Die „Geoökonomie“ der Exportwalze

Denkfabrik der Regierung legt Papier zur politischen Flankierung der Exporte vor.Wirtschaftsverbände sorgen sich trotz Wachstums um Exporte – auch wegen Problemen in den globalen Lieferketten.

Das jüngste Exportwachstum der deutschen Industrie löst in Medien und Wirtschaftsverbänden ein geteiltes Echo aus. Einerseits sind die Ausfuhren aus der Bundesrepublik im Juli erneut gestiegen und liegen jetzt um 1,6 Prozent überdem Niveau vom Februar 2020, dem Monat vor dem ersten großen pandemiebedingten Einbruch. Andererseits schwächt sich das Exportwachstum bereits wieder ab; zudem beruht der jüngste Anstieg nur auf inflationsbedingten Preissteigerungen, während die ausgeführte Warenmenge schrumpft; als eine wichtige Ursache dafür gelten wachsende Probleme in den globalen Lieferketten, die dazu führen, dass in manchen Branchen, etwa im wichtigen Maschinenbau, schon fast alle Unternehmen über Materialmangel und Produktionsrückgänge klagen. Die Interessen der Industrie finden Eingang in Überlegungen von Denkfabriken wie etwa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die in einem neuen Strategiepapier unter dem Begriff „Geoökonomie“ grundsätzliche Überlegungen zur politischen Flankierung des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells formuliert.

15 Monate Exportaufschwung

Der anhaltende Aufschwung der deutschen Exportindustrie hat ein geteiltes Echo ausgelöst. Wirtschaftsmedien melden, die deutschen Ausfuhren seien im Juli im „15. Monat in Folge“ trotz zunehmender Materialengpässe gewachsen.[1] Auch der weitere Ausblick sei aufgrund der guten Weltkonjunktur „freundlich“. Konkret seien die Exporte gegenüber dem Vormonat Juni um 0,5 Prozent gestiegen; insgesamt habe der pandemiebedingte Einbruch inzwischen ausgeglichen werden können: Deutschlands Ausfuhren lagen demnach im Juli 2021 um 1,6 Prozent über dem Niveau vom Februar 2020, dem „Monat vor dem Beginn der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie“. Im Jahresvergleich ist der Wert der im Ausland abgesetzten Waren im Juli laut Angaben des Statistischen Bundesamts um 12,4 Prozent auf 115 Milliarden Euro angestiegen; dabei kontrastierte ein überdurchschnittlich hohes Absatzplus von 15,7 Prozent in den USA mit einem schrumpfenden Export nach China, der um 4,3 sank. Die Vereinigten Staaten blieben damit im Juli mit einem Volumen von 10,8 Milliarden Euro klar der größte Absatzmarkt der Bundesrepublik, gefolgt von China mit 8,4 Milliarden Euro. Die deutschen Auslandsgeschäfte mit den Ländern der Eurozone konnten ebenfalls im Jahresvergleich kräftig um 22,4 Prozent zulegen. Aufgrund der guten kurzfristigen Aussichten hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) seine Exportprognose für dieses Jahr erhöht: Deutschlands Ausfuhren sollen 2021 um acht Prozent wachsen, nachdem sie im Pandemiejahr 2020 um neun Prozent eingebrochen waren.

Materialmangel als Konjunkturbremse

Zugleich monieren Leitmedien allerdings, die Wachstumsdynamik der Exportindustrie schwäche sich ab: Schließlich hätten die Ausfuhren im Juni 2021 noch um 1,3 Prozent gegenüber dem Vormonat zugelegt.[2]
Als ein Hauptgrund dafür wurden zunehmende Materialengpässe genannt, unter denen Deutschland als mit „der Weltwirtschaft eng vernetzte Exportnation“ besonders stark betroffen sei. Laut Branchenvertretern litten im August 70 Prozent der Maschinenbauunternehmen unter einer unzureichenden Versorgung mit Vorprodukten und Rohstoffen – deutlich mehr als im April, als es noch 40 Prozent gewesen seien. Anfang September hieß es dann, nahezu alle Betriebe seien betroffen. Besonders schwierig gestalte sich die Versorgung mit Stahl und Elektronikkomponenten. Branchenvertreter klagen, die prognostizierte Produktionssteigerung im Maschinenbau von rund zehn Prozent gegenüber dem Krisenjahr 2020 wäre ohne die Lieferengpässe wohl noch größer ausgefallen. Eine angespannte Versorgungslage melden zudem, wie berichtet wird, fast „alle Bereiche des produzierenden Gewerbes“ – von der „Autobranche bis zur Möbelindustrie“, wo ebenfalls 70 Prozent aller Firmen über ausbleibende Lieferungen an Rohstoffen und Vorprodukten klagten. Tatsächlich ist die gesamte Industrieproduktion im zweiten Quartal 2021 zurückgegangen; erst im Juli folgte wieder ein kleines Plus. Demnach ist auch die exportierte Warenmenge im Juli geschrumpft; der Anstieg der Exportwerte beruht auf der zunehmenden Inflation.

Das Uhrwerk der Lieferketten

Als Warnzeichen für die stockende Zufuhr von Materialien aus dem Ausland gilt, wie es heißt, die „Entwicklung der Importe“, die im Juli „überraschend um 3,8 Prozent zum Vormonat“ geschrumpft seien. Der mitunter „tröpfchenweise fließende Nachschub an Vorprodukten“ werde sich bald „auch in den Exportzahlen niederschlagen“. Diese „schwierige Lage“ dauere an, doch man hoffe, sie werde sich in den kommenden Monaten substanziell bessern, erklären Konjunkturexperten. Etliche Wirtschaftsverbände äußern sich hingegen skeptisch bezüglich der mittelfristigen Aussichten ihrer Branchen.[3]
Der Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnt, die Versorgungsprobleme samt der „temporären Schließungen chinesischer Häfen“ wegen pandemiebedingter Lockdowns störten das in der Globalisierung ausgeformte „Uhrwerk der internationalen Lieferketten“. Ein BDI-Sprecher moniert, die vollen Auftragsbücher deutscher Konzerne seien „noch keine Garantie für künftige Exporterfolge“, da angespannte Lieferketten, „hohe Logistikkosten und ungeklärte Handelsstreitigkeiten“ die deutsche Exportwirtschaft ausbremsten. Der Außenhandelsverband BGA sorgt sich insbesondere um die rasch steigenden Importpreise, in denen sich die „großen Probleme in den Lieferketten“ spiegelten. Der DIHK warnt bereits vor einer „Flaute“, da 42 Prozent der Exportunternehmen ihre „bestehenden Aufträge nicht abarbeiten“ könnten und 26 Prozent gar ihre „Produktion drosseln oder gar stoppen“ müssten. Laut BDI arbeiten die Konzerne „mit Hochdruck an der Diversifizierung ihrer Lieferketten und alternativen Beschaffungswege“.

„Im strategischen Interesse Deutschlands“

Die Klagen der Industrie finden Eingang in Überlegungen deutscher Denkfabriken wie der DGAP, die in einem Mitte August publizierten Strategiepapier unter dem Begriff „Geoökonomie“ grundsätzliche Überlegungen zur außenpolitisch-geostrategischen Flankierung des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells formuliert. Da die deutsche Industrie eng mit den globalen Handelsströmen verflochten sei und rund „12 Millionen Arbeitsplätze“ von der Exportwirtschaft abhingen, liege die Aufrechterhaltung eines offenen und „regelbasierten“ Welthandels „im strategischen Interesse Deutschlands“, heißt es in dem Papier.[4]
Daher müsse Berlin gemeinsam mit Brüssel an einer „Reform der Welthandelsorganisation (WTO)“ arbeiten sowie sich mit Hilfe der EU und mittels „Reformen“ der „europäischen Handelspolitik“ in einem verschärften „geoökonomischen Handelsumfeld behaupten“. Die DGAP sieht dabei Freihandelsabkommen als einen zentralen Baustein ihres Konzepts, das Geostrategie bzw. „Geoökonomie“ als Mittel der Exportförderung versteht. Neben einer „engen transatlantischen Partnerschaft“ müsse Deutschland auf die „Durchsetzung“ von „fairen Handelsbeziehungen“ mit China drängen und schnellstmöglich das „Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU/Kanada“ (CETA) umsetzen. Zu erwägen sei auch die Gründung eines supranationalen „Klimaklubs“, um „mögliche Spannungen durch die Festlegung von globalen Mindeststandards für Handel und Klima“ zu minimieren und dem Ausbau der deutschen Ökoindustrie näherzukommen.

„Mehr Durchsetzungsfähigkeit“

Die WTO befindet sich laut DGAP in der „tiefsten Krise seit ihrer Gründung“. Dies stehe, heißt es, im Zusammenhang mit der „wachsenden geoökonomischen Rivalität zwischen den beiden Wirtschaftsmächten USA und China“, die zu „einer Krise des globalen Handelssystems“ geführt habe.[5]
Die WTO weise ein veraltetes Normensystem auf und sei derzeit nicht in der Lage, eine „Modernisierung der Regeln“ und ihre „Streitschlichtungsfunktion“ sowie die „Überwachung der Handelspolitik“ zu gewährleisten. Dies werfe „Fragen nach der Glaubwürdigkeit und Zukunft der WTO auf“. In Reaktion darauf müsse die Handelspolitik der EU neu aufgestellt werden, und zwar „im Hinblick auf mehr Durchsetzungsfähigkeit“ im globalen geoökonomischen Konkurrenzkampf; auch sei die „Ratifizierung eines breiten Netzes an ambitionierten Freihandelsabkommen (FTAs)“ notwendig. Etwaige Widerstände in der Bevölkerung wie diejenigen gegen CETA sollen laut DGAP durch die verstärkte Berücksichtigung von „Klima- und Umweltaspekten“ gedämpft werden. Eine Reform der WTO, die Berlin „ganz oben auf die Agenda“ setzen solle, sei freilich nur mit den USA machbar, wobei es Berlin vor allem um eine effiziente „Reform des Streitschlichtungsverfahrens“ bei Handelskriegen gehen müsse.

Mit Washington gegen China

Die DGAP spricht sich zudem für eine rasche Normalisierung des Verhältnisses zu den USA aus. Es sei wichtig, heißt es, die „transatlantischen Handelsbeziehungen wiederzubeleben und Vertrauen wiederherzustellen“.[6]
Mögliche transatlantische Initiativen könnten in einem eng abgestimmten „Vorgehen gegenüber China“ und in einer verstärkten „Zusammenarbeit bei der Schnittstelle von Handel und Sicherheit“ bestehen. Gegenüber China plädiert die Denkfabrik zudem für eine gemeinsame Haltung der EU, um die bisherige Dominanz „kurzfristiger nationaler Eigeninteressen“ zu überwinden. Deutschland komme laut DGAP bei der Ausbildung einer solchen „europäischen“ Front gegenüber China eine „besondere Rolle“ zu; dies betreffe, heißt es, neben „Wirtschafts-“ auch „Sicherheitsfragen“. Die Denkfabrik wirft der Volksrepublik vor, ein „zunehmend konfliktreiches geoökonomisches Handelsumfeld“ zu schaffen, indem sie neue Märkte erschließe, wirtschaftliche „Zwangsabhängigkeiten“ erzeuge und „chinesische technologische Standards und Normen in Eurasien“ durchsetze, wodurch deutsche Standards wie die DIN-Norm verdrängt würden. Überdies hätten „marktverzerrende Maßnahmen in China“ zu negativen Auswirkungen auf die „Handels- und Investitionsbeziehungen der EU“ geführt. Berlin solle daher im Rahmen einer offenen strategischen Autonomie „Partnerschaften mit Verbündeten wie den USA“ suchen: Es gelte, „gemeinsame Probleme“ anzugehen und „schwierige Partner wie China“ mit Hilfe „neue[r] Handelsinstrumente und strengere[r] Durchsetzungsmechanismen“ zu „offenem Handel“ zu veranlassen.

[1] Deutsche Exporte wachsen den 15. Monat in Folge trotz Materialengpässen. wiwo.de 09.09.2021.

[2] Materialmangel trifft Exportnation. tagesschau.de 09.09.2021.

[3] Weniger Wachstum für deutsche Exporte – Verbände in Sorge. bietigheimerzeitung.de 09.09.2021.

[4], [5], [6] Geoökonomie und Außenhandel. Deutschland muss einen offenen Welthandel fördern. DGAP Memo Nr. 1. Berlin, August 2021.

Europawahl – Die Wahl der Wirtschaft

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auch mir ist es in den letzten Jahren aufgefallen, dass gut begründete Kritik am europäischen Kapitalismus und an der Verschärfung der Konkurrenzsituation durch Migration sofort in die rechtspopulistische oder rechtsradikale Schublade abgelegt wird.
Das weist auf eine über ThinkTanks und netzwerke wie die Atlantik-Brücke strategisch in die Hirne der Journalisten versenkte Sprachregelung hin, dem sogar so korrekte und rhetorisch beschlagene Wissenschaftler wie Dr.Sahra Wagenknecht zum Opfer fallen.
Problem ist: wenn man so erfolgreich die linke Opposition gespalten und mundtot gemacht wird, können sich die Nationalisten breit machen.

german foreign policy

Bei German Foreign Policy wird die Einheitsverbreiung von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen mal in Frage gestellt:
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7947/
Auszüge:

Die Wahl der Wirtschaft

23.05.2019

BERLIN (Eigener Bericht) – Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Vertreter der Hauptprofiteure der europäischen Integration, ruft zur Teilnahme an der Europawahl und zum Einsatz für „ein starkes und geeintes Europa“ auf. Die EU sei ein „einzigartiger Raum von Frieden, Freiheit und Wohlstand“, heißt es in einem Appell, den der BDI am gestrigen Mittwoch gemeinsam mit den führenden Industrieverbänden aus Frankreich und Italien veröffentlicht hat.
Die deutsche Industrie, die der BDI vertritt, ist nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung Hauptprofiteur des EU-Binnenmarkts, dem die Bundesrepublik demnach jährlich 86 Milliarden Euro verdankt.
Bereits im Februar hat das Centrum für Europäische Politik (cep) gezeigt, dass Deutschland Hauptgewinner der Euro-Einführung ist: Die Einheitswährung hat der EU-Zentralmacht seit ihrer Einführung fast 1,9 Billionen Euro eingebracht, während sie etwa Italien 4,3 Billionen Euro gekostet hat.
Während der BDI die EU in höchsten Tönen preist, sind nach wie vor fast ein Viertel der EU-Einwohner von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

„Voller Einsatz für die Integration“

Bereits in der vorvergangenen Woche hatten die vier Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft in einem ersten „Gemeinsamen Appell“ für breite Beteiligung an der aktuellen Europawahl geworben. „Europa ist unseren Unternehmen ein Kernanliegen“, hieß es in dem Aufruf, der vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sowie dem Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) unterzeichnet worden war.[1]
„Als größter demokratischer Freiheits-, Rechts-, Wirtschafts- und Wohlstandsraum der Welt mit hoher sozialer Verantwortung ist Europa Teil unserer Identität“, hieß es weiter: „Unsere Unternehmen und ihre Beschäftigten erwarten von der Politik vollen Einsatz für die europäische Integration.“
Die Verbände teilten mit: „Wir wollen ein Europa, für dessen Zukunft sich alle engagieren!“ Aus diesem Grund rufe man „die Bürgerinnen und Bürger dazu auf“, sich „an der Wahl zum Europäischen Parlament zu beteiligen“.

Zentrum und Peripherie

Die Begeisterung der deutschen Wirtschaft für die europäische Integration hat Ursachen, die sich präzise beziffern lassen. Dies gilt etwa für den 1993 eingeführten EU-Binnenmarkt.
Dessen Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung der Union hat kürzlich die Stiftung des Bertelsmann-Konzerns untersucht. Demnach verdankt die Bundesrepublik dem Binnenmarkt, der den Handel innerhalb der EU beträchtlich anschwellen lassen hat, jährliche Einkommenszuwächse in Höhe von 86 Milliarden Euro, mehr als jedes andere Land des Staatenbunds.
Darüber hinaus zeigt die Bertelsmann-Studie, dass die Länder in der südlichen und östlichen Peripherie der Union viel weniger profitieren als die Länder in deren Zentrum; der jährliche Einkommenszuwachs ist selbst pro Kopf der Bevölkerung etwa in Spanien (589 Euro), Griechenland (401 Euro), Polen (382 Euro) oder Bulgarien (193 Euro) viel geringer als derjenige in der Bundesrepublik (1.024 Euro).[2]
Hinzu kommt, wie die Bertelsmann-Stiftung konstatiert, dass der Binnenmarkt dazu führt, „dass volkswirtschaftliche Ressourcen (Arbeit und Kapital) von den weniger produktiven zu den produktivsten Firmen verschoben werden“. Diese liegen ebenfalls in vielen Fällen im deutschen Zentrum der Union.

Nord und Süd

Deutschland ist nicht nur Hauptprofiteur des Binnenmarkts, sondern auch Hauptprofiteur der Einführung des Euro. Dies bestätigt eine Studie, die das Freiburger Centrum für Europäische Politik (cep) im Februar veröffentlicht hat. Demnach läge das Bruttoinlandsprodukt, das 2017 in der Bundesrepublik erwirtschaftet wurde, um 280 Milliarden Euro niedriger, gäbe es die EU-Einheitswährung nicht. Aufsummiert hat Deutschland seit der Euro-Einführung bis 2017 fast 1,9 Billionen Euro dazugewonnen – umgerechnet 23.116 Euro pro Einwohner.[3]
Allerdings stellt das cep zugleich fest, dass von den acht untersuchten Euroländern lediglich die Niederlande ebenfalls ein positives Resultat verzeichnen können – ein Plus von 346 Milliarden Euro bis einschließlich 2017, 21.003 Euro pro Kopf der Bevölkerung.
Dramatisch verloren haben hingegen Frankreich und Italien. Das französische Bruttoinlandsprodukt läge ohne den Euro gegenwärtig um 374 Milliarden Euro höher, das italienische sogar um 530 Milliarden Euro, wäre die Einheitswährung nicht eingeführt worden, konstatiert das cep. Von 1999 bis 2017 sind Frankreich damit insgesamt knapp 3,6 Billionen Euro verlorengegangen (55.996 Euro pro Einwohner). Italien büßte in diesem Zeitraum sogar mehr als 4,3 Billionen Euro (73.605 Euro pro Einwohner) ein.

Ost und West

Nicht nur die Integration, auch die Expansion der Union hat der Bundesrepublik immense Profite verschafft. Zahlreiche Länder Ost- und Südosteuropas sind zu kostengünstigen Produktionsstandorten für deutsche Konzerne geworden, was die gewaltigen Exporterfolge der deutschen Industrie wenn nicht ermöglicht, so doch stark befeuert hat.
Der deutsche Handel mit der gesamten Region boomt; allein der Warentausch zwischen Deutschland und der Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) belief sich im Jahr 2017 auf rund 256 Milliarden Euro – deutlich mehr als der Handel mit China (gut 170 Milliarden Euro).
Dabei besteht ein erheblicher Teil des deutschen Visegrad-Handels aus Lieferungen, die zwischen Fabriken deutscher Konzerne einerseits in der Bundesrepublik, andererseits in den Visegrad-Ländern ausgetauscht werden.
Aufgrund seiner geographischen Lage in der Mitte des Kontinents und aufgrund seiner historisch gewachsenen Beziehungen hat Deutschland mehr als alle anderen EU-Staaten von der Osterweiterung profitiert. Ein Gegenbeispiel ist das am westlichen Rand gelegene Großbritannien: Es hat, wie Experten vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW, Köln) im Oktober schrieben, aus der Expansion der EU in Richtung Osten „geringeren Nutzen gezogen“; es spielt in den Produktionsketten der Union deshalb heute „eine signifikant geringere Rolle“ als die Bundesrepublik.[4]

Hauptabsatzmarkt

Zusätzlich zu den deutschen Sonderprofiten aus Binnenmarkt, Euro und Osterweiterung ist die EU ungebrochen wichtigster Absatzmarkt für die deutsche Wirtschaft. Diese exportierte im Jahr 2017 Waren im Wert von rund 750 Milliarden Euro in andere Mitgliedstaaten der Union – 58,6 Prozent ihrer Gesamtausfuhren. Damit erzielte sie einen Exportüberschuss von fast 160 Milliarden Euro.[5]
Die immensen Vorteile erklären – unbeschadet des inzwischen zunehmenden Widerspruchs aus wachsenden Teilen der mittelständischen Wirtschaft (german-foreign-policy.com berichtete [6]) – die Zufriedenheit der überwiegenden Mehrheit der deutschen Unternehmerschaft mit der Union.

„Wohlstandsraum“ EU

Erweist sich die EU für die deutsche Wirtschaft nach wie vor als Erfolgsmodell, so gilt dies nicht für die ärmeren Schichten der Bevölkerung. Im Jahr 2017 waren laut Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 22,5 Prozent der Einwohner der Union von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht [7] – nur 1,2 Prozentpunkte weniger als ein knappes Jahrzehnt zuvor (2008: 23,7 Prozent).
Der Anteil der Personen, die auch nach Zahlung von Sozialleistungen noch als armutsgefährdet eingestuft wurden, lag 2017 EU-weit bei 16,9 Prozent und damit höher als 2008 (16,6 Prozent); lediglich in sieben EU-Staaten war es gelungen, ihren Anteil gegenüber 2008 zu senken, während er in 19 EU-Staaten gestiegen war.
6,9 Prozent der EU-Einwohner litten im Jahr 2017 laut Eurostat sogar unter „erheblicher materieller Deprivation“.
Die Angaben beziehen sich auf die nationalen Armutsgefährdungsschwellen, deren geringe Höhe das Wohlstandsgefälle in der Union einmal mehr deutlich werden lässt: Galt etwa in der Bundesrepublik im Jahr 2017 als armutsgefährdet, wer jährlich weniger als 13.152 Euro zur Verfügung hatte, so traf das in Griechenland – bei in vielfacher Hinsicht vergleichbaren Lebenshaltungskosten – nur auf diejenigen zu, die weniger als 4.560 Euro im Jahr ausgeben konnten; in Litauen lag die Schwelle 2017 bei 3.681 Euro, in Bulgarien bei 2.150 Euro.
Laut den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft handelt es sich bei der EU, wie erwähnt, um einen „Wohlstandsraum … mit hoher sozialer Verantwortung“.[8]

[1] Gemeinsamer Appell der deutschen Wirtschaft: Wirtschaft für Europa. bdi.eu 09.05.2019.

[2] Giordano Mion, Dominic Ponattu: Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen. Herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2019.

[3] Alessandro Gasparotti, Matthias Kullas: 20 Jahre Euro: Verlierer und Gewinner. Eine empirische Untersuchung. cepStudie. Freiburg, Februar 2019.

[4] Michael Hüther, Matthias Diermeier, Markos Jung, Andrew Bassilakis: If Nothing is Achieved: Who Pays for the Brexit? Intereconomics 5/2018, 274-280.

[5] EU weiterhin mit Abstand wichtigster Handelspartner Deutschlands. handelsblatt.com 07.05.2018.

[6] S. dazu Europas Achsen.

[7] Abwärtstrend beim Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen in der EU. Eurostat Pressemitteilung 159/2018. Brüssel, 16.10.2018.

[8] Gemeinsamer Appell der deutschen Wirtschaft: Wirtschaft für Europa. bdi.eu 09.05.2019.

Mein Kommentar: Auch jeder europabegeisterte Linke oder Sozialist sollte sich angesichts des Fehlens einer schlagkräftigen europäischen Arbeitnehmerorganisation gut überlegen, wo die Konzerne ihn vor ihren Karren spannen wollen.

Jochen

Ein schönes Osterei: Wie die TTIP-Befürworter tricksen und täuschen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aktuell hier:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/966688.wie-die-ttip-befuerworter-tricksen-und-taeuschen.html
Auszüge:

Studienergebnisse zum transatlantischen Freihandelsabkommen werden oft selektiv dargestellt

Verbände, die das Abkommen TTIP übertrieben positiv darstellen, knicken vor der Kritik der Verbraucherorganisation Foodwatch ein.

Nach einem Offenen Brief des Vereins Foodwatch hat der Verband der Automobilhersteller (VDA) vor Kurzem Falschinformationen über das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der Europäischen Union und den USA zurückgezogen.
Wie Foodwatch mitteilte, korrigierte der Lobbyverband auf seiner Homepage und seiner Internetseite jazuttip.de fragliche Textpassagen und löschte ein Redemanuskript von Verbandspräsident Matthias Wissmann, in dem dieser die möglichen wirtschaftlichen Vorteile von TTIP viel zu groß dargestellt hatte. Zudem sei die »Rheinische Post« informiert worden. Wissmann hatte in einem Interview mit dem Blatt ebenfalls falsche Angaben gemacht.

Ebenso wie der VDA hatten auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) denselben argumentativen Trick angewendet und von jährlichem Wirtschaftswachstum als Folge des transatlantischen Freihandelsabkommens gesprochen. Die Verbände unterstellten TTIP Wachstumseffekte von 119 Milliarden Euro jährlich für die EU.
Doch die Aussagen sind manipulativ und faktisch falsch. Denn die Quelle, eine Studie der Londoner Forschergruppe CEPR im Auftrag der Europäischen Kommission, geht überhaupt nicht von einem »jährlichen Anstieg« aus. Vielmehr geht es in dieser Studie um einmalige Effekte, die nach einem Zeitraum von zehn Jahren zu erwarten sind.
Der Wachstumseffekt von weniger als einem Prozent in zehn Jahren gilt als bestes Szenario der Studie, was von den Experten selbst angezweifelt wird.

Auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und die CDU unterschlugen Informationen und beschönigten stattdessen die möglichen Auswirkungen von TTIP. So hieß es in einer Parteibroschüre der Konservativen: »Die Schätzungen über zusätzliche Arbeitsplätze in der EU reichen von 400 000 bis 1,3 Millionen.« Beim DIHK waren es »mindestens 100 000« Arbeitsplätze für Deutschland.
Allerdings wird hier jeweils nur das »Best-Case«-Szenario einer Studie zitiert. Die »Mindest«-Annahme der Studienautoren mit nur 2100 neuen Stellen in der Bundesrepublik wird nicht genannt. Foodwatch forderte auch die CDU in einem Offenen Brief dazu auf, ihre Angaben zu ändern.

Die Taktik der Befürworter des Freihandelsabkommens, die Öffentlichkeit von den angeblich zu erwartenden Erfolgen zu überzeugen, ist eindeutig. Innerhalb der beiden meistgenannten Studien, der CEPR-Studie und der beim wirtschaftsnahen Münchner ifo-Institut in Auftrag gegebenen Untersuchung vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), wurden unterschiedliche hypothetische Szenarien durchgerechnet.
Für ihre Argumentation nannten die kritisierten Organisationen jeweils nur die Ergebnisse des besten Szenarios. Andere Simulationen, die geringeres Wachstum oder negative Auswirkungen wie Reallohnverluste oder Arbeitslosigkeit in anderen Staaten als Ergebnis vorwiesen, werden hingegen verschwiegen.

Bemerkenswert ist, dass die kritisierten Akteure oft eng finanziell und personell miteinander vernetzt sind. Einige Mitglieder der INSM sitzen auch im wissenschaftlichen Beirat des BMWi oder des Politik beratenden CDU-Wirtschaftsrates. Die Mitgliederliste des letzteren Beirats liest sich wie ein Stelldichein der deutschen Wirtschaft und Industrie.
Zudem ist wenig bekannt, dass die INSM eigentlich eine Tochtergesellschaft des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln e.V. ist, dessen Träger und Mitfinanzier der BDI ist.

Für den Verein Lobbycontrol ist diese Vernetzung weniger das Problem, sondern eher die finanzielle Ausstattung und der damit verbundene Einfluss. »Wir sind nicht überrascht, dass alle an einem Strang ziehen und nun eine Allianz an Akteuren auftritt, die es schon seit Jahrzehnten gibt. Daher finden wir es gut, die Interessen offenzulegen«, so Max Bank, EU-Referent von Lobbycontrol.
Er findet es allerdings wichtiger, endlich die Verhandlungstexte zu veröffentlichen, damit eine Diskussion überhaupt möglich ist.

Neben Wissmann und BDI-Präsident Ulrich Grillo greift Foodwatch in einem Hintergrundpapier von Anfang März auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sowie die Berichterstattung der ARD und der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« an.
»VDA, BDI, INSM: Es ist beispiellos, wie die TTIP-Befürworter die möglichen Chancen des Abkommens aufblasen und die Risiken leugnen«, kritisierte Foodwatch-Geschäftsführer Thilo Bode.
»Diese Desinformationskampagne, mit dem Ziel, den Bürgern das Freihandelsabkommen unterzujubeln, zeigt, worum es wirklich geht: TTIP nutzt nur den Konzernen, aber gefährdet Demokratie und Rechtsstaat.«

Mein Kommentar: Nur 2100 Stellen, das reicht nicht mal für die SPD-Funktionäre.

Jochen

Rationalgalerie ll USA organisierten Umsturz in Kiew als Reaktion auf Russlands Syrien-Politik

So so. die Experten der deutschen Wirtschaft wussten es schon… warum haben sie sich nicht lauer zu Wort gemeldet, als die Russenschelte und Kriegspropaganda hier los ging ?

Zum Artikel gibt es auch interessante Kommentare.

CO-OP NEWS

http://www.rationalgalerie.de/kritik/usa-organisierten-umsturz-in-kiew.html

Autor: U. Gellermann
Datum: 22. Dezember 2014

Der aktuelle Anlass ist der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK): Er hat vor Gefahren für die deutsche Wirtschaft durch die (von den EU-Sanktionen ausgelöste) Rezession in Russland gewarnt. Der DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier: „Die Krise der russischen Wirtschaft hinterlässt immer tiefere Bremsspuren im Russlandgeschäft deutscher Unternehmen.“ Laut einer Umfrage der deutschen Auslandshandelskammer in Russland unter knapp 300 deutschen Unternehmen müsse fast jeder dritte deutsche Betrieb in Russland Mitarbeiter entlassen, sollte sich die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort nicht verbessern. „36 Prozent der Unternehmen gehen davon aus, Projekte stornieren zu müssen“, sagte Treier. Zum Ukraine-Krieg äußerte sich auch George Friedman, der Chef der einflussreichen US-Denkfabrik „Strategic Forecasting, Inc (abgekürzt Stratfor)“. Stratfor versorgt internationale Konzerne mit Analysen und Recherchen, insbesondere aus der Rohstoffbranche. Viele größere amerikanische Medien verwenden Stratfor für Hintergrundinformationen oder als Quelle. Der Thinktank steht nicht im Verdacht, der russischen Propaganda zu dienen. Wir…

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Nichts als Nebelkerzen: Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wagenknecht2013Diese Kampagne wird hier von Sahra Wagenknecht demontiert:
http://www.jungewelt.de/2014/06-07/054.php?sstr=Wagenknecht
Auszüge:

Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­verschleiert wirkungsvoll, worum es eigentlich geht:

Das Rentenniveau sinkt seit Jahren, die große Mehrheit wird im Alter nicht mehr menschenwürdig leben können

Die Unternehmerverbände schäumten, die Presse tobte. Der »Ausbau sozialer Wohltaten« sei ein »Betrug am Bürger«, zeterte BDI-Chef Ulrich Grillo, da in den Augen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie selbstverständlich nur der Abbau sozialer Leistungen einen Dienst am Bürger darstellt.
Klaus Zimmermann
, früher Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und heute Prototyp eines auf der Gehaltsliste interessierter Kreise stehenden Mainstream-Ökonomen, beschwerte sich: »Mit der Rentenparty, die die deutsche Bundesregierung gerade auf Kosten der jungen Generation vorbereitet, gibt Deutschland in Europa seinen Anspruch auf Führung in rentenpolitischen Zukunftsfragen auf.«

Ganz in diesem Sinne geißelte Springers Welt das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« als »fatales Signal der neuen deutschen Sozialromantik« und tischte den Lesern folgende Bewertung auf: »Andrea Nahles zertrümmert mit ihrer Sozialpolitik nicht nur die Agenda 2010, sondern gefährdet auch den Europa-Kurs der Kanzlerin. Der Preis dafür wird noch viel höher sein, als wir heute ahnen.«
Da schwante natürlich auch der Brüsseler EU-Kommission eine Gefährdung der »Stabilität der deutschen Staatsfinanzen«. Sie drohte eine Rüge wegen Vertragsverletzung an.

Simulierte Hysterie

Das Ganze ist ein Lehrbeispiel dafür, wie erfolgreiche Kampagnen funktionieren. Es ging um das vor gut zwei Wochen im Bundestag verabschiedete und am 1. Juli in Kraft tretende Rentenpaket, und tatsächlich ist zumindest dessen Preis während des monatelangen Feldzugs seiner Gegner ständig angestiegen.
Im Januar klagten der Direktor des von Verbänden und Unternehmen finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und ihm folgend die CDU-Mittelstandsvereinigung, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und wiederum der BDI über absehbare Mehrausgaben von 60 Milliarden Euro, die die Rentenpläne der Koalition von 2014 bis 2020 verursachen würden.
Dann fiel den Propagandaprofis offenbar auf, daß seit Beginn der Banken- und Euro-Rettung ständig weit höhere Beträge durch die Schlagzeilen geistern und die Zahl 60 Milliarden kaum noch geeignet ist, Angst und Schrecken zu verbreiten. Also nahm man kühn einen um zehn Jahre längeren Zeitraum ins Visier und schob eine Zahl in fast dreifacher Höhe nach: 160 Milliarden, hieß es nun, werde die gebeutelte Nation bis zum Jahr 2030 für die Neuerungen bei der Rente blechen müssen.
Der Eliteeinheit unter den Kampftruppen der Meinungsmache, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, genügte auch das nicht. Flugs beauftragte sie einen ihrer Hofökonomen, eine noch eindrucksvollere Zahl gutachterlich zu untermauern, und Reinhold Schnabel von der Universität Duisburg-Essen lieferte prompt: 230 Milliarden werde der Rentenwahnsinn kosten, orakelte er, von der Presse bereitwillig abgedruckt.

Während die beschlossene Besserstellung älterer Mütter, die die CDU/CSU im Wahlkampf versprochen hatte, nur gelegentlich mitkritisiert wird, richtet sich die öffentlichkeitswirksam vorgetragene Wut hauptsächlich gegen das, was Sozialministerin Andrea Nahles »Rente ab 63« nennt: die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren unter bestimmten Bedingungen und für einen eng begrenzten Zeitraum schon ab 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen zu können.

Gegen die dadurch angeblich heraufbeschworene »Frühverrentungswelle« wurde mit einer Hysterie getrommelt, als drohe eine Massenpensionierung von abhängig Beschäftigten bald jede Wirtschaftsaktivität in deutschen Landen zu ersticken.
»Länger leben und kürzer arbeiten, daß diese Rechnung nicht aufgeht, haben die meisten verstanden, nur die SPD und die Union nicht«, donnerte der Präsident des Verbandes »Die Familienunternehmer«, Lutz Goebel.
Auch die Grünen befürchten einen »Nahles-Knick« und meinen damit, daß die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 63 und 65 Jahren dramatisch einbrechen könnte, zum großen Schaden unserer händeringend Fachkräfte suchenden Unternehmerschaft.

Die ganze Debatte ist an Zynismus und Verlogenheit kaum zu überbieten. Zunächst einmal kann nach normalem Sprachgebrauch eigentlich nur eine Größe »dramatisch einbrechen«, die zuvor ein einigermaßen hohes Niveau erreicht hat.
Geflissentlich blieb in der lautstarken Debatte daher unerwähnt, wie viele Ältere aktuell in den bundesrepublikanischen Büros und Fabriken einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob nachgehen. Schaut man sich die Zahlen an, stellt man fest: Selbst unter den 60jährigen ist es gerade noch jeder dritte.
Mit jedem Lebensjahr mehr geht der Anteil drastisch nach unten: Unter den 63jährigen gibt es noch ganze 15 Prozent Vollzeitbeschäftigte, unter den 64jährigen noch 11,4 Prozent.
Bei den Frauen liegen die Werte noch niedriger. Das bedeutet: Selbst wenn alle 63jährigen sich von heute auf morgen in den Ruhestand verabschieden würden, beträfe das gerade 15 Prozent aller Menschen dieses Alters und würde die deutsche Wirtschaft kaum in den Ruin stürzen.

Wenn die offizielle Arbeitslosenzahl für die über 60jährigen dennoch »nur« bei 8,4 Prozent liegt, hat das mit schlichten statistischen Tricks zu tun. Wer das 58ste Lebensjahr überschritten hat, Hartz IV bezieht und länger als ein Jahr kein Jobangebot mehr bekommen hat, fällt bisher nämlich definitionsgemäß aus der Arbeitslosenstatistik heraus.
Das haben unsere Jobwunderpropagandisten bewußt so beschlossen, denn jeder weiß, daß Arbeitslose in dieser Altersgruppe kaum eine Chance haben, jemals wieder in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren.

Alt und Working poor

Statt einer »Frühverrentungs-« rollt hier die »Zwangsverrentungswelle«: Der von der letzten großen Koalition 2008 eingeführte Paragraph 12a im Sozialgesetzbuch II verpflichtet nämlich die Jobcenter, Hartz-IV-Beziehende an ihrem 63. Geburtstag in den Ruhestand zu schicken, ganz gleich, ob sie das wollen oder nicht.
Die meisten wollen verständlicherweise nicht, denn die erworbenen Rentenansprüche werden unter diesen Bedingungen mit gravierenden Abschlägen entwertet. Derzeit sind es 8,7 Prozent, bis 2027 steigen die Abschläge auf 14,4 Prozent. Ein Anspruch von 1000 Euro schmilzt so auf knapp 860 Euro. Die Zwangsverrentung zerstört damit oft jede Chance, im Alter noch einmal ein bißchen besser zu leben als auf Hartz-IV-Niveau. Pro Jahr trifft dies etwa 65000 Menschen.

Von den Frühverrentungshysterikern ebenfalls geflissentlich unterschlagen wird das aktuelle durchschnittliche Renteneintrittsalter, das ja mitnichten bei jenen 65 Jahren und drei Monaten liegt, mit denen man derzeit abschlagsfrei in Rente gehen kann.
Nein, im Schnitt bekommen die Leute derzeit mit 64 Jahren Altersrente. Ganz ohne Andrea Nahles und ihr Rentenpaket.
Allerdings ist der Preis dieser »Rente ab 64« hoch, eben weil sie mit kräftigen Abschlägen erkauft wird. Entsprechend erhält heute schon jeder zweite Ruheständler nicht mehr die Rente, die er eigentlich erworben hat, sondern eine geminderte.

Die schlechten Jobchancen Älterer sind in einem gesellschaftlichen Klima, das von den Beschäftigten das Ertragen von äußerstem Leistungsstreß, Verfügbarkeit rund um die Uhr, absolute Mobilität und selbstverständlich keine Anzeichen von Schwäche oder gar Krankheit erwartet, kein Wunder.
Der vielzitierten Facharbeiternot zum Trotz beschäftigen gut 36 Prozent aller Betriebe in Deutschland überhaupt keine über 50jährigen. Nur 11,7 Prozent aller Neueingestellten sind älter als 50. Mit jedem weiteren Lebensjahr geht die Zahl weiter zurück.
Wer also jenseits der 55 und gar der 60 seinen Arbeitsplatz verliert, kann relativ sicher sein, keinen neuen mehr zu finden.

Wenn die Regierung die zuletzt angestiegene Erwerbstätigkeit reiferer Jahrgänge lobt, vergißt sie in der Regel dazuzusagen, um welche Art von Jobs es sich dabei handelt.
Zum einen ist es so, daß Ältere einfach länger auf ihrer Stelle bleiben, weil es kaum noch attraktive Vorruhestandsregeln gibt und man bei einem insgesamt sinkenden Rentenniveau oft auch jeden erlangbaren Rentenpunkt braucht, um später einigermaßen über die Runden zu kommen.
Und da es vielfach trotzdem nicht reicht, gibt es eben auch immer mehr Ältere, die Minijobs, meist auch für Minilöhne, annehmen, selbst noch nach dem Renteneintritt.
So gehen heute 60 Prozent mehr Rentnerinnen und Rentner als noch vor zehn Jahren solch kreativen Tätigkeiten wie dem frühmorgendlichen Austragen von Zeitungen, dem Reinigen von Wohnungen oder dem Befüllen von Regalen in Supermärkten nach. Unbedingter Tatendrang kann dabei als Motiv ausgeschlossen werden.
Vielmehr hat die Politik der letzten Jahre erfolgreich immer mehr Menschen in die Situation gebracht, daß sie ohne Hinzuverdienst nicht mehr wissen, wie sie von ihren Hungerrenten Miete und Strom bezahlen sollen. Schließlich haben nach Berechnung des Sozialverbands Deutschland (SoVD) die Renten in den alten Bundesländern seit 2004 knapp zwölf Prozent und in den neuen Bundesländern rund acht Prozent an Kaufkraft verloren.

Damit ist allerdings auch klar, wie heuchlerisch das ganze Frühverrentungsgerede ist. Eine abschlagsfreie Rente ab 63 hätte mitnichten zur Folge, daß sehr viel mehr Menschen als ohnehin schon vor dem 65sten Lebensjahr aus dem Berufsleben ausscheiden würden.
Sie würde lediglich bedeuten, daß die Ansprüche der Betreffenden nicht gekürzt werden. So wären sie im Alter vielleicht nicht mehr gezwungen, irgendwelche entwürdigenden Tätigkeiten zu verrichten. Es geht also gar nicht um den Beginn der Rente, es geht um deren Höhe.
Und jetzt kommt der ernüchternde Teil der Wahrheit: Wenn derzeit jeder zweite Rentner mit Abschlägen in Rente geht, so wird dieses Schicksal auch ab dem Juli 2014, wenn Nahles’ sogenannte »Rente ab 63« für langjährig Versicherte eingeführt sein wird, nicht viel weniger Seniorinnen und Senioren treffen.
Denn tatsächlich ist der Kreis der Profiteure der neuen Regelung außerordentlich überschaubar. Mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen kann nämlich nur, wer zwischen Juli 1951 und Dezember 1952 geboren wurde und 45 Beitragsjahre nachweisen kann.
Für die ab 1953 Geborenen steigt die Altersgrenze allmählich wieder auf 65 Jahre an. Letzteres ist allerdings schon heute geltende Gesetzeslage, denn das hatte die damalige große Koalition bereits bei Einführung der »Rente erst ab 67« beschlossen: Wer 45 Beitragsjahre hat, soll nur bis 65 arbeiten müssen.

Das von den Wirtschaftslobbyisten zum »teuersten Rentenpaket aller Zeiten« aufgeblasene Gesetz entpuppt sich damit als schlichte Übergangsregelung: Während sich der reguläre Zeitpunkt für den Eintritt in die Altersrente – ohne irgendwelchen Widerspruch oder weitere Debatte – in Richtung der 67 bewegen soll, geht der für eine abschlagsfreie Rente der »besonders langjährig Versicherten« in Richtung 65. Genau zehn Jahrgänge sind etwas besser gestellt als jetzt, für die ab 1964 Geborenen gilt dann wieder das, was Müntefering ins Werk gesetzt hat.

Und natürlich sind auch nicht die zehn Jahrgänge insgesamt begünstigt, sondern aus jedem von ihnen nur ein relativ kleiner Personenkreis. So hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in einem Brief an Ministerin Nahles darauf hingewiesen, daß Altenpfler, Krankenschwestern, Sozialarbeiter oder Erzieher, also faktisch alle, die in sozialen Berufen oder im Gesundheitswesen tätig sind, selbst bei einer ungebrochenen Erwerbsbiographie und keinem einzigen Jahr Arbeitslosigkeit nicht in den Genuß der früheren Rente ohne Abschläge kommen werden.
Denn die Ausbildung dauert in solchen Berufen schlicht zu lang, um auf die nötigen 45 Beitragsjahre zu kommen. Als Hauptbegünstigter der Regelung wird zu recht der (meist männliche) Facharbeiter genannt, obwohl selbst von diesen Berufsgruppen nur eine Minderheit profitiert.
Zwar darf man mehrmals im Leben kurze Zeit arbeitslos gewesen sein, hat es allerdings ein Mal länger gedauert und man ist in Hartz IV bzw. war in Arbeitslosenhilfe gerutscht, ist es vorbei.

Die größte Verschlechterung, die den Kreis der Glücklichen nochmals drastisch reduziert hat, wurde auf den letzten Metern beschlossen, als die SPD vor der absurden »Frühverrentungs«-kampagne einknickte und der »rollierende Stichtag« ins Gesetz kam:
Danach werden von der vorgezogenen abschlagsfreien Rente genau die nicht mehr profitieren, die sie am dringendsten brauchen: diejenigen nämlich, die jenseits der 60 arbeitslos werden.
Die letzten beiden Jahre vor dem Renteneintritt zählen nämlich im Falle von Arbeitslosigkeit nur noch dann als Beitragsjahre, wenn letztere infolge einer Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers eintritt. Das gilt selbst dann, wenn der Betreffende Arbeitslosengeld I bezieht, von dem ja Beiträge abgeführt werden. So begünstigt das neue Gesetz faktisch nur die, die es geschafft haben, bis 63 und länger zu malochen, und deren bis dahin erworbene Rentenansprüche so gut sind, daß ein vorzeitiges Ausscheiden attraktiv erscheint – oder die von ihrem Unternehmen zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger sanft hinausgedrängt werden.

Wie viele das tatsächlich sein werden, weiß niemand genau. 2012 betrafen die Altersrenten für »besonders langjährig Versicherte« – also Menschen mit 45 Versicherungsjahren und mehr – gerade mal 12.306 Personen (10555 Männer und 1751 Frauen). Nun wurden unter dieser Rubrik allerdings nicht alle erfaßt, die in Zukunft profitieren würden.
Aber klar ist: Viele werden es nicht sein, für die sich aufgrund der »Rente ab 63« tatsächlich etwas verbessert. Die Regierung kalkuliert mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro bis zum Jahr 2017. Nach 2017 werden die Mehrausgaben dann immer kleiner, bis sie, wenn der Jahrgang 1964 in Rente geht, gleich Null sind.
Das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« kostet mit sieben Milliarden in dieser Legislatur also etwa ein Drittel dessen, was für den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan aufgebracht wurde.

Verkümmert auf Basisschutz

Sicher, zum Rentenpaket gehört noch die Mütterrente, die die CDU/CSU durchgesetzt hat. Für sie wird mit 6,5 Milliarden an jährlichen Kosten gerechnet, wobei Begünstigte natürlich nur jene älteren Mütter sind, deren Rente oberhalb der Grundsicherung liegt. Die Anderen gehen leer aus.

Aber nicht die Mütterrente, deren Kosten insgesamt ja ebenfalls überschaubar sind, sondern die »Rente ab 63«, die sich die SPD zurechnen kann, wurde öffentlich attackiert.
Wenn man sich die realen Zahlen ansieht, sowohl was die Kosten als auch was die Anzahl der Begünstigten angeht, erscheint die ausgebrochene Hysterie als schlichtweg krank. Aber das war sie nicht. Der Wahnsinn hat Methode. Es ging nie um die lächerlichen sieben Milliarden oder um die wenigen hunderttausend Leute, die tatsächlich einen Vorteil von dem beschlossenen Gesetz haben werden.
Es ging darum, unter dem ohrenbetäubenden Getöse über angebliche »Frühverrentungswellen«, »soziale Wohltaten« und »Kostenexplosionen« jede Debatte über den eigentlichen Skandal in der deutschen Rentenversicherung im Keim zu ersticken: den Skandal, der darin besteht, daß die gesetzliche Rente als eine den Lebensstandard im Alter halbwegs sichernde Leistung in den vergangenen 14 Jahren in Deutschland komplett zerschlagen wurde, den Skandal, daß das Rentenniveau seit Jahren sinkt und in Zukunft noch stärker sinken wird, den Skandal, daß selbst ein Durchschnittsverdiener mit relativ langer Beitragszeit heute nicht mehr damit rechnen kann, im Alter von seiner Rente menschenwürdig leben zu können, und natürlich auch den Skandal, daß die Riester-Betrugsprodukte schamlos mit öffentlichen Geldern subventioniert werden, obwohl sie bekanntermaßen nur die Banken und Versicherungen und keinen einzigen künftigen Rentner reich machen.
Und es ging darum, all jene in der SPD und in den Gewerkschaften, die sich vielleicht noch an die Wahlversprechen dieser Partei erinnern könnten, mundtot zu machen:
Wenn bereits eine so marginale und vorübergehende Verbesserung einen derartigen Aufruhr verursacht, wer wagt dann noch, mehr zu fordern, wer hat dann noch den Mut, auf das hinzuweisen, was eigentlich notwendig wäre: Die Wiederherstellung der gesetzlichen Rente.

Albrecht Müller hat vor kurzem auf den Nachdenkseiten aus einer schon älteren Rede von Bernd Raffelhüschen, einem der bekanntesten Lobbyisten der Versicherungswirtschaft, zitiert.
In dieser Rede aus dem Jahr 2008, die an selbstgefälligem Zynismus schwer zu überbieten ist, führt besagter Raffelhüschen vor Versicherungsvertretern aus: »Die Rente ist sicher – sag’ ich Ihnen ganz unverblümt. (Gelächter unter den Versicherungsvertretern.) Die Rente ist sicher, nur hat kein Mensch mitgekriegt, daß wir aus der Rente schon längst eine Basisrente gemacht haben. Das ist alles schon passiert. Wir sind runtergegangen durch den Nachhaltigkeitsfaktor und durch die modifizierte Bruttolohnanpassung. Diese beiden Dinge sind schon längst gelaufen, ja, waren im Grunde genommen nichts anderes als die größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat. (…)
Aus dem Nachhaltigkeitsproblem der Rentenversicherung ist quasi ein Altersvorsorgeproblem der Bevölkerung geworden.
So, das müssen wir denen erzählen! Also, ich lieber nicht, ich hab genug Drohbriefe gekriegt! Kein Bock mehr, irgendwie. Aber Sie müssen das, das ist Ihr Job!«

Damit diese von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP verantwortete »größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat«, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet und die Verkümmerung der gesetzlichen Rente zu einem Basisschutz in Höhe des Hartz-IV-Niveaus mehr und mehr als Normalität empfunden wird, reden die vereinigten Kampflobbyisten vom »größten Rentenpaket aller Zeiten«, von »Sozialromantik«, »Rentenparty« und all dem Zeug, von dem sie selbst sehr gut wissen, daß es vollkommener Unsinn ist.

Um zu verstehen, wie erfolgreich diese Kampagne tatsächlich war, sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen, was die SPD sogar noch nach der Wahl, auf ihrem Parteikonvent am 24. November, beschlossen hatte. Damals hieß es wenig zweideutig: Der »… Einstieg in die Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre ist auszusetzen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist erst dann möglich, wenn die rentennahen Jahrgänge, also die 60 bis 64jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mindestens zu 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind«. Da diese Quote bei weitem nicht erreicht ist, bedeutet das eine klare Absage an die Rente erst ab 67.

Ähnlich entschieden wird zum Rentenniveau ausgeführt: »Wir werden das derzeitige Sicherungsniveau bis zum Ende des Jahrzehnts aufrechterhalten. 2020 gilt es neu zu bewerten, wie über die Wirkungen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf Beschäftigung, Einkommen und Produktivität die Ankopplung der Renten an die Erwerbseinkommen vorzunehmen ist.« Derzeit liegt das Sicherungsniveau der Rente bei 47,8 Prozent der Durchschnittslöhne. Das ist schon deutlich weniger als vor dem Unheil der Riester-Reformen, als es noch 53 Prozent waren. Bis »Ende des Jahrzehnts«, also bis zum Jahr 2020, soll dieses Niveau laut jetzt beschlossenem Gesetz auf nur noch 46,9 Prozent absinken. 2030 soll es bei mickrigen 43,7 Prozent liegen, niedriger als ohne die Neuregelung – und das alles ganz ohne »neue Bewertung«.

Manches besser, nichts gut

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Rente erst ab 67 jetzt auch von der SPD akzeptiert wird, ist übrigens nicht nur ein Bruch der eigenen Wahlversprechen, sondern fällt sogar hinter die bisher geltende Gesetzeslage zurück.
Unter öffentlichem Druck wurde die »Rente ab 67« nämlich nicht pauschal beschlossen, sondern eine Klausel aufgenommen (Paragraph 154 Absatz 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches), nach der alle vier Jahre geprüft werden soll, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint.
Um ihr Wahlversprechen »Aussetzung der Rente ab 67« zu erfüllen, hätte die SPD also noch nicht einmal ein neues Gesetz gebraucht. Sie hätte einfach nur darauf dringen müssen, die vorhandene Regelung erst zu nehmen.

»Manches wird besser, aber nichts wird gut«, hat der Rentenexperte der Linken, Matthias W. Birkwald, das Rentenpaket auf einen kurzen Nenner gebracht.
Und Norbert Blüm kritisiert: »Die verzweifelten aktuellen Reparaturversuche sind nur eine Ablenkung von den Folgen der Riester-Rente … Das Rentenniveau ist der Knackpunkt einer soliden Rentenpolitik. Wenn die 4 Prozent Beitrag zur Riester-Rente in die Rentenkasse fließen würden, wäre ein anständiges Rentenniveau zu sichern.«
Aber wer außer dem früheren CDU-Arbeitsminister, den unermüdlichen Autoren der Nachdenkseiten und vor allem der Linken thematisiert den Rentenskandal heute noch?
Die Gewerkschaften, die lange gegen die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Sturm gelaufen sind, sind weitgehend verstummt.
Und dank BDI, Springer und Co. steht Andrea Nahles öffentlich durchaus nicht als Wahlbetrügerin da, sondern als tapfere Frau, die »ihr Rentenprojekt« gegen den massiven Widerstand der Wirtschaft durchzusetzen vermochte.

Zufrieden mit ihrem Erfolg bereitet die Kampflobby jetzt ihr nächstes Projekt vor. Die Geschütze sind bereits in Stellung gebracht, die ersten gekauften Hofökonomen und solche Politiker, deren Ruf ohnehin ruiniert ist, beginnen zu feuern. »Der Anstieg der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer wie auch des Rentenzugangsalters auf 64 Jahre zeigt, daß die Rente mit 70 … nicht nur machbar, sondern auch geboten ist«, predigt IW-Chef Michael Hüther.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sekundiert: »Durch die steigende Lebenserwartung und die demographische Wende ist die Frage der Rente mit 70 unausweichlich«.
Und auch der Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, belehrt uns: »Um die finanzielle Stabilität der Rentenversicherung langfristig zu sichern, sollte das Renteneintrittsalter ab dem Jahr 2029 regelgebunden weiter ansteigen, orientiert an der absehbaren Entwicklung der künftigen Lebenserwartung«.
Aus der politischen Kaste wagt sich EU-Energiekommissar Günther Oettinger hervor, für den es, wie zu befürchten steht, auch in der neuen EU-Kommission Verwendung geben wird: »Wir haben einen Fachkräftemangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen.«
Noch Fragen?

Um die Notwendigkeit eines späteren Renteneintritts zu begreifen, reiche Volksschule Sauerland, hatte Franz Müntefering einmal gesagt.
Um die hinter der Renten-Kampagne stehenden Interessen zu verstehen, sollte eigentlich das simple Einmaleins genügen.
Freilich nur, wenn wir uns von dem öffentlichen Getöse nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Sahra Wagenknecht ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion von Die Linke im ­Bundestag

Jochen