Christoph Butterwegge: Wir brauchen einen solidarischen Ruck

Christoph Butterwegge über die Motive seiner Kandidatur für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten

Weil es keinen gemeinsamen rot-rot-grünen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geben wird, schickt die LINKE einen eigenen Bewerber ins Rennen. Butterwegge ist auch schon hier in den Sozialpolitischen Nachrichten zu Wort gekommen.

Folgend veröffentlicht »neues deutschland« ein 10-seitiges Schriftstück von Professor Dr. Christoph Butterwegge zu seiner Bewerbung um das Bundespräsidentenamt:

Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt

Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.

Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als »Hartz- IV-Familien« bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.

Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.

CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr »Deutschlands Zukunft gestalten« überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort »Reichtum« nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

»Armut« taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD »den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren«, meinen damit aber den Analphabetismus, während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld (»Hartz IV«) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro, 1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. »Altersarmut« kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in der Zwischenüberschrift »Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen«, die das Motto für die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort »Armutswanderung« bzw. »Armutsmigration« verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine »ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen« vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden.

Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer »importiert« wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.

Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten »Ohne Frieden ist alles nichts« ausgedrückt hat.

Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber gleichwohl als »ideeller Gesamtlinker«, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.

Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie »Finanzkrise, Staatsschulden und Euro- Stabilisierung«, »Sozialstaatsentwicklung und Armut«, »Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie«, sowie »Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung« verlangen ein viel stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die wachsende »Parteienverdrossenheit« der Bürger/innen gefährdet. »Politikverdrossenheit« ist allerdings genauso wie »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.

Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) oder die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.

Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft

Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?

Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein »Ruck« (Roman Herzog) nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug: Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer, sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.

Seit der »Agenda 2010« und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland. »Hartzer« werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und als »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer« verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/ innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines »Um-« bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck›schen Sozialsystems, verbunden mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/ innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunter nehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.

Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.

Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen und Gehältern in dieser Höhe enden?

Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.

Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen Justiz.

Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.

Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen

Ich war von Januar 1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.

Nichts als Nebelkerzen: Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wagenknecht2013Diese Kampagne wird hier von Sahra Wagenknecht demontiert:
http://www.jungewelt.de/2014/06-07/054.php?sstr=Wagenknecht
Auszüge:

Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­verschleiert wirkungsvoll, worum es eigentlich geht:

Das Rentenniveau sinkt seit Jahren, die große Mehrheit wird im Alter nicht mehr menschenwürdig leben können

Die Unternehmerverbände schäumten, die Presse tobte. Der »Ausbau sozialer Wohltaten« sei ein »Betrug am Bürger«, zeterte BDI-Chef Ulrich Grillo, da in den Augen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie selbstverständlich nur der Abbau sozialer Leistungen einen Dienst am Bürger darstellt.
Klaus Zimmermann
, früher Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und heute Prototyp eines auf der Gehaltsliste interessierter Kreise stehenden Mainstream-Ökonomen, beschwerte sich: »Mit der Rentenparty, die die deutsche Bundesregierung gerade auf Kosten der jungen Generation vorbereitet, gibt Deutschland in Europa seinen Anspruch auf Führung in rentenpolitischen Zukunftsfragen auf.«

Ganz in diesem Sinne geißelte Springers Welt das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« als »fatales Signal der neuen deutschen Sozialromantik« und tischte den Lesern folgende Bewertung auf: »Andrea Nahles zertrümmert mit ihrer Sozialpolitik nicht nur die Agenda 2010, sondern gefährdet auch den Europa-Kurs der Kanzlerin. Der Preis dafür wird noch viel höher sein, als wir heute ahnen.«
Da schwante natürlich auch der Brüsseler EU-Kommission eine Gefährdung der »Stabilität der deutschen Staatsfinanzen«. Sie drohte eine Rüge wegen Vertragsverletzung an.

Simulierte Hysterie

Das Ganze ist ein Lehrbeispiel dafür, wie erfolgreiche Kampagnen funktionieren. Es ging um das vor gut zwei Wochen im Bundestag verabschiedete und am 1. Juli in Kraft tretende Rentenpaket, und tatsächlich ist zumindest dessen Preis während des monatelangen Feldzugs seiner Gegner ständig angestiegen.
Im Januar klagten der Direktor des von Verbänden und Unternehmen finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und ihm folgend die CDU-Mittelstandsvereinigung, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und wiederum der BDI über absehbare Mehrausgaben von 60 Milliarden Euro, die die Rentenpläne der Koalition von 2014 bis 2020 verursachen würden.
Dann fiel den Propagandaprofis offenbar auf, daß seit Beginn der Banken- und Euro-Rettung ständig weit höhere Beträge durch die Schlagzeilen geistern und die Zahl 60 Milliarden kaum noch geeignet ist, Angst und Schrecken zu verbreiten. Also nahm man kühn einen um zehn Jahre längeren Zeitraum ins Visier und schob eine Zahl in fast dreifacher Höhe nach: 160 Milliarden, hieß es nun, werde die gebeutelte Nation bis zum Jahr 2030 für die Neuerungen bei der Rente blechen müssen.
Der Eliteeinheit unter den Kampftruppen der Meinungsmache, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, genügte auch das nicht. Flugs beauftragte sie einen ihrer Hofökonomen, eine noch eindrucksvollere Zahl gutachterlich zu untermauern, und Reinhold Schnabel von der Universität Duisburg-Essen lieferte prompt: 230 Milliarden werde der Rentenwahnsinn kosten, orakelte er, von der Presse bereitwillig abgedruckt.

Während die beschlossene Besserstellung älterer Mütter, die die CDU/CSU im Wahlkampf versprochen hatte, nur gelegentlich mitkritisiert wird, richtet sich die öffentlichkeitswirksam vorgetragene Wut hauptsächlich gegen das, was Sozialministerin Andrea Nahles »Rente ab 63« nennt: die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren unter bestimmten Bedingungen und für einen eng begrenzten Zeitraum schon ab 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen zu können.

Gegen die dadurch angeblich heraufbeschworene »Frühverrentungswelle« wurde mit einer Hysterie getrommelt, als drohe eine Massenpensionierung von abhängig Beschäftigten bald jede Wirtschaftsaktivität in deutschen Landen zu ersticken.
»Länger leben und kürzer arbeiten, daß diese Rechnung nicht aufgeht, haben die meisten verstanden, nur die SPD und die Union nicht«, donnerte der Präsident des Verbandes »Die Familienunternehmer«, Lutz Goebel.
Auch die Grünen befürchten einen »Nahles-Knick« und meinen damit, daß die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 63 und 65 Jahren dramatisch einbrechen könnte, zum großen Schaden unserer händeringend Fachkräfte suchenden Unternehmerschaft.

Die ganze Debatte ist an Zynismus und Verlogenheit kaum zu überbieten. Zunächst einmal kann nach normalem Sprachgebrauch eigentlich nur eine Größe »dramatisch einbrechen«, die zuvor ein einigermaßen hohes Niveau erreicht hat.
Geflissentlich blieb in der lautstarken Debatte daher unerwähnt, wie viele Ältere aktuell in den bundesrepublikanischen Büros und Fabriken einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob nachgehen. Schaut man sich die Zahlen an, stellt man fest: Selbst unter den 60jährigen ist es gerade noch jeder dritte.
Mit jedem Lebensjahr mehr geht der Anteil drastisch nach unten: Unter den 63jährigen gibt es noch ganze 15 Prozent Vollzeitbeschäftigte, unter den 64jährigen noch 11,4 Prozent.
Bei den Frauen liegen die Werte noch niedriger. Das bedeutet: Selbst wenn alle 63jährigen sich von heute auf morgen in den Ruhestand verabschieden würden, beträfe das gerade 15 Prozent aller Menschen dieses Alters und würde die deutsche Wirtschaft kaum in den Ruin stürzen.

Wenn die offizielle Arbeitslosenzahl für die über 60jährigen dennoch »nur« bei 8,4 Prozent liegt, hat das mit schlichten statistischen Tricks zu tun. Wer das 58ste Lebensjahr überschritten hat, Hartz IV bezieht und länger als ein Jahr kein Jobangebot mehr bekommen hat, fällt bisher nämlich definitionsgemäß aus der Arbeitslosenstatistik heraus.
Das haben unsere Jobwunderpropagandisten bewußt so beschlossen, denn jeder weiß, daß Arbeitslose in dieser Altersgruppe kaum eine Chance haben, jemals wieder in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren.

Alt und Working poor

Statt einer »Frühverrentungs-« rollt hier die »Zwangsverrentungswelle«: Der von der letzten großen Koalition 2008 eingeführte Paragraph 12a im Sozialgesetzbuch II verpflichtet nämlich die Jobcenter, Hartz-IV-Beziehende an ihrem 63. Geburtstag in den Ruhestand zu schicken, ganz gleich, ob sie das wollen oder nicht.
Die meisten wollen verständlicherweise nicht, denn die erworbenen Rentenansprüche werden unter diesen Bedingungen mit gravierenden Abschlägen entwertet. Derzeit sind es 8,7 Prozent, bis 2027 steigen die Abschläge auf 14,4 Prozent. Ein Anspruch von 1000 Euro schmilzt so auf knapp 860 Euro. Die Zwangsverrentung zerstört damit oft jede Chance, im Alter noch einmal ein bißchen besser zu leben als auf Hartz-IV-Niveau. Pro Jahr trifft dies etwa 65000 Menschen.

Von den Frühverrentungshysterikern ebenfalls geflissentlich unterschlagen wird das aktuelle durchschnittliche Renteneintrittsalter, das ja mitnichten bei jenen 65 Jahren und drei Monaten liegt, mit denen man derzeit abschlagsfrei in Rente gehen kann.
Nein, im Schnitt bekommen die Leute derzeit mit 64 Jahren Altersrente. Ganz ohne Andrea Nahles und ihr Rentenpaket.
Allerdings ist der Preis dieser »Rente ab 64« hoch, eben weil sie mit kräftigen Abschlägen erkauft wird. Entsprechend erhält heute schon jeder zweite Ruheständler nicht mehr die Rente, die er eigentlich erworben hat, sondern eine geminderte.

Die schlechten Jobchancen Älterer sind in einem gesellschaftlichen Klima, das von den Beschäftigten das Ertragen von äußerstem Leistungsstreß, Verfügbarkeit rund um die Uhr, absolute Mobilität und selbstverständlich keine Anzeichen von Schwäche oder gar Krankheit erwartet, kein Wunder.
Der vielzitierten Facharbeiternot zum Trotz beschäftigen gut 36 Prozent aller Betriebe in Deutschland überhaupt keine über 50jährigen. Nur 11,7 Prozent aller Neueingestellten sind älter als 50. Mit jedem weiteren Lebensjahr geht die Zahl weiter zurück.
Wer also jenseits der 55 und gar der 60 seinen Arbeitsplatz verliert, kann relativ sicher sein, keinen neuen mehr zu finden.

Wenn die Regierung die zuletzt angestiegene Erwerbstätigkeit reiferer Jahrgänge lobt, vergißt sie in der Regel dazuzusagen, um welche Art von Jobs es sich dabei handelt.
Zum einen ist es so, daß Ältere einfach länger auf ihrer Stelle bleiben, weil es kaum noch attraktive Vorruhestandsregeln gibt und man bei einem insgesamt sinkenden Rentenniveau oft auch jeden erlangbaren Rentenpunkt braucht, um später einigermaßen über die Runden zu kommen.
Und da es vielfach trotzdem nicht reicht, gibt es eben auch immer mehr Ältere, die Minijobs, meist auch für Minilöhne, annehmen, selbst noch nach dem Renteneintritt.
So gehen heute 60 Prozent mehr Rentnerinnen und Rentner als noch vor zehn Jahren solch kreativen Tätigkeiten wie dem frühmorgendlichen Austragen von Zeitungen, dem Reinigen von Wohnungen oder dem Befüllen von Regalen in Supermärkten nach. Unbedingter Tatendrang kann dabei als Motiv ausgeschlossen werden.
Vielmehr hat die Politik der letzten Jahre erfolgreich immer mehr Menschen in die Situation gebracht, daß sie ohne Hinzuverdienst nicht mehr wissen, wie sie von ihren Hungerrenten Miete und Strom bezahlen sollen. Schließlich haben nach Berechnung des Sozialverbands Deutschland (SoVD) die Renten in den alten Bundesländern seit 2004 knapp zwölf Prozent und in den neuen Bundesländern rund acht Prozent an Kaufkraft verloren.

Damit ist allerdings auch klar, wie heuchlerisch das ganze Frühverrentungsgerede ist. Eine abschlagsfreie Rente ab 63 hätte mitnichten zur Folge, daß sehr viel mehr Menschen als ohnehin schon vor dem 65sten Lebensjahr aus dem Berufsleben ausscheiden würden.
Sie würde lediglich bedeuten, daß die Ansprüche der Betreffenden nicht gekürzt werden. So wären sie im Alter vielleicht nicht mehr gezwungen, irgendwelche entwürdigenden Tätigkeiten zu verrichten. Es geht also gar nicht um den Beginn der Rente, es geht um deren Höhe.
Und jetzt kommt der ernüchternde Teil der Wahrheit: Wenn derzeit jeder zweite Rentner mit Abschlägen in Rente geht, so wird dieses Schicksal auch ab dem Juli 2014, wenn Nahles’ sogenannte »Rente ab 63« für langjährig Versicherte eingeführt sein wird, nicht viel weniger Seniorinnen und Senioren treffen.
Denn tatsächlich ist der Kreis der Profiteure der neuen Regelung außerordentlich überschaubar. Mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen kann nämlich nur, wer zwischen Juli 1951 und Dezember 1952 geboren wurde und 45 Beitragsjahre nachweisen kann.
Für die ab 1953 Geborenen steigt die Altersgrenze allmählich wieder auf 65 Jahre an. Letzteres ist allerdings schon heute geltende Gesetzeslage, denn das hatte die damalige große Koalition bereits bei Einführung der »Rente erst ab 67« beschlossen: Wer 45 Beitragsjahre hat, soll nur bis 65 arbeiten müssen.

Das von den Wirtschaftslobbyisten zum »teuersten Rentenpaket aller Zeiten« aufgeblasene Gesetz entpuppt sich damit als schlichte Übergangsregelung: Während sich der reguläre Zeitpunkt für den Eintritt in die Altersrente – ohne irgendwelchen Widerspruch oder weitere Debatte – in Richtung der 67 bewegen soll, geht der für eine abschlagsfreie Rente der »besonders langjährig Versicherten« in Richtung 65. Genau zehn Jahrgänge sind etwas besser gestellt als jetzt, für die ab 1964 Geborenen gilt dann wieder das, was Müntefering ins Werk gesetzt hat.

Und natürlich sind auch nicht die zehn Jahrgänge insgesamt begünstigt, sondern aus jedem von ihnen nur ein relativ kleiner Personenkreis. So hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in einem Brief an Ministerin Nahles darauf hingewiesen, daß Altenpfler, Krankenschwestern, Sozialarbeiter oder Erzieher, also faktisch alle, die in sozialen Berufen oder im Gesundheitswesen tätig sind, selbst bei einer ungebrochenen Erwerbsbiographie und keinem einzigen Jahr Arbeitslosigkeit nicht in den Genuß der früheren Rente ohne Abschläge kommen werden.
Denn die Ausbildung dauert in solchen Berufen schlicht zu lang, um auf die nötigen 45 Beitragsjahre zu kommen. Als Hauptbegünstigter der Regelung wird zu recht der (meist männliche) Facharbeiter genannt, obwohl selbst von diesen Berufsgruppen nur eine Minderheit profitiert.
Zwar darf man mehrmals im Leben kurze Zeit arbeitslos gewesen sein, hat es allerdings ein Mal länger gedauert und man ist in Hartz IV bzw. war in Arbeitslosenhilfe gerutscht, ist es vorbei.

Die größte Verschlechterung, die den Kreis der Glücklichen nochmals drastisch reduziert hat, wurde auf den letzten Metern beschlossen, als die SPD vor der absurden »Frühverrentungs«-kampagne einknickte und der »rollierende Stichtag« ins Gesetz kam:
Danach werden von der vorgezogenen abschlagsfreien Rente genau die nicht mehr profitieren, die sie am dringendsten brauchen: diejenigen nämlich, die jenseits der 60 arbeitslos werden.
Die letzten beiden Jahre vor dem Renteneintritt zählen nämlich im Falle von Arbeitslosigkeit nur noch dann als Beitragsjahre, wenn letztere infolge einer Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers eintritt. Das gilt selbst dann, wenn der Betreffende Arbeitslosengeld I bezieht, von dem ja Beiträge abgeführt werden. So begünstigt das neue Gesetz faktisch nur die, die es geschafft haben, bis 63 und länger zu malochen, und deren bis dahin erworbene Rentenansprüche so gut sind, daß ein vorzeitiges Ausscheiden attraktiv erscheint – oder die von ihrem Unternehmen zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger sanft hinausgedrängt werden.

Wie viele das tatsächlich sein werden, weiß niemand genau. 2012 betrafen die Altersrenten für »besonders langjährig Versicherte« – also Menschen mit 45 Versicherungsjahren und mehr – gerade mal 12.306 Personen (10555 Männer und 1751 Frauen). Nun wurden unter dieser Rubrik allerdings nicht alle erfaßt, die in Zukunft profitieren würden.
Aber klar ist: Viele werden es nicht sein, für die sich aufgrund der »Rente ab 63« tatsächlich etwas verbessert. Die Regierung kalkuliert mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro bis zum Jahr 2017. Nach 2017 werden die Mehrausgaben dann immer kleiner, bis sie, wenn der Jahrgang 1964 in Rente geht, gleich Null sind.
Das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« kostet mit sieben Milliarden in dieser Legislatur also etwa ein Drittel dessen, was für den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan aufgebracht wurde.

Verkümmert auf Basisschutz

Sicher, zum Rentenpaket gehört noch die Mütterrente, die die CDU/CSU durchgesetzt hat. Für sie wird mit 6,5 Milliarden an jährlichen Kosten gerechnet, wobei Begünstigte natürlich nur jene älteren Mütter sind, deren Rente oberhalb der Grundsicherung liegt. Die Anderen gehen leer aus.

Aber nicht die Mütterrente, deren Kosten insgesamt ja ebenfalls überschaubar sind, sondern die »Rente ab 63«, die sich die SPD zurechnen kann, wurde öffentlich attackiert.
Wenn man sich die realen Zahlen ansieht, sowohl was die Kosten als auch was die Anzahl der Begünstigten angeht, erscheint die ausgebrochene Hysterie als schlichtweg krank. Aber das war sie nicht. Der Wahnsinn hat Methode. Es ging nie um die lächerlichen sieben Milliarden oder um die wenigen hunderttausend Leute, die tatsächlich einen Vorteil von dem beschlossenen Gesetz haben werden.
Es ging darum, unter dem ohrenbetäubenden Getöse über angebliche »Frühverrentungswellen«, »soziale Wohltaten« und »Kostenexplosionen« jede Debatte über den eigentlichen Skandal in der deutschen Rentenversicherung im Keim zu ersticken: den Skandal, der darin besteht, daß die gesetzliche Rente als eine den Lebensstandard im Alter halbwegs sichernde Leistung in den vergangenen 14 Jahren in Deutschland komplett zerschlagen wurde, den Skandal, daß das Rentenniveau seit Jahren sinkt und in Zukunft noch stärker sinken wird, den Skandal, daß selbst ein Durchschnittsverdiener mit relativ langer Beitragszeit heute nicht mehr damit rechnen kann, im Alter von seiner Rente menschenwürdig leben zu können, und natürlich auch den Skandal, daß die Riester-Betrugsprodukte schamlos mit öffentlichen Geldern subventioniert werden, obwohl sie bekanntermaßen nur die Banken und Versicherungen und keinen einzigen künftigen Rentner reich machen.
Und es ging darum, all jene in der SPD und in den Gewerkschaften, die sich vielleicht noch an die Wahlversprechen dieser Partei erinnern könnten, mundtot zu machen:
Wenn bereits eine so marginale und vorübergehende Verbesserung einen derartigen Aufruhr verursacht, wer wagt dann noch, mehr zu fordern, wer hat dann noch den Mut, auf das hinzuweisen, was eigentlich notwendig wäre: Die Wiederherstellung der gesetzlichen Rente.

Albrecht Müller hat vor kurzem auf den Nachdenkseiten aus einer schon älteren Rede von Bernd Raffelhüschen, einem der bekanntesten Lobbyisten der Versicherungswirtschaft, zitiert.
In dieser Rede aus dem Jahr 2008, die an selbstgefälligem Zynismus schwer zu überbieten ist, führt besagter Raffelhüschen vor Versicherungsvertretern aus: »Die Rente ist sicher – sag’ ich Ihnen ganz unverblümt. (Gelächter unter den Versicherungsvertretern.) Die Rente ist sicher, nur hat kein Mensch mitgekriegt, daß wir aus der Rente schon längst eine Basisrente gemacht haben. Das ist alles schon passiert. Wir sind runtergegangen durch den Nachhaltigkeitsfaktor und durch die modifizierte Bruttolohnanpassung. Diese beiden Dinge sind schon längst gelaufen, ja, waren im Grunde genommen nichts anderes als die größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat. (…)
Aus dem Nachhaltigkeitsproblem der Rentenversicherung ist quasi ein Altersvorsorgeproblem der Bevölkerung geworden.
So, das müssen wir denen erzählen! Also, ich lieber nicht, ich hab genug Drohbriefe gekriegt! Kein Bock mehr, irgendwie. Aber Sie müssen das, das ist Ihr Job!«

Damit diese von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP verantwortete »größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat«, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet und die Verkümmerung der gesetzlichen Rente zu einem Basisschutz in Höhe des Hartz-IV-Niveaus mehr und mehr als Normalität empfunden wird, reden die vereinigten Kampflobbyisten vom »größten Rentenpaket aller Zeiten«, von »Sozialromantik«, »Rentenparty« und all dem Zeug, von dem sie selbst sehr gut wissen, daß es vollkommener Unsinn ist.

Um zu verstehen, wie erfolgreich diese Kampagne tatsächlich war, sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen, was die SPD sogar noch nach der Wahl, auf ihrem Parteikonvent am 24. November, beschlossen hatte. Damals hieß es wenig zweideutig: Der »… Einstieg in die Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre ist auszusetzen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist erst dann möglich, wenn die rentennahen Jahrgänge, also die 60 bis 64jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mindestens zu 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind«. Da diese Quote bei weitem nicht erreicht ist, bedeutet das eine klare Absage an die Rente erst ab 67.

Ähnlich entschieden wird zum Rentenniveau ausgeführt: »Wir werden das derzeitige Sicherungsniveau bis zum Ende des Jahrzehnts aufrechterhalten. 2020 gilt es neu zu bewerten, wie über die Wirkungen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf Beschäftigung, Einkommen und Produktivität die Ankopplung der Renten an die Erwerbseinkommen vorzunehmen ist.« Derzeit liegt das Sicherungsniveau der Rente bei 47,8 Prozent der Durchschnittslöhne. Das ist schon deutlich weniger als vor dem Unheil der Riester-Reformen, als es noch 53 Prozent waren. Bis »Ende des Jahrzehnts«, also bis zum Jahr 2020, soll dieses Niveau laut jetzt beschlossenem Gesetz auf nur noch 46,9 Prozent absinken. 2030 soll es bei mickrigen 43,7 Prozent liegen, niedriger als ohne die Neuregelung – und das alles ganz ohne »neue Bewertung«.

Manches besser, nichts gut

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Rente erst ab 67 jetzt auch von der SPD akzeptiert wird, ist übrigens nicht nur ein Bruch der eigenen Wahlversprechen, sondern fällt sogar hinter die bisher geltende Gesetzeslage zurück.
Unter öffentlichem Druck wurde die »Rente ab 67« nämlich nicht pauschal beschlossen, sondern eine Klausel aufgenommen (Paragraph 154 Absatz 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches), nach der alle vier Jahre geprüft werden soll, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint.
Um ihr Wahlversprechen »Aussetzung der Rente ab 67« zu erfüllen, hätte die SPD also noch nicht einmal ein neues Gesetz gebraucht. Sie hätte einfach nur darauf dringen müssen, die vorhandene Regelung erst zu nehmen.

»Manches wird besser, aber nichts wird gut«, hat der Rentenexperte der Linken, Matthias W. Birkwald, das Rentenpaket auf einen kurzen Nenner gebracht.
Und Norbert Blüm kritisiert: »Die verzweifelten aktuellen Reparaturversuche sind nur eine Ablenkung von den Folgen der Riester-Rente … Das Rentenniveau ist der Knackpunkt einer soliden Rentenpolitik. Wenn die 4 Prozent Beitrag zur Riester-Rente in die Rentenkasse fließen würden, wäre ein anständiges Rentenniveau zu sichern.«
Aber wer außer dem früheren CDU-Arbeitsminister, den unermüdlichen Autoren der Nachdenkseiten und vor allem der Linken thematisiert den Rentenskandal heute noch?
Die Gewerkschaften, die lange gegen die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Sturm gelaufen sind, sind weitgehend verstummt.
Und dank BDI, Springer und Co. steht Andrea Nahles öffentlich durchaus nicht als Wahlbetrügerin da, sondern als tapfere Frau, die »ihr Rentenprojekt« gegen den massiven Widerstand der Wirtschaft durchzusetzen vermochte.

Zufrieden mit ihrem Erfolg bereitet die Kampflobby jetzt ihr nächstes Projekt vor. Die Geschütze sind bereits in Stellung gebracht, die ersten gekauften Hofökonomen und solche Politiker, deren Ruf ohnehin ruiniert ist, beginnen zu feuern. »Der Anstieg der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer wie auch des Rentenzugangsalters auf 64 Jahre zeigt, daß die Rente mit 70 … nicht nur machbar, sondern auch geboten ist«, predigt IW-Chef Michael Hüther.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sekundiert: »Durch die steigende Lebenserwartung und die demographische Wende ist die Frage der Rente mit 70 unausweichlich«.
Und auch der Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, belehrt uns: »Um die finanzielle Stabilität der Rentenversicherung langfristig zu sichern, sollte das Renteneintrittsalter ab dem Jahr 2029 regelgebunden weiter ansteigen, orientiert an der absehbaren Entwicklung der künftigen Lebenserwartung«.
Aus der politischen Kaste wagt sich EU-Energiekommissar Günther Oettinger hervor, für den es, wie zu befürchten steht, auch in der neuen EU-Kommission Verwendung geben wird: »Wir haben einen Fachkräftemangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen.«
Noch Fragen?

Um die Notwendigkeit eines späteren Renteneintritts zu begreifen, reiche Volksschule Sauerland, hatte Franz Müntefering einmal gesagt.
Um die hinter der Renten-Kampagne stehenden Interessen zu verstehen, sollte eigentlich das simple Einmaleins genügen.
Freilich nur, wenn wir uns von dem öffentlichen Getöse nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Sahra Wagenknecht ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion von Die Linke im ­Bundestag

Jochen