FÜR EINE SOZIALE ALTERNATIVE ZUR POLITIK DER GROSSEN KOALITION

Gegen das Ausverkaufsvotum des DGB-Vorsitzenden für die GroKo regt sich Widerstand an der Basis. Hier kann man eine Online-Petition unterschreiben:

https://www.sozial-statt-grokopolitik.de/#

In den kommenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist es von entscheidender Bedeutung, wie sich Gewerkschaften gegenüber der Politik positionieren. Wir nehmen die aktuelle Debatte um „pro oder contra zur GroKo“ zum Anlass, dies zu tun. Dabei geht es uns nicht um die Einwirkung auf die zur Zeit abstimmenden SPD-Mitglieder, sondern darum, die Politik an gewerkschaftlichen Zielen zu messen und die Politik mit gewerkschaftlichen Politikinhalten zu konfrontieren. Aus diesem Grunde haben wir nachstehenden Aufruf verfasst:

SOZIAL_STATT_GROKODer Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wird trotz einiger positiver Elemente wie beispielsweise die paritätischen Beiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung den Anforderungen aus gewerkschaftlicher Sicht nicht gerecht.

Keine Umverteilung

Obwohl die Ungleichheit in Deutschland wieder das Ausmaß von vor hundert Jahren angenommen hat, verzichtet die GroKo auf Umverteilung von oben nach unten: keine Vermögenssteuer, keine Änderung der Erbschaftssteuer, keine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Die geplante Abschmelzung des Soli-Zuschlages führt zu erheblichen Einnahmeausfällen der öffentlichen Hand und entlastet vor allem Haushalte mit relativ hohen Einkommen.

Investitionsstau

Der Investitionsstau in Deutschland beläuft sich auf hohe dreistellige Milliardenbeträge. Es gibt riesige Bedarfe für Verbesserungen in der Infrastruktur und mehr Personal in Bildung, Gesundheitswesen und Pflege. Statt diese Herausforderungen ernsthaft anzugehen, setzt die große Koalition auf ein „weiter so“ mit nur kleinen und völlig unzureichenden Korrekturen.

Altersarmut

Die Stabilisierung des Rentenniveaus bis 2025 ist ein Scheinerfolg. Laut Renten-versicherungsbericht liegt das Nettorentenniveau vor Steuern bis einschließlich 2024 sowieso mindestens bei 48 Prozent und knickt erst danach nach unten ab. Die geplante Grundrente ist unzureichend. Wenn die falschen Weichenstellungen in der Rentenpolitik nicht korrigiert werden, droht Millionen Beschäftigten Altersarmut.

Zweiklassenmedizin und Pflegenotstand

Trotz der geplanten Wiedereinführung der paritätischen Beitragssätze sind wir meilenweit von einem solidarischen Gesundheitssystem entfernt: Tatsächliche hälftige Finanzierung der Gesundheitsversorgung, Schritte hin zu einer Bürgerversicherung, Einschränkung der Anbieterdominanz? Alles Fehlanzeige. Die Unterfinanzierung der Pflege bleibt bestehen, die 8.000 neu geplanten Stellen greifen viel zu kurz.

Arbeitsmarkt

Nichts findet sich zu dringend notwendigen Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung und den Missbrauch von Werkverträgen, zur Stärkung des Mindestlohns und der Tarifverträge, zur sozialen Regulierung digitaler Arbeit. Die Einschränkung grundloser Befristungen ist nur ein schwacher Kompromiss, Midi-Jobs sollen sogar ausgeweitet werden. Auch in der Arbeitsmarktpolitik gibt es keinen Kurswechsel: keine Verbesserung der durch die „Hartz-Gesetze“ eingeschränkten Leistungen (Bezugsdauer Arbeitslosengeld I, Leistungshöhe Arbeitslosengeld II, Zumutbarkeitsregelungen und Sanktionen). Unter dem Strich werden so in Deutschland prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne zementiert statt eingedämmt.

Der Gesamtbeitragssatz zu den Sozialversicherungen soll unter 40 Prozent gehalten werden. Damit werden Leistungskürzungen im Verlauf der 2020er Jahre vorprogrammiert.

Sündenbock Geflüchtete

Das Ganze wird dann noch garniert mit Formulierungen, die stark an die von der CSU geforderte Obergrenze von Flüchtlingen erinnern. Suggeriert wird, dass Deutschland keine Verantwortung für die Fluchtursachen trägt. Zudem soll verstärkt aufgerüstet werden und Deutschland sich weiter an Militäreinsätzen des Westens beteiligen. Suggeriert wird ferner, dass etwaige Belastungen durch die Gesellschaft nicht aushaltbar wären. Beides ist falsch.

Gewerkschaften müssen ihr politisches Mandat offensiv wahrnehmen!

Die Umsetzung des GroKo-Vertrages wäre ungeeignet, die realen gesellschaftlichen Probleme, insbesondere die Armuts- und Reichtumsentwicklung, zu lösen. Statt den Koalitionsvertrag zu bejubeln, müssen die Gewerkschaften ihre inhaltlichen Anforderungen an die Koalition und die Regierung bekräftigen und diese durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen untermauern. Die Gewerkschaften müssen konsequent ihre Aufgabe als parteipolitisch unabhängige Interessenvertretung der von Lohnarbeit abhängigen Menschen wahrnehmen.

Eine soziale Alternative, ein Politikwechsel für gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit und für Frieden ist und bleibt notwendig.

Wir engagieren uns im DGB und seinen Gewerkschaften insbesondere für

  • eine Politik, die gute Arbeit für alle schaffen will, mit voller sozialer und tariflicher Absicherung und mehr Beschäftigung in gesellschaftlichen Bedarfsbereichen.
  • eine Steuerpolitik, die auf Mehreinnahmen zielt und von oben nach unten umverteilt (z.B. Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Unternehmenssteuer und Spitzensteuersatz)
  • eine Sozialpolitik, die ein auskömmliches Leben für alle ermöglicht (z.B. Nein zur Rente mit 67, Anhebung des Rentenniveaus auf vor Agenda-Niveau, Erwerbstätigen- und Bürgerversicherung, Anhebung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I, deutliche Anhebung des Arbeitslosengeld II, Sanktionsfreiheit des Existenzminimums)
  • eine Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten, die verdeutlicht: Der Gegensatz verläuft nicht zwischen drinnen und draußen, sondern zwischen oben und unten! Solidarität und Verständigung statt Rassismus und Sündenbockpolitik.

ErstunterzeichnerInnnen:

Jan Arff, Mitglied Landesfachbereichsvorstand Bildung, Wissenschaft, Forschung Berlin-Brandenburg l Heinz Bayer, GEW, Hanau l Privatdozent Dr. Johannes M. Becker, ver.di/ GEW, Friedens- und Konfliktforscher, Marburg l Rolf Becker, ver.di, Schauspieler, Hamburg l Britta Brandau, ver.di, Frankfurt l Achim Brandt, Betriebsratsvorsitzender Bosch l Carsten Bremer, Gewerkschaftssekretär l Lothar Brendel, ver.di, Personalratsvorsitzender der Zentral- und Landesbibliothek Berlin l Lukas Bürger, Gewerkschaftssekretär l Monika Christann, ver.di, Gewerkschaftssekretärin, Frankfurt l Achim Craney, ver.di Betriebsgruppe Krankenhaus Augsburg l Jörg Conrad, Schwerbehindertenvertrauensperson Siemens AG l Prof. Dr. Frank Deppe, Marburg l DGB Kreisverband Oberhavel l Klaus Ditzel, DGB Kreisvorsitzender, Hanau l Jochen Dörr, Vorsitzender FB 3, ver.di Bezirk Heilbronn-Neckar-Franken l  Matthias Ebenau, IG Metall, Gewerkschaftssekretär l Kevin Eckert, IG Metall, VK-Leiter Vacuumschmelze, Hanau l Kai Eicker-Wolf, Gewerkschaftssekretär, GEW Hessen l Ulrike Eifler, Gewerkschaftssekretärin, Hanau l Arno Enzmann, ver.di, Gewerkschaftssekretär i.R., Wiesbaden l Michael Erhardt, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Barbara Fanderl, NGG, Betriebsratsvorsitzende Nestlé, Biessenhofen l Katharina Fassnacht, NGG, Betriebsratsvorsitzende Karwendel-Werke Buchloe l Frank Firsching, Gewerkschaftssekretär, Schweinfurt l Ernst Frick, Betriebsrat ABB, Hanau l Benjamin Gampel, ver.di Betriebsgruppe Krankenhaus Augsburg l Sebastian Gasior, Gewerkschaftssekretär l Bernd Gehrke, ver.di, Teamer, Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West l Günther Gehrmann, Stellvertretender Betriebsratsvorsitzender Bosch l Andrea Germanus, Gewerkschaftssekretärin, Potsdam l Axel Gerntke, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Olaf Giese, NGG Bremen l Norbert Göbelsmann, Gewerkschaftssekretär l Heiko Glawe, Gewerkschaftssekretär, Berlin l Horst Gobrecht, Gewerkschaftssekretär l Conny Gramm, IG Metall, Hanau l Roland Hamm, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Christian Haß, ver.di, Vorsitzender FB 13 Berlin l Raymond Haße, IG Metall l Harry Hauke, NGG, Bremen l Gordon Herlett, NGG, Bremen l Gertrud Herrmann, NGG, Betriebsratsvorsitzende Hochland, Heimenkirch l Günter Hoetzl, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Karlheinz Hofmann, IG BCE, Betriebsratsvorsitzender Dentsply Sirona, Hanau l Renate Hürtgen, GEW, Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West l Tobias Huth, Gewerkschaftssekretär, Hanau l Jorge Jacinto, NGG, Bremen l Stefanie Jahn, IG Metall, 1. Bevollmächtigte l Barbara Jantowski l Olaf Kämpfer, IG Metall, Betriebsratsvorsitzender Schmitz Cargobull Gotha l André Kaufmann, Gewerkschaftssekretär l Cordula Kiank, ver.di, Gewerkschaftssekretärin l Berthold Kipka, Betriebsratsvorsitzender ABB, Hanau l Olaf Klenke, NGG, Gewerkschaftssekretär l Stephan Klimzcyk, IG BCE, Hanau l Birgit Koch, Landesvorsitzende GEW Hessen l Catrin Köhler-Gerken, NGG, Bremen l Markus Kornemann, NGG, Bremen l Sascha Kraft, ver.di, Mitglied der Tarifkommission Charié Facility Management, Berlin l Kalle Kunkel, Gewerkschaftssekretär, Berlin l Mario Kunze, ver.di, Vertrauensmann l  Winfried Lätsch, Seniorenarbeitskreis, NGG Region Berlin-Brandenburg l Bärbel Lange, Landesvorstandsmitglied GEW-Berlin und Sprecherinnenteam Landesfrauenausschuss l Hans-Joachim Langhans, Mitglied ver.di-Bezirks- und Landesvorstand FB 05, Berlin l Sven Leuschner, Mitglied Landesvorstand GEW Berlin l Carsten  Liedlich, IG Metall, Betriebsratsvorsitzender Paul Beier GmbH l Tim Lubecki, NGG Geschäftsführer Region Schwaben l Dr. Isolde Ludwig, Bildungsreferentin, Frankfurt l Dana Lützkendorf, ver.di, Betriebsgruppensprecherin Charié l Peer Luttmann, NGG, Bremen l Thomas Maier, IG Metall, Gewerkschaftssekretär l David Matrai, ver.di, Gewerkschaftssekretär, Hannover l Torsten Meier, Betriebsratsvorsitzender Automotive Lighting Botterode l Bernd Messerschmidt, IG Metall, Gewerkschaftssekretär l  Pit Metz, DGB Kreisvorsitzender, Marburg l Sven Meyer, ver.di, Präsidium FB 13, Berlin-Brandenburg l Stefan Mißbach, NGG, Bremen l Marina Möller, GEW, Hanau l Andreas Müller, EVG, Gewerkschaftssekretär l Heiko Müller, IG Metall, Betriebsratsvorsitzender Bachmann Elektronik Gumpenstadt l  Claudius Naumann, ver.di,  Vorsitzender FB Bildung Wissenschaft Forschung Bezirk Berlin l NGG Regionsvorstand Allgäu l Gisela Neunhöffer, Gewerkschaftssekretärin l Dieter Nickel, NGG Geschäftsführer Region Bremen-Weser-Elbe l Andreas Nolte, Gewerkschaftssekretär l Dennis Olsen, IG Metall, Gewerkschaftssekretär l Taskin Özcelik, NGG, stellv. Betriebsratsvorsitzender Hochland, Heimenkirch l Annette Pum, Betriebsratsvorsitzende Cohlein l Frank Raabe-Lindemann, Gewerkschaftssekretär l Wolfgang Räschke, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Michael Rau, GEW Berlin l Jan Richter, ver.di, Berlin l Ralf Rippel, IG BAU Berlin l Benjamin Roscher, Landesfachbereichsleiter, Berlin-Brandenburg l Josephine Roscher, Gewerkschaftssekretärin, Berlin l Stefan Sachs, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Robert Sadowsky, IG Metall, ehem. 1. Bevollmächtigter l Anton Salzbrunn, Vorsitzender GEW Bayern l Hilke Sauthof-Schäfer, ver.di, Gewerkschaftssekretärin, Hanau l Jens Schäfer, IG Metall, Betriebsratsvorsitzender l Heidi Scharf, IG Metall, ehem. 1. Bevollmächtigte l Günter Schneider, NGG, Bremen l Peter Schmidt, NGG, Referatsleiter Internationales l Sascha Schmidt, Vorsitzender DGB Wiesbaden-Rheingar-Taunus l Lukas Schmolzi, ehem. Betriebsrat Botanischer Garten Berlin l Klaus Schüller, EVG, Vorsitzender DGB Senioren Hessen-Thüringen und Mitglied im AfA-Bundesvorstand l Eberhard Schüttpelz, Sprecher der DGB Senioren Hanau l Bernd Schumann, ver.di-Bezirksvorsitzender Saar/ Trier l Tony Schwarz, stellv. Landesvorsitzender GEW Hessen l Martin Simon Schwärzel, KBR-Vorsitzender Asklepios Kliniken, Langen l Jana Seppelt, Gewerkschaftssekretärin, Berlin l Maik Sosnowsky, Betriebsratsvorsitzender Charité CFM Facility Management l Yvonne Sotorrios, Gewerkschaftssekretärin l Andreas Stangert, IG Metall, Betriebsratsvorsitzender l Matthias Stein, NGG, Bremen l Thomas Steinhäuser, Gewerkschaftssekretär l Angela Stephan, ver.di, Präsidium FB 13 Berlin-Brandenburg l Karola Stötzel, stellv.  Landesvorsitzende GEW Hessen l Jörg Tetzner, Landesvorstandsmitglied GEW Berlin l Auke Tiekstra, Vertrauenskörperleitung VW l Frank Traemann, NGG, Bremen l Roland Tramm, Vorstand Betriebsgruppe Freie Universität l Alexander Ulrich, IG Metall, 2. Bevollmächtigter l Mario Vagnoni, NGG, Bremen l Christoph Wälz, Mitglied im Landesvorstand GEW Berlin l Manfred Wagner, GEW, Hanau l Sabine Wagner, NGG, stellv. Betriebsratsvorsitzende Hochland Schongau und Hauptvorstandsmitglied l Sebastian Walter, Gewerkschaftssekretär, Ostbrandenburg l Stefan Weigand, Betriebsrat ABB, Hanau l Sybille Weiner, NGG, Betriebsratsmitglied Edelweiss, Kempten l Robert Weissenbrunner, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Claudia Weixler, NGG Geschäftsführerin Allgäu l Gerhard Wick, IG Metall, 1. Bevollmächtigter l Maike Wiedwald, Landesvorsitzende GEW Hessen l Matthias Wilhelm, Gewerkschaftssekretär l Sabrina Wirth, IG Metall, 1. Bevollmächtigte l  Rainer Witzel, Landesvorstandsmitglied GEW Berlin l Norbert Zirnsak, IG Metall, Gewerkschaftssekretär, Würzburg l Steffen Zucker, Betriebsratsvorsitzender GFT GmbH Gotha

Christoph Butterwegge: Wir brauchen einen solidarischen Ruck

Christoph Butterwegge über die Motive seiner Kandidatur für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten

Weil es keinen gemeinsamen rot-rot-grünen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geben wird, schickt die LINKE einen eigenen Bewerber ins Rennen. Butterwegge ist auch schon hier in den Sozialpolitischen Nachrichten zu Wort gekommen.

Folgend veröffentlicht »neues deutschland« ein 10-seitiges Schriftstück von Professor Dr. Christoph Butterwegge zu seiner Bewerbung um das Bundespräsidentenamt:

Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt

Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.

Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als »Hartz- IV-Familien« bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.

Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.

CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr »Deutschlands Zukunft gestalten« überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort »Reichtum« nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

»Armut« taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD »den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren«, meinen damit aber den Analphabetismus, während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld (»Hartz IV«) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro, 1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. »Altersarmut« kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in der Zwischenüberschrift »Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen«, die das Motto für die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort »Armutswanderung« bzw. »Armutsmigration« verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine »ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen« vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden.

Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer »importiert« wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.

Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten »Ohne Frieden ist alles nichts« ausgedrückt hat.

Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber gleichwohl als »ideeller Gesamtlinker«, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.

Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie »Finanzkrise, Staatsschulden und Euro- Stabilisierung«, »Sozialstaatsentwicklung und Armut«, »Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie«, sowie »Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung« verlangen ein viel stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die wachsende »Parteienverdrossenheit« der Bürger/innen gefährdet. »Politikverdrossenheit« ist allerdings genauso wie »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.

Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) oder die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.

Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft

Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?

Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein »Ruck« (Roman Herzog) nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug: Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer, sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.

Seit der »Agenda 2010« und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland. »Hartzer« werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und als »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer« verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/ innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines »Um-« bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck›schen Sozialsystems, verbunden mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/ innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunter nehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.

Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.

Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen und Gehältern in dieser Höhe enden?

Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.

Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen Justiz.

Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.

Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen

Ich war von Januar 1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.