinsamen Haushaltsführung und geringeren Bedarf der Kinder widerspiegeln und die Haushaltsmitglieder mit Single-Haushalten vergleichbar machen.

Paare teilen also das Gesamteinkommen durch 1,5, um ihre Position in dieser Verteilung zu bestimmen. Ein Paar mit einem Kind teilt das Gesamteinkommen durch 1,8, eines mit zwei Kindern durch 2,1.

Wem die Bedarfsfaktoren der OECD für die Haushaltsmitglieder arg niedrig vorkommen: Das Statistische Bundesamt nennt sie willkürlich gewählt.
Bevor die OECD sie modifiziert hat, lagen sie deutlich höher, die ausgewiesenen Äquivalenzeinkommen pro Haushaltsmitglied also deutlich niedriger.

Vermögend schon mit einem Auto

Die Vermögen sind noch deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. Hier steht eine Mehrheit der Habenichtse einer Minderheit von Menschen mit großen Vermögen gegenber. Dazwischen liegt eine eher schmale wohlhabende Mittelschicht.

Laut einer Untersuchung des beim DIW angesiedelten Sozioökonomischen Panels (SOEP) von Juli reicht ein Nettovermögen nach Abzug der Schulden im Wert eines neuen Mittelklassenautos, um zur vermögenderen Hlfte der Bevölkerung zu gehren: knapp 23.000 Euro.
Die untere Hälfte der Bevölkerung hat insgesamt betrachtet so viele Schulden wie Vermögenswerte.

Mit einem Nettovermögen von 126.000 Euro, also etwa einem halb abbezahlten Haus unterer Preislage gehört man zum reichsten Viertel der Deutschen.
Ein abbezahltes Haus in dieser Preislage (279.000 Euro) reicht für einen Platz unter den reichsten zehn Prozent.
Ein hypothekenfreies Reihenhaus in der Stadt (438.000 Euro), und man gehrt zu den reichsten fünf Prozent. Dann kommt ein größerer Sprung.

Reiche haben ertragreichere Vermögenswerte

pexels-photo-210600.jpegDie Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Fr die unteren Einkommensschichten ist der fahrbare Untersatz meist der wichtigste Vermögenswert.
Darüber, bis dort wo der Reichtum beginnt, besteht das Vermögen überwiegend aus den Wohnungen und Häusern, in denen man wohnt. Hinzu kommen bei den Bessergestellten noch in gewissem Umfang vermietete Immobilien.

Wer zum reichsten Prozent gehört und besonders zu den reichsten 0,1 Prozent, hat dagegen vor allem Betriebsvermögen.
1,3 Millionen Euro muss man netto sein Eigen nennen, um zur erstgenannten Gruppe zu gehören, knapp 5,5 Millionen bringen einen in das reichste Tausendstel der Deutschen.

Typischerweise wirft Betriebsvermögen die höchste Rendite ab, Autos die niedrigste. Ederer, Mayerhofer und Rehm haben in einer Studie aus dem Jahr 2019 nachgewiesen, dass die Durchschnittsrendite der Vermögensanlagen systematisch um so höher ist, je höher das Vermögen ihrer Eigentümer.

Wer wird Millionär?

Der typische Vermögensmillionär sieht so aus, wie ihn die meisten sich vorstellen werden: ein weißer älterer Herr (west-)deutscher Abstammung oder in den Worten des SOEP: Sie sind überdurchschnittlich häufig männlich, haben einen überdurchschnittlichen Bildungsabschluss, sind älter als der Rest der Bevölkerung und haben unterdurchschnittlich häufig einen Migrationshintergrund.

Millionäre haben auch, wenig überraschend, mit über 7600 Euro mtl. ein weit überdurchschnittliches Nettoeinkommen (gewichtetes Haushaltseinkommen) und sparen überdurchschnittlich. Auch deshalb können sie schneller zustäzliches Vermögen akkumulieren als die Nichtmillionäre.

Wenn Millionöre arbeiten, dann in der Regel selbstständig, unternehmerisch oder als Geschäftsführer oder in ähnlicher leitender Position. Diejenigen, die arbeiten, arbeiten mit 47 Stunden pro Woche erheblich mehr als der Durchschnitt. Welcher Anteil der Millionäre arbeitet, schreibt das DIW nicht.

In ihren Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden sich Millionäre vor allem in zwei Eigenschaften von den Nichtreichen. Eine gebräuchliche Einteilung in der Persönlichkeitspsychologie ist das Fünf-Faktoren-Modell. Bei den drei Hauptdimensionen Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Extroversion (Geselligkeit) gibt es laut den Befragungen des SOEP keinen Unterschied. Bei Neurotizismus haben Millionäre etwas höhere Werte.

Aber der einzige große Unterschied bei diesen fünf Merkmalen liegt darin, dass Millionäre deutlich weniger verträgliche Menschen sind. Das jedenfalls ergeben die SOEP-Befragungen. Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und Einfühlungsvermögen sind demnach bei ihnen im Durchschnitt wenig ausgeprägt.

Den zweiten großen Unterschied gibt es bei einer Eigenschaft, die unter den Großen Fünf nicht separat ausgewiesen ist. Millionäre sind im Durchschnitt sehr risikofreudig. Von ihnen weisen der SOEP-Befragung zufolge 40 Prozent die drei höchsten Werte von acht bis zehn auf. Bei der übrigen Bevölkerung ist der Anteil weniger als halb so hoch.

Ob Millionäre es sich einfach besser leisten können, Risiken einzugehen, weil sie Reserven haben, oder ob sie reich geworden sind, weil sie Risiken eingegangen sind, lässt sich aus der Befragung nicht ablesen.

Fragt man die Millionäre, wie sie reich geworden sind, so sind Arbeit und unternehmerisches Geschick die Hauptfaktoren. Erbschaften, Schenkungen und Glück spielen dagegen nach ihrer Selbstwahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle.

Folgerungen für die Politik

Die Neigung, auch noch Menschen noch zur Mittelschicht zu zählen, die dreimal so viel Geld ausgeben können wie Menschen in der unteren Mittelschicht und die starke Verzerrung der Wahrnehmung dessen, was man normalerweise in Deutschland verdient, bewirken, dass vieles von dem, was als Politik für die Mitte verkauft und wahrgenommen wird, in Wahrheit eine Politik für eine erweiterte Oberschicht ist.
Demgegenber sind soziale Leistungen und Maßnahmen, die in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit einer Schicht von Benachteiligten zugute kommen, tatsächlich Leistungen an die Mittelschicht.

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Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Interview mit Sahra Wagenknecht – der beliebtesten Politikerin: „Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

wagenknecht2013

Eine sehr erfreuliche Nachricht – ihre Unbestechlichkeit, ihr Weitblick und ihr ökonomischer Sachverstand kommen mittlerweile bei der Bevölkerung an.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=56623
Dort auch zum Anhören das Interview mit Albrecht Müller:

https://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/191125_Sahra_Wagenknecht_die_beliebteste_Politikerin_Was_ist_das_wert_NDS.mp3
In der SPD wird z.Zt. diskutiert, keinen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Das ließe Platz für Sahra.
Und hier die Abschrift:

Albrecht Müller (A.M.): Meine Regionalzeitung schreibt am 22. November auf der ersten Seite: „Wagenknecht löst Merkel ab“. Das wäre ja ganz toll, wenn es um die Kanzlerschaft ginge.
Es geht aber um eine Umfrage, wie die NachDenkSeiten am 21.11. schon berichtet haben. Dass Sie auf der Beliebtheitsskala dieser Umfrage Angela Merkel überholt haben, ist bemerkenswert und erfreulich.
Aber: Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?

Sahra Wagenknecht (S.W.): Ich habe mich natürlich sehr über das Umfrageergebnis gefreut, aber man sollte es auch nicht überinterpretieren. In der Umfrage sollen die Befragten mit Punkten bewerten, ob ein Politiker „ihre Interessen vertritt“. Dabei schwanken die Ergebnisse von Woche zu Woche um einige Punkte, was einen schnell um mehrere Plätze nach oben oder unten bringen kann.
Insofern ist der genaue Platz nur eine Momentaufnahme. Was mich wirklich freut, ist, dass ich bei dieser und ähnlichen Umfragen in der Regel gute Ergebnisse erziele. Das zeigt, dass die Politik, für die ich stehe, von vielen Menschen unterstützt wird. Diese Zustimmung ist für mich ein wichtiger Ansporn, mich weiter politisch für andere Mehrheiten und eine Gesellschaft mit mehr sozialem Zusammenhalt und weniger Ungleichheit zu engagieren.

A. M.: Wie könnte Ihre Beliebtheit genutzt werden, um Merkel oder ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger im Kanzleramt abzulösen?

S. W.: Ich werbe in der Linken seit Jahren für einen anderen Kurs, als ihn die derzeitige Parteiführung vertritt. Wir dürfen keine grünliberale Lifestyle-Partei werden, die mit ihren Themen und ihrer Sprache allenfalls noch im Milieu der akademisch gebildeten urbanen Mittelschicht ankommt.
Aufgabe einer linken Partei ist es, die zu vertreten, die um ihren Wohlstand immer härter kämpfen müssen, also die Leidtragenden der neoliberalen Globalisierung, nicht die Gewinner.

Ich will nicht behaupten, dass eine Linke, die sich als konsequenter und populärer Anwalt der unteren Mitte und der Ärmeren profiliert, morgen schon den Kanzler stellen könnte, aber sie wäre in jedem Fall deutlich stärker als die heutige Linkspartei, die leider mit Ausnahme von Thüringen und Bremen ein katastrophales Wahljahr hinter sich hat.

A. M.: Sie sind so etwas wie die Stimme der Vernunft in einem ansonsten abgrundtief unvernünftigen Umfeld.
Mal unterstellt, Ihre Stimme wird weiter gehört, was wären denn die wichtigsten programmatischen Vorhaben?

S. W.: Ich finde es wichtig, sich über die Veränderung klarzuwerden, die in der Ausrichtung linker Politik, ihrer sozialen Basis und ihrer öffentlichen Wahrnehmung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. In fast allen EU-Ländern.
Nach klassischem Verständnis war die soziale Frage, der Kampf für gute Löhne und soziale Sicherheit Kern linker Politik. Entsprechend hatten die linken Parteien ihre Basis bei denen, die auf einen ordentlich regulierten Arbeitsmarkt, eine gute öffentliche Infrastruktur und einen starken Sozialstaat angewiesen sind.
Alle diese Errungenschaften wurden im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten erkämpft und durch die Globalisierung der Wirtschaft, die Öffnung der Märkte und die EU-Verträge, die den Rückzug des Staates und die Beschränkung seiner Regulierungskompetenz festschreiben, mehr und mehr untergraben.
Diese Entwicklung ist eine existentielle Bedrohung für den Lebensstandard der früheren Wähler linker Parteien.
Für viele ist der soziale Abstieg auch keine bloße Zukunftsangst mehr, sondern bereits bittere Realität. Etwa für diejenigen, die in die neuen Niedriglohnjobs im Servicebereich abgedrängt wurden oder für viele ältere Menschen mit Armutsrenten.

A. M.: Gibt es nur Verlierer?

S. W.: Es gibt auch Gewinner der neoliberalen Globalisierung: dazu gehört hauptsächlich die traditionelle Oberschicht, die über Betriebsvermögen und anderes anlagefähiges Kapital verfügt und ihre Erträge und Vermögen in den letzten Jahren massiv steigern konnte.
Aber es ist wichtig zu verstehen, dass auch die neue urbane Mittelschicht, also diejenigen, die in den neu entstandenen hochqualifizierten und hochbezahlten Dienstleistungsberufen von Finanzen und Beratung bis zu Software, Werbung und Medien arbeiten, in einem gewissen Rahmen zu den Gewinnern gehören. Die meisten dieser Jobs sind im Umfeld großer, international aufgestellter Unternehmen entstanden und oft direkt in transnationale Arbeitszusammenhänge eingebunden. Sie erfordern Fremdsprachenkenntnisse und einen souveränen Umgang mit anderen Kulturen.
Diese neue Mittelschicht, die erst in den letzten Jahrzehnten als eigenständiges soziales Milieu entstanden ist und die hochpreisigen Trendviertel der großen Städte bewohnt, lebt in einer anderen Welt und hat in vieler Hinsicht andere Interessen als der Postzusteller, der ihre Online-Bestellungen die Treppe hochschleppt, die Reinigungskraft, die ihre Haushalte putzt, oder auch der Industriearbeiter in der Kleinstadt, den die Angst umtreibt, dass irgendwann auch sein Betrieb in ein Land mit billigeren Löhnen oder niedrigeren Umweltstandards abwandert und so der vielleicht letzte gutzahlende Arbeitgeber seiner Region verschwindet.

A. M.: Sind das die Wählerschichten, die den linken Parteien abhanden gekommen sind?

S. W.: Die urbanen Besserverdiener sind heute die wichtigste Wählergruppe der Grünen, aber in zunehmendem Maße auch von SPD und Linken. Es ist die Denkweise und Lebenswelt dieses sozialen Milieus, ihre Sicht auf die Globalisierung, die Zuwanderung, die EU und den Nationalstaat, die heute als „links“ gelten, während Ansichten, die früher sozialdemokratischer Mainstream waren, plötzlich unter Nationalismus- oder gar Rassismusverdacht stehen.
Im Ergebnis hält die Mehrheit der Arbeiterschaft und der Ärmeren „links“ heute für eine Ideologie der Herrschenden, der Profiteure der neoliberalen Globalisierung, und hat damit nicht ganz unrecht.
Das ist eine gravierende Fehlentwicklung. Eine Linke, die sich von den benachteiligten Schichten und deren Interessen entfernt, trägt damit auch Mitverantwortung für den Aufstieg der Rechten.
Gleichzeitig zeigt beispielsweise der letzte Wahlkampf der dänischen Sozialdemokratie, dass die Linke mit einer populären und an den Wünschen der Mehrheit orientierten Strategie die Rechtsparteien erstaunlich schnell wieder kleinmachen kann. Das wäre auch in Deutschland möglich.

A. M.: Wie könnte man die Stimme der Vernunft organisatorisch oder medial wirksam bündeln?

S. W.: Es geht darum, sich zunächst einmal bewusst zu machen, was falsch läuft und warum. Einzusehen, dass ehemalige Linkswähler nicht deshalb zur AfD abwandern, weil sie plötzlich zu Rassisten geworden sind, sondern weil sie sich in wesentlichen Teilen des aktuellen linken Politikangebots nicht wiederfinden können.
Man kann beispielsweise nicht gleichzeitig den Nationalstaat für überholt erklären und einen starken Sozialstaat fordern, da es transnational gar keine institutionellen Voraussetzungen – und aktuell auch keine Akzeptanz! – für eine Umverteilung größeren Umfangs und statussichernde soziale Netze gibt.
Aber genau das, die Absicherung des Lebensstandards und nicht eine nackte Existenzsicherung, war mal der Anspruch des deutschen Sozialstaates.
Wer für eine soziale Rückbesinnung linker Politik anstelle identitätspolitischer Modethemen wirbt, hat bei den Medien – zumal den vermeintlich linken – nicht viele Freunde.
Umso wichtiger sind Blogs wie die Nachdenkseiten, Makroskop und andere, um solchen Positionen Öffentlichkeit zu geben.
Ich persönlich habe gerade einen eigenen YouTube-Kanal angemeldet, von dem ich hoffe, dass er viele Abonnenten findet. Ich werde dort in Kürze damit beginnen, ein Mal pro Woche das Zeitgeschehen zu kommentieren und auf Fragen und Anmerkungen zu antworten.

A. M.: Wie geht es mit Aufstehen weiter?

S. W.: Aufstehen hat heute über 150 000 Mitglieder mit wieder leicht steigender Tendenz. Es sind überwiegend Parteilose aus genau den ehemals sozialdemokratischen Milieus, die sich heute von den linken Parteien kaum noch vertreten fühlen. Viele engagieren sich in Ortsgruppen und organisieren Veranstaltungen und Aktionen.
Einigen davon, etwa einer Diskussion zwischen Kevin Kühnert und mir im September, gelingt es, überregional öffentlich wahrgenommen zu werden.
Die entscheidende Aufgabe, eine Bewegung mit sozialen Forderungen auch auf die Straße zu bringen, ist bisher noch nicht eingelöst, bleibt aber hochaktuell.
Gerade mit Blick auf die jüngsten Sozialabrissphantasien der amtierenden CDU-Vorsitzenden kann es bald zu einer dringenden Notwendigkeit werden, sich bundesweit gegen die nächsten Rentenkürzungen oder andere soziale Einschnitte zur Wehr zu setzen.

A. M.: Sehen Sie eine Chance zur Vereinigung aller fortschrittlichen Gruppierungen in unserem Land?

S. W.: Es gibt einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der in der Politik heute keine Stimme mehr hat und von keiner Partei mehr vertreten wird.
Auch die AfD, die teilweise von diesen Menschen gewählt wird, vertritt ja in keinem Fall ihre Interessen und das wissen die meisten auch.
Wenn auf der politischen Linken eine überzeugende Kraft auf den Plan treten würde – ob aus der SPD, aus der Linkspartei oder aus beiden Parteien – die glaubwürdig für eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft streitet, die den Wohlstand der abstiegsbedrohten Mitte absichert, den Niedriglohnsektor austrocknet und die Menschen vor Ausbeutung, Unsicherheit und globalen Renditejägern schützt, wäre das ganz sicher ein Erfolgskonzept.
Im Übrigen brauchen wir auch aus Umweltgründen dringend eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft, einen starken Investitions- und Innovationsstaat und ein Ende der ressourcenverschleißenden Wegwerfproduktion.
Wir müssen über neue Formen des wirtschaftlichen Eigentums reden, die eine solche Neuorientierung ermöglichen. Die Aktiengesellschaft mit ihrer bedingungslosen Orientierung am kurzfristigen Profit ist dafür keine Grundlage.

A. M.: Danke vielmals.

aufstehen oliri

Die Aufstehen!-Gruppe Donau-Ries trifft sich wieder am Dienstag 28.1.2020 um 20:00 in Nördlingen, genauer Ort wird noch bekannt gegeben.

Jochen

Christoph Butterwegge: Wir brauchen einen solidarischen Ruck

Christoph Butterwegge über die Motive seiner Kandidatur für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten

Weil es keinen gemeinsamen rot-rot-grünen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geben wird, schickt die LINKE einen eigenen Bewerber ins Rennen. Butterwegge ist auch schon hier in den Sozialpolitischen Nachrichten zu Wort gekommen.

Folgend veröffentlicht »neues deutschland« ein 10-seitiges Schriftstück von Professor Dr. Christoph Butterwegge zu seiner Bewerbung um das Bundespräsidentenamt:

Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt

Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.

Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als »Hartz- IV-Familien« bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.

Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.

CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr »Deutschlands Zukunft gestalten« überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort »Reichtum« nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

»Armut« taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD »den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren«, meinen damit aber den Analphabetismus, während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld (»Hartz IV«) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro, 1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. »Altersarmut« kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in der Zwischenüberschrift »Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen«, die das Motto für die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort »Armutswanderung« bzw. »Armutsmigration« verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine »ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen« vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden.

Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer »importiert« wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.

Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten »Ohne Frieden ist alles nichts« ausgedrückt hat.

Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber gleichwohl als »ideeller Gesamtlinker«, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.

Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie »Finanzkrise, Staatsschulden und Euro- Stabilisierung«, »Sozialstaatsentwicklung und Armut«, »Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie«, sowie »Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung« verlangen ein viel stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die wachsende »Parteienverdrossenheit« der Bürger/innen gefährdet. »Politikverdrossenheit« ist allerdings genauso wie »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.

Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) oder die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.

Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft

Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?

Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein »Ruck« (Roman Herzog) nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug: Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer, sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.

Seit der »Agenda 2010« und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland. »Hartzer« werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und als »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer« verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/ innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines »Um-« bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck›schen Sozialsystems, verbunden mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/ innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunter nehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.

Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.

Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen und Gehältern in dieser Höhe enden?

Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.

Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen Justiz.

Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.

Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen

Ich war von Januar 1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.