Tod durch Verschmutzung – Studie zeigt: Jeder sechste vorzeitige Todesfall weltweit geht auf Verunreinigung der Umwelt zurück.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.jungewelt.de/artikel/426849.klimakrise-tod-durch-verschmutzung.html

Studie zeigt: Jeder sechste vorzeitige Todesfall weltweit geht auf Verunreinigung der Umwelt zurück. Arme Länder besonders betroffen

Von Raphaël Schmeller
Auszüge:

Die Zahl spricht für sich: Umweltverschmutzung ist weltweit für jeden sechsten vorzeitigen Todesfall verantwortlich. Laut einer am Mittwoch in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Studie starben deshalb allein im Jahr 2019 neun Millionen Menschen verfrüht.
Hauptursache sind demnach schlechte Luftqualität und chemische Schadstoffe, insbesondere Blei. Konkret sind 6,7 Millionen vorzeitige Todesfälle laut der Untersuchung auf Luftverschmutzung zurückzuführen, weitere 1,4 Millionen Menschen starben aufgrund von Wasserverschmutzung und 900.000 wegen Bleibelastung.
Algerien hatte 2021 als letztes Land weltweit Blei im Benzin verboten. Dennoch gelangt der Schadstoff weiterhin in die Umwelt, insbesondere durch unsachgemäßes Recycling von Blei-Säure-Batterien und Elektroschrott, so die Untersuchung. *)

Wirtschaftliche Verluste

Die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Gesundheit seien »sehr viel größer als die von Krieg, Terrorismus, Malaria, HIV, Tuberkulose, Drogen und Alkohol«, schreiben die Autoren rund um Studienleiter Richard Fuller von der Globalen Allianz für Gesundheit und Umweltverschmutzung (GAHP). Umweltverschmutzung und Abfälle, die in Luft, Wasser und Boden gelangen, führten meistens indirekt zum Tod.
Die Mehrzahl der Todesfälle seien durch Erkrankungen hervorgerufen worden wie Krebs, Atemprobleme, Schlaganfall oder akuten Durchfall.

Ein Ergebnis, das wenig erstaunt: Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind besonders betroffen. Auf sie entfallen 92 Prozent dieser Todesfälle und ein Großteil der damit verbundenen wirtschaftlichen Verluste.
Diese lagen 2019 laut der Studie bei 4,6 Billionen US-Dollar (4,38 Milliarden Euro) – das entspricht etwa sechs Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung.
In diesen Ländern wird vor allem die Innenluftverschmutzung – zum Beispiel hervorgerufen durch das Verbrennen von Brennstoffen zum Kochen und Heizen – als ein Hauptgesundheitsproblem für Menschen beschrieben.

In Indien sterben demnach jedes Jahr rund 2,4 Millionen Menschen verfrüht wegen der Umweltverschmutzung, in China sind es 2,2 Millionen.
Bezogen auf die Bevölkerungszahl der Länder haben afrikanische Staaten wie der Tschad, die Zentralafrikanische Republik und der Niger die dramatischsten Sterbequoten: rund 300 Tote pro Jahr pro 100.000 Einwohner, meistens wegen verschmutzten Wassers.

Anders sieht es in der EU aus. Dort war die Umweltverschmutzung 2019 »nur« für 400.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich. Hier wird vor allem die Außenluftverschmutzung als schädlichste Quelle benannt.

Keine Verbesserung in Sicht

Insgesamt ist die Zahl der Todesfälle, die durch schlechte Luftqualität in Innenräumen, unsauberes Trinkwasser und Hygienemängel verursacht wurden, leicht zurückgegangen.
Die Todesfälle, die mit der Industrialisierung zusammenhängen, nahmen jedoch stark zu. So ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der vorzeitigen Todesfälle, die sich auf Abgase von Kraftfahrzeugen und Industrie zurückführen lassen, um 55 Prozent gestiegen. Betroffen sind vor allem asiatische Länder, in denen die Industrialisierung stark zugenommen hat und immer mehr Millionenmetropolen entstehen.

Die globale Situation hat sich den Wissenschaftlern zufolge seit 2015 nicht verbessert; bereits damals ging rund jeder sechste vorzeitige Todesfall auf Umweltverschmutzung zurück. Das Bewusstsein für das Problem und die finanziellen Mittel zu dessen Bekämpfung seien seit damals nur geringfügig gestiegen.

*: Wir wollen nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass der Militärapparat der USA weltweit die größte Quelle von Umweltverschmutzung ist, siehe
https://josopon.wordpress.com/2019/05/31/us-militar-ist-weltweit-groster-umweltverschmutzer/
und
https://josopon.wordpress.com/2019/09/02/us-militar-der-groste-umweltvergifter-werner-rugemer-aktualisiert/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Was wir von der Biden-Präsidentschaft im Nahen Osten erwarten können

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.nachdenkseiten.de/?p=67111

Vergleiche dazu auch https://josopon.wordpress.com/2018/06/18/so-macht-exzeptionalismus-spass-die-juedische-rasse-ist-das-auserwaehlte-das-kluegste-und-herausragendste-volk/
https://josopon.wordpress.com/2018/04/14/der-krieg-gegen-russland-hat-auf-syrischem-boden-begonnen-karin-leukefeld-berichet/
und https://josopon.wordpress.com/2020/11/09/nach-biden-wahl-sprachregelung-fur-deutschland-und-europa-militarische-konfrontation-statt-friedlichen-zusammen-lebens-abschreckung-statt-abrustung-online-friedensratschlag-am-6-dezember-ab-11-uh/

Aktuell dazu weiter unten ein aktueller Kommentar von Oskar Lafontaine.

Zurück in die Zukunft

Ein Artikel von Jakob Reimann

Joe Biden ist ein Empire-Politiker, ein US-Exzeptionalist, der überzeugt ist, dass die Welt in alle Ewigkeit von der Großmacht USA dominiert werden muss.
Im Pulverfass Nahost wird er zum Status quo der Obama-Ära zurückkehren: Die eskalative Iran-Politik seines Vorgängers wird er hoffentlich umkehren und den so wichtigen Iran-Deal wiederbeleben.
Seine Israel-Palästina-Politik wird im Ton gewiss moderater, doch als selbsternannter „Zionist“ wird er der israelischen Regierung nur minimale Grenzen setzen:
Statt wie auf Steroiden *), muss Netanyahu die Palästinenser nun wieder ganz normal unterdrücken.
Biden wird in Nahost keinen neuen Krieg beginnen, doch auch keinen beenden. Als ausgewiesener liberaler Interventionist wird er den „forever war“ in alle Ewigkeit festschreiben.

Als erster US-Präsident seit Bush sen. wurde Donald Trump nicht wiedergewählt. Am 20. Januar 2021 wird damit – aller Voraussicht nach – Joe Biden ins Weiße Haus einziehen. Wie schon 2016 hat sich das Demokraten-Establishment gegen die linke Option entschieden und sich hinter dem Empire-Kandidaten versammelt. Biden ist ein Politurgestein und prägt seit Jahrzehnten vor allem die US-Außenpolitik entscheidend mit. Im Folgenden soll es um das Pulverfass Nahost unter einer Biden-Präsidentschaft gehen; konkret um Israel-Palästina, den Iran und die Frage nach Krieg und Frieden im Allgemeinen.

Israel-Palästina – zurück zur ganz normalen Unterdrückung

Ich bin ein Zionist“, erklärte Biden wiederholt. Seine Verbindungen zu Israel gehen Jahrzehnte zurück, mehrere israelische Ministerpräsidenten, Minister und Präsidenten zählt er zu seinen persönlichen Freunden.
Laut der Biden/Harris-Kampagnenwebsite sei Bidens Unterstützung für Israel „unerschütterlich“, „unermüdlich“, „felsenfest“ und „unzerstörbar“.
Als Vize schnürte er in Obamas letztem Jahr ein militärisches Hilfspaket in Rekordhöhe von über 38 Milliarden US-Dollar über zehn Jahre.

paul findleydie israel lobby

Biden könnte in seiner Präsidentschaft die überparteiliche Unterstützung für das israelische Regime wiederherstellen und wird die unter Trump tief gespaltene pro-israelische Lobby in den USA wieder vereinen.
Auf den Jahresevents all dieser Lobbyorganisationen ist er stets ein gern gesehener Gast.
Verbrechen der israelischen Regierung wird er im Gegensatz zu Trump vermutlich dann und wann zaghaft rhetorisch entgegentreten, jedoch in keinem Falle substanziell.
Kurz nach dem Gaza-Massaker 2014 sagte Biden über Israels rechtsextremen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu:Ich liebe ihn.

US-Gruppen wie Black Lives Matter und palästinensische Menschenrechtsgruppen sprechen sich stets gegenseitige Solidarität aus und begreifen sich explizit als verschiedene Fronten desselben globalen Kampfes gegen Rassismus und ethnische Unterdrückung. Dieser holistische Geist ist identitätsstiftend für die seit einigen Jahren aufstrebende Bewegung junger linker Abgeordneter, die die verkrustete Demokratische Partei von innen heraus revolutionieren wollen.
Diese diverse Gruppe um die auch The Squad genannten charismatischen Frontfrauen Alexandria Ocasio-Cortez, Rashida Tlaib und Ilhan Omar vertritt nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch linke Positionen und spricht sich klar für die Rechte der Palästinenser aus. Einige von ihnen sind offene BDS-Anhängerinnen.
Die über Jahrzehnte bei den Demokraten als Heilige Kuh geltende Unterstützung israelischer Verbrechen bricht mit dieser Gruppe junger Sozialistinnen weg.
Die Art und Weise, wie Biden diesen innerparteilichen Generationenkonflikt kämpfen wird, ist ungewiss, doch befindet sich die Partei an einem Scheideweg und werden unter ihm unweigerlich die Weichen für die Demokratische Israel-Palästina-Politik der nächsten Jahre und Jahrzehnte gestellt.

Biden zeigte sich zwar durchaus kritisch gegenüber völkerrechtswidrigen Maßnahmen von Trumps Israel-Politik, doch ist es wenig wahrscheinlich bis ausgeschlossen, dass er diese Schritte rückgängig machen und etwa die US-Botschaft von Jerusalem zurück nach Tel Aviv verlegen wird. Einige klar anti-palästinensische Maßnahmen Trumps wird Biden hingegen gewiss umkehren und etwa die palästinensische Botschaft in Washington und die US-Botschaft in Ostjerusalem wieder öffnen und Hilfszahlungen an die Abbas-Führung wieder aufnehmen. Zumindest einen Aspekt von Trumps Israel-Politik begrüßte Biden mit großem Wohlwollen: Die von Washington mediierten Normalisierungsabkommen zwischen Israel einerseits und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Bahrain und dem Sudan andererseits. Im politischen Vakuum betrachtet sind diese Deals positiv zu bewerten – aus realpolitischer Sicht sind sie hingegen problematisch und aus der israelisch-palästinensischen Friedensperspektive eine Katastrophe. Bei einer Townhall Mitte Oktober sprach Biden Trump gar Komplimente für den Israel-VAE-Deal aus. Es ist also wahrscheinlich, dass Biden die Politik der israelisch-arabischen Normalisierung weiter vorantreiben wird.

Am Donnerstag verkündete Trumps Außenminister Mike Pompeo auf einer Pressekonferenz mit Netanyahu in Jerusalem, die Trump-Regierung werde die pro-palästinensische BDS-Bewegung offiziell alsantisemitischklassifizieren.
Die 2005 in Palästina gegründete Menschenrechtsbewegung versucht, mittels Boykotten, Divestments**) und Sanktionen auf internationaler Ebene ökonomischen, politischen und diplomatischen Druck auf die israelische Regierung aufzubauen.
In ihren Mitteln inspiriert von der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika in den 1990ern setzt sich BDS kompromisslos gewaltfrei gegen die israelische Apartheid, gegen ein Ende der Besatzung und für palästinensische Selbstbestimmung ein. Auf der Pressekonferenz bezeichnete Pompeo die BDS-Bewegung als „Krebsgeschwür“. Der Staatsmann Joe Biden ist in seiner Wortwahl weniger konfrontativ, doch teilt er hier im Kern die Position der Trump-Regierung.
Im Mai erklärte Biden gegenüber Demokratischen Großspendern, „allzu oft verwandelt sich linke Kritik [an israelischer Politik] in Antisemitismus“.
In einem Strategiepapier seiner Kampagne ist zu lesen, Biden „lehnt die BDS-Bewegung entschieden ab“, denn er „kämpft dagegen an […] Israel auf der globalen Bühne zu delegitimieren“.
Damit widerhallt er denselben Unsinn, den wir stets von der Rechten in Israel und im Westen hören. BDS geht es überhaupt nicht um Israel, sondern tritt die Bewegung ein für die Durchsetzung international verbriefter Menschenrechte und ein Leben in Würde für die Palästinenserinnen und Palästinenser.
Auf dem offiziellen Twitter-Kanal der BDS-Bewegung heißt es daher treffend: „Durch die Ablehnung von BDS unterstützt Joe Biden die Komplizenschaft der USA an Israels jahrzehntelangem Regime der Besatzung, des Kolonialismus und der Apartheid und unterstützt die Vorenthaltung grundlegender Menschenrechte von uns Palästinensern.“

Unter Biden wird es in der Israel-Palästina-Politik eine Änderung im Ton geben, keine in der grundlegenden Substanz.
War die Politik von Netanyahu und seinen Falken unter Donald Trump, ihrem „privaten Santa Claus“, wie auf rechtsextremen Steroiden, wird die Netanyahu-Regierung mit Bidens Rückendeckung wieder zum Prä-Trump-Status-quo zurückkehren müssen – wird also Besatzung, Apartheid und Entmenschlichung der Palästinenser wieder ganz normal betreiben müssen.

Ein Terrain in Nahost, auf dem ich persönlich tatsächlich (große) Hoffnungen in eine Biden-Präsidentschaft lege, ist der von Trump angeheizte Konflikt mit Israels Erzfeind.

Biden muss schnell zurück in den Iran-Deal

Seit dem Wahlkampf 2016 hetzte Trump unaufhörlich gegen den Iran und stieg im Mai 2018 aus dem so wichtigen Iran-Nukleardeal (offiziell JCPOA) aus, der als Lehrbuchbeispiel lösungsorientierter, friedlicher Diplomatie gilt.
Es folgten das Wiedereinsetzen sämtlicher US-Sanktionen gegen Teheran, die im Zuge des Deals aufgehoben werden sollten.
Unter Trumps „maximum pressure“-Politik startete Trump auch auf vielen weiteren Gebieten neue Attacken gegen Teheran mit katastrophalen Folgen für Wirtschaft und Gesundheitssystem des Iran.
Die JCPOA-Parteien Großbritannien, Frankreich, Deutschland und EU waren zwar durchaus willens, jedoch de facto außerstande, den Deal gegen Trump zu verteidigen.
In abgeschwächter Form gilt dies auch für die zwei weiteren Vertragsparteien Russland und China. Joe Biden hat im Wahlkampf wiederholt geäußert, er wolle dem Deal wieder beitreten.
In einer Gastkolumne auf CNN im September streckt Biden die Hand aus und versichert, er werde dem Iran „einen glaubhaften Pfad zurück zur Diplomatie anbieten“.

Doch ein Zurück zum Iran-Deal wird aus vielerlei Gründen alles andere als ein Selbstläufer. So muss Biden gegen Widerstände bei Republikanern genau wie im iranophoben Neocon-Flügel der Demokraten ankämpfen.
Auch die israelische Regierung sowie die emiratische und die saudische bringen sich bereits in Stellung, um in Washington gegen den Wiedereintritt ins JCPOA zu lobbyieren.
Zusätzlich verhängt die Trump-Administration in ihren verbleibenden Wochen gänzlich neue Iran-Sanktionen, die es der Biden-Regierung erschweren werden, in den Deal zurückzugehen.
Da diese neuen Sanktionen keinen Nuklearbezug haben werden, sondern an von Demokraten wie Republikanern gleichermaßen kritisierten Feldern der Menschenrechtslage im Iran, Teherans Ballistikprogramm und dessen regionale Aktivitäten gebunden sind, würde Biden zu viel seines politischen Kapitals verspielen, wenn er diese neuen Sanktionen ohne Gegenleistung aufhebt.
Sollte er sie jedoch nicht zurücknehmen, verspielt er seine Glaubwürdigkeit gegenüber Teheran – ein geschickt hinterhältiger Schachzug der Trump-Strategen.
Diese „Flut“ an Sanktionen wird zusammen mit der israelischen Regierung ausgearbeitet und soll bis zu Bidens Inauguration wöchentlich in neuen Wellen implementiert werden.
„Das Ziel ist es, dem Iran bis zum 20. Januar so viele Sanktionen wie möglich reinzudrücken“, zitiert Axios eine israelische Quelle. Bloomberg schreibt unter Berufung auf ein Interview mit Trumps Sondergesandten für den Iran, Elliot Abrams: „Die [Trump-]Regierung hat daran gearbeitet, ein Geflecht schwer umkehrbarer Sanktionen zu schaffen, das Bidens Bemühungen zunächst behindern könnte.“ Die Iran-Falken um Trump wollen Bidens Iran-Politik präventiv sabotieren.

Andererseits brilliert auch Teheran im Diplomatiespiel und hat im letzten Jahr geschickt Verhandlungsmasse aufgebaut, indem in fünf wohlkalibrierten Stufen mit jeweils zweimonatigem Abstand die wichtigsten operativen Statuten des Iran-Deals ausgesetzt und über die Bestimmungen hinaus Uran angereichert wurde.
Diese Schritte – es kann nicht oft genug wiederholt werden – waren entgegen der Medienberichterstattung im Westen und der Äußerungen hiesiger Politikerinnen und Politiker kein Vertragsbruch seitens des Iran.
Denn: Artikel 36 des JCPOA räumt jeder Vertragspartei das Recht ein, „ihre Verpflichtungen ganz oder teilweise auszusetzen“, sollten sich die anderen Parteien einer „signifikanten Nichterfüllung“ ihrer Verpflichtungen schuldig machen.
Teheran machte bei seinen „Vertragsbrüchen“ also mit Blick auf neue Verhandlungen strategischen Gebrauch dieser Bestimmung.
Zwar ist auch das zu verurteilen, doch kann jeder dieser Schritte in kürzester Zeit umgekehrt werden, etwa indem angereichertes Uran exportiert oder mit nicht angereichertem verdünnt wird.
Es ging Teheran nicht darum, den Weg zur Bombe zu bereiten, sondern darum, die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

In seiner CNN-Kolumne forderte Joe Biden vom Iran die „strikte Einhaltung des Nukleardeals“ als Vorbedingung für den Wiedereinstieg der USA, während Teheran der Ansicht ist, Biden sei überhaupt nicht in der Position, irgendwelche Bedingungen zu stellen.
Teheran fordert seinerseits, die USA müssten ohne jegliche Vorbedingungen zurück in den Deal kommen. Auch fordert Teheran eine Entschuldigung seitens der US-Regierung sowie Kompensationen für die negativen Auswirkungen der Trump-Sanktionen – beides wird Biden auf keinen Fall liefern.
Um dennoch seinen guten Willen zu zeigen, müsste er sich in kreativer Diplomatie üben und Teheran subtiler und indirekter entgegenkommen.
Biden könnte rasch für einige Länder die Sonderfreigaben zum Erwerb iranischen Öls wieder in Kraft setzen, Lieferungen humanitärer Güter in den Iran zulassen, Reisebeschränkungen für iranische Bürgerinnen und Bürger lockern und Sanktionen gegen Regierungsbeamte zurücknehmen.
Doch allen voran könnte Biden einen IWF-Kreditantrag in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar, den Teheran bereits im März zur Bekämpfung der Coronapandemie beantragt hatte und der von Washington bis heute blockiert wird, endlich freigeben.

Es gäbe also viele Möglichkeiten, wie Biden an den Verhandlungstisch zurückkehrt und beide Seiten dabei ihr Gesicht wahren. All das sollte schnell passieren, mit raschen spürbaren positiven Auswirkungen für die Menschen im Iran.
Denn im Juni sind Präsidentschaftswahlen, bei denen den Hardlinern um Revolutionsführer Ali Khamenei gute Chancen eingeräumt werden.
Ob ein antisemitischer Hetzer vom Schlage eines Ahmadinedschad – der wahrscheinlich erneut antritt – gewinnt oder ein Moderater aus dem Rouhani-Lager, hängt auch davon ab, ob Präsident Rouhani beweisen kann, dass sein Reformkurs Früchte trägt.
Auch wenn viele Hürden genommen werden müssen, um den Iran-Deal wiederaufleben zu lassen, kann gehofft werden, dass Biden das einzige große positive außenpolitische Vermächtnis Obamas wiederherstellt und alles daransetzt, den Deal zu retten.

Was US-Präsidenten in Nahost eben machen

Joe Biden repräsentiert das verkrustete US-Politestablishment wie nur wenige neben ihm – die überparteilichen Seilschaften zwischen Großkonzernen, Wall Street und Politik, die Korruption, die globale Kreise zieht.
Insbesondere die US-Außenpolitik wurde von Biden über Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt; zunächst 36 Jahre lang als Senator für Delaware, davon zwölf Jahre im mächtigen Senatsausschuss für Außenpolitik, dem er mehrere Jahre auch vorsaß, und ab 2009 acht Jahre als Obamas Vizepräsident kümmerte er sich stets „proaktiv“ um weltpolitische Belange.
Biden gilt hierbei gewissermaßen als archetypischer Vertreter des liberalen Interventionismus – jener politischen Denkschule, die, salopp formuliert, die Rolle der USA als „Weltpolizisten“ propagiert und diese Rolle darin sieht, dass Washington vorgeblich zur Verbreitung von Freiheit und Demokratie überall auf der Welt Krieg führen müsse.
Politikwissenschaftler Edward Knudsen beschreibt treffend gegenüber monitor: „Joe Biden glaubt ganz gewiss an das, was er Amerikas Führungsrolle nennt. Das bedeutet Vorherrschaft der USA und militärische Intervention.
Er glaubt, Amerika habe das Recht, überall und jederzeit zu intervenieren.”
Im sehenswerten monitor-Bericht wird ebenso wie in einem Gastbeitrag auf Telepolis die große inhaltliche und personelle Nähe von Bidens engstem Beraterkreis zur Rüstungsindustrie und zur militaristischen Washingtoner Thinktank-Blase dokumentiert.

Im Frühjahr legte Biden im Fachblatt Foreign Affairs seine außenpolitische Agenda dar – der treffende Titel des ausführlichen Essays: „Why America Must Lead Again“.
Die Essenz des 12-seitigen Aufsatzes könnte folgendermaßen eingedampft werden: Die Supermacht USA soll bis in alle Ewigkeit die Geschicke dieser Welt lenken.
Andere Demokratien dürfen dies zwar „flankieren“, doch muss jeder Aspekt auf dem Globus von Washington dominiert werden. Sich widersetzende Akteure müssen um jeden Preis unterworfen oder „als letzten Ausweg“ mit Krieg in die Knie gezwungen werden.
Seine Pläne, übrigens auch China zu unterwerfen, klingen derart altbacken, als wären die letzten 30 Jahre Oligopolisierung der Welt einfach an Biden vorbeigezogen.
Seine „außenpolitische Agenda wird die USA wieder an Kopf des Tisches setzen“ – denn runde Tische existieren im Biden-Kosmos nicht.
Diese Arroganz ist – wie es sich für einen Demoraten gehört – stets in die blumig wohligen belanglosen Phrasen des Liberalismus gehüllt: Freiheit, Sicherheit, Transparenz, Menschenrechte. „Demokratie“ und Derivate kommen ganze 42 Mal im Text vor.

Zum guten Ton gehört auch: „Es ist an der Zeit, die endlosen Kriege zu beenden, die die Vereinigten Staaten unermessliches Blut und Reichtümer gekostet haben.“
Dass Biden selbst einer der Architekten des „forever war“ ist, bleibt im Aufsatz geflissentlich unerwähnt.
Bei der völkerrechtswidrigen Invasion des Irak 2003 hatte Kriegsverbrecher George W. Bush Demokraten-seits einen mächtigen Verbündeten in Person von Joe Biden, der schon mindestens fünf Jahre zuvor offen für den Einmarsch warb;
Biden im Außenausschuss des Senats im September 1998 mit einem Lächeln auf den Lippen: „Wir müssen am Ende alleine losschlagen – alleine losschlagen – und es wird Männer in Uniform brauchen wie Sie, die zu Fuß in die Wüste gehen und Saddam ausschalten. Über Jahre hinweg blieb Biden ein Anhänger der Irak-Invasion und stimmte erst unter Obama Töne der Kritik an.

Unter der Obama-Biden-Präsidentschaft sollte sich vom imperialen Großkriegsgehabe der Bush-Administration, unter dem Hunderttausende Truppen fremde Länder überfallen und die US-Flagge in den Boden rammen, verabschiedet werden.
Unter der Obama-Doktrin wurden Kriege dann diskreter geführt, was unter dem Label „light footprint“ bekannt wurde: keine einfallenden Armeen, sondern nächtliche Überfälle von Special Forces; keine Fliegerstaffeln, die Bombenteppiche abwerfen, sondern per Joystick gesteuerte Drohnen, deren permanentes Surren in den Bevölkerungen eben jenen Terror auslösen und verbreiteten, den sie vorgeben zu bekämpfen.
Aus einem dichten Netzwerk aus Spezialeinheiten, kleineren militärischen Kontingenten, privaten Söldnern und Drohnen kann das US-Imperium zu jeder Zeit und an jedem Ort im erweiterten Großraum Naher und Mittlerer Osten zuschlagen – der „forever war“, der endlose Krieg, US-Exzeptionalismus, der Anspruch, jedes Land auf dem riesigen Landstrich vom Senegal in Westafrika bis an die Grenzen des Himalaya bombardieren zu können, die Arroganz, sich anzumaßen, dies auch zu dürfen. Genau diese Arroganz ist nach bald 50 Jahren im US-Politikbusiness fest in Joe Bidens außenpolitischer DNA kodiert.

Während Trump die Doktrin des „light footprint“ von Obama übernahm und an vielen Kriegsschauplätzen eskalierte, wird Biden diese ebenfalls adaptieren.
„Wir können gleichzeitig stark und klug sein“, umschreibt Biden in seinem Essay in Foreign Affairs die anvisierte Strategie, zwar auf großflächige Invasionen zu verzichten, dafür jedoch überall auf ein Netz aus Special Forces zurückzugreifen. „Diese kleineren Missionen sind militärisch, wirtschaftlich und politisch nachhaltig“, plädiert Biden unverhohlen für die Fortführung des „forever war“ in alle Ewigkeit, auch wenn er das toxische Attribut „endlos“ hier ganz im Stile liberal-interventionistischer Wortblumen mit den Euphemismus der „Nachhaltigkeit“ ersetzt.
„Nachhaltig“ – da hallen im Krieg sogar noch grün und Öko mit. Wie er zur Beschreibung von Kriegsmissionen dieses Wort überhaupt aufs Papier bekommt, spricht Bände über die tief verankerte Misanthropie im Bidenschen Weltbild.

Nein, ein Zurück zu neuen großen Kriegen samt Staatstreich und Auslöschen ganzer Länder, ein Zurück zu Afghanistan 2001, Irak 2003 und Libyen 2011 also, halte ich unter Biden für wenig wahrscheinlich bis ausgeschlossen.
Wie seine zwei Vorgänger wird er natürlich Syrien bombardieren, sich jedoch irgendwie mit Assad und Putin arrangieren.
Wie Trump, Obama, Bush jun., Clinton und Bush sen. wird Biden natürlich Bomben auf den Irak abwerfen, doch wird er keine großen Truppenkontingente ins Land verschieben.
Gänzlich neue Konflikte im Großraum Nahost sehe ich ebenso wenig. Viele Länder bleiben auch kaum mehr übrig.
Wen sollten die USA denn schon Neues bombardieren? Turkmenistan? Mauretanien? Und das wahrlich apokalyptische Damokles-Schwert namens Iran-Krieg, das unter Trump permanent über der Region hing, wird unter Biden – wenn alles gut geht – eingeschmolzen.

Die Präsidentschaft Joe Biden wird genau so fad und grau wie die Person Joe Biden. Er ist eben der mitte-rechts Empire-Politiker, der verblendete US-Exzeptionalist, der er seit Jahrzehnten nun einmal ist.
Wie könnte er auch aus seiner Haut? Bei der Frage nach Krieg und Frieden im Großraum Nahost werden wir keine fundamental einschneidenden Entwicklungen in die eine oder andere Richtung sehen.

45422 5

Präsident Biden wird in Nahost einfach das machen, was US-Präsidenten in Nahost eben machen: Bomben abwerfen.

*: Mit "Steroiden" ist die offensichtliche Unterstützung durch die Trump-Administration gemeint.
**:  "Dinvestments" Entzug und Abzug von ausländischen Investitionen und Firmenbeteiligungen

Aktueller Kommentar von Oskar Lafontaine

Oskar_LafontaineBereit, die Welt anzuführen – wie bisher mit Mord, Raub und Plünderungen?

Der zukünftige US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, dass die USA wieder bereit seien, die Welt anzuführen.
Zudem sei es seine Aufgabe, die Spaltung der USA zu überwinden, die auf die Trump-Regierung zurückzuführen sei.
Wer wünscht sich eigentlich, dass die USA die Welt anführen? Die USA führen Bombenkriege, Drohnenkriege, verdeckte Kriege, Handelskriege und stehen für millionenfachen Tod, Raub und Plünderungen.
Würden die USA ihren Rüstungshaushalt von 732 Milliarden Dollar halbieren und der Welt ein Beispiel geben, wie man Hunger und Krankheit bekämpft, dann hätten sie mit 366 Milliarden immer noch mehr Geld für Waffen und Kriege als China (261 Milliarden) und Russland (65,1 Milliarden) zusammen und könnten das Leben von Milliarden Menschen verbessern.
Auch die Spaltung wird Biden nicht überwinden, weil die auf Raub und Plünderung gründende Wirtschaftsordnung der USA auch zu Zeiten von Obama und Biden zu extremer Ungleichheit führte, die sich in der Corona-Krise weiter verschärft und ihre ganze Brutalität offenbart. Es sterben die Armen – überdurchschnittlich viele Afroamerikaner und Latinos -, Leute, die keine Krankenversicherung haben und einen Arztbesuch nicht bezahlen können. Diese Politik, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Machtstrukturen in den USA jetzt weitergeführt wird, hat Trump erst den Boden bereitet.
Es wird zivilisierter in der internationalen Diplomatie zugehen und einige Fehlentscheidungen Trumps werden zurückgenommen.
Aber zur Euphorie besteht nicht der geringste Anlass.

Quelle: Oskar Lafontaine via Facebook

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Faktencheck Venezuela: Was in deutschen Medien über das südamerikanische Land verbreitet wird – und wie es tatsächlich aussieht – Ein „Staatschef“ aus dem Regime-Change-Labor

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Nach einigen Gesprächen mit Patienten und im Familienkreis halte ich es für unbedingt nötig, den systematisch verbreiteten Falschinformationen der Leim-Medien etwas entgegen zu setzen.
Nachdem ich vorige Woche auf B5aktuell eine unerträgliche Lobhudelei auf den von einem CIA-Ableger ausgebildeten Putschisten Juan Guaidó hören musste, habe ich den aufklärenden und sehr ausführlichen Bericht von Dan Cohen und Max Blumenthal aus den NachDenkSeiten auch angehängt.
Bereits unmittelbar nach dem Putsch gab es Anzeichen, dass dort eine über die Atlantik-Connection über lange Zeit vorbereitete Medienkampagne im Sinn der integrierten Propagandakriegsführung der 4. Generation in Gang gesetzt wurde:
https://josopon.wordpress.com/2019/02/07/kaum-hatte-der-putschist-guaido-sich-zum-prasidenten-venezuelas-erklart-wurden-im-bayerischen-rundfunk-schon-sprachregelungen-vollzogen-tagesschau-betreibt-desinformation-um-den-usa-beim-sturz-vo/
Dort auch schon ein Beispiel für „Lügen mit Bildern“.

So etwas entsteht nicht in dieser Perfektion und Selbstbezüglichkeit zufällig oder durch Abschreiben, dem liegen Blaupausen zugrunde, die in den zahlreichen transatlantischen ThinkTanks ausgearbeitet wurden. Hier werden die Verdummungsprinzipien umgesetzt, wie sie Prof. Mausfeld genau beschrieben hat:
https://www.youtube.com/watch?v=1x8x9NokCZ0

Und hier auszugsweise der angekündigte Faktencheck. Wer die genannte Darstellung widerlegen kann, den bitte ich um Wortmeldung:
https://www.jungewelt.de/artikel/350058.fragen-und-antworten-faktencheck-venezuela.html

»Maduros Herrschaft ist diktatorisch, er hat keine demokratische Legitimation, und die Mehrheit der Bevölkerung steht nicht hinter ihm. Er kann sich nur noch auf das Militär stützen.«

Nicolás Maduro ist zweimal zum Präsidenten Venezuelas gewählt worden, 2013 und 2018. Die Wahl im vergangenen Jahr entsprach in ihren Regularien exakt der Parlamentswahl 2015, die von der Opposition gewonnen worden war und deren Legitimität allgemein anerkannt ist. Neben Maduro, der 67,84 Prozent der abgegeben Stimmen gewinnen konnten, gab es drei Kandidaten. Der Sozialdemokrat Henri Falcón kam auf 20,93 Prozent, der evangelikale Prediger Javier Bertucci auf 10,82 Prozent. Lediglich 0,39 Prozent der Voten entfielen auf den linken Basisaktivisten Reinaldo Quijada, der allerdings auf jeden echten Wahlkampf verzichtet hatte.
Die Wahlbeteiligung war mit 46,02 Prozent niedrig. Das lag auch daran, dass eine Reihe von Oppositionsparteien zum Boykott aufgerufen hatte. Wären diese Parteien mit einem gemeinsamen Kandidaten angetreten, hätten sie durchaus Chancen gehabt, Maduro zu schlagen.

Die Umstände der Wahl waren in einem Abkommen festgelegt worden, das Vertreter von Opposition und Regierung bis Anfang 2018 unter internationaler Vermittlung ausgehandelt hatten. Allerdings verweigerten die Oppositionellen im letzten Augenblick die Unterschrift unter das fertige Abkommen.
Der frühere spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero, der an den Verhandlungen als Vermittler beteiligt gewesen war, reagierte darauf Anfang Februar 2018 mit einem Brief, den die in Caracas erscheinende Tageszeitung Últimas Noticias veröffentlichte. Das ausgehandelte Abkommen habe die über Monate verhandelten Themen aufgegriffen, unter anderem »einen Wahlprozess mit Garantien und einen Konsens über das Datum der Wahlen«.

»Maduro hat das Parlament aufgelöst und entmachtet und regiert nun gänzlich unkontrolliert. Mit der Verfassung des Landes ist das unvereinbar.«

Venezuelas Parlament ist nicht aufgelöst worden, sondern arbeitet. Erst Anfang Januar wurde ein gewisser Juan Guaidó von den Abgeordneten der Oppositionsparteien zu dessen Präsident gewählt.

Richtig ist allerdings, dass die Beschlüsse der Nationalversammlung nach Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (TSJ) »null und nichtig« sind, weil sich das Parlament weigert, mehrere Urteile der Richter umzusetzen. Das begann bereits unmittelbar nach der Wahl 2015, als die Richter nach Einsprüchen die Bestätigung von vier gewählten Abgeordneten aus dem Bundesstaat Amazonas – drei der Opposition und einer der Regierungspartei PSUV – aussetzten.
Trotzdem wurden die drei Regierungsgegner vom Parlamentspräsidium vereidigt und nahmen an den Abstimmungen teil. Daraufhin stellten die Richter fest, dass die unter diesen Bedingungen gefassten Beschlüsse ungültig seien. Im Juli 2017 bekräftigten die Richter diese Entscheidung in einem weiteren Urteil, in dem sie die Ernennung neuer Richter durch das Parlament aufgrund der Nichteinhaltung des in der Verfassung dafür festgelegten Verfahrens für ungültig erklärten.

»Maduro hat sein Land mit Konzeptlosigkeit und Korruption in den Abgrund geführt. Mit Sozialismus hat das nichts zu tun.«

Venezuela ist nach wie vor ein kapitalistisches Land. Das hat auch Hugo Chávez in seinem letzten Wahlprogramm 2012 – das nach dessen Tod 2013 von Nicolás Maduro wortwörtlich übernommen wurde – betont: »Täuschen wir uns nicht, die sozioökonomische Ordnung, die in Venezuela noch vorherrscht, ist kapitalistischen und Rentencharakters.«

Seit seiner Amtsübernahme 2013 sieht sich Maduro einem eingebrochenen Ölpreis gegenüber. Da der Brennstoff jedoch nach wie vor das Hauptexportgut Venezuelas ist, sind die Staatseinnahmen dramatisch zurückgegangen. Verschärft wurde die Krise durch einen regelrechten Wirtschaftskrieg privater Handelskonzerne, die Waren zurückhielten. Supermärkte waren leer, viele Lebensmittel gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt zu kaufen.
Das hat sich geändert, inzwischen sind die Geschäfte wieder voll – allerdings sind die Preise durch die Inflation so hoch, dass sie sich nur Wohlhabende leisten können. Hinzu kommen vor allem ab 2017 die immer weiter verschärften Sanktionen durch die USA und – in geringerem Ausmaß – durch die Europäische Union. Sie machen es Caracas nahezu unmöglich, Waren auf dem Weltmarkt regulär einzukaufen, weil der Zahlungsverkehr über die meist in den USA sitzenden Finanzinstitutionen blockiert ist.

Was man dem Präsidenten vorwerfen kann, ist, dass es lange keine wirksamen Maßnahmen gegen die sich immer weiter verschärfenden Probleme gegeben hat. Regelmäßige Lohnerhöhungen wurden durch die Inflation aufgefressen, wirtschaftspolitische Maßnahmen blieben Stückwerk und widersprüchlich.
Erst in der jüngsten Zeit scheint man Wege gefunden zu haben, mit Hilfe befreundeter Länder die ausländische Blockade zu umgehen.
Tatsächlich sind Berichten zufolge in den vergangenen Tagen und Wochen die Preise für Lebensmittel und andere Waren teilweise gesunken.

»Mit Ausnahme von Russland und China fehlt Maduro auf internationaler Ebene jeglicher Rückhalt, sein Regime ist praktisch isoliert.«

In der vergangenen Woche bildete sich bei den Vereinten Nationen in New York eine Gruppe von rund 60 Staaten der Welt, die sich für die Verteidigung der UN-Charta einsetzen wollen – in klarer Unterstützung Venezuelas gegen die von den USA geführte Aggression.
Demgegenüber haben weltweit nur etwa 40 bis 50 Regierungen den Oppositionspolitiker Juan Guaidó als »Präsidenten« anerkannt.
Hinter Maduro gestellt haben sich dagegen nicht nur die linken Regierungen Lateinamerikas, sondern auch die Karibikgemeinschaft Caricom und der südafrikanische Staatenbund SADC. Wichtige Handelspartner sind und bleiben Indien, der Iran, die Türkei und andere.
Selbst in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) haben die USA und die venezolanische Opposition keine Mehrheit für eine Anerkennung Guaidós finden können. Auch UN-Generalsekretär António Guterres betonte, dass der einzige rechtmäßige Präsident Venezuelas Nicolás Maduro ist.
Mexiko und Uruguay bemühen sich um eine Vermittlung ohne ausländische Einmischung.

»Kritische Medien haben unter Maduro keine Chance, sie werden geknebelt und unterdrückt.«

Kaum tritt in Venezuela ein Oppositionspolitiker öffentlich auf, ist er sofort von Dutzenden Mikrofonen umlagert. Es gibt in Venezuela 16 private Fernsehkanäle und mindestens 18 private Radio-Senderketten, die oft mehrere parallele Programme ausstrahlen. Hinzu kommen viele lokale Gemeindesender. Dem stehen drei landesweite Staatssender – VTV, TVes und Vive – gegenüber sowie weitere nur lokal oder über Kabel verbreitete Programme, darunter der internationale Nachrichtensender Telesur. Allerdings hat die Telekommunikationsbehörde Conatel die Verbreitung mehrerer ausländischer Sender in den Kabelnetzen unterbunden. Betroffen davon ist zum Beispiel der kolumbianische Kanal NTN 24, der sich zum Sprachrohr der militanten Regierungsgegner gemacht hat.
Problemlos zu empfangen sind nach einer aktuellen Aufstellung von Kabelnetzbetreibern nach wie vor Fox und Voice of America aus den USA; die britische BBC, die Deutsche Welle und andere.
Interessanterweise macht aber der private Anbieter »Super Cable« seinen Kunden Sender wie TV Bolivia, Cubavisión, das chinesische CCTV oder das iranische Hispan TV nicht zugänglich, im Gegensatz zum staatlichen Betreiber CANTV.

Massenhaft verbreitet sind auch in Venezuela Internetseiten und »soziale Netzwerke«. Immer wieder gibt es Zensurvorwürfe. So beklagte das Internetportal Aporrea.org zuletzt, dass es nicht mehr uneingeschränkt erreichbar sei. Allerdings fallen auch staatliche Seiten wie die Homepage der Tageszeitung Correo del Orinoco oder die Angebote von Radio Nacional de Venezuela häufig aus. Ob es sich also um administrative Eingriffe oder technische Probleme handelt, ist unklar.

Probleme haben in den vergangenen Jahren Zeitungen und Zeitschriften gehabt, denn infolge der Wirtschaftskrise und der vor allem von den USA verhängten Sanktionen ist es für die Verlage immer schwieriger geworden, an das notwendige Papier zu kommen. Deshalb haben Oppositionsblätter wie Tal Cual oder El Nacional ihre gedruckten Ausgaben eingestellt, andere – zum Beispiel El Universal – erscheinen ungehindert weiter.
Betroffen davon sind aber nicht nur die Organe der Opposition. Im vergangenen Jahr musste die Zeitung der Kommunistischen Partei Venezuelas, Tribuna Popular, ebenfalls ihre Druckausgabe aufgeben und erscheint seither nur noch digital. Mehrere staatliche Publikationen haben den Umfang ihrer Ausgaben eingeschränkt oder wurden ganz eingestellt.

»Das Regime hat an der Grenze zu Kolumbien mit Gewalt verhindert, dass humanitäre Hilfe ins Land gelangt. Sicherheitskräfte versuchen, jede Unruhe skrupellos im Keim zu ersticken.«

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat deutlich gemacht, dass es sich nicht um humanitäre Hilfe handelte, sondern um eine politische Aktion. Auch die Vereinten Nationen verweigerten eine Beteiligung an der Show.

Zwischen 20.000 und 50.000 Personen sollten nach Angaben der Opposition durch die Lieferungen für zehn Tage versorgt werden. Selbst wenn das stimmt ist das verschwindend wenig verglichen mit den sechs Millionen CLAP-Lebensmittelpaketen, die monatlich in Venezuela vertrieben werden.
Nach unabhängigen Angaben beziehen inzwischen rund 90 Prozent der Bevölkerung diese subventionierten Grundnahrungsmittel.

Hilfslieferungen erreichen Venezuela auf vielen Wegen, unter anderem geliefert aus Russland und China. Mit der EU hat Caracas Unterstützung im Wert von zwei Milliarden Euro vereinbart, die über die UNO ins Land kommen soll. Venezuela konnte aber nicht akzeptieren, dass eine politische Gruppe ohne Kontrolle einen Konvoi mit unbekannter Ladung über die Grenze bringt.

Die Fernsehbilder zeigen zudem, dass die Gewalt an der Grenze nicht von den venezolanischen Sicherheitskräften ausging. Kolumbianische Sender übertrugen live, wie Vermummte Molotowcocktails befüllten und Steine auf die Soldaten warfen. Von kolumbianischer Seite wurden sie daran nicht gehindert.

Dazu auch: https://josopon.wordpress.com/2017/09/10/warum-ging-venezuela-siegreich-aus-dem-jungsten-krieg-der-vierten-generation-hervor-pressefreiheit-hier-und-dort/

Juan Guaidó: Ein Staatschef aus dem Regime-Change-Labor

Juan Guaidó ist das Produkt von mehr als zehn Jahren Arbeit, koordiniert von den Regime-Change-Trainern der Washingtoner Elite. Während er vorgibt, ein Verfechter der Demokratie zu sein, steht er in Wirklichkeit an der Spitze einer brutalen Destabilisierungskampagne.
Von Dan Cohen und Max Blumenthal. Aus dem Englischen von Josefa Zimmermann.

Auszüge:

Vor dem schicksalhaften 22. Januar hatte nicht einmal jeder fünfte Venezolaner jemals von Juan Guaidó gehört. Noch vor wenigen Monaten war der 35-Jährige ein obskurer Charakter in einer rechtsextremen politischen Randgruppe, die eng mit grausamen Straßenkämpfen in Verbindung gebracht wurde.
Selbst in seiner eigenen Partei hatte Guaidó nur einen mittleren Status in der oppositionsdominierten Nationalversammlung, die nun nach der venezolanischen Verfassung verächtlich gemacht wird.

Doch nach einem einzigen Anruf von US-Vizepräsident Mike Pence erklärte Guaidó sich selbst zum Präsidenten von Venezuela.
Von Washington zum Führer seines Landes erkoren, wurde ein bislang unbekannter, zum politischen Bodenpersonal zählender Mann Präsident der Nation mit den größten Ölreserven der Welt und rückte ins internationale Rampenlicht.

Im Konsens mit Washington begrüßte die Redaktion der New York Times Guaidó als „glaubwürdigen Rivalen” von Maduro mit einem „erfrischenden Stil und der Vision, das Land voranzubringen”.
Die Redaktion der Bloomberg News applaudierte ihm für die „Wiederherstellung der Demokratie” und das Wall Street Journal erklärte ihn „zu einem neuen demokratischen Führer”. Inzwischen haben Kanada, zahlreiche europäische Staaten, Israel und der Block der rechtsgerichteten lateinamerikanischen Regierungen, bekannt als Lima-Gruppe, Guaidó als legitimen Führer Venezuelas anerkannt.

Während Guaidó sich aus dem Nichts materialisiert zu haben scheint, ist er in Wirklichkeit das Produkt von mehr als zehn Jahren eifriger Aufzucht durch die Regime-Change-Fabriken der Washingtoner Elite. In einem Kader rechtgerichteter studentischer Aktivisten wurde Guaidó aufgebaut, um die sozialistische Regierung Venezuelas zu unterminieren, das Land zu destabilisieren und eines Tages die Macht zu ergreifen.
Obwohl er in der venezolanischen Politik eine untergeordnete Rolle spielte, stellte er viele Jahre stillschweigend seinen Wert für die Machtzirkel in Washington unter Beweis.

„Juan Guaidó ist die Figur, die für diese Situation geschaffen wurde“, bemerkte Marco Teruggi, ein argentinischer Soziologe und Chronist der venezolanischen Politik, gegenüber The Grayzone. „Es ist wie in einem Labor – Guaidó ist wie eine Mischung aus verschiedenen Elementen, die verschmolzen wurden zu einem Charakter, der sich, ehrlich gesagt, zwischen lächerlich und Besorgnis erregend bewegt.”

Diego Sequera, ein venezolanischer Journalist und Autor bei dem investigativen Magazin Misión Verdad, stimmte zu: „Guaidó ist außerhalb Venezuelas beliebter als im Land selbst, besonders in den Elite-Zirkeln der Ivy-League-Universitäten und in Washington.” Sequera bemerkte gegenüber The Grayzone: „Dort ist er als Charakter bekannt, er ist berechenbar rechts und gilt als loyal gegenüber dem Programm.“

Während Guaidó heute als das Gesicht des demokratischen Wiederaufbaus verkauft wird, absolvierte er seine Karriere in der brutalsten Gruppierung von Venezuelas radikalster Oppositionspartei und stand an der Spitze mehrerer Destabilisierungskampagnen. Seine Partei war in Venezuela weithin diskreditiert und wird teilweise für die Fragmentierung der stark geschwächten Opposition verantwortlich gemacht.

„Diese radikalen Führer bleiben bei Umfragen unter 20 %“, schrieb Luis Vicente León, der führende Meinungsforscher Venezuelas. Laut Léon ist Guaidós Partei bei der Mehrheit der Bevölkerung isoliert, denn die Mehrheit der Bevölkerung „will keinen Krieg. Was sie will, sind Lösungen.”

Doch genau aus diesem Grund wurde Guaidó von Washington ausgewählt: Niemand erwartet von ihm, dass er Venezuela zur Demokratie führt, sondern dass er das Land destablilisiert, weil es zwei Jahrzehnte lang ein Bollwerk des Widerstands gegen die US-Hegemonie war.
Sein merkwürdiger Aufstieg bildet den Höhepunkt eines zwei Jahrzehnte dauernden Projekts zur Zerschlagung eines stabilen sozialistischen Experiments.

Die „Troika der Tyrannei“ im Visier

Seit der Wahl von Hugo Chávez 1998 kämpften die USA für die Wiedererlangung der Kontrolle über Venezuela und seine riesigen Ölreserven.
Durch Chávez’ sozialistische Programme wurde der Reichtum des Landes umverteilt und Millionen Menschen aus der Armut geholt, aber sie machten ihn auch zur Zielscheibe.

2002 setzte Venezuelas rechte Opposition Chavez mit Unterstützung der USA kurzerhand ab, bevor das Militär ihn nach einer Massenmobilisierung wieder in sein Amt einsetzte. Während der Amtszeiten der US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama überlebte Chávez zahllose Mordanschläge, bevor er 2013 an Krebs starb. Sein Nachfolger Nicolas Maduro überlebte drei Mordanschläge.

Die Trump-Administration erhob Venezuela sofort zum Top-Kandidaten auf der Regime-Change-Liste Washingtons und brandmarkte es als wichtigsten Staat in der „Troika der Tyranneien“. Im vergangenen Jahr versuchte Trumps nationales Sicherheitsteam Mitglieder des Militärs zur Installierung einer Militärjunta zu rekrutieren, aber der Versuch schlug fehl.

Laut venezolanischer Regierung waren die USA auch in eine Verschwörung mit dem Codenamen „Operation Constitution“ verwickelt, die zum Ziel hatte, Maduro im Präsidentenpalast Miraflores gefangen zu nehmen, und in eine zweite namens „Operation Armageddon“, bei der er im Juli 2017 bei einer Militärparade getötet werden sollte. Etwas mehr als ein Jahr später versuchten Oppositionsführer vom Ausland aus vergeblich, Maduro während einer Militärparade in Caracas mit Drohnenbomben zu töten.

Mehr als ein Jahrzehnt vor diesen Intrigen wurde eine Gruppe handverlesener rechtsgerichteter Studenten von einer US-finanzierten Akademie, in der Regime-Changes trainiert werden, ausgebildet, um die Regierung Venezuelas zu stürzen und eine neoliberale Ordnung einzuführen.

Die ‘Export-A-Revolution-Gruppe’ legt die Samen für eine ANZAHL von Farbenrevolutionen

Am 5. Oktober 2005, als Chávez auf dem Höhepunkt seiner Popularität war und seine Regierung sozialistische Reformen plante, landeten fünf „Studentenführer“ aus Venezuela in Belgrad, um für einen Umsturz zu trainieren.

Die Studenten waren mit freundlicher Unterstützung des Center for Applied Non-Violent Action and Strategies (CANVAS) aus Venezuela angereist. Diese Gruppe wird überwiegend vom National Endowment for Democracy, einem CIA-Ableger, finanziert, der der US-Regierung als Hauptinstrument zur Durchsetzung von Regime-Change-Aktivitäten dient, ebenso wie die Ableger International Republican Institute und National Democratic Institute for International Affairs.

Wie durch geleakte E-Mails von Stratfor bekannt wurde, einem Geheimdienst-Unternehmen, das auch „Schatten-CIA“ genannt wird, finanzierte und trainierte die CIA CANVAS wahrscheinlich während der Kämpfe gegen Milosevic 1999/2000.

CANVAS ist eine Ausgliederung von Otpor, einer serbischen Protestorganisation, die 1998 von Srdja Popoviv an der Universität von Belgrad gegründet wurde.
Otpor, das serbische Wort für Widerstand, war eine studentische Gruppe, die international berühmt – und hollywoodmäßig promoted – wurde durch das Organisieren von Protesten, die schließlich zum Sturz von Slobodan Milosevic führten.

Diese kleine Zelle von Regime-Change-Spezialisten operierte nach Methoden des kürzlich verstorbenen Gene Sharp mit dem so genannten „gewaltfreien Kampf nach Clausewitz”, den Sharp gemeinsam mit einem ehemaligen Geheimdienstanalysten der DEA, Oberst Robert Helvey, entwickelt hatte, um einen strategischen Plan zu konzipieren, der bewaffneten Protest als eine Form hybrider Kriegsführung einsetzte und sich gegen Staaten richtete, die sich der unipolaren Dominanz Washingtons widersetzten.

Otpor wurde unterstützt vom National Endowment for Democracy (USAID) und von Sharps Albert Einstein Institute. Sinisa Sikman, einer der Chef-Ausbilder von Otpor, behauptete einmal, dass die Organisation direkt von der CIA finanziert würde.

Laut einer geleakten E-Mail von einem hochrangigen Stratfor-Mitarbeiter nach dem Sturz von Milosewic „wurden die Otpor-Kinder erwachsen, trugen Anzüge und kreierten CANVAS… oder mit anderen Worten, eine ‘Export-A-Revolution-Gruppe’, die die Samen legte für einen ANZAHL von Farbenrevolutionen. **)
Sie sind immer noch von der US-Finanzierung abhängig und ziehen durch die ganze Welt, um Diktatoren und autokratische Regime zu stürzen (alle, die von den USA nicht gemocht werden).

Stratfor enthüllte, dass CANVAS im Jahr 2005 „seine Aufmerksamkeit Venezuela zuwandte”, nachdem es bis dahin Oppositionsgruppen ausgebildet hatte, die NATO-freundliche Regime-Change-Operationen in Ost-Europa durchführten.

Während der Überwachung des CANVAS-Ausbildungsprogramms umriss Stratfor seine Aufstands-Agenda in erstaunlich deutlicher Formulierung: „Erfolg ist keineswegs garantiert. Und studentische Proteste sind nur der Anfang eines möglichen jahrelangen Kampfes, um in Venezuela eine Revolution zu entfachen, aber die Ausbilder haben beim „Schlächter des Balkans“ Erfahrungen gesammelt. Sie besitzen immense Fähigkeiten. Wenn Sie feststellen, dass Studenten an fünf Universitäten in Venezuela gleichzeitig demonstrieren, dann wissen Sie, dass die Ausbildung abgeschlossen ist und die wirkliche Arbeit beginnt.“

Die Geburt der Regime-Change-Kadergruppe „Generation 2007”

Die wirkliche Arbeit begann zwei Jahre später, 2007, als Guaidó sein Studium an der Katholischen Universität Andrés Bello in Caracas abgeschlossen hatte. Er zog nach Washington DC, um sich an der George-Washington-University für ein Studium in „Governance and Political Management“ einzuschreiben, bei dem venezolanischen Ökonomen Luis Enrique Berrizbeitia, einem lateinamerikanischen Spitzenökonomen neoliberaler Ausrichtung. Berrizbeitia war früher Chef des International Monetary Fund (IMF) und verbrachte unter der alten oligarchischen Herrschaft, die durch Chavez beendet wurde, mehr als ein Jahrzehnt in Venezuela, wo er im Energiesektor tätig war.

In diesem Jahr half Guaidó bei der Organisation regierungsfeindlicher Demonstrationen, nachdem die venezolanische Regierung sich geweigert hatte, die Lizenz von Radio Caracas Televisión (RCTV) zu erneuern.

Dieser Privatsender hatte eine führende Rolle beim Putsch gegen Chavez 2002 gespielt. RCTV half bei der Mobilisierung für regierungsfeindliche Demonstranten, gab gefälschte Informationen heraus, legte den Unterstützern der Regierung Gewalttaten zur Last, die Oppositionelle begangen hatten, und unterbrach während des Staatsstreiches jede regierungsfreundliche Berichterstattung. Die Rolle von RCTV und anderer Sender, die sich im Besitz von Oligarchen befanden, wurde in der gefeierten Dokumentation „The Revolution will not be televised“ aufgezeigt.

In demselben Jahr behaupteten die Studenten, das Verfassungsreferendum für einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verhindert zu haben, der versprach, „den rechtlichen Rahmen für die politische und soziale Reorganisation des Landes zu etablieren, in dem organisierte Gemeinwesen unmittelbare Macht erhalten, ein neues Wirtschaftssystem zu entwickeln.“

Mit den Protesten um RCTV und um das Referendum war eine neue Klasse von US-unterstützten Spezialkadern und Regime-Change-Aktivisten geboren. Sie nannten sich „Generation 2007.

Die Ausbilder dieser Zelle von Stratfor und CANVAS identifizierten Guaidós Mitkämpfer – einen libertären Organisator politischer Aktionen namens Yon Goicoechea – als eine „Schlüsselfigur” bei der Niederschlagung des Verfassungsreferendums. Im folgenden Jahr wurde Goicochea für seine Bemühungen mit dem „Prize for Advancing Liberty“ des Cato-Institutes von Milton Friedmann ausgezeichnet. Die damit verbundenen 500 000 Dollar investierte er sofort in den Aufbau eines politischen Netzwerks.

Friedmann war bekanntlich der Ziehvater der notorischen neoliberalen Chicago Boys, die vom Präsidenten der Junta, Augusto Pinochet, nach Chile eingeflogen wurden, um die radikale fiskale Austeriätspolitik im Sinne der Schock-Doktrin zu implementieren. Und das Cato-Institut ist der libertäre Think-Tank, in Washington DC von den Koch-Brüdern gegründet, den größten Sponsoren der Republikanischen Partei, die zu aggressiven Unterstützern der rechten Politik in Lateinamerika wurden.

WikiLeaks veröffentlichte 2007 eine E-Mail des amerikanischen Botschafters in Venezuela, William Brownfield, an das Außenministerium, den Nationalen Sicherheitsrat und das Department of Defense Southern Command. Er lobte „Generation of ’07”, weil sie „den venezolanischen Präsidenten, der es gewohnt ist, die politische Agenda festzulegen, gezwungen hat (über)zureagieren.“
Zu den „aufstrebenden Führern”, die Brownfield identifizierte, gehörten Freddy Guevara und Yon Goicoechea. Er applaudierte dem Letzteren als „einem der klarsten Verteidiger bürgerlicher Freiheiten”.

Ausgestattet mit dem Geld libertärer Oligarchen und den Soft-Power-Waffen der US-Regierung trugen die radikalen venezolanischen Kaderorganisationen die Otpor-Taktik auf die Straße, zusammen mit dem Logo der Gruppe:

„Öffentliche Unruhen instrumentalisieren… um Vorteile aus der Situation zu ziehen und sie gegen Chavez wenden.“

2009 veranstalteten die jungen Aktivisten der Generation 2007 ihre bislang provokativste Demonstration. Sie ließen auf der Straße ihre Hosen fallen, entblößten ihr Gesäß und wandten die Guerilla-Theater-Taktik aus Gene Sharps Regime-Change-Handbüchern an.
Die Demonstranten hatten gegen die Festnahme eines Verbündeten aus einer anderen Gruppe junger Aktivisten namens JAVU mobilisiert. Diese rechtsextreme Gruppe „sammelte Gelder aus einer Vielzahl von US-Regierungsquellen, das es ihr ermöglichte, schnell als die Hardliner im Straßenkampf der Opposition bekannt zu werden“, so George Ciccariello-Maher in seinem Buch „Building the Commune“.

Obwohl keine Videos der Proteste verfügbar sind, identifizierten viele Venezolaner Guaidó als einen der wichtigsten Teilnehmer der Demonstration. Der Vorwurf ist zwar unbestätigt, aber durchaus plausibel. Die Protestierenden, die ihre nackten Hinterteile zeigten, waren Mitglieder des inneren Kerns der Generation 2007, zu dem Guaidó gehörte, und sie trugen T-Shirts mit ihrem Logo Resistencia! Venezuela!, wie auf dem Foto zu sehen ist.

In dem Jahr exponierte sich Guaidó auf andere Weise in der Öffentlichkeit und gründete eine politische Partei, um die Anti-Chavez-Energie zu nutzen, die seine Generation 2007 aufgebaut hatte. Partei des Volkswillens (Partido de la Voluntad Popular) war ihr Name, angeführt wurde sie von Leopoldo López, einem in Princeton ausgebildeten rechten Hitzkopf, der stark verwickelt war in die Programme von National Endowment for Democracy und zum Bürgermeister eines Bezirks in Caracas gewählt wurde, einem der reichsten Bezirke des Landes.
Lopez war ein Abbild der venezolanischen Aristokratie, ein direkter Abkömmling des ersten Präsidenten seines Landes. Er war auch ein Cousin ersten Grades von Thor Halvorssen, dem Gründer der in den USA ansässigen Human Rights Foundation, die als De-facto-Propagandainstrument für die US-unterstützten Aktivisten gegen die Regierungen der Ländern fungiert, die von Washington für einen Regime-Change vorgesehen sind.

Obwohl Lopez’ Interessen praktisch mit denen Washingtons identisch waren, wies die von WikiLeaks veröffentlichte US-amerikanische diplomatische Korrespondenz auf seine fanatischen Tendenzen hin, die letztendlich zu einer Marginalisierung der Partei führen sollten. Ein Schreiben identifizierte Lopez als „eine spalterische Figur innerhalb der Opposition … die oft als arrogant, rachsüchtig und machthungrig beschrieben wird“. Andere Schreiben betonten seine Besessenheit von Straßenkämpfen und seine „kompromisslose Herangehensweise“ als Ursache von Spannungen mit anderen Oppositionsführern, deren vorrangige Ziele Einheit und Beteiligung an den demokratischen Institutionen des Landes waren.

Im Jahr 2010 nutzten die Partei des Volkswillens und ihre ausländischen Geldgeber die größte Dürre, die Venezuela seit Jahrzehnten heimgesucht hatte. Aufgrund des Mangels an Wasser, das für den Betrieb von Wasserkraftwerken benötigt wurde, kam es zu einer enormen Stromknappheit im Land. Eine weltweite wirtschaftliche Rezession und sinkende Ölpreise verstärkten die Krise und auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung.

Stratfor und CANVAS – wichtige Berater von Guaidó und seiner regierungsfeindlichen Kadertruppe – hatten einen schockierend zynischen Plan entwickelt, um einen Dolch ins Herz der bolivarischen Revolution zu stoßen. Bereits im April 2010 waren 70 Prozent der Stromversorgung zusammengebrochen.

„Dies könnte ein Wendepunkt sein, da Chavez wenig tun kann, um die Armen vor dem Zusammenbruch des Systems zu schützen”, war in einem internen Memo von Stratfor zu lesen. „Die Folge könnte das Aufkommen öffentlicher Unruhen sein und keine Oppositionsgruppe könnte sie besser schüren. Das ist beste Zeitpunkt für eine Oppositionsgruppe, die Situation zu nutzen und sie gegen Chavez und zum eigenen Vorteil zu wenden.“

Zu diesem Zeitpunkt erhielt die venezolanische Opposition laut US-amerikanischen Behörden von US-Regierungsorganisationen wie USAID und dem National Endowment for Democracy die beeindruckende Summe von 40 bis 50 Millionen Dollar pro Jahr. Auch die eigenen Auslandskonten warfen hohe Renditen ab.

Während sich das von Stratfor anvisierte Szenario nicht verwirklichen ließ, distanzierten sich die Aktivisten der Partei des Volkswillens und ihre Verbündeten von jeglichem Anspruch auf Gewaltlosigkeit und bekannten sich zu einem radikalen Plan zur Destabilisierung des Landes.

Auf dem Weg zur gewaltsamen Destabilisierung

Laut E-Mails venezolanischer Geheimdienste, die im November 2010 vom ehemaligen Justizminister Miguel Rodríguez Torres veröffentlicht wurden, nahmen Guaidó, Goicoechea und mehrere andere studentische Aktivisten an einem geheimen fünftägigen Training in einem Hotel namens „Fiesta Mexicana“ in Mexiko teil.
Das Training wurde von Otpor durchgeführt, dem Regime-Change-Unternehmen aus Belgrad, das von der US-Regierung gesponsert wurde. Berichten zufolge war die Veranstaltung von Otto Reich, einem fanatischen Castro-Gegner im Exil, der im State Department von George W. Bush arbeitete, und dem rechtsgerichteten kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe abgesegnet. Bei den Treffen, so heißt es in den E-Mails, brüteten Guaidó und seine Mitstreiter einen Plan aus, Präsident Hugo Chavez zu stürzen, indem sie chaotische Zustände durch immer wieder aufbrechende gewaltsame Straßenkämpfe herbeiführten.

Drei Galionsfiguren der Erdölindustrie – Gustavo Torrar, Eligio Cedeño und Pedro Burelli – hatten angeblich die Kosten von 52 000 Dollar für das Meeting übernommen. Torrar bezeichnet sich selbst als „Menschenrechtsaktivist“ und „Intellektuellen“, dessen jüngerer Bruder Reynaldo Tovar Arroyo der Repräsentant des privaten mexikanischen Öl- und Gas-Unternehmens Petroquimica del Golfo in Venezuela war, das vertragliche Verbindungen mit dem Staat Venezuela hat.

Cedeño ist seinerseits ein geflüchteter venezolanischer Geschäftsmann, der in den USA Asyl beantragt hat und Pedro Burelli ist ehemaliger JP-Morgan-Manager und ehemaliger Direktor des venezolanischen staatlichen Ölunternehmens Petroleum of Venezuela (PDVSA). Er trennte sich 1998 von der Firma, als Hugo Chavez an die Macht kam, und ist Mitglied des Beirats des Latin America Leadership Program der Georgetown Universität.

Burelli insistierte, dass die E-Mails, in denen er seine Teilnahme detailliert beschrieb, gefälscht seien. Er beauftragte sogar einen Privatdetektiv, um dies zu beweisen. Der Ermittler erklärte, die Google-Protokolle zeigten, dass die Mails angeblich nie abgeschickt worden seien. Heute macht Burelli kein Geheimnis aus seinem Wunsch, den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro abgesetzt zu sehen. Nach seinen Vorstellungen soll er sogar durch die Straßen geschleift und von einem Bajonett aufgespießt werden, genau wie es bei dem libyschen Führer Moammar Gaddafi durch die NATO-gestützten Milizen geschah.

Update: Burelli kontaktierte das Grayzone-Magazin nach der Veröffentlichung dieses Artikels, um seine Beteiligung an der Fiesta-Mexicana-Geschichte zu erläutern.

Burelli nannte das Meeting „eine legitime Aktion“, die in einem Hotel mit einem anderen Namen in Mexiko stattfand.

Auf die Frage, ob Otpor das Treffen koordinierte, stellte er lediglich fest, dass er die Arbeit von Otpor/CANVAS „schätzt“ und obwohl er sie nicht finanziell fördert, habe er bereits „Aktivisten aus verschiedenen Ländern empfohlen, ihre Arbeit zu verfolgen und an den von ihnen angebotenen Veranstaltungen in verschiedenen Ländern teilzunehmen.“

Burelli fügte hinzu: „Das Einstein-Institut trainierte Tausende [Aktivisten] öffentlich in Venezuela. Gene Sharpes Philosophie wurde weithin studiert und übernommen. Und vermutlich sorgte sie dafür, dass die Unruhen nicht in einen Bürgerkrieg ausarteten.”

Die angebliche Fiesta-Mexicana-Verschwörung floss ein in einen weiteren Destabilisierungsplan, der in einer Reihe von Dokumenten, die die venezolanische Regierung veröffentlichte, enthüllt wurde. Im Mai 2014 veröffentlichte Caracas Dokumente, in denen ein Attentat gegen Präsident Nicolás Maduro beschrieben wurde.
Die Veröffentlichung ließ erkennen, dass der Anti-Chavez-Hardliner Maria Corina Machado dahinter steckte – heute der wichtigste Handlanger von Senator Marco Rubio. Als Gründer der vom National Endowment for Democracy finanzierten Gruppe „Sumate“ fungierte Machado als internationaler Verbindungsmann der Opposition, der 2005 Präsident George W. Bush besuchte.

„Ich denke, es ist an der Zeit, die Anstrengungen zu verstärken. Erledigen Sie die notwendigen Anrufe und sorgen Sie für die Finanzmittel, um Maduro zu vernichten, und alles Andere wird sich lösen“, schrieb Machado 2014 an den ehemaligen venezolanischen Diplomaten Diego Arria.

In einer anderen E-Mail behauptete Machado, der gewaltsame Plan sei von dem US-Botschafter in Kolumbien, Kevin Whitaker, abgesegnet. „Ich habe mich bereits entschieden und dieser Kampf wird fortgesetzt, bis dieses Regime gestürzt ist und wir unseren Freunden in der Welt liefern können. Wenn ich nach San Cristobal ginge und mich vor die OAS stellte, ich hätte nichts zu befürchten. Kevin Whitaker hat seine Unterstützung bereits bestätigt und die nächsten Schritte beschrieben. Wir haben mehr Geld als das Regime, um den internationalen Sicherheitsring zu durchbrechen.”

Guaidó geht auf die Barrikaden

In Februar errichteten studentische Demonstranten, die als Stoßtrupp der im Exil lebenden Oligarchen fungierten, im ganzen Land gewaltsam Barrikaden und verwandelten die von der Opposition kontrollierten Quartiere in aggressive Festungen, die als Guarimbas bekannt wurden. Während internationale Medien den Aufruhr als spontanen Protest gegen Maduros eiserne Faust darstellten, gab es zahlreiche Beweise dafür, dass die Partei des Volkswillens die Show inszeniert hatte.
„Keiner der Demonstranten an den Universitäten trug ein Universitäts-T-Shirt, sie trugen alle T-Shirts mit dem Logo der Partei des Volkswillen oder von Gerechtigkeit Jetzt”, sagte ein Guarimba-Teilnehmer damals. “Es waren vielleicht Studentengruppen, aber die Studentenräte sind mit den Oppositionsparteien verbunden und sind ihnen Rechenschaft schuldig.”

Auf die Frage nach den Rädelsführen sagte der Guarimba-Teilnehmer: “Wenn ich ganz ehrlich bin, diese Leute sind jetzt Abgeordnete.”

Etwa 43 Menschen wurden 2014 bei den Guarimbas getötet. Drei Jahre später gab es neue Ausbrüche und es kam zu massenhafter Zerstörung der öffentlichen Infrastruktur, der Ermordung von Unterstützern der Regierung und 126 Toten, von denen die meisten Chavez-Anhänger waren. In einigen Fällen wurden die Regierungsanhänger von bewaffneten Gangs lebendig verbrannt.

2014 war Guaidó direkt an den Guarimbas beteiligt. Tatsächlich twitterte er ein Video, das ihn mit Helm und Gasmaske zeigte, umgeben von maskierten und bewaffneten Elementen, die eine Autobahn blockiert hatten und in einen gewaltsamen Zusammenstoß mit der Polizei verwickelt waren. Bezug nehmend auf seine Mitgliedschaft bei der Generation 2007 proklamierte er: „Ich erinnere mich an 2007. Damals proklamierten wir ‘Studenten!’ Jetzt rufen wir ‘Widerstand!Widerstand!’“

Guaido löschte den Tweet in offensichlicher Sorge um sein Image als Verteidiger der Demokratie.

Am 12. Februar 2014, in der heißen Phase der Guarimbas in diesem Jahr, ging Guaidó während des Wahlkampfs der Partei und von Gerechtigkeit Jetzt! zu Lopez auf die Bühne. Während einer sehr langen Hetzrede gegen die Regierung drängte Lopez die Menge zum Marsch auf das Gebäude der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Diaz. Bald darauf wurde Diaz’ Büro von bewaffneten Banden angegriffen, die es in Brand zu setzen versuchten. Sie verurteilte die Aktion als „geplante und vorsätzliche Gewalt”.

Bei einem Fernsehauftritt im Jahr 2016 bezeichnete Guaidó die Todesfälle infolge von Guayas – einer Guarimba-Taktik, bei der Stahldraht über eine Fahrbahn gespannt wird, um Motorradfahrer zu verletzen oder zu töten – als „Mythos“. Seine Kommentare verharmlosten eine fatale Taktik, durch die Zivilisten wie Santiago Pedroza getötet und neben vielen Anderen ein Mann namens Elvis Durán enthauptet wurde.

Diese abscheuliche Missachtung des menschlichen Lebens sollte seine Partei des Volkswillens in den Augen eines Großteils der Öffentlichkeit einschließlich vieler Gegner von Maduro kennzeichnen.

Die Regierung zeigt Härte gegen die Partei des Volkswillens

Die Eskalation der Gewalt und die politische Polarisierung im ganzen Land veranlasste die Regierung, gegen die Parteiführer vorzugehen, die die Eskalation geschürt hatten. Freddy Guevara, Vizepräsident der Nationalversammlung und stellvertretender Vorsitzender der Partei des Volkswillens, war einer der Anführer bei den Straßenkrawallen 2017. Angesichts des drohenden Prozesses wegen seiner Rolle bei den Aufständen suchte er Zuflucht in der chilenischen Botschaft, wo er sich immer noch aufhält.

Ester Toledo, ein Abgeordneter der Partei aus dem Bundesstaat Zulia, wurde im September 2016 von der venezolanischen Regierung wegen Terrorfinanzierung und der Planung von Mordanschlägen gesucht. Er soll die Mordpläne gemeinsam mit dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Álavaro Uribe entwickelt haben. Toledo floh aus Venezuela und hielt Vorträge bei Human Rights Watch, bei dem von der US-Regierung unterstützten Freedom House, dem spanischen Kongress und dem Europäischen Parlament.

Carlos Graffe, ein weiteres von Otpor ausgebildetes Mitglied der Generation 2007, das die Partei führte, wurde im Juli 2017 festgenommen. Laut Polizei war er im Besitz einer Tasche, in der sich Nägel, der Sprengstoff C4 und ein Zünder befand. Er wurde am 27. Dezember 2017 freigelassen.

Leopoldo Lopez, der langjährige Vorsitzende der Partei, steht heute unter Hausarrest wegen seiner Schlüsselrolle bei der Tötung von 13 Personen bei den Guarimbas 2014. Amnesty International lobte ihn als „Gefangenen mit gutem Gewissen“ und verurteilte seine Verlegung vom Gefängnis in sein Haus als „nicht ausreichend“. Mittlerweile initiierten Angehörige der Opfer eine Petition für eine höhere Strafe.

Yon Goicoechea, der Posterboy der Koch-Brüder, wurde 2016 von Sicherheitskräften festgenommen, weil sie angeblich ein Kilogramm Sprengstoff in seinem Wagen gefunden hatten. In einem Kommentar der New York Times protestierte Goicoechea, die Beschuldigungen seien „frei erfunden“, und behauptete, er sei nur wegen seines „Traumes von einer demokratischen Gesellschaft, frei von Kommunismus“ in Haft. Er wurde im November 2017 entlassen.

David Smolansky, ebenfalls Mitglied der ursprünglich von Otpor ausgebildeten Generation 2007, wurde der jüngste Bürgermeister von Venezuela, als er 2013 in dem wohlhabenden Vorort El Hatillo gewählt wurde. Er musste jedoch zurücktreten und wurde vom Obersten Gerichtshof zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem er für schuldig befunden wurde, bei den Guarimbas Gewalt angestachelt zu haben.

Als die Gefängnisstrafe drohte, rasierte sich Smolansky den Bart ab, setzte eine Sonnenbrille auf und verschwand, als Priester verkleidet, nach Brasilien, mit einer Bibel in der Hand und einem Rosenkranz um den Hals. Heute lebt er in Washington, DC, wo er vom Sekretär der Organisation der Amerikanischen Staaten, Luis Almagro, auserkoren wurde, die Arbeitsgruppe über die venezolanische Migrations- und Flüchtlingskrise zu leiten.

Am 26. Juli vergangenen Jahres veranstaltete Smolansky ein von ihm so genanntes „freundschaftliches Wiedersehen“ mit Elliot Abrams, dem verurteilten Verbrecher aus der Iran-Contra-Affäre, der von Trump als Sondergesandter in Venezuela eingesetzt wurde. Abrams war für die Überwachung der geheimen US-Politik der Bewaffnung der rechten Todesschwadronen in Nicaragua, El Salvador und Guatemala zuständig.
Seine wichtige Rolle bei dem Putsch in Venezuela lässt befürchten, dass ein weiterer blutiger Stellvertreterkrieg bevorsteht.

Vier Tage davor hatte Machado Maduro ein weiteres Mal gedroht und ihm erklärt, wenn er „sein Leben retten will, sollte er verstehen, dass seine Zeit abgelaufen ist”.

Ein Bauer im Spiel

Der Zusammenbruch der Partei des Volkswillens unter dem Gewicht der von ihr inszenierten gewaltsamen Destabilisierungskampagne entfremdete große Teile der Öffentlichkeit von ihr und brachte ihr Führungspersonal ins Exil oder in Haft. Guaidó spielte dabei eine untergeordnete Rolle, da er die meiste Zeit seiner neunjährigen Karriere als Abgeordneter in der Nationalversammlung verbracht hatte.
Guaidó, der aus einem der dünn besiedelten Bundesstaaten Venezuelas stammt, erreichte bei den Parlamentswahlen 2015 den zweiten Platz und gewann nur 26 Prozent der abgegebenen Stimmen, um seinen Platz in der Nationalversammlung halten. In der Tat war sein Hintern vielleicht bekannter als sein Gesicht.

Guaidó ist bekannt als Präsident der von der Opposition dominierten Nationalversammlung, aber er wurde nie in diese Position gewählt. Die vier Oppositionsparteien, aus denen sich der Runde Tisch der Demokratischen Einheit zusammensetzte, hatten sich auf eine rotierende Präsidentschaft geeinigt. Die Partei des Volkswillens war an der Reihe, aber ihr Gründer Lopez stand unter Hausarrest. Unterdessen hatte sein Stellvertreter, Guevara, in der chilenischen Botschaft Zuflucht gesucht. Eine Figur namens Juan Andrés Mejía wäre als Nächster an der Reihe gewesen, aber aus Gründen, die erst jetzt klar sind, wurde Juan Guaidó ausgewählt.

“Der Aufstieg von Guaidó hat etwas mit der Klasse zu tun”, bemerkte der venezolanische Analyst Sequera. „Mejía ist erstklassig, hat an einer der teuersten Privatuniversitäten in Venezuela studiert, aber er konnte nicht so leicht der Öffentlichkeit verkauft werden wie Guaidó. Zum einen hat Guaidó Mestizo-Gesichtszüge, wie die meisten Venezolaner, und er erscheint eher wie ein Mann aus dem Volk. Zum Anderen stand er nicht so sehr im Mittelpunkt des Medieninteresses, so dass man aus ihm so ziemlich alles formen konnte.“
Im Dezember 2018 schlich sich Guaidó über die Grenze und machte Ausflüge nach Washington, Kolumbien und Brasilien, um die Pläne für Massendemonstrationen während der Amtseinführung von Präsident Maduro zu koordinieren. In der Nacht vor Maduros Vereidigung riefen der US-Vizepräsident Mike Pence und die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland Guaidó an, um ihn ihrer Unterstützung zu versichern. Eine Woche später schlossen sich Senator Marco Rubio, Senator Rick Scott und der Abgeordnete Mario Diaz-Balart – alles Abgeordnete aus dem Stützpunkt der rechten kubanischen Exil-Lobby in Florida – Präsident Trump und Vizepräsident Pence im Weißen Haus an. Auf ihre Bitte hin stimmte Trump zu, Guaidó zu unterstützen, wenn er sich selbst zum Präsidenten erklärt.
US-Außenminister Mike Pompeo traf sich laut Wall Street Journal am 10. Januar persönlich mit Guaidó. Pompeo konnte den Namen von Guaidó jedoch nicht aussprechen, als er ihn am 25. Januar in einer Pressekonferenz erwähnte und ihn “Juan Guido” nannte.

Bis zum 11. Januar wurde Guaidós Wikipedia-Eintrag 37-mal verändert, in dem Bemühen, das Image der zuvor unbekannten Figur aufzupeppen, die nun ein Tableau für Washingtons Regime-Change-Ambitionen darstellte. Schließlich wurde die Redaktion für seinen Eintrag dem elitären Gremium der “Bibliothekare” von Wikipedia übergeben, das ihn zum “umstrittenen” Präsidenten von Venezuela erklärte.

Guaidó ist vielleicht eine obskure Figur, aber er kombiniert Radikalismus mit Opportunismus und erfüllt so die Bedürfnisse Washingtons.
“Dieses Puzzlestück fehlte”, sagte ein Vertreter der Trump-Administration über Guaidó. “Er war das Stück, das wir brauchten, damit unsere Strategie kohärent und vollständig wird.”

“Zum ersten Mal”, frohlockte Brownfield, der ehemalige amerikanische Botschafter in Venezuela, gegenüber der New York Times, “haben wir einen Oppositionsführer, der den Streitkräften und den Strafverfolgungsbehörden klar signalisiert, dass er sie auf der Seite der Engel und der Guten halten will. “

Aber Guaidós Partei des Volkswillens bildete die Stoßtruppen der Guarimbas, die den Tod von Polizeibeamten und einfachen Bürgern verursachten. Er rühmte sich sogar, selbst an den Straßenkämpfen beteiligt gewesen zu sein.
Und jetzt muss er diese blutige Geschichte auslöschen, um Herz und Verstand von Militär und Polizei zu gewinnen.

Am 21. Januar, einen Tag bevor es mit dem Putsch ernst wurde, hielt Guaidós Frau eine Video-Ansprache, in der sie das Militär aufforderte, sich gegen Maduro zu erheben. Ihr Auftritt war hölzern und und nicht gerade inspirierend, was auch die politischen Grenzen ihres Mannes unterstreicht.

Während Guaidó auf direkte Hilfe wartet, bleibt er das, was er schon immer war – ein Lieblingsprojekt von zynischen Kräften aus dem Ausland.
“Es spielt keine Rolle, ob er nach all diesen Missgeschicken abstürzt und verbrennt”, sagte Sequera im Staatsfernsehen. “Für die Amerikaner ist er entbehrlich.”

** Zu Farbrevolutionen siehe auch https://josopon.wordpress.com/2014/09/21/cia-in-der-ukraine-freedom-and-democracy/

 

Jochen

So macht Exzeptionalismus Spaß: „Die Jüdische Rasse ist das auserwählte, das klügste und herausragendste Volk!“

Exzeptionalismus – das ist die Überzeugung, als Volk ausgewählt zu sein und gegenüber anderen Völkern besondere Privilegien zu haben. Zu finden v.a. in den USA, Israel, früher auch im Iran, Nazideutschland, China zur Kaiserzeit und Japan.

IsraelflaggeDie „jüdische Rasse“ sei die klügste der Welt und besitze das größte menschliche Kapital. Genau deshalb seien die Israelis besonders skeptisch gegenüber den aktuellen Korruptionsermittlungen gegen Benjamin Netanjahu, sagte der Knesset-Abgeordnete der nationalistischen Likud-Partei Miki Zohar

Siehe hier: https://deutsch.rt.com/der-nahe-osten/71509-israelischer-abgeordneter-juedische-rasse–auserwaehltes-kluegstes-volk/

„Ich kann Ihnen etwas sehr Grundlegendes sagen“, äußerte der Abgeordnete der nationalistischen Likud-Partei Miki Zohar während einer Radio-Debatte am Mittwoch. Laut dem Nachrichtenportal Times of Israel fügte er hinzu: 

Man kann die Juden nicht täuschen, egal was die Medien schreiben. Die Öffentlichkeit in Israel ist eine Öffentlichkeit, die zur jüdischen Rasse gehört, und die gesamte jüdische Rasse besitzt das größte menschliche Kapital, das klügste, das umfassendste.

Unter Berufung auf Meinungsumfragen, die trotz zahlreicher Skandale eine anhaltend breite Unterstützung für Netanjahu in der Bevölkerung abbilden sollen, behauptete Zohar, Statistiken zeigten, dass die „jüdische Rasse“ zu schlau sei, um sich von der Medienberichterstattung über die zahlreichen Korruptionsermittlungen täuschen zu lassen. Der fragwürdige Versuch, den israelischen Premierminister zu verteidigen, brachte das Mitglied der Regierungspartei wenig später in Erklärungsnot.

Die großspurige Aussage über die jüdische Vorherrschaft traf einen Nerv bei Ahmad Tibi, einem arabisch-muslimischen israelischen Politiker und Führer der Partei „Arabische Bewegung für den Wandel“, der auf Twitter seinen israelischen Parlamentskollegen beschuldigte, eine Rassentheorie verbreitet zu haben. „Ein gewählter Beamter im ‚jüdischen Staat‘ präsentiert eine Rassentheorie“, kritisierte der arabische Politiker auf dem Micro-Bloggingdienst.

Der arabische Politiker setzte mit einem Tweet von Amos Elons Buch „Die Schande des Ganzen: Ein Porträt der deutsch-jüdischen Epoche, 1743-1933“ nach. Er veröffentlichte ein Bild von sich, wie er dieses Buch liest. Die Lektüre umreißt, wie eine kleine Minderheit seinerzeit als tödliche Bedrohung der deutschen nationalen Integrität wahrgenommen wurde.

Zohar schlug mit einem eigenen Tweet zurück. Er sagte: „Und auf der Rückseite ist ein Foto von Albert Einstein, einem anderen Juden, der der Welt große Neuerungen brachte.“ Der arabische Abgeordnete reagierte mit der Antwort: „Was ist die Verbindung zwischen dir und Einstein? Es ist nicht einmal eine relative Beziehung.“

Um die wachsende Kritik abzuwehren, gab Zohar dem Fernsehsender Hadashot TV ein Interview. Doch das Interview trug offenbar nicht zur Glättung der Wogen bei. Im Gegenteil, Zoran leugnete kurzerhand, dass er von der Vorherrschaft der jüdischen Rasse gesprochen habe. Als er mit einer Aufnahme der Radiodebatte konfrontiert wird, wiederholte er:

Das jüdische Volk und die jüdische Rasse sind das höchste menschliche Kapital, das es gibt. Was können Sie tun? Wir wurden von Gott gesegnet …. Ich muss mich nicht schämen, dass das jüdische Volk das auserwählte Volk ist, das klügste und herausragendste Volk der Welt.

Die Neuvermessung der Welt: Gabriels eigene Asienabteilung im Auswärtigen Amt – Die deutschen Kriegszulieferer

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

german foreign policy logo

Auszugsweise 2 Artikel aus der German Foreign Policy, eine der wenigen NATO-kritischen Fachzeitschriften für Außenpolitik

A. Die Neuvermessung der Welt – Asiens Aufstieg

Gabriel2017http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59572

Die steigende Bedeutung Asiens in der Weltpolitik, die das Auswärtige Amt nun zu inneren Umstrukturierungen veranlasst, basiert auf dem bereits seit Jahren anhaltenden Wirtschaftsboom einer ganzen Reihe asiatischer Staaten. An vorderster Stelle steht dabei nach wie vor China, das bereits jetzt, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Kaufkraftparität, sowohl die USA als auch die EU überholt hat und auf Platz eins in der Welt liegt. Laut einer aktuellen Prognose der Beratungsgesellschaft PwC könnte die Volksrepublik ihren Anteil am globalen BIP nach Kaufkraftparität von aktuell 18 Prozent auf 20 Prozent im Jahr 2050 weiter steigern.
PwC rechnet damit, dass auch Indien seinen Anteil ausweiten kann – von zur Zeit sieben auf 15 Prozent (2050); damit läge es dann vor den USA, deren Anteil von 16 Prozent auf zwölf Prozent sinken werde, sowie vor der EU, die 2050 nicht mehr, wie heute, 15 Prozent, sondern nur noch neun Prozent am globalen BIP erwirtschafte.
PwC geht zudem davon aus, dass China und Indien auch beim nominalen BIP weiter aufsteigen: China bis 2030 auf Platz eins der Weltrangliste, Indien bis 2050 auf Platz drei.[1]

Europa fällt zurück

Dabei beschränkt sich der Aufstieg Asiens nicht auf China und Indien, sondern bezieht auch andere Länder ein, die hierzulande noch kaum wahrgenommen werden. So wird laut PwC Indonesien, das schon heute auf Platz acht der BIP-Weltrangliste nach Kaufkraftparität liegt – vor Großbritannien und Frankreich -, bis 2050 auf Platz vier vorrücken.
Die Philippinen könnten von Platz 28 auf Platz 19 springen, Vietnam von Platz 32 auf Platz 20. Damit würden beide Italien überholen, das PwC in einem Absturz von Platz zwölf (2016) auf Platz 21 (2050) begriffen sieht. Deutschland werde von Platz fünf auf Platz neun zurückfallen, heißt es.[2]
Der Anteil ganz Asiens am kaufkraftbereinigten globalen BIP ist laut der Beratungsgesellschaft Deloitte bereits seit 1990, als er – damals noch vor allem von Japans Wirtschaft getragen – bei 23,2 Prozent gelegen hatte, auf 38,8 Prozent im Jahr 2014 gestiegen und könnte im Jahr 2025 bereits fast 45 Prozent erreichen.[3]
Asiens Wachstum gilt als damit noch längst nicht ausgereizt. Es handelt sich um tektonische Plattenverschiebungen in der Weltwirtschaft, die Europa, das sich – irrtümlich – immer noch als Mittelpunkt des Weltgeschehens begreift, langfristig an den Rand drängen könnten.

Fünfeinhalb Jahre später

Mit Blick auf die tiefgreifenden ökonomischen Verschiebungen, die Schritt für Schritt auch zum politischen Aufstieg Asiens führen, kündigt Außenminister Sigmar Gabriel nun Kurskorrekturen in der deutschen Außenpolitik an. Zur Zeit sei Berlin in hohem Maß mit der „Zukunft Europas“, mit der Ukraine-Krise, dem Syrien-Krieg und anderen Konflikten rings um die EU sowie mit den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten befasst, äußerte Gabriel Ende vergangener Woche in einer Rede vor dem Ostasiatischen Verein, dem für Ostasien zuständigen Außenwirtschaftsverband. Das sei zwar wichtig, doch dürfe es dabei nicht bleiben. Längst sei „eine Neuvermessung der Welt im Gange“: „Das wirtschaftliche Gravitätszentrum“ verlagere sich immer stärker „nach Asien“.[4]
„Deshalb brauchen wir eine Neuausrichtung unserer Asienpolitik“, erklärte Gabriel. Berlin ist spät dran: Die Vereinigten Staaten hatten bereits Ende 2011 angekündigt, den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik nach Asien zu verlagern („pivot to Asia“, german-foreign-policy.com berichtete [5]); wenngleich sie mittlerweile ihren Schwenk etwas abgeschwächt haben und nun von „Rebalancing“ sprechen, liegt ihr Fokus zunehmend auf der Pazifikregion.
„Wir müssen unsere Beziehungen zu Asien intensivieren und strategischer gestalten“, kündigt jetzt – fünfeinhalb Jahre später – auch der deutsche Außenminister an. Er habe „deshalb entschieden, im Auswärtigen Amt erstmals eine eigene Asienabteilung aufzubauen, die unsere regionalen Kompetenzen besser bündeln und weiter ausbauen soll“.[6]

Kampf für den Freihandel

Bei der Neuausrichtung seiner Asienpolitik, deren Gesamtcharakter freilich noch unklar ist, sucht Berlin in einem ersten Schritt die Schwächen der Trump’schen Außenpolitik auszunutzen. Mit seiner Absage an das transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) hat Trump gleich mehrere Staaten Ost- und Südostasiens düpiert, die nun nach Alternativen suchen.
Gabriel hat nun vor dem Ostasiatischen Verein angekündigt, den Abschluss von EU-Freihandelsverträgen mit asiatischen Staaten voranzutreiben. Bislang habe man „nur mit Korea ein Freihandelsabkommen“, erklärte Gabriel: „Hier müssen wir Fortschritte machen.“ Mit Singapur und Vietnam habe die EU immerhin „bereits zu Ende verhandelt“; mit Indonesien und Indien „stehen wir noch am Anfang, wollen aber auch dort Fortschritte machen“. Seine Freihandelsgespräche mit Japan, die bereits 2013 aufgenommen wurden, solle Brüssel nun „rasch zu einem Abschluss“ führen.[7]
Durch ein Freihandelsabkommen der EU mit Japan werde das deutsche BIP um einen Betrag von mindestens 3,4 Milliarden Euro wachsen, heißt es in einer aktuellen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung; unter günstigen Umständen sei sogar eine Steigerung um gut 20 Milliarden Euro möglich.[8]
Vor allem aber locke ein strategischer Einflussgewinn: Das Abkommen mit Tokio könne „ein erster Schritt sein, das Vakuum zu füllen, das die USA durch ihre Absage an den Freihandel in der Welthandelsordnung hinterlassen“.

Ein Ring um China

Weitere Schwerpunkte der künftigen Berliner Asienpolitik bilden laut Gabriel die Kooperation mit dem südostasiatischen Staatenbund ASEAN sowie „die maritime Sicherheit in Asien“.[9] Die EU müsse „als privilegierter Partner von ASEAN“ auftreten, forderte der Außenminister vor dem Ostasiatischen Verein.
Der Staatenbund [10] gilt der westlichen Außenpolitik als mögliches Gegengewicht gegen den wachsenden Einfluss Beijings; mehrere seiner Mitglieder, insbesondere Vietnam, liegen mit der Volksrepublik in schwärendem Streit um Inseln im Südchinesischen Meer.
Darauf bezieht sich auch Gabriels Forderung, die EU müsse stärkeren Einfluss auf die „maritime Sicherheit“ in der Region nehmen: Die Formulierung bezieht sich nicht zuletzt auf den Inselstreit; der Minister strebt offenbar an, Berlin und Brüssel in gewissem Umfang als Ordnungsmächte in Ost- und Südostasien zu etablieren.
Gelänge dies, dann könnte die deutsch dominierte EU sich als wirklich global operierende Weltmacht profilieren. Allerdings setzt das Vorhaben eine militärische Präsenz in Ost- und Südostasien voraus.

[1], [2] The Long View. How will the global economic order change by 2050? www.pwc.com February 2017.
[3] Akrur Barua: Packing a mightier punch: Asia’s economic growth among global markets continues. dupress.deloitte.com 18.12.2015.
[4] Rede von Außenminister Sigmar Gabriel beim 97. „Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins im Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg. 24.03.2017.
[5] S. dazu Das pazifische Jahrhundert.
[6] Außenminister Gabriel: Wir brauchen eine Neuausrichtung unserer Asienpolitik. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts 24.03.2017.
[7] Rede von Außenminister Sigmar Gabriel beim 97. „Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins im Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg. 24.03.2017.
[8] EU-Japan: Freihandelsabkommen als Bekenntnis zu wirtschaftlicher Kooperation. Bertelsmann-Stiftung: Policy Brief #2017/01.
[9] Rede von Außenminister Sigmar Gabriel beim 97. „Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins im Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg. 24.03.2017.
[10] ASEAN gehören Brunei Darussalam, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam an.

B. Die Kriegszulieferer

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59573

Erfolgssparte „Defence“

Die beginnende Aufstockung des deutschen Militärhaushalts auf bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts führt zu ersten Wachstumsschüben in der deutschen Rüstungsindustrie. Exemplarisch belegen dies die jüngsten Geschäftszahlen der Düsseldorfer Firma Rheinmetall. Das Unternehmen hat in der vergangenen Woche bei der Bekanntgabe seines Geschäftsberichts für das Jahr 2016 ein bemerkenswertes Wachstum vermeldet: Es konnte den Umsatz im Konzernbereich „Defence“ um 14 Prozent auf 2,946 Milliarden Euro steigern. Damit erzielte es ein Ergebnis vor Zinsen und Steuern (EBIT) von gut 147 Millionen Euro – ein Zuwachs gegenüber dem Vorjahr um 63 Prozent.[1]
Der bemerkenswerte Rüstungsboom hat es dem Konzern, der sich zur Absicherung gegen Konjunkturschwankungen beim Waffenverkauf eine stabile Kfz-Zuliefersparte hält, ermöglicht, seinen Gesamtumsatz um gut acht Prozent auf 5,602 Milliarden Euro zu steigern. Das Gesamt-EBIT nahm um 23 Prozent auf 353 Millionen Euro zu.

„Organisches Wachstum“

Dabei ist das „Defence“-Wachstum des Jahres 2016 für Rheinmetall nur der Anfang einer wohl länger anhaltenden Boomphase gewesen. Wie der Konzern mitteilt, sind die Neuaufträge 2016 um rund 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen und überschritten mit einem Volumen von 3,05 Milliarden Euro erstmals die Drei-Milliarden-Marke. Damit wuchs der gesamte Auftragsbestand Ende 2016 auf 6,656 Milliarden Euro – auch dies ein neuer Höchstwert. Der hohe Auftragsbestand sichere schon jetzt „wesentliche Teile des geplanten organischen Wachstums im Defence-Bereich für 2017 und in den Folgejahren ab“, erklärt Rheinmetall.[2]
Darüber hinaus rechne man mit umfangreichen weiteren Aufträgen in den kommenden Jahren. Firmenchef Armin Papperger teilte Anfang vergangener Woche mit, er gehe davon aus, 2017 allein aus Deutschland Rüstungsaufträge im Wert von zwei Milliarden Euro zu erhalten. Mittel- und langfristig hoffe er sogar auf Aufträge im Volumen von mehr als zehn Milliarden Euro aus Berlin.[3]
„Zusätzlich“ profitiere man, erklärt Papperger in einer Umschreibung der globalen Rüstungsspirale, „vom allgemeinen Trend zur verstärkten Sicherheitsvorsorge sowohl innerhalb der NATO wie auch in anderen Kundenländern“.[4]

Munition für die F-35

Zu den NATO-Staaten, mit denen Rheinmetall zur Zeit lukrative Geschäfte macht, gehören vor allem die unter Präsident Donald Trump massiv aufrüstende USA.
Zu Monatsbeginn hat das Düsseldorfer Unternehmen bekanntgegeben, einen millionenschweren Auftrag zur Lieferung von Munition an die US-Luftwaffe erhalten zu haben. Dabei handelt es sich um mehrere zehntausend Patronen für das Kampfflugzeug F-35, die einen Wert von 6,5 Millionen US-Dollar haben und von „Rheinmetall, Day and Zimmermann Munitions“ (RDZM) produziert werden, einem Rheinmetall-Joint Venture in den USA.
Dem Auftrag misst die Düsseldorfer Konzernzentrale „strategische Bedeutung“ bei: Zum einen beschafft die U.S. Air Force insgesamt 1.200 F-35, die langfristig eine große Menge an Munition verschießen werden; zum anderen beschaffen diverse weitere NATO-Staaten sowie Japan ebenfalls F-35-Tarnkappenflieger, einige von ihnen haben bereits „Munition für Testzwecke geordert“. „Das alles lässt weitere Großaufträge erwarten“, erklärt Rheinmetall.[5]
Bereits im Februar hat das Düsseldorfer Unternehmen eine globale Zusammenarbeit mit dem US-Rüstungskonzern Raytheon vereinbart. Mit Produkten in den Bereichen „Luftverteidigung, Kampffahrzeuge, Waffen bzw. Munition, Cyber Defence sowie im Bereich Simulation und Ausbildung“ sollen insbesondere die „Heimatmärkte“ Deutschland und USA beliefert werden. Mit der Kooperation erhält Rheinmetall deutlich verbesserten Zugang zu den USA und damit zum mit Abstand weltgrößten Rüstungsmarkt.[6]
Man beginne damit „ein neues Kapitel für Rheinmetall“, erklärt Konzernchef Papperger – „sowohl in technologischer Hinsicht wie auch in der Präsenz in wichtigen Märkten“.

Panzer für Erdoğan

Zu den NATO-Märkten, auf denen Rheinmetall seinen Absatz deutlich ausweiten will, gehört auch die Türkei. Dort will das Unternehmen Panzer und Munition verkaufen – und errichtet dazu zwei Joint Ventures mit türkischen Waffenschmieden. Schon im Mai 2015 hat der Düsseldorfer Konzern angekündigt, ein Gemeinschaftsunternehmen mit der türkischen Rüstungsfirma MKEK gründen zu wollen, mit der er seit geraumer Zeit zusammenarbeitet; so basiert die 120-Millimeter-Kanone des von MKEK mitproduzierten Panzers „Altay“ auf Rheinmetall-Technologie.[7]
Darüber hinaus hält Rheinmetall 40 Prozent an dem neuen türkischen Joint Venture RBSS, an dem der türkische Militärfahrzeugbauer BMC und das malaysische Unternehmen Etika Strategi beteiligt sind. Wie es heißt, steht BMC-Eigentümer Ethem Sancak Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nah und hat seine Medien – Zeitungen und Fernsehsender – faktisch in dessen Dienst gestellt.[8] Über BMC könnte RBSS den Auftrag erhalten, den türkischen Kampfpanzer Altay zu bauen, der bislang noch von einem nicht zu Erdoğans direktem Umfeld zählenden Joint Venture hergestellt wird, ist zu hören. Berichten zufolge will Qatar bei RBSS 1.000 Panzer bestellen.[9]
Tatsächlich könnte Rheinmetall von türkischen Standorten aus nicht nur die türkischen Streitkräfte, sondern auch eine Reihe von Drittstaaten beliefern, die im Falle direkter deutscher Rüstungsexporte regelmäßig für Negativ-Schlagzeilen sorgen.

Geschosse für Saudi-Arabien

Zu diesen Staaten zählt auch Saudi-Arabien. Die Golfmonarchie wird schon jetzt von Rheinmetall-Standorten außerhalb der Bundesrepublik beliefert. So haben etwa Rheinmetall Italia und die Rheinmetall-Tochter RWM Italia in den Jahren 2014 und 2015 Rüstungsgüter im Wert von 71,5 Millionen Euro an Riad verkauft. Die südafrikanische Rheinmetall Denel Munition (RDM) ist in den Bau einer Munitionsfabrik in Al Kharj südöstlich der saudischen Hauptstadt Riad eingebunden gewesen.
RDM arbeitet dem Werk, das offiziell von der staatlichen saudischen Military Industries Corporation betrieben wird, weiterhin als Zulieferer zu. In der Fabrik werden unter anderem Artilleriemunition und Fliegerbomben mit einem Gewicht von 500 bis 2.000 Pfund hergestellt. Bei ihnen handelt es sich um Geschosse, die die saudischen Streitkräfte im Jemen-Krieg einsetzen.[10]
Das saudische Militär wird immer wieder wegen schwerster Kriegsverbrechen im Jemen kritisiert.[11]

[1], [2] Rheinmetall prognostiziert auch für 2017 operatives Wachstum und Ergebnissteigerungen in beiden Sparten. www.rheinmetall.com 23.03.2017.
[3] Rheinmetall profitiert von steigender Nachfrage nach Waffen. www.wz.de 23.03.2017.
[4] Rheinmetall prognostiziert auch für 2017 operatives Wachstum und Ergebnissteigerungen in beiden Sparten. www.rheinmetall.com 23.03.2017.
[5] Millionenauftrag aus den USA. www.rheinmetall-defence.com 06.03.2017.
[6] Rheinmetall Defence und US-Hersteller Raytheon vereinbaren globale Zusammenarbeit. www.rheinmetall-defence.com 17.02.2017.
[7] S. dazu Operationsstützpunkt Türkei.
[8], [9] Margherita Bettoni, Frederick Richter, Hans-Martin Tillack: Deutsche Panzer für Erdoğan. ozguruz.org 09.03.2017.
[10] S. dazu Ein Spitzenkäufer deutschen Kriegsgeräts.
[11] S. dazu Ignorierte Kriege (I).

dazu in den NachDenkSeiten: Ex-Verteidigungsminister Jung soll Rheinmetall kontrollieren

Auf der Hauptversammlung des Rüstungskonzerns soll der frühere Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung in den Aufsichtsrat des Unternehmens gewählt werden. Er wäre dann nicht der einzige Ex-Minister in den Reihen von Rheinmetall. Der 68-jährige CDU-Politiker, der von 2005 bis 2009 an der Spitze des Verteidigungsministeriums stand und danach kurz Bundesarbeitsminister war, soll nach Recherchen der „Welt“ auf der Hauptversammlung am 9. Mai in das Kontrollgremium gewählt werden. Ein Rheinmetall-Sprecher begründete die geplante Berufung mit der besonderen Expertise von Jung im Verteidigungsbereich. Der Rheinmetall-Konzern mit 5,6 Milliarden Euro Umsatz (2016) besitzt zwei nahezu gleich große Umsatzsäulen aus Automobiltechnik sowie Rüstung.
Quelle: Welt Online

 

Jochen

NATO: Eskalation mit Nuklearpotenzial, genannt „Fähigkeit zur Konfliktdominanz“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier in der internationalen Diplomatenzeitung zur deutschen Außenpolitik wird noch einmal zusammengefasst, was einem richtig Angst machen kann.
Aber erst mal ein Hinweis: Für Leute aus Nordschwaben fährt ein Bus der Augsburger Friedensinitiative zur großen Friedensdemonstration am 8.Oktober in Berlin!

Abfahrt unseres Busses ist am Samstag, 8. Oktober um 3:30 Uhr auf dem Plärrergelände in Augsburg.
Auf dem Plärrergelände stehen auch Parkplätze zur Verfügung.

 Der Bus fährt über Ingolstadt und hält um 4:30 Uhr in Ingolstadt auf dem Saturn-Arena-Parkplatz, Südliche Ringstraße 64.  Rückkehr ist um ca. 24 Uhr in Augsburg und eine Stunde früher in Ingolstadt.

 Eine Fahrkarte kostet 39,00 Euro (ermäßigt für Schüler, Studenten, Arbeitslose: 30,00 Euro).Alle, die nicht mitfahren können, bitten wir mit Spenden oder dem Erwerb von Solikarten zum Preis von 15,00 Euro zur Finanzierung des Busses beizutragen.
Die Fahrkarten und Solikarten können bei der AFI unter info bestellt werden.
Mit der Überweisung des Preises für die Fahrkarte wird diese verbindlich reserviert. Spenden können auch auf dieses Konto überwiesen werden.

 Bankverbindung: AFI Sonderkonto Karl Augart, IBAN DE73720500000250441912, BIC AUGSDE77XXX,
Stichwort: Berlin-Demo, Name

Und hier der Artikel:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59454

BERLIN (Eigener Bericht) – Berliner Regierungsberater und Außenpolitik-Experten warnen vor einer weiteren Zuspitzung der NATO-Eskalationspolitik gegenüber Russland. Im Hinblick auf die gefährlichen Zwischenfälle bei militärischen Flugmanövern beispielsweise über der Ostsee führe „früher oder später“ an „einem Umgang miteinander kein Weg vorbei“, erklärt ein hochrangiger NATO-Funktionär in der führenden Zeitschrift des deutschen Außenpolitik-Establishments.
Man müsse Sorge dafür tragen, dass der Machtkampf zwischen der NATO und Russland „sich nicht zu einem Großkonflikt auswächst“, warnt ein renommierter russischer Experte eines US-Think-Tanks: Der Machtkampf sei zwar „keineswegs trivial“, doch sei er „einen europäischen Krieg … zweifellos nicht wert“.
Auch die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dringt darauf, in Abkehr vom bisherigen langfristigen Kurs insbesondere der USA nicht nur Russland, sondern auch ChinaEinflusssphären“ in ihrem jeweiligen regionalen Umfeld einzuräumen – „zur Vermeidung von Kriegsrisiken“. Die SWP weist auf die nukleare Komponente des Konflikts hin – und warnt, auf lange Sicht sei die Stationierung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa nicht mehr auszuschließen.

Die unipolare Welt

Ihre Warnung vor einer weiteren Zuspitzung der Eskalationspolitik gegenüber Russland entwickelt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus einer Analyse der US-amerikanischen Russlandpolitik. Die unlängst publizierte Studie des vom Bundeskanzleramt finanzierten Think-Tanks nimmt unter anderem strategische Grundentscheidungen Washingtons zu Beginn der 1990er Jahre in den Blick. Wie die SWP konstatiert, ist damals in der US-Hauptstadt durchaus diskutiert worden, „ob man den beiden Großmächten Russland und China Einflusssphären zugestehen“ solle – Gebiete in ihrem regionalen Umfeld, in denen man ihre Interessen nicht grundlegend in Frage stelle.[1]
Der Gedanke sei jedoch verworfen worden; man habe entschieden, eine „unipolare Welt unter Führung der USA“ auszubauen. Dazu wurde unter anderem – entgegen mündlichen Zusicherungen gegenüber Moskau aus dem Jahr 1990 – die NATO nach Ost- und Südosteuropa erweitert, obwohl klar gewesen sei, dass das russische Establishment dies „als Fortsetzung des alten Spiels der Gleichgewichts- und Eindämmungspolitik“ begreifen würde.
„Der geopolitische Machtkonflikt“, der sich aus der stetigen Einflussausdehnung der westlichen Mächte in Richtung Osteuropa bei gleichzeitiger Verweigerung einer russischen Einflusssphäre ergab, sei schließlich „in der Ukraine-Frage kulminiert“.

Konfliktdominanz

Hatten sich die USA nach den Umbrüchen um 1990 bei der Durchsetzung ihrer globalen Dominanz zunächst „vor allem auf sogenannte Schurkenstaaten wie Iran, Irak und Nordkorea„, nach dem 11. September 2001 dann „auch auf den transnationalen islamistischen Terrorismus fixiert“, so ist, wie die SWP es formuliert, inzwischen „die machtpolitische Rivalität zwischen den USA auf der einen und einem aufstrebenden China sowie einem wiedererstarkenden Russland auf der anderen Seite in den Fokus gerückt“.[2]
Damit sei auch „das alte, nie verschwundene, aber selten offen artikulierte machtpolitische Kerninteresse der USA“ wieder in den Vordergrund geraten: „nämlich zu verhindern, dass eine oder mehrere feindliche Großmächte die Ressourcen Eurasiens kontrollieren“ und sich „ein Machtpotential aneignen“, das „die amerikanische Überlegenheit gefährden könnte“. Exemplarisch beschrieben hat das Interesse an der Verhinderung eines geeinten „Eurasiens“ der frühere Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, in seinem Geostrategie-Klassiker „The Grand Chessboard“ (deutsch: „Die einzige Weltmacht“).[3]
In der aktuellen Washingtoner Strategie seien Russland und China in der Tat „die potentiellen Gegner, die es mit überlegener militärischer Macht abzuschrecken gilt“, bestätigt die SWP – „und zwar durch die Fähigkeit zur Konfliktdominanz„.*)

Neuer Dialog

Zu größerer Zurückhaltung in dem Konflikt hat vor kurzem die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) publizierte Fachzeitschrift „Internationale Politik“ gemahnt. Mit Verweis auf kontinuierlich wiederkehrende gefährliche Zwischenfälle etwa beim Zusammentreffen russischer sowie westlicher Kampfflieger über der Ostsee urteilte der Leiter des NATO-Referats Energiesicherheit, Michael Rühle, in der Online-Version des Blatts, „früher oder später“ führe „an einem Umgang miteinander kein Weg vorbei“.[4]
„Sollte sich ein neuer Dialog mit Moskau entwickeln – beispielsweise über Gespräche zur Vermeidung militärischer Zwischenfälle -„, dann solle man durchaus auch wieder über weiter reichende „praktische Zusammenarbeit nachdenken“. Diese habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten immerhin „von gemeinsamem Peacekeeping auf dem Balkan bis zu maritimen Such- und Rettungseinsätzen“ sowie „von der Ausbildung afghanischer Militärspezialisten bis zur Drogen- und Terrorismusbekämpfung“ gereicht. Zwar werde „der Umgang mit Russland“ wohl „schwierig bleiben“, vermutet Rühle; dennoch zwinge der aktuelle Konflikt „die NATO nicht nur zu einer militärischen Neujustierung gegenüber Russland, sondern auch zum Ausloten neuer Wege des Dialogs und der Zusammenarbeit“.

„Einen Krieg nicht wert“

Bereits im Juli hat die Onlinepräsenz der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen warnenden Beitrag des russischen Außenpolitik-Experten Dmitri Trenin publiziert. Wie Trenin, ein ehemaliger Oberst der sowjetischen Streitkräfte, heute Leiter der Moskauer Außenstelle der US-amerikanischen Carnegie Endowment, erklärt, gehe es zur Zeit vor allem „darum, sicherzustellen“, dass die Konfrontation zwischen der NATO und Russland „sich nicht zu einem Großkonflikt auswächst“.[5]
Erste Schritte zur Verständigung seien auf beiden Seiten unverzichtbar; dabei müsse „der Westen … zur Kenntnis nehmen“, dass „die Konfrontation mit Russland“ nicht allein der russischen Politik anzulasten sei. Versäume man es, „nach einem Großkonflikt“, wie die Systemkonfrontation es gewesen sei, „eine internationale Ordnung zu schaffen, die für die unterlegene Partei akzeptabel ist“, dann führe dies unweigerlich „zu einer neuen Runde des Wettstreits“. Tatsächlich seien die Dominanz des Westens sowie sein Vordringen (per NATO-Osterweiterung) in die russische Einflusssphäre für Moskau auf keinen Fall „akzeptabel“ gewesen. Der aktuelle Konflikt zwischen der NATO und Russland sei „keineswegs trivial“, doch „einen europäischen Krieg ist er zweifellos nicht wert“, schreibt Trenin; nun müssten „gemeinsame Vorsichtsmaßnahmen sicherstellen“, ihn „zu verhindern“.

Mittelstreckenraketen

In diesem Kontext weist die SWP ausdrücklich auf die nukleare Komponente des Konflikts hin. „Schon allein die Stärkung der konventionellen Abschreckung“, etwa „die Vornestationierung von Streitkräften, die Planungen zur Heranführung von Verstärkungen und die notwendige Sicherung der Seeverbindungen“, könne „eine Rüstungsdynamik in Gang setzen, die wechselseitig das Sicherheitsdilemma verschärft“, heißt es in der neuen SWP-Analyse zur US-Russlandpolitik. Doch werde die neue Abschreckungspolitik „kaum … auf die konventionelle Ebene beschränkt bleiben“.[6]
In der Tat hat der jüngste NATO-Gipfel in Warschau nach vorausgegangener Diskussion, in der sich auch deutsche Think-Tanks für den Ausbau des westlichen Atomwaffenarsenals aussprachen (german-foreign-policy.com berichtete [7]), explizit auf den nuklearen Charakter des Bündnisses verwiesen. Im Gegenzug hat Russland jetzt angekündigt, die Vernichtung atomwaffenfähigen Plutoniums auszusetzen.[8]
Die SWP warnt, bei einem weiteren Anheizen der Spannungen sei es „womöglich nur eine Frage der Zeit, bis erste Stimmen nahelegen, den INF-Vertrag aufzukündigen und landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren“.

Kriegsrisiken

Washington stehe „mehr und mehr vor der Herausforderung“, warnt die SWP, einen Kurswechsel vorzunehmen und in Zukunft Russland und China eben doch „Einflusssphären“ in ihrem regionalen Umfeld zuzugestehen – „im Interesse globaler Kooperation und zur Vermeidung von Kriegsrisiken“ – oder aber „Machtrivalitäten mit hohem Eskalationspotential voranzutreiben“.[9] Dabei ist das Eskalationspotenzial nuklear.

[1], [2] Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie S 17. Berlin, September 2016.
[3] Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperativs. New York 1997. Die deutsche Version ist erschienen als: Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Frankfurt am Main 1999.
[4] Michael Rühle: Jenseits der Abschreckung. zeitschrift-ip.dgap.org 15.09.2016.
[5] Dmitri Trenin: Redet miteinander! www.zeit.de 08.07.2016.
[6] Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie S 17. Berlin, September 2016.
[7] S. dazu Die Nukleardebatte der NATO, Die Nukleardebatte der NATO (II) und Grundlegende Neujustierung.
[8] Russland stoppt Plutonium-Vernichtung. www.zeit.de 03.10.2016.
[9] Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie S 17. Berlin, September 2016.

*) Hiermit ist ganz deutlich die atomare Erstschlagsfähigkeit gemeint.
Das Erwähnte Buch von Brzezinski, mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher, habe ich mit großem Entsetzen gelesen.

Jochen

Das neue „Weißbuch der Bundeswehr“- Vorbereitung für Eroberungskriege

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Seit mindestens 2012 wird versucht, die Bevölkerung zu „entpazifizieren“. Gauck, v.d.Leyen, de Misere, die gleichgeschalteten Medien ziehen da an einem Strang. Auch das Deutsche Rote Kreuz und die Militärseelsorge marschiert mit.
Kollwitz_KriegEiner der Kalten Krieger sprach schon von seinem Ärger darüber, dass die westdeutsche Bevölkerung von der Friedensbewegung in den 80er Jahren „durchpazifiziert“ wurde.
In Ostdeutschland hat der Militärdienst in der NVA offensichtlich fast allen Rekruten jede Lsut am Kriegspielen verdorben.
Aber wozu haben wir den Gauck, die Springerpresse, die überwiegend von der Rüstungsindustrie bespendete CDU/CSU, die Atlantik-Brücke, die Stiftung Wissenschaft und Politik u.s.w.?

Die Investitionen müssen sich doch lohnen !

Man höre dazu im Hintergrund https://www.youtube.com/watch?v=NTMCdnE5QEU
Hier eine ausführliche und gut dokumentierte Einschätzung von german-foreign-policy in zwei Teilen.
Das Weißbuch selber kann hier herunter geladen werden:
http://www.public-security.de/pdf/Weissbuch2016.pdf
Und hier die Dokumentation. In den Originalartikeln auch die Links:

Deutschlands globaler Horizont (I)

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59411 

14.07.2016 BERLIN (Eigener Bericht) – Im neuen „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ formuliert die Bundesregierung offiziell ihren Anspruch auf eine führende Rolle in der Weltpolitik. „Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist global“, heißt es in dem gestern veröffentlichten Dokument, das als „das oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ firmiert. Berlin sei bereit, „Führung zu übernehmen“, heißt es weiter; gefordert wird die ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Insgesamt geht die Bundesregierung zwar von einem ökonomischen und infolgedessen auch politisch-militärischen Einflussverlust der westlichen Mächte aus; sie erklärt, „das internationale System“ entwickle sich hin zu einer „multipolaren Ordnung“. Doch blieben „auch in einer derart multipolaren Welt“ die Vereinigten Staaten eine prägende Macht; insofern werde man militärisch weiterhin „gemeinsam mit den USA“ die größte Schlagkraft entwickeln können. Freilich müssten „unsere amerikanischen Partner“ von nun an „den Weg gemeinsamer Entscheidungsfindung gehen“. Bezüglich Russlands spricht das Weißbuch explizit von „strategischer Rivalität“. Diese resultiere daraus, dass Moskau sich in der Weltpolitik „als eigenständiges Gravitationszentrum“ präsentiere.

Die globale Ordnung

Das neue Weißbuch formuliert offen den Anspruch Berlins, in Zukunft eine führende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Dieser Anspruch ist in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich vorgetragen worden. „Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen“, hieß es etwa vor fast drei Jahren in einem Strategiepapier, das von rund 50 teils hochrangigen Personen aus dem außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik erstellt und im Oktober 2013 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) publiziert wurde.[1]
Im Weißbuch heißt es nun ähnlich, die Bundesrepublik sei „ein in hohem Maße global vernetztes Land“, das „aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bedeutung“ daran gehen werde, „die globale Ordnung aktiv mitzugestalten“: „Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen … und Führung zu übernehmen“.
Die Bundesrepublik werde nicht nur „zunehmend als zentraler Akteur in Europa wahrgenommen“; sie „gestalte“ darüber hinaus die „internationale Ordnung mit“: „Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist global. Dieser umfasst ausdrücklich auch den Cyber-, Informations- und Weltraum.“ Entsprechend erklärt die Bundesregierung im Weißbuch auch, man sei „bereit“, „ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates“ zu werden.[2]

Rohstoffe und Handelswege

Auch die Beschreibung deutscher Interessen sowie tatsächlicher oder angeblicher Bedrohungen für die Bundesrepublik knüpft unmittelbar an die Debatte der vergangenen Jahre an. Die deutsche Wirtschaft sei „auf gesicherte Rohstoffzufuhr und sichere internationale Transportwege angewiesen“, heißt es im Weißbuch: „Die Sicherheit maritimer Versorgungswege und die Garantie der Freiheit der Hohen See sind für eine stark vom Seehandel abhängige Exportnation wie Deutschland von herausragender Bedeutung.“
Hinzu komme, dass inzwischen auch „funktionierende Informations- und Kommunikationswege“ unverzichtbar seien: „Deutschland muss sich daher für die ungehinderte Nutzung der Land-, Luft- und Seeverbindungen ebenso wie des Cyber-, Informations- und Weltraums einsetzen.“
Als zentrale Bedrohungen werden daher nicht nur „zwischenstaatliche Konflikte“, „transnationaler Terrorismus“ und „fragile Staatlichkeit“ genannt, sondern auch die „Gefährdung … der Rohstoff- und Energieversorgung“ sowie „Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum“.
Originell ist der Gedanke, „weltweite Aufrüstung“ im Weißbuch als Bedrohung aufzuführen: Die Bundesrepublik, drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt [3], könnte die in der Tat brandgefährliche globale Hochrüstung mit dem Stopp ihrer Waffenausfuhren im Handumdrehen massiv verringern. Zu den Bedrohungen, denen Deutschland zur Zeit ausgesetzt sei, zählt das neue Weißbuch neben „Pandemien und Seuchen“ auch „unkontrollierte und irreguläre Migration„.

Machtverschiebungen

Bei der Durchsetzung seiner weltweiten Interessen ist Deutschland dem Weißbuch zufolge mit weitreichenden Verschiebungen in den globalen Machtverhältnissen konfrontiert. „Perspektivisch“ werde die Bundesrepublik ihre derzeitige „Stellung als weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht einbüßen“, heißt es: „Die Volkswirtschaften aufstrebender Mächte in Asien und Lateinamerika werden nach heutigem Ermessen in den kommenden Jahren das deutsche … Bruttoinlandsprodukt überholen.“
Der Aufstieg vor allem Chinas, aber auch Indiens und auf lange Sicht auch Brasiliens habe Folgen: „Resultat des wirtschaftlich, politisch und militärisch weiter wachsenden Einflusses von Schlüsselstaaten vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika“ seien „Multipolarität und geopolitische Machtverschiebungen“.
Resümierend heißt es im Weißbuch: „Das internationale System entwickelt sich zu einer politisch, wirtschaftlich und militärisch multipolaren Ordnung.“ Infolgedessen könnten sich „konkurrierende Ordnungsentwürfe für die Ausgestaltung internationaler Politik entwickeln“, heißt es weiter; das sei ein „Risiko“.
Über die globalen Machtverhältnisse der Zukunft sagt das Weißbuch voraus: „Die USA werden die internationale Sicherheitspolitik auch in einer derart multipolaren Welt weiterhin prägen.“

Bündnis auf Gegenseitigkeit

Entsprechend folgert das Weißbuch: „Nur gemeinsam mit den USA kann sich Europa wirkungsvoll gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts verteidigen“. „Bündnissolidarität“ sei deshalb „Teil deutscher Staatsräson“. „Wahrnehmung deutscher Interessen“ bedeute entsprechend „immer auch Berücksichtigung der Interessen unserer Verbündeten“; Berlin nehme „in Sicherheitsfragen bewusst gegenseitige Abhängigkeiten in Kauf“, nicht zuletzt die Abhängigkeit „von einer engen Sicherheitspartnerschaft mit den USA“.
Allerdings müssten derlei „Interdependenzen“ nun „im Interesse unserer Souveränität … grundsätzlich auf Gegenseitigkeit angelegt sein“. Vor allem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat in jüngster Zeit mehrmals den gegenüber den Vereinigten Staaten gestiegenen Machtanspruch Berlins betont, zudem die Vorstellung von einer US-dominierten „unipolaren Welt“ zur „Illusion“ erklärt [4] und ausdrücklich dafür geworben, die EU zur „unabhängigen“ globalen Macht zu formen [5].
Das Weißbuch bestätigt nun, die deutschen Aktivitäten im transatlantischen Bündnis beruhten „auf einer klaren nationalen Positionsbestimmung„. Die „transatlantische Sicherheitspartnerschaft“ werde sich dabei „umso intensiver und fruchtbarer weiterentwickeln“, je stärker „unsere amerikanischen Partner den Weg gemeinsamer Entscheidungsfindung gehen“.

Strategische Rivalität

Erstmals seit 1990 erklärt das Weißbuch mit Russland einen Staat ausdrücklich zum „Rivalen“. Dabei räumt die Bundesregierung in dem Dokument ein, „die Krise in der und um die Ukraine“ sei „konkreter Niederschlag einer langfristigen innen- und außenpolitischen Entwicklung“.
Unerwähnt bleibt freilich – wie üblich – die treibende Rolle Berlins und Washingtons bei der Herbeiführung des Konflikts.[6]
Über die russische Reaktion auf die westliche Aggression heißt es: „Russland wendet sich … von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betont strategische Rivalität. International präsentiert sich Russland als eigenständiges Gravitationszentrum mit globalem Anspruch.“
Daraus folgert das Weißbuch: „Ohne eine grundlegende Kursänderung wird Russland … auf absehbare Zeit eine Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen“. Die Absicht, kein „eigenständiges Gravitationszentrum“ zu dulden, erklärt die neuen Aggressionen der NATO und die deutsche Beteiligung daran.[7]
Dennoch heißt es weiter, die EU verbinde mit Russland „nach wie vor ein breites Spektrum gemeinsamer Interessen und Beziehungen“; es müsse deshalb in Zukunft wieder „eine belastbare Kooperation mit Russland“ geben. Das Weißbuch schreibt die in jüngster Zeit von Berlin geforderte „Doppelstrategie“ [8] gegenüber Moskau explizit fest: „Im Umgang mit Russland“ überaus „wichtig“ sei „die richtige Mischung aus kollektiver Verteidigung und Aufbau von Resilienz einerseits und Ansätzen kooperativer Sicherheit und sektoraler Zusammenarbeit andererseits“.

Innere Formierung

Weitreichende Aussagen enthält das neue Weißbuch auch zur inneren Formierung Deutschlands und der EU. german-foreign-policy.com berichtet am morgigen Freitag.

[1] Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF). Oktober 2013. S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik.
[2] Zitate hier und im Folgenden aus: Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, Juni 2016.
[3] S. dazu Die Rüstungsoffensive des Westens.
[4] S. dazu Auf Weltmachtniveau.
[5] S. dazu Die Europäische Kriegsunion.
[6] S. dazu Expansiver Ehrgeiz und Koste es, was es wolle.
[7] S. dazu An der russischen Grenze.
[8] S. dazu Abschreckung und Dialog.

Deutschlands globaler Horizont (II)

 http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59412

15.07.2016 BERLIN (Eigener Bericht) – Das neue Bundeswehr-Weißbuch fordert Maßnahmen zur Vorbereitung der deutschen Gesellschaft auf erwartete Gegenschläge gegen deutsche Auslandsinterventionen. Um „Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten“, müssten „Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen“ – mit dem Ziel, nicht näher erläuterte etwaige „Schadensereignisse“, die auf die „Handlungen“ Berlins folgten, „absorbieren zu können“, heißt es in dem Dokument.
Das Weißbuch, das in seinem Hauptteil die strategische Grundorientierung der Bundesrepublik vornimmt, fordert zudem eine Straffung der strategischen Entscheidungsfindung und eine stärkere Einbeziehung ziviler Kräfte in die Realisierung der staatlichen Strategien.
Auf EU-Ebene dringt es auf umfassende Maßnahmen zur Verflechtung der nationalen Streitkräfte der Mitgliedstaaten und zur Bündelung der nationalen Rüstungsindustrien; Deutschland allerdings müsse seine „Schlüsseltechnologien“ im Wehrbereich behalten.
Das oberste Strategiedokument der Bundesregierung sieht zudem die Auffrischung der deutschen Streitkräfte durch die Übernahme von Bürgern der EU-Verbündeten vor.

Die Europäische Kriegsunion

Zu den Forderungen, die sich aus dem neuen Weißbuch der Bundeswehr ergeben, gehört eine weitere Militarisierung der EU. „Als Fernziel strebt Deutschland eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion an“, heißt es in dem Papier. „Auf dem Weg zu dieser“ setze man „auf die Nutzung aller durch den Lissaboner Vertrag eröffneten Möglichkeiten“ zur intensiveren militärischen Kooperation; vor allem solle „das engmaschige und vielfältige bi- und multilaterale verteidigungs- und militärpolitische Beziehungsgeflecht der EU-Mitgliedstaaten untereinander“ ausgebaut werden.[1]
Als Beispiele für die erwünschte engere Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte innerhalb der EU führt das Weißbuch bestehende Formen der „Streitkräfteintegration“ auf, etwa die Deutsch-Französische Brigade, „dauerhafte wechselseitige Truppenunterstellungen wie zum Beispiel zwischen Deutschland und den Niederlanden sowie zwischen Deutschland und Polen“ [2] oder die „Bereitstellung multinationaler Kommandostrukturen“ wie im Fall des Multinationalen Kommandos Operative Führung in Ulm [3].
Genannt wird auch die „Streitkräfteverflechtung“ zum Beispiel in den EU Battle Groups und im Europäischen Lufttransportkommando (EATC) [4], aber auch innerhalb der NATO, etwa im Rahmen der NATO-„Speerspitze“ [5].
Die „Interoperabilität der Streitkräfte in Europa“ müsse erhöht werden, „um die Handlungsfähigkeit Europas weiter zu verbessern“, heißt es.[6]

Zivil-militärische Führung

Darüber hinaus verlangt das Weißbuch die „Europäisierung“ der Rüstungsindustrie. Es gelte, „militärische Fähigkeiten gemeinsam zu planen, zu entwickeln, zu beschaffen und bereitzustellen“, heißt es; dazu sei „eine weitergehende Restrukturierung und Konsolidierung der Verteidigungsindustrien in Europa erforderlich“. Allerdings legt Berlin Wert darauf, dass „nationale Schlüsseltechnologien“ in Deutschland verbleiben; es gehe darum, „die eigene technologische Souveränität … zu bewahren“, um so „die militärischen Fähigkeiten und die Versorgungssicherheit der Bundeswehr … technologisch und wirtschaftlich sicherzustellen“.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass andere EU-Staaten im Zuge der Zusammenführung der Rüstungsindustrien auf ihre „technologische Souveränität“ zu verzichten haben. Schließlich dringt das Weißbuch darauf, auch auf EU-Ebene die Einbindung ziviler Organisationen und Institutionen in die militärischen Planungen voranzutreiben. Die „Integration ziviler und militärischer Fähigkeiten“ müsse intensiviert werden, heißt es: „Zur Stärkung der Reaktions- und Einsatzfähigkeit der EU im zivilen und militärischen Bereich“ strebe man „mittelfristig ein ständiges zivil-militärisches operatives Hauptquartier und damit eine zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit an“. Dies sei „in dieser Weise noch nicht in den EU-Mitgliedstaaten vorhanden“.

Europäer für Deutschland

Nicht zuletzt kündigt das Weißbuch an, Deutschland werde unmittelbar auf die Bürger der übrigen EU-Staaten zurückzugreifen, um den Personalbestand der Bundeswehr aufzustocken.
Den deutschen Streitkräften gelingt es bislang nur höchst unzureichend, neue Rekruten zu gewinnen – und dies, nachdem erst kürzlich die feste Obergrenze für die Zahl der Bundeswehrangehörigen aufgehoben wurde, um, wie es im Weißbuch heißt, „den Personalkörper bedarfsgerecht anzupassen, wenn sich die sicherheitspolitische Lage und damit die Anforderungen an die Bundeswehr ändern“. Zur Nachwuchsgewinnung will sich Berlin in Zukunft also auch bei seinen engsten Verbündeten bedienen. Die „Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU“ biete „nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Robustheit der Bundeswehr“; sie sei darüber hinaus „ein starkes Signal für eine europäische Perspektive“, heißt es dazu im Weißbuch. Der deutsche Zugriff auf die Ressourcen anderer EU-Staaten weitet sich damit nun auch auf deren Bevölkerung aus.
Nach Lage der Dinge käme vor allem das personelle Ausweiden der verarmten Regionen im Süden und im Osten der EU in Betracht. Ein ähnliches Vorgehen ist in Europa bislang aus Spanien bekannt: Die spanischen Streitkräfte werben Rekruten in Spaniens ehemaligen Kolonien an. Die Bundesregierung verallgemeinert das kolonial geprägte Verhältnis nun auf Deutschland und seine „Partner“ in der EU.

Strategiefähigkeit

In Vorbereitung auf künftige Kriege nimmt das Weißbuch schließlich auch Deutschlands innere Formierung in den Blick. Erkennbar ist ein Mix aus einer Straffung der tatsächlichen Entscheidungswege bei gleichzeitiger Ausweitung des strategisch nutzbaren Umfelds. So soll der Bundessicherheitsrat, ein exklusives Gremium, dem die Kanzlerin, der Kanzleramtschef und die mächtigsten Minister angehören, aufgewertet werden. Er werde sich in Zukunft „kontinuierlicher mit strategischen Fragen“ befassen, „um seine Rolle als strategischer Impulsgeber weiter zu stärken“, heißt es; damit werden entscheidende Fragen der deutschen Außenpolitik dem parlamentarischen Feld noch stärker als bisher entzogen und zur Domäne eines kleinen Zirkels in Berlin.
Außerdem sollen die „Kompetenzen“ der Regierung „in den Bereichen strategische Vorausschau, Steuerung und Evaluierung ausgebaut und miteinander verknüpft werden“, um die staatliche „Strategiefähigkeit“ zu verbessern.
Da einerseits Auslandsinterventionen häufig als Eingriffe zur Beilegung von Krisen legitimiert werden, andererseits aber Gegenschläge zu echten Krisen im Inland führen können, sieht das Weißbuch vor, dass „Prioritäten des Krisenmanagements … und gemeinsame Handlungsansätze für konkrete Krisenlagen in geeigneten … Gremien abgestimmt“ werden. „Angesichts der Bandbreite möglicher Herausforderungen“, heißt es summarisch, sei „unser sicherheitspolitisches Instrumentarium … agil und flexibel auszugestalten“.

Im Schadensfall

Dies bezieht ausdrücklich nichtstaatliche Milieus ein. So heißt es im Weißbuch, „zur Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität“ müsse die „Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren“ intensiviert werden – etwa durch den „Aufbau eines Netzwerkes“, in das gesellschaftliche Kräfte unterschiedlichster Art integriert werden. „Im Schadensfall“, also wenn ein Gegenschlag gegen äußere Aggressionen des deutschen Staates erfolgt, müsse „gesellschaftlicher Selbstschutz und Selbsthilfe“ staatliche „Bewältigungsmaßnahmen“ ergänzen. Dabei gehe es nicht nur um materielle Schäden, sondern auch um die „öffentliche Meinung„, die „vielfach Versuchen externer Einflussnahme ausgesetzt“ sei. Der gesellschaftliche Zusammenschluss gegen einen äußeren Gegner, der entschlossenes Vorgehen im Konflikt- und Kriegsfall erst ermöglicht, wird im Weißbuch mit dem modischen Schlagwort „Resilienz“ bezeichnet. „Resilienz“ strebe, so heißt es, den Ausbau der Widerstandsfähigkeit „von Staat und Gesellschaft gegenüber Störungen“ an.

Deutschlands Handlungsfreiheit

Dabei werden in Berlin offenbar sogar schwerste „Schadensfälle“ nicht ausgeschlossen: Explizit konstatiert das Weißbuch, Ziel der „Resilienzbildung“ müsse es sein, „Schadensereignisse absorbieren zu können, ohne dass die Funktionsfähigkeit [!] von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt wird“.
Über den Anlass der Konflikte, aus denen sich die „Schadensfälle“ zu ergeben drohen, heißt es: „Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen, um Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten“.

Mehr zum Thema: Deutschlands globaler Horizont (I).

[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, Juni 2016.
[2] S. dazu Der deutsche Weg zur EU-Armee (I) und Der deutsche Weg zur EU-Armee (V).
[3] S. dazu Botschaft an die Weltöffentlichkeit.
[4] S. dazu Der deutsche Weg zur EU-Armee (III).
[5] S. dazu Kriegsführung im 21. Jahrhundert (I) und Kriegsführung im 21. Jahrhundert (II).
[6] S. auch Die Europäische Kriegsunion.

Die Rüstungsoffensive des Westens – Kritik an Steinmeiers neuer Rolle mit vorgeblicher Selbstkritik

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Putin_Steinmeier

Zwei Machtpolitiker

Spricht für sich selbst, beides gehört zusammen, siehe unten den aktuellen Kommentar:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59386
Auszüge:

BERLIN  (Eigener Bericht) – Zusammenfassung: Deutschland ist im vergangenen Jahr drittgrößter Waffenlieferant weltweit gewesen und wird seine Rüstungsexporte im kommenden Jahr weiter ausbauen. Dies berichtet der britische Militär-Informationsdienst Jane’s.
Demnach beteiligt die Bundesrepublik sich an einer Rüstungsoffensive der NATO-Staaten, welche die weltweiten Waffenexporte zu neuen Rekordhöhen treibt.
Zwei Drittel der globalen Ausfuhr von Kriegsgerät wird von nur sieben NATO-Mitgliedern getätigt und stärkt im weiteren Sinne westliche Bündnisstrukturen. Schwerpunktregion ist neben dem Nahen und Mittleren Osten, dem Hauptschauplatz der gegenwärtigen Kriege, vor allem Südostasien, insbesondere das Gebiet rings um das Südchinesische Meer, in dem sich heftige Konflikte zwischen China und den westlichen Mächten abzeichnen.
Beide Schwerpunktregionen beliefert die bundesdeutsche Rüstungsindustrie seit Jahren. Zu ihren Hauptkunden gehört nach wie vor Saudi-Arabien, obwohl die UNO schwere Vorwürfe gegen die Streitkräfte des Landes wegen ihrer Kriegführung im Jemen erhebt – und obwohl Jane’s warnt, die saudischen Waffenkäufe deuteten darauf hin, dass Riad, Schutzmacht des militanten Jihadismus in den Kriegen der Region vom Afghanistan der 1980er Jahre bis zu Syrien, sich von den westlichen Mächten unabhängig machen will.

Nummer drei weltweit

Deutschland ist im vergangenen Jahr erneut drittgrößter Waffenexporteur der Welt gewesen. Dies bestätigt der britische Militär-Informationsdienst Jane’s in seinem neuesten Rüstungsbericht, der am gestrigen Montag vorgestellt wurde. Demnach haben deutsche Rüstungskonzerne im Jahr 2015 Kriegsgerät im Wert von 4,78 Milliarden US-Dollar (4,2 Milliarden Euro) ins Ausland verkauft; Jane’s berechnet dabei den Wert der exportierten Kleinwaffen und der Munition nicht mit.
Mehr Waffenausfuhren tätigten laut Jane’s nur die Vereinigten Staaten, deren Exporte auf einen Wert von 22,96 Milliarden US-Dollar stiegen – 2009 hatten sie noch bei 12,9 Milliarden US-Dollar gelegen -, und Russland, das Rüstungsgüter im Wert von 7,45 Milliarden US-Dollar ins Ausland lieferte.
Für die Zukunft ist mit einem weiteren Anstieg der deutschen Waffenausfuhren zu rechnen. Dies ergibt sich daraus, dass die Bundesregierung im vergangenen Jahr Rüstungsexporte in einer bisherigen Rekordhöhe von 12,8 Milliarden Euro genehmigt hat – Einzelgenehmigungen im Wert von 7,85 Milliarden Euro sowie Sammelgenehmigungen im Wert von 4,96 Milliarden Euro.[1]

Rüstungsrekorde

Der von Jane’s präsentierte Rüstungsbericht lässt zum einen die Treiber der globalen Aufrüstung, die neue Rekordhöhen erreicht, zum anderen auch die Schwerpunktregionen der Rüstungsverkäufe deutlich erkennen.
Jane’s zufolge sind die weltweiten Rüstungsexporte von 2014 bis 2015 so stark gestiegen wie nie zuvor – um 6,6 Milliarden US-Dollar – und beliefen sich auf einen Gesamtwert von 65 Milliarden US-Dollar. Für das kommende Jahr wird ein weiterer Anstieg auf rund 69 Milliarden US-Dollar erwartet.
Sowohl der aktuelle wie der erwartete künftige Anstieg sind maßgeblich den NATO-Staaten zu verdanken, die sieben der Top Ten-Rüstungsexporteure weltweit stellen; allein diese sieben Staaten exportierten Kriegsgerät im Wert von 42,98 Milliarden US-Dollar, also rund zwei Drittel aller Rüstungsexporte weltweit.[2]
Die Ausfuhren kamen, da Militärgüter aus naheliegenden Gründen nicht an gegnerische Staaten geliefert werden, der militärischen Stärkung westlicher Bündnisstrukturen im weiteren Sinne zugute. Hinzugerechnet werden muss Israel, das Waffen im Wert von 2,11 Milliarden US-Dollar ausführte.
Unter den Top Ten finden sich lediglich zwei nichtwestliche Staaten: Russland belieferte ihm nahestehende Länder mit Kriegsgerät im Wert von 7,45 Milliarden US-Dollar, während China Militärgüter im Wert von 1,74 Milliarden US-Dollar exportierte. Laut Jane’s wird auch der für 2016 erwartete erneute Anstieg der globalen Rüstungsexporte vor allem auf das Konto der erwähnten NATO-Staaten gehen.[3]

Schwerpunktregion Mittelost

Geographisch lassen sich zwei Schwerpunktregionen der globalen Aufrüstung ausmachen. Eine ist der Nahe und Mittlere Osten, Schauplatz diverser Kriege der Gegenwart vom Irak über Syrien bis zum Jemen. Nah- und mittelöstliche Staaten führten im vergangenen Jahr Waffen im Wert von 21,6 Milliarden US-Dollar ein – gut ein Drittel der gesamten Rüstungsimporte weltweit. Saudi-Arabien war mit Käufen in Höhe von 9,33 Milliarden US-Dollar der mit Abstand größte Waffenkäufer überhaupt; die angrenzenden Vereinigten Arabischen Emirate landeten mit Einfuhren von Kriegsgerät im Wert von 2,08 Milliarden US-Dollar auf Platz sieben aller Rüstungsimporteure. Gemeinsam nahmen die zwei arabischen Golfdiktaturen, die traditionell eng mit den westlichen Mächten kooperieren, Kriegsgerät im Wert von 11,41 Milliarden US-Dollar ab, 17,5 Prozent aller globalen Rüstungsexporte.
Jane’s zufolge wird ihr Anteil im kommenden Jahr weiter steigen und sich bei einem Volumen von 13,15 Milliarden US-Dollar auf 19,5 Prozent belaufen. Hinzu kommen Ägypten mit Rüstungskäufen im Wert von 2,27 Milliarden US-Dollar (Rang 4) und der Irak mit Einfuhren im Wert von 2,14 Milliarden US-Dollar (Rang 6).[4]

Schwerpunktregion Südostasien

Zweite Schwerpunktregion der globalen Aufrüstung ist Ost- und Südostasien. Die Rüstungsexporte in die dortigen Länder stiegen laut Jane’s von 2009 bis 2016 um 71 Prozent.
Südkorea
liegt aktuell mit Waffeneinfuhren im Wert von 2,18 Milliarden US-Dollar auf Rang 5 der globalen Rangliste und wird im kommenden Jahr mit Einfuhren im Wert von 2,50 Milliarden US-Dollar mutmaßlich auf Rang 4 vorrücken.

Taiwan, dieses Jahr mit Rüstungsimporten in Höhe von 1,51 Milliarden US-Dollar auf Rang 10, dürfte Jane’s zufolge nächstes Jahr mit Einfuhren im Wert von 2,01 Milliarden US-Dollar Rang 7 erreichen.
Australien, 2015 auf Rang 3 (2,31 Milliarden US-Dollar), wird 2016 voraussichtlich auf Rang 6 fallen, allerdings immer noch Kriegsgerät im Wert von 2,06 Milliarden US-Dollar zukaufen.
Unter den von Jane’s aufgelisteten Top Five-Rüstungskäufern des kommenden Jahrzehnts befinden sich neben Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch Indonesien mit geschätzten Einfuhren von Kriegsgerät im Wert von insgesamt 13 Milliarden US-Dollar und Vietnam mit Waffenimporten im Wert von zehn Milliarden US-Dollar. Beide sind unmittelbare Anrainer des Südchinesischen Meers.
Die Aufrüstung derjenigen Länder Ost- und Südostasiens, die als enge Parteigänger des Westens eingestuft werden, lässt die Vorbereitungen der NATO und der EU für den Machtkampf gegen China, dessen kriegerische Austragung zumindest manche US-Militärs nicht ausschließen, klar erkennen (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

In allen Konflikten dabei

Dabei beliefert auch die Bundesrepublik beide Schwerpunktregionen der globalen Aufrüstung – und das bereits seit Jahren (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Zählten beispielsweise 2014 mit Singapur, Indonesien und dem Sultanat Brunei drei Anrainer des Südchinesischen Meeres zu den Top Ten auf der Empfängerrangliste des deutschen Rüstungsexportberichts, so fand sich dort 2015 mit Südkorea, dem Berlin Waffenlieferungen im Wert von mehr als einer halben Milliarde Euro genehmigte, ein Anrainer des gleichfalls von Konflikten durchzogenen Ostchinesischen Meeres auf Platz zwei – ein weiterer Beleg dafür, dass etwaige bewaffnete Konflikte mit China zu einem nennenswerten Teil mit deutschen Waffen ausgetragen würden.
Weitere Spitzenplätze auf der deutschen Exportrangliste 2015 halten Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Kuwait (Platz 10) erhält demnach Waffen im Wert von 125 Millionen Euro; Saudi-Arabien ließ sich Berlin 2015 die Lieferung von Kriegsgerät im Wert von 270 Millionen Euro genehmigen.

Außer Kontrolle

Vor allem die fortgesetzte Hochrüstung Saudi-Arabiens besitzt besondere Brisanz. Riad wird seit geraumer Zeit weltweit wegen seiner überaus brutalen Kriegführung im Jemen kritisiert. Zuletzt kam es zu einem Eklat, als UN-Generalsekretär Ban Ki-moon den Vorwurf zurückzog, die von Saudi-Arabien geführte Kriegskoalition habe im Jemen Dutzende Schulen und Krankenhäuser bombardiert und dabei mindestens 470 Kinder umgebracht.[7]
Menschenrechtsorganisationen bestätigen den Vorwurf. Ban berichtet nun, Riad habe ihm gedroht, die Zahlungen an die Vereinten Nationen komplett einzustellen, sollte er die saudischen Streitkräfte wegen des Kriegs im Jemen kritisieren; er habe sich deshalb gezwungen gesehen, Riads Erpressung nachzugeben, um nicht die Finanzierung wichtiger UN-Hilfsprojekte aufs Spiel zu setzen.[8]
Die saudischen Streitkräfte nutzten Berichten zufolge für ihre Angriffe auf den Jemen von Anfang an auch deutsche Waffen.[9]
Jane’s berichtet nun außerdem, dass Riad zur Zeit nicht nur zu einem großen Teil Offensivwaffen kauft, sondern auch „viel in Späh- und Überwachungstechnik“ investiert, was „auf ein wachsendes Streben nach Unabhängigkeit“ von den USA und den anderen westlichen Mächten hindeuten könne.[10]
Die saudische Monarchie gilt nicht nur als fanatischer Feind Irans; sie hat sich darüber hinaus in diversen Kriegen vom Afghanistan der 1980er Jahre bis zum heutigen Syrien-Krieg als maßgebliche Schutzmacht des militanten Jihadismus hervorgetan.[11]
Löst Riad sich – von den NATO-Staaten exzessiv hochgerüstet – aus der Bindung an den Westen, dann wäre eine weitere außenpolitische Radikalisierung des salafistischen Königreichs Saudi-Arabien nicht auszuschließen.

[1] Antwort des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie auf Schriftliche Anfragen des Abgeordneten Jan van Aken (Die Linke). Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7721, 26.02.2016.
[2] Es handelt sich um die Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Italien und Spanien.
[3], [4] Record-breaking $65 Billion Global Defence Trade in 2015 Fueled by Middle East and Southeast Asia, IHS Jane’s Says. www.businesswire.com 13.06.2016.
[5] S. dazu Ostasiens Mittelmeer (I) und Ostasiens Mittelmeer (II).
[6] S. dazu Der Zweck der Rüstungsexporte.
[7] UN beugen sich Druck aus Saudi-Arabien. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.06.2016.
[8] Ban wirft Riad Erpressung vor. Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.06.2016.
[9] S. dazu In Flammen (II) und In Flammen (III).
[10] Deutschland ist weltweit drittgrößter Waffenexporteur. www.zeit.de 13.06.2016.
[11] S. dazu Der Hauptsponsor des Jihadismus.

Und hier der aktuelle Kommentar im Neuen Deutschland:Steinmeier_NATO
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1015882.steinmeiers-neue-rolle.html

 

Steinmeiers neue Rolle

Der Außenminister ist nicht die »Stimme der Vernunft«, für die er im Streit mit Russland gehalten wird

Zur Zeit wird in der Bundesregierung großes Theater geboten. In der Hauptrolle spielt Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Diplomaten, der die Heimatfront gegen Russland aufzubrechen versucht. In der »Bild am Sonntag« erklärte der SPD-Politiker am Wochenende: »Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt.«
Stein des Anstoßes für Steinmeier war die NATO-Übung »Anakonda« in Polen, die kürzlich für Schlagzeilen gesorgt hatte. Am Montag bekräftigte Steinmeier seine Dialogbereitschaft mit Moskau.

Das Interview hat dem Außenminister allerhand Ärger eingebracht. So hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), Steinmeiers Worte empört zurückgewiesen. »Er warnt vor lautem Säbelrasseln und Kriegsgeheul. Wen meint der Außenminister mit diesem ungeheuerlichen Vorwurf?«
Sein Parteifreund, Elmar Brok, legte nach: Steinmeier verwechsele Ursache und Wirkung, »die nach wie vor erfolgenden gewaltsamen Völkerrechtsverletzungen vor allem in der Ostukraine, die Drohkulisse gegenüber den baltischen Staaten und die Aufrüstung und Mobilisierungsvorbereitungen durch Russland«.
Offenbar hat Brok in den vergangenen 25 Jahren die Ereignisse in der Weltpolitik nicht verfolgt, sonst würde er so eine Breitseite an die russische Adresse nicht abfeuern. *)

Wir erinnern uns: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes ist das westliche Angriffsbündnis (als solches muss die NATO spätestens seit dem Bombenkrieg im ehemaligen Jugoslawien bezeichnet werden) den Russen immer mehr auf die Pelle gerückt. Ein mitteleuropäisches Land nach dem anderen wurde Mitglied der NATO. Vor wenigen Wochen erst hat sie die Aufnahme Montenegros beschlossen.
Das kann und will sich Russland nicht bieten lassen, zumal es keine Anstalten gemacht hat, seine Einflussphäre nach 1991 militärisch auszudehnen. Wegen der Bedrohung durch den Westen hat Präsident Wladimir Putin seine Truppen in Alarmbereitschaft versetzen lassen. Und auch deshalb mischt Russland in der Ukraine mit, die nach den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan Zeichen in Richtung NATO-Aufnahme gesendet hat.

Das alles ist auch Steinmeier bewusst, der durch seine Kritiker praktisch zum Russlandversteher gemacht wird. Eine neue Rolle für ihn, sonst mussten immer Linke mit diesem Part vorlieb nehmen.
Doch der Außenminister ist nicht der besonnene Diplomat, der Friedensengel, die Stimme der Vernunft, für den er – auch in Moskau – dargestellt wird. Er ist ein Machtpolitiker, der aber nicht wie das Gros seiner Kollegen in den Kalten Krieg zurück will und weniger aggressiv argumentiert als sie.
Mit Kritik an Russland hat er dennoch nicht gespart. So bezeichnete er das Vorgehen der Russen auf der Krim als nicht hinnehmbar: »Das ist eine klare Verletzung des Völkerrechts, die dort stattgefunden hat. Die können wir nicht billigen und auch nicht anerkennen.« Damit ging er auf Distanz zu seinem Parteifreund Matthias Platzeck, der sich dafür eingesetzt hatte, den Status quo zu akzeptieren.
Im Gegensatz zu den Scharfmachern in den Unionsparteien sieht Steinmeier die Wirtschaftssanktionen, mit denen die Europäische Union Moskau belegt hat, nicht als »Selbstzweck« und hat eine Lockerung ins Spiel gebracht. Sie müssten »auf intelligente Weise« eingesetzt werden, wurde er zitiert.
Ein Gegner der Sanktionen ist Steinmeier damit noch lange nicht. Er will Moskau nur vor einem Totalschaden bewahren. »Niemand kann ein Interesse daran haben, dass Russland wirtschaftlich völlig ruiniert wird. Das wäre ganz gewiss kein Beitrag für mehr Sicherheit in Europa.«

Während Steinmeier in Sachen Russland die Gemüter in Berlin erregt, hat die EU unterdessen die Ausweitung des Marineeinsatzes vor Libyen beschlossen. Den Plänen zufolge soll auf einem der Schiffe kurzfristig das erste Trainingsprogramm für rund 100 libysche Kräfte zum Schutz der Küste starten. Zudem sollen europäische Soldaten künftig auch den Waffenschmuggel nach Libyen bekämpfen.
Auch Steinmeier war bei dem Treffen der EU-Außenminister zugegen. Die »Stimme der Vernunft« bezeichnete die neuen Aufgaben als wichtige Fortschritte.

*) Über Elmar Brok hier: https://josopon.wordpress.com/2015/03/06/einpeitscher-elmar-brok-putin-ermordet-andersdenkende/

Jochen

Wanderprediger des Tages: Joachim Gauck – Sechs flüchtige Beobachtungen

Gauckihttps://www.jungewelt.de/2016/03-24/035.php

China hat bislang unverschämtes Glück gehabt. Seit vier Jahren ist Joachim Gauck deutscher Präsident, die Volksrepublik hatte er stets gemieden. Nun allerdings ist diese wundervolle Zeit vorbei: Der »erklärte Antikommunist« (Bild) wollte »Defizite in der chinesischen Politik« ansprechen und hielt am Mittwoch vor der Tongji-Universität in Shanghai »eine Rede, die sich deutlich von denen anderer europäischer Staats- und Regierungschefs unterscheidet«.

Das kann man sich vorstellen. Bei diesem Mann, dem wohl selbst der morgendliche Brötchenkauf zu einer Mischung aus staatsbürgerlicher Weihestunde und Grundkurs im evangelischen Erwachsenenkatechismus gerät, ist Diplomatie gleichbedeutend mit bramarbasieren.

Gauck gab, so weiß es Hofpostille Bild, seine liebsten Kalendersprüche zum besten: »Das menschliche Verlangen nach Freiheit bricht sich immer wieder Bahn.« Mit gewohnter Gravität umriss der Denker hinter der Waschbrettstirn nur die ganz großen Themen: »Manche fragen sich, wie der Wohlstand gleichmäßiger verteilt werden kann.« In China natürlich, denn hierzulande wurde das Problem gelöst: Das reichste Prozent der Deutschen besitzt ein Drittel alles Privatvermögens.

 

Die taz, von der Bild nur noch durchs »Binnen-I« zu unterscheiden, flankiert den Auftritt ähnlich rührselig: »Gauck trickst Chinas Stasi aus«. Das allerdings wird ihm wohl genausowenig gelungen sein, wie es ihm vor der »Wende« mit ihrem ostdeutschen Pendant glückte. Die DDR ging, das muss ab und an wiederholt werden, völlig ohne Gaucks Zutun unter.

Die Chinesen werden – wohlerzogen, wie sie sind – den Auftritt dieser deutschen Naturgewalt in Würde erduldet haben. Nach präsidialer Ansprache, so die Bild, hätten ein paar Studenten gesagt, »dass Gaucks Rede ihnen helfe, Deutschland noch besser zu verstehen«. Das ist ebenso höflich wie vernichtend. (sc)

Dazu auch:

Pastoraler Ton und Kohlenschaufel-Hände:

Sechs flüchtige Beobachtungen beim Staatsbesuch in Peking von Christian Y. Schmidt

http://www.neues-deutschland.de/artikel/1006210.faszination-gauck.html

Das Erste, was an Gauck auffällt, ist, wie klein er ist. Man weiß das natürlich, man hat das irgendwo mal gelesen, aber erst, wenn er durch ein Spalier von Leuten geht – eine Gasse, die ihm das Protokoll mit Hilfe von Security-Leuten gebahnt hat -, weiß man, wie klein er wirklich ist. Und man begreift sofort, warum dieser Mann so oft »ich« sagen muss. Kleine Menschen müssen so oft »ich« sagen, damit man sie wahrnimmt. 

Das Zweite, was auffällt, sind Gaucks riesige Hände. Es sind Pranken, richtige Kohlenschaufeln, vor allem im Verhältnis zu seinem Körper. Wozu er diese hat, und was solche Hände mit einem Menschen machen, versteht man erst mal gar nicht. Man starrt sie einfach gebannt an.

Das Dritte ist dann die Art und Weise seiner Rede: Es ist die salbungsvolle, nur etwas verschachtelte Predigt eines Pfarrers. Ich kenne diese Art zu reden sehr gut: Ich bin in einer protestantischen Anstalt aufgewachsen, die mindestens dreißig Pfarrer beschäftigte, die sonntags abwechselnd in den verschiedenen Kirchen miteinander um ihr Publikum wetteiferten. Der Pfarrer, der am salbungsvollsten predigte, mit der sonorsten Stimme, der anschauliche Beispiele aus dem Leben gebrauchte, der Volkstümlichkeiten und manchmal sogar einen kleinen Witz in die Rede einstreute, gewann. Gauck hätte da gut mithalten können.

Die wichtigsten Elemente einer Predigt aber sind die der Aufzählung und Wiederholung. Alles muss drei, vier Mal gesagt werden, damit es sich ins Hirn der Gläubigen einbrennt. Gauck greift zu dem Mittel oft. Laufend wiederholt die altbekannte Metapher vom »Brückenbauer«, immer wieder Vokabeln »dankbar«, »Dankbarkeit« und »danken«. »Ich schließe mit einem dreifachen Dank. Der erste Dank richtet sich an die Vertreter Chinas, die Vertreter der Politik, denen ich herzlich danken will …«

Am Ende seiner Rede wird er es in der ganzen deutschen Botschaft praktisch keinen geben, dem er nicht gedankt hat. Auch so etwas kommt bei einer Gemeinde gut an. Man fühlt sich gebauchpinselt und der Pfarrer gilt als demütig.

Das Vierte ist diese protestantische Pfarrersfröhlichkeit, die auch Gauck verbreitet. Das ist ein ganz spezifisches Erkennungsmerkmal. »Hey, kuckt mal, ich bin gut drauf, obwohl ich evangelisch bin und an Gott glaube.« Gauck versprüht geradezu diese aggressive Dauerfröhlichkeit.

Das Fünfte ist etwas Spezifisches am heutigen Tag. Der Mann, der sonst kaum eine Gelegenheit auslässt, den Schulmeister und Menschenrechtshaber zu geben, hält sich zurück. Er lobt die Leistungen der chinesischen Regierung »bei der Armutsbekämpfung. Das sehen wir natürlich mit Freude…« und die gute Zusammenarbeit mit China in außenpolitischen Fragen (Nordkorea, Naher Osten, UN Flüchtlingshilfswerk). Jeder, der Gauck etwas kennt, weiss natürlich, dass er gerne etwas anders sagen würde, aber – und hier zeigt sich wieder das Geschick des evangelischen Pfarrers – er lässt es einen nicht spüren.

Das Sechste ist das Raffinierte. Beziehungsweise das, was Gauck dafür hält. Statt selbst groß über die Menschenrechte zu reden, erklärt Gauck, die Delegation, die mit ihm reist, zum integralen Teil seiner frohen Botschaft. »Ich möchte abschließend noch einen Blick auf meine Delegation werfen und ihnen darstellen, wer mich bei diesem Staatsbesuch begleitet hat, weil die Zusammenstellung dieser Delegation auch ein Teil der Botschaft ist, die ich mit diesem Staatsbesuch verbinde. Ich werde begleitet von Vertretern der Politik, und zwar von einem Regierungsmitglied und von Bundestagsabgeordneten, zwei Damen, die mich da begleiten, eine von ihnen ist die neue Repräsentantin, ist die neue Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Kofler

So hat er indirekt doch noch gesagt, was er eigentlich sagen wollte, und jetzt kann Gauck seine – fast würde ich sagen: diebische – Freude über sein eigenes Raffinement kaum verhehlen. Ein Pfarrer hält sich ja meistens für klüger als seine Gemeinde. So auch Gauck. Natürlich weiß er gar nicht, dass sich die Chinesen in Menschenrechtsfragen schon wesentlich Deutlicheres anhören mussten als so was.

Jetzt einmal abgesehen vom Politischen: Ich hatte erwartet, Gauck abstoßender zu finden, galt er mir doch bisher als Paradebeispiel für ein misslungenes Leben. Abstoßend fand ich ihn nicht; eher harmlos, und trotz, der Mühe, die er sich gab, anders zu wirken, leicht durchschaubar.

Wenn es allerdings um die Frage gehen würde, ob diesem Mann über den Weg zu trauen sei, hätte ich eine klare Antwort: Ganz gewiss nicht.

Und dann bleibt auch immer noch ein schwer zu beschreibendes Unbehagen: die Hände, diese großen Hände, was macht er bloss mit denen?

Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinte KriegsdienstgegnerInnen fordert Sigmar Gabriel zum Rücktritt auf

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der 20. Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), 23.25.Oktober 2015 in Mannheim, forderte in seiner Abschlussresolution den Rücktritt von Bundesminister Sigmar Gabriel.
„Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel konterkariert die eigenen Versprechungen. Wählerinnen und Wählern gegenüber ist er wortbrüchig geworden. Mit seiner skrupellosen Rüstungsexportpolitik macht er sich zum Handlanger der Rüstungsindustrie.

Vom 23. bis 25. Oktober 2015 trafen sich gut hundert Mitglieder der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) zum 20. Bundeskongress in Mannheim. Die DFG-VK ist die älteste deutsche Friedensorganisation. Dabei wurden derzeitige friedenspolitische Entwicklungen kritisch reflektiert, darunter die Rüstungsexportpolitik.

Im Sommer 2013 hatte Gabriel vor der Bundestagswahl öffentlich erklärt, im Falle der Regierungsbeteiligung der SPD und seiner Nominierung zum Bundeswirtschaftsminister, Waffentransfers an menschenrechtsverletzende Staaten zu unterbinden und Rüstungsexporte restriktiv zu handhaben. Wirtschaftsminister Gabriel äußerte am 10. Dezember 2013, dem Tag der Menschenrechte: „Ein wichtiger Beitrag für Menschenrechte und Frieden ist eine klare und restriktive Rüstungsexportkontrolle. […] Wir treten für eine restriktive Rüstungsexportpolitik ein, denn nur das ist ein glaubhafter Ausdruck einer an den Menschenrechten orientierten Politik ….“[1]

An diesen Vorgaben muss sich Gabriel Politik messen lassen. Der für das Jahr 2014 veröffentlichte Rüstungsexportbericht der Bundesregierung – der erste, für den Gabriel als Bundeswirtschaftsminister voll umfänglich verantwortlich zeichnete – dokumentierte bereits die Verdoppelung der Waffentransfers unter seiner Ägide.

Mit der aktuell erfolgten Publikation des Rüstungsexportberichts für das 1. Halbjahr 2015 wird eine weitere dramatische Steigerung der Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter beim Waffenhandel publik.[2]
Massiv gesteigert wurden die Einzelausfuhrgenehmigungen von 2,2 Mrd. Euro (1. Halbjahr 2014) auf 3,5 Mrd. Euro (1. Hj, 2015) und der Sammelausfuhrgenehmigungen von 519 Millionen Euro (1. Hj. 2014) auf 3,0 Mrd. Euro (1. Hj. 2015). Unter den führenden 20 Empfängerländern finden sich zahlreiche menschenrechtsverletzende Staaten wie Israel (Rang 2), Saudi-Arabien (3), Algerien (4), USA (5), Indien (6), Kuwait (7), Russland (8), Republik Korea (10), Brasilien (12), Vereinigte Arabische Emirate (13), China (14) und Oman (16). Gleich mehrere dieser Staaten liegen in Krisen- und Kriegsgebieten.

Den neuerlichen Tiefpunkt der Entwicklung stellt der Beginn der Lieferung von insgesamt 62 Leopard-2-Kampfpanzern und vielen weiteren Waffensystemen des Münchener und Kasseler Rüstungsriesen Krauss-Maffei Wegmann (KMW) ins Kriegsland Katar dar (22.10.2015) [2].

Gabriel genehmigte in den vergangenen beiden Jahren als Bundeswirtschaftsminister und im geheim tagenden Bundessicherheitsrat Waffenlieferungen an kriegführende und menschenrechtsverletzende Staaten, darunter Diktaturen. Algerien erhielt gar eine Lizenz zum Eigenbau von Fuchs-Panzern.

Die Folgen dieser Rüstungsexportpolitik sind tödlich. Von Gabriel genehmigte Kriegswaffenlieferungen etwa nach Saudi-Arabien und Katar werden erfahrungsgemäß über kurz oder lang in den Händen des Islamischen Staats (IS) landen. Menschen fliehen nach Deutschland vor dem Einsatz deutscher Kriegswaffen in ihren Heimatländern.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel konterkariert die eigenen Versprechungen. Wählerinnen und Wählern gegenüber ist er wortbrüchig geworden. Mit seiner skrupellosen Rüstungsexportpolitik macht er sich zum Handlanger der Rüstungsindustrie.
Der Bundeskongress der DFG-VK fordert Sigmar Gabriel zum sofortigen Rücktritt auf wegen des Bruchs der gemachten Wahlversprechungen, des Vertrauensbruchs und Beihilfe zu Mord.
Wir unterstreichen unseren Willen zur Zusammenarbeit mit Flüchtlingen, die dem Krieg in ihren Heimatländern entkommen sind und sich gegen Krieg einsetzen wollen.

Ohne Gegenstimme angenommen am Sonntag, den 25. Oktober 2015

[1] „Für eine wirksame Rüstungsexportkontrolle“ Erklärung von Sigmar Gabriel 
zum Tag der Menschenrechte vom 10.12.2013; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Parteivorstand, Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin
[2] Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für das 1. Halbjahr 2015
[3] Schreiben von Staatssekretär Matthias Machnig, Bundeswirtschaftsministerium, an Peter Ramsauer, Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestags vom 22.10.2015