Sahra Wagenknecht im Interview: „Immer tiefere Spaltung“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sahra_Wagenknecht2017Sahra Wagenknecht im Interview mit der NOZ

08.07.2020 https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2969.immer-tiefere-spaltung.html

Das Interview führte Uwe Westdörp für die Neue Osnabrücker Zeitung,

Frau Wagenknecht, Oskar Lafontaine hat mit Blick auf die Corona-Krise einen Neustart der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ angekündigt. Sind Sie dabei?

Die Bewegung wird heute von jungen Leuten geleitet. Sie sind hochmotiviert und ich wünsche ihnen sehr viel Erfolg.
Das Anliegen von „Aufstehen“ ist ja nicht erledigt. Wir brauchen eine Bewegung, die die soziale Frage, die Frage der wachsenden Ungleichheit, wieder auf die Tagesordnung setzt.
Wir hatten die „Fridays-for-future“-Bewegung – und auch deshalb hat die Politik wieder mehr über Klimawandel diskutiert.
Mindestens ebenso wichtig ist es aber, über die soziale Polarisierung in Deutschland zu reden, über Unsicherheit, schlechte Arbeitsverhältnisse und niedrige Renten. Wir haben ein immer tiefer gespaltenes Land. Auf Dauer hält das keine Demokratie aus.

Aber in der Corona-Krise gab es doch Applaus für die so genannten „Helden des Alltags“

Ja, und was ist daraus geworden? Die „Helden des Alltags“ werden immer noch miserabel bezahlt.
Zwar hat endlich sogar die Bundesregierung gemerkt, wer in unserem Land wirklich systemrelevant ist: die Leute, die trotz Corona und mit wenig Schutz in den Supermärkten, in den Pflegeheimen, in den Krankenhäusern gearbeitet haben. Die Pakete zugestellt und Güter transportiert haben.
Was sie dafür bekommen haben, war wohlfeiler Applaus. Der Mindestlohn, der zumindest für einen Teil von ihnen relevant ist, steigt im Januar um klägliche 15 Cent.
Und so driftet das Land weiter auseinander – mit enormem Reichtum auf der einen Seite, während andere um ihr bisschen Wohlstand immer mehr kämpfen müssen.

Was kann und wird die Linke dazu beitragen, die sozialen Probleme zu lösen? Und ist sie dafür überhaupt gerüstet?

Für mich heißt links, sich für weniger Ungleichheit und mehr Leistungsgerechtigkeit zu engagieren, für die Beschäftigten, kleine Selbständige und die Benachteiligten.
Leider sind die linken Parteien europaweit in den letzten Jahren immer mehr zu Parteien der Bessergebildeten und Besserverdienenden geworden, sie vertreten vor allem die Interessen der grossstädtischen akademischen Mittelschicht, für die die Globalisierung und die EU eher eine Chance als eine Bedrohung darstellen.

Die Linken sind Ihnen zu abgehoben?

Viele linke Politiker haben den Kontakt zu den Benachteiligten verloren, zu denen ohne Universitätsabschluss, zur alten Mittelschicht und erst recht zu den Ärmeren, die heute in Niedriglohnjobs arbeiten müssen und wenig Sinn für Debatten um politisch korrekte Sprache und Gendersternchen haben. Diese Menschen kämpfen Monat für Monat um ihr soziales Überleben und fühlen sich dabei oft allein gelassen.
Die Linke ist dafür gegründet worden, dass sie deren Interessen vertritt, und nicht dafür, sich mit Lifestyle-Fragen der Privilegierten zu beschäftigen.

Die Corona-Krise hat die deutsche Wirtschaft schwer getroffen. Doch jetzt könnte es wieder bergauf gehen, sagen Konjunkturforscher.
Haben wir – ökonomisch betrachtet – das Schlimmste schon hinter uns?

Es reicht nicht, wenn Wirtschaftsforscher gute Stimmung verbreiten. Grosse Teile unserer Industrie sind in einem fragilen Zustand.
Und das hat nicht nur mit Corona zu tun, sondern damit, dass wir technologisch seit Jahren zurückfallen. Wenn Politiker lieber Fleischbarone wie Tönnies durch Duldung schlimmster Ausbeutungsverhältnisse zu Exportweltmeistern machen als Hochtechnologie zu fördern, darf man sich nicht wundern, dass wir in den meisten Zukunftstechnologien nicht mehr führend sind.
Hinzu kommt: Durch die Corona-Krise liegen unsere wichtigsten Exportmärkte am Boden. Das wird sich auch so schnell nicht ändern.

Aber es gibt doch ein Konjunkturprogramm, allein 20 Milliarden Euro sollen durch die Senkung der Mehrwertsteuer freigesetzt werden…

Von der Senkung der Mehrwertsteuer sind kaum Konjunkturimpulse zu erwarten – weil die Leute ihr Geld in der Krise zusammenhalten und weil die Senkung in vielen Fällen gar nicht an die Verbraucher weitergegeben wird. Mit dem gleichen Geld hätte man jeder zweiten Familie 1000 Euro in die Hand drücken können als Konsumscheck, die sie dann im stationären Einzelhandel, in Cafes und Restaurants hätten einlösen können.
Damit hätte man vielen wirklich geholfen, statt Krisengewinner wie Amazon, die in Deutschland noch nicht mal Steuern zahlen, mit unserem Steuergeld noch reicher zu machen.

Andere Unternehmen wie die Lufthansa brauchen aber schon Hilfe, oder?

Ich halte es für richtig, ein Unternehmen wie die Lufthansa vor der Insolvenz zu bewahren, weil es für unsere Infrastruktur eine wichtige Rolle spielt und tausende Beschäftigte von ihm abhängen.
Aber dann muss man auch dafür sorgen, dass man Einfluss im Unternehmen nimmt und Entlassungen so weit wie möglich verhindert.

Welche weiteren Bedingungen sollten bei Staatshilfen gelten?

Solange ein Unternehmen Dividenden ausschüttet, braucht es keine Staatshilfen und sollte auch keine bekommen. Das gilt auch für das Kurzarbeitergeld, das ja im laufenden Jahr zum großen Teil aus Steuergeld finanziert wird.
Es ist doch nicht zu rechtfertigen, das der Steuerzahler bei BMW, VW und anderswo de facto hohe Dividenden subventioniert, während Freiberufler und Solo-Selbständige, denen wegen des Lockdowns das Einkommen weggebrochen ist, auf Hartz IV verwiesen werden.

Welche Lehre müssen wir also aus der Corona-Krise ziehen, damit es gerechter zugeht in Deutschland?

Wir brauchen endlich eine konsistente Industriepolitik, um zu verhindern, dass wir zeitversetzt eine ähnliche Deindustrialisierung erleben, wie sie Frankreich oder Italien hinter sich haben.
Und ich finde es empörend, wie schnell die „Helden des Alltags“ wieder von der Politik vergessen wurden.
Der Mindestlohn muss deutlich steigen und die Ausbeutung im Niedriglohnsektor endlich beendet werden.
Außerdem brauchen wir wieder durchgehend tarifliche Bezahlung, gerade im Einzelhandel.
Und schließlich muss sich die Lage in der Pflege grundlegend ändern.

Was genau meinen Sie?

Die Pflege gehört nicht in die Hände von Hedge Fonds und Finanzinvestoren, die auf Kosten wehrloser alter Menschen einen Reibach machen. Um Renditen von zehn Prozent und mehr zu realisieren, wird Personal entlassen, unter extremen Druck gesetzt und schlecht bezahlt.
Nur mal zum Vergleich: Nach einer Statistik der luxemburgischen Behörde für soziale Sicherheit haben Krankenpfleger 2017 in Luxembourg 93 841 Euro brutto pro Jahr verdient.
Das zeigt: In Deutschland sind die Gehälter für Alten- und Krankenpfleger viel zu niedrig.

Bleibt die Frage: Wer soll das bezahlen? Schließlich ist die Neuverschuldung schon jetzt immens…

Vielleicht könnte man ausnahmsweise mal die 45 reichsten Deutschen belasten, die mehr Vermögen haben als die Hälfte der Bevölkerung zusammen.
Oder die Steuertricks verbieten, mit denen große Konzerne ihre Steuerquote heute auf unter 20 Prozent drücken.

Und das würde ausreichen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland ja schon einmal einen Lastenausgleich. Das war eine einmalige Abgabe für sehr Reiche. Dies wäre auch ein Weg, die Kosten der Corona-Krise zu schultern.
Leute, die ein Milliarden-Vermögen haben – davon gib es in Deutschland nicht wenige und vielfach ist das Geld schlicht geerbt – müssen sich endlich auch mal an der Finanzierung gemeinschaftlicher Aufgaben beteiligen.

Auch die Globalisierung ist in der Corona-Krise ins Blickfeld geraten, weil Lieferketten unterbrochen waren und große Abhängigkeiten zutage traten.
Sie fordern, wieder mehr Wertschöpfung zurückzuholen. Würden das nicht zu enormen Preissteigerungen führen – etwa bei Medikamenten?

Das ist ein vorgeschobenes Argument. Vieles würde gar nicht so viel teurer, weil in den Hochlohnländern ja auf einem anderen technologischen Level produziert wird.
Auch stellt sich immer die Frage, wie groß die Gewinnspannen sind. Hinzu kommen die langen Transportwege, die ja auch unter Klimagesichtspunkten schädlich sind.
Insofern spricht alles dafür, Wertschöpfung in die entwickelten Länder zurückzuholen und hier gut bezahlte Industriearbeitsplätze zu schaffen.
Und warum sollen wir immer mehr Rindfleisch in Brasilien kaufen? Mit Billigimporten von Lebensmitteln machen wir nur unsere eigene Landwirtschaft kaputt.

Themenwechsel: im kommenden Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. Aktuell spricht einiges für eine schwarz-grüne Koalition.
Welche Alternativen bieten die Linken an?

Die Farbendebatte bringt nichts. Man muss schauen, ob es Parteien gibt, die gemeinsam gewillt sind, für mehr sozialen Ausgleich und Zusammenhalt in unserem Land zu sorgen.
Die SPD könnte da ein Partner sein. Allerdings vereint sie, ähnlich wie die Linke, völlig unterschiedliche Strömungen, die teilweise gegensätzliche Konzepte vertreten. Welche in den nächsten Jahren dominiert, wird sich auch an der Frage entscheiden, wer Kanzlerkandidat der SPD wird.
Die Grünen sind heute eher eine elitäre Partei für urbane Besserverdiener. Deshalb streben sie ja auch vor allem eine Koalition mit der Union an.
Rot-rot-grün stünde ohnehin unter dem Vorbehalt entsprechender Mehrheiten. Solange SPD und Linke kein überzeugendes Programm vertreten, sehe ich die nicht.

Trotzdem: Gäbe es eine Mehrheit für die von Ihnen gewünschte soziale Politik – stünden sie dann wieder für ein Amt in der ersten politischen Reihe zur Verfügung?

Ich wünsche mir ein sozialeres Land. Dafür werde ich mich auch weiter einsetzen.
Aber in welcher Form und an welcher Stelle, das hängt von vielen Faktoren ab.

Anmerkung: Die Bewegung „aufstehen!“ organisiert sich z.Zt. wieder von unten her, über die Orts- und Regionalgruppen in Deutschland. Z.B. aus Brandenburg gibt es detaillierte Konzepte für einen basisdemokratischen Wiederaufbau.  Inzwischen haben schon 2 bundesweite Videokonferenzen stattgefunden, bei der letzten haben Vertreter von 24 Gruppen teilgenommen. Die nächste Vernetzungs -VK ist am Sonntag, 19.7.2020. Einladung_VK_2020-07-19
Näheres ist hier zu erfahren: https://www.myheimat.de/noerdlingen/politik/erste-bundeskonferenz-der-ortsgruppen-der-sammlungsbewegung-aufstehen-d3181790.html und https://aufstehen-brandenburg.org/

Zur Sammlungsbewegung aufstehen! habe ich schon einiges geschrieben, siehe hier:

https://josopon.wordpress.com/2018/01/14/ich-wuensche-mir-eine-linke-volkspartei-sahra-wagenknecht-im-interview-mit-dem-spiegel/
https://josopon.wordpress.com/2018/06/28/sahra-wagenknecht-warum-wir-eine-neue-sammlungsbewegung-brauchen/
https://josopon.wordpress.com/2018/08/19/sammlungsbewegung-aufstehen-soll-moglichkeiten-zur-selbstermachtigung-eroffnen/
https://josopon.wordpress.com/2019/01/07/aufstehen-jetzt-meint-mdb-sevim-dagdelen/

Vor Ort wird aufstehen! durch die Offene Linke Ries e.V. vertreten:

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Über Kommentare hier würde ich mich freuen.
Jochen

Die große Umverteilung – Warum haben sich Aktienkurse und Warenproduktion entkoppelt ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine so komplizierte Frage lässt sich nach einer empirischen Studie zweier US-Universitäten mit Daten der OECD beantworten.
Die Ergebnisse passen in Pikettys Theorie. Einfacher wird das hier erklärt:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1117935.finanzmarkt-die-grosse-umverteilung.html
Auszüge:

Die Börsen feiern Aufschwung. Die Aktienkurse steigen, weil Reichtum von Beschäftigten an die Finanzmärkte geflossen ist. Das dürfte der Grund für die nächste Krise sein.

Von Stephan Kaufmann

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Die Börse scheint in einer eigenen Welt zu leben. Die Aktienkurse steigen. Gleichzeitig droht ein weltweiter Handelskrieg, das Schicksal Großbritanniens ist ungeklärt, die globale Nachkriegsordnung zerfllt – und zudem mehren sich die Warnungen vor der nächsten Rezession.

Davon unberührt eilt die US-Börse von einem Rekord zum nächsten. Ihr jüngster Aufschwung mag den Zufällen der Spekulation geschuldet sein.
Der langfristige Anstieg der Aktienkurse aber hat einen handfesten Grund: die Umverteilung von den Beschäftigten zu den Aktionären.

Seit Jahresbeginn geht es mit den Kursen in Europa, Nordamerika und Asien bergauf. Dabei ist die Konjunkturentwicklung wacklig: Das Wirtschaftswachstum in Europa lässt nach. In den USA und China ist es stärker, lebt aber von staatlicher Konjunkturförderung und Niedrigzinsen.
Doch ist dies nur scheinbar ein Widerspruch. Denn die Kopplung der Aktienmärkte an die Wirtschaftsleistung ist seit Langem aufgehoben.
Die alte Regel, dass Börsen langfristig parallel zur Produktion der Unternehmen steigen und sie insofern abbilden, gilt nicht mehr.

Das belegt eine Studie der Universitten Berkeley und New York. Die US-Ökonomen untersuchten Aktienmärkte und Realwirtschaft seit 1959 – und gelangten zu einem Rätsel: Bis 1989 wuchs die Wertschöpfung der Unternehmen auerhalb des Finanzsektors kräftig und mit ihnen die Börsenkurse.
Seit 1990 jedoch laufen die Kurse der Wertschöpfung davon. Wie kann das sein?

Die Antwort: Es lag nicht an den niedrigen Zinsen und auch nicht daran, dass sich die Aktienmärkte schlicht von der Realwirtschaft entkoppelt hätten.
Wichtigster Grund war vielmehr, dass der produzierte Reichtum ab 1990 zwar nur mäßig stieg, größere Anteile davon jedoch an die Aktienmärkte gingen – zu Lasten der Arbeitnehmer.
Seit 30 Jahren erleben nicht nur die USA, sondern die ganze Gruppe der etablierten Industrieländer eine große Umverteilung von den Beschäftigten hin zu den Finanzmärkten.

Diese Umverteilung spiegelt sich in vielen Indikatoren wider. So stieg allein in den vergangenen 20 Jahren der reale Pro-Kopf-Lohn in den großen Ökonomien – USA, Westeuropa, Japan – um etwa zehn Prozent, die Produktivität der Beschäftigten dagegen um fast ein Drittel.
Das bedeutet: Es schrumpfte der Anteil des Wohlstands, der an die Arbeitnehmer floss.
Das Wachstum der realen Löhne blieb deutlich hinter der Gesamtproduktivität zurück, so die Industrieländervereinigung OECD.

Steuern sinken

Bekannt ist dieses Phänomen als sinkende Lohnquote, also als sinkender Anteil der Entgelte für Beschäftigte am Nationaleinkommen.
Laut OECD fiel die Lohnquote von ihrem Hoch von über 65 Prozent in den Siebzigern auf zuletzt 56 Prozent. Dieser Trend sei in allen Branchen zu beobachten.

Die Gründe dafür sind bekannt: erstens die Globalisierung, also die Nutzung von Billiglohn-Standorten wie China und die damit verbundene verschärfte globale Konkurrenz der Arbeitnehmer.
Zweitens die Technologie: Die Verbilligung von Produktionstechnik schuf für die Unternehmen einen Anreiz, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, um Kosten zu senken. Beide Faktoren schwächten den Einfluss der Gewerkschaften.

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Ein dritter Faktor ist laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Politik. Um die Arbeitskosten zu senken, bauten EU-Länder in den vergangenen Jahren Arbeitnehmerrechte ab. Sie schwächten den Kündigungsschutz, ersetzten Vollzeit- durch Teilzeitjobs, senkten Mindestlöhne und Arbeitslosenunterstützung. All dies hat den Druck auf die Arbeitnehmer erhöht und zum Rckgang der Lohnquote in Europa beigetragen, so Dilyana Dimova in einem Arbeitspapier des IWF.

Die verschärfte Konkurrenz der Standorte um Investoren hat zudem zu einem Steuersenkungswettlauf geführt. In den Industrieländern ist der Steuersatz für Unternehmensgewinne seit 1998 von 41 Prozent auf zuletzt 27 Prozent zurckgegangen.
Krass war die Entwicklung in den USA: So betrug der Anteil der Unternehmensteuern 1950 noch 50 Prozent der gesamten Unternehmensgewinne – vergangenes Jahr waren es nur noch zehn Prozent.

Was sind die Folgen? Sinkende Lohnanteile und Steuern bedeuten zum einen steigende Unternehmensgewinne. Die Kapitaleigner haben mehr, die Arbeitnehmer weniger. Das allein rechtfertigt steigende Börsenkurse.

Lohnzurückhaltung und Steuersenkungen wurden meist begründet mit dem Argument, höhere Gewinne wrden die Unternehmen zu mehr Investitionen und zur Schaffung von Jobs bewegen.*) Doch ist diese Rechnung nicht aufgegangen.
Die Umverteilung von Arbeit zu Kapital hat nicht die erwarteten Folgen für die Investitionen gehabt, stellt die OECD fest. Anstatt in neue Fabriken und Anlagen zu investieren, erhöhten die Unternehmen die Dividenden an die Aktionäre, kauften eigene Aktien zurück und legten den Rest an den Finanzmärkten an. Das treibt zusätzlich die Kurse nach oben.

Firmen werden Finanzanleger

Das erfreut die Finanzanleger – und überrascht viele Wirtschaftsexperten. Denn die Entwicklung widerspricht einigen Grundannahmen: Laut ökonomischem Modell leihen sich eigentlich die Unternehmen von den privaten Haushalten Geld und investieren es in Produktionsanlagen, erzielen Gewinne, von denen die privaten Haushalte in Form von Dividenden und Zinsen profitieren.
In der ökonomischen Realität jedoch horten die Unternehmen ihre Einnahmen, sie sind selbst zu Finanzanlegern geworden.
Ihre Ersparnisse – also was ihnen nach Ausgaben für Dividenden, Zinsen und Investitionen übrig bleibt – sind in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen, stellt Nils Redeker in einer Studie für die Universität Zürich fest.

Ergebnis ist die Zunahme der Ungleichheit. Denn von der Entwicklung profitieren Eigner von Betriebs- und Finanzvermögen – und die sind sehr ungleich verteilt.
Der OECD zufolge gehören in den Industrieländern den reichsten zehn Prozent der Haushalte 60 Prozent des gesamten Kapitals, in den USA sogar 70 Prozent. Die reichsten fünf Prozent der US-Amerikaner halten 75 Prozent des Aktienreichtums.
Die Kapitalgewinne fließen vor allem an diese kleine Gruppe. Der Rest – zumeist Lohnabhängige – fällt zurück.

Das System erzeugt sein Problem

Dies wiederum macht das gesamte System fragil. Denn aufgrund der Umverteilung zu Ungunsten der Lohnempfänger bleibt deren zahlungsfähige Nachfrage zurück, was die Unternehmen als Absatzschwierigkeiten und verschärfte Konkurrenz zu spüren bekommen.
In den USA treibt dies die Verschuldung der Haushalte in die Höhe, denn die Konsumenten ersetzen verlorenes Einkommen mit Kredit – ihre steigende Verschuldung war ein wesentlicher Grund für die Finanzkrise ab 2008.
Länder wie Deutschland dagegen ersetzen fehlende inländische Nachfrage durch vermehrten Export ins Ausland. Ergebnis sind die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands – ein wesentlicher Grund für die Eurokrise ab 2009.

In den Worten der OECD: Da der fallende Anteil der Löhne am Einkommen nicht durch vermehrte Investitionen kompensiert wird, sind Länder stärker auf Kredite und / oder Netto-Exporte angewiesen, um die Gesamtnachfrage aufrechtzuerhalten. Das könnte zu wirtschaftlicher Instabilität und globalen Ungleichgewichten beitragen.
So gräbt sich der Aufschwung der Unternehmensgewinne und der Börsen langsam selbst das Wasser ab. Denn der wachsende Reichtum der Kapitalseite beruht auf der relativen Verarmung der Arbeitnehmer.
Auf Dauer wird dies zur nächsten Krise führen, zu einer Entwertung von Finanz- und Unternehmensvermögen.
Der Kampf der mächtigen Standorte um die Frage, bei wem diese Entwertung stattfinden wird, läuft bereits: Es ist der sogenannte Handelskrieg, der die Börsen derzeit nervös macht. Zu Recht.

*) Das waren die Grundannahmen der New Labour Economy von Tony Blair, Gerhard Schröder und seinem Finanzminister Eichel. Schon damals wussten realistische Ökonomen wie der leider verstorbene Jörg Huffschmied und Heiner Flassbeck, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann.
Jochen