Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN
Siehe passend dzu hier schon 2014: https://josopon.wordpress.com/2014/02/09/ukraine-2014-nutzliche-faschisten/
Berlin und Brüssel eskalieren den Machtkampf gegen Russland mit neuen Sanktionen.
Moskau kann sich bei seiner Ukrainepolitik auf den Präzedenzfall Kosovo berufen.
23 Feb2022
BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Mit schweren Vorwürfen und einer massiven Verschärfung der Sanktionen gegen Russland reagieren Berlin und die EU auf die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Moskau.
Unter anderem werden alle 351 Duma-Abgeordneten, die Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ aufgefordert haben, mit Einreise- und Vermögenssperren belegt.
Moskau hatte seinen Schritt unter anderem damit begründet, dass keinerlei Aussicht mehr auf eine Umsetzung des Minsker Abkommens besteht.
Der Vorwurf trifft vor allem Berlin: Die Verhandlungen zur Realisierung des Abkommens wurden unter maßgeblicher deutscher Regie geführt.
Noch an diesem Wochenende riet eine führende deutsche Tageszeitung dazu, die Verhandlungen zwar fortzusetzen, um Russland zu „binden“, die Verwirklichung des Abkommens aber nicht ernsthaft zu forcieren.
Moskau betreibt die Anerkennung der „Volksrepubliken“ mit Argumenten, mit denen Berlin bzw. die NATO die Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien gegen den Willen der Regierung in Belgrad erzwangen – ein Präzedenzfall, der in Europa die Büchse der Pandora geöffnet hat.
Neue Sanktionen
Mit einer deutlichen Verschärfung der Sanktionen gegen Russland reagieren Berlin und die EU auf die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Moskau. Das Sanktionspaket, auf das sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben, umfasst vier Teile.
Der erste sieht vor, dass sämtliche 351 Abgeordnete der russischen Duma, die Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ aufgefordert haben, nicht mehr in die EU einreisen dürfen; sollten sie Vermögen dort haben, wird es eingefroren. Es handelt sich um das erste Mal, dass nahezu ein komplettes gewähltes Parlament mit Strafmaßnahmen belegt wird.
Darüber hinaus dürfen keine Geschäfte mehr mit 27 Banken und Unternehmen getätigt werden, denen die EU vorwirft, mit den Separatisten oder russischen Militärs, die diese unterstützen, Geschäfte zu machen.
Drittens werden die „Volksrepubliken“ vom Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine ausgeschlossen. Auch wird der russische Zugang zum europäischen Finanzmarkt weiter eingeschränkt; dabei geht es vor allem um Staatsanleihen mit einer Laufzeit von weniger als 30 Tagen.[1]
Deutschland stoppt zudem zumindest vorläufig, wie Bundeskanzler Olaf Scholz mitteilte, die Erdgaspipeline Nord Stream 2.[2]
Das Minsker Abkommen
Moskau hat die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk vor allem damit begründet, es bestünden keinerlei Aussichten mehr, das Minsker Abkommen umzusetzen und so den Krieg im Osten der Ukraine zu beenden. Der Vorwurf trifft insbesondere Berlin, das stets eine führende Rolle in den Verhandlungen im „Normandie-Format“ beansprucht hat; in ihnen ging es darum, das Minsker Abkommen zu realisieren. Die Verhandlungen wurden im November 2021 von Russland abgebrochen, da die Ukraine sich nicht nur unverändert weigerte, zentrale Bestimmungen des Abkommens umzusetzen, sondern auch dazu überging, Donezk und Luhansk mit Drohnen des Typs Bayraktar TB2 zu attackieren; diese Drohnen hatten etwa im Krieg Aserbaidschans gegen Armenien kriegsentscheidend gewirkt.[3]
Berlin nahm nicht nur den Drohneneinsatz hin, obwohl er gültige Vereinbarungen brach; es deckte auch die ukrainische Weigerung, das Minsker Abkommen zu erfüllen. Erst nachdem US-Präsident Joe Biden bilaterale Verhandlungen mit Moskau angekündigt hatte, war die Bundesregierung um die rasche Wiederaufnahme der Gespräche im „Normandie-Format“ bemüht.[4]
Zuletzt schienen sich dabei Fortschritte abzuzeichnen; Kiew sagte zu, die notwendigen Gesetze auf den Weg zu bringen.[5]
„Russland binden“
Allerdings blieb nicht nur unklar, ob die erwähnten Gesetze wirklich verabschiedet werden können; im ukrainischen Parlament ist eine Mehrheit dafür nicht in Sicht. Es bleiben darüber hinaus auch Zweifel, ob der Westen das Minsker Abkommen zu unterstützen bereit ist. Die Hintergründe schilderte am Samstag die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wie das Blatt schrieb, sei zu berücksichtigen, dass die Ukraine am 12. Februar 2015, als das Abkommen unterzeichnet wurde, „in große militärische Bedrängnis geraten“ war. Darauf sei zurückzuführen, dass es Bestimmungen enthalte, „die sehr ungünstig für die Ukraine sind“; den Versuch, sie umzusetzen, „würde keine ukrainische Regierung überstehen“.[6]
Darüber hinaus behauptete die Frankfurter Allgemeine, in Donezk und Luhansk seien „freie Wahlen“, wie sie das Minsker Abkommen vorsehe, „unmöglich“. Sollten Berlin und Paris wirklich in Betracht ziehen, „Druck“ auf Kiew auszuüben, um die Umsetzung der Vereinbarung zu erzwingen, sei das „sinnlos“ und sogar „gefährlich“.
Die Zeitung rät dazu, nicht ernsthaft auf das Minsker Abkommen zu setzen. Offiziell solle es freilich nicht aufgegeben werden, weil es „einen Rahmen zur Einhegung des Konflikts“ biete und vor allem Russland „binde“.
Quod licet Iovi…
Hat Berlin sieben Jahre lang jede Chance vertan, den Konflikt um Donezk und Luhansk mit einer Durchsetzung der Bestimmungen des Minsker Abkommens zu lösen, so bezieht die Bundesregierung nun umso schärfer Position. Die Anerkennung der „Volksrepubliken“ durch Moskau sei „ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts“, erklärte gestern Bundeskanzler Olaf Scholz; Russland verstoße mit ihr gegen „Grundprinzipien, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen zum friedlichen Zusammenleben der Völker verankert sind. Dazu gehören die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten, der Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt und die Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung.“[7]
Die Äußerung ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil führende westliche Mächte regelmäßig gegen die erwähnten Grundprinzipien verstoßen haben, etwa mit den Überfällen auf den Irak im Jahr 2003 und auf Libyen im Jahr 2011; Sanktionen hatte dabei keine der beteiligten Mächte zu befürchten.
Die Stunde der Heuchler
Aufschlussreich ist Scholz‘ Äußerung auch, weil Russlands Vorgehen in zentralen Punkten dem deutschen Vorgehen bei der Abspaltung des Kosovo entspricht.
Die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk geschah ebenso gegen den Willen der Ukraine, wie die Anerkennung des Kosovo im Februar 2008 gegen den Willen Serbiens vollzogen wurde. Die Abspaltung des Kosovo wurde dabei mit serbischer Gewalt gegen die kosovarische Bevölkerung begründet; im Bürgerkrieg um Donezk und Luhansk kamen inzwischen mehr als 14.000 Menschen zu Tode – mehr als im Kosovo.
Während Russland allenfalls Truppen in die „Volksrepubliken“ entsenden wollte, nachdem es sie offiziell anerkannt hatte, besetzte die NATO, darunter deutsche Truppen, das Kosovo allerdings im Rahmen eines Angriffskriegs gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999, dem Tausende Zivilisten zum Opfer fielen, und schuf mit umfassenden Bombardements die Voraussetzungen für die Abspaltung des Gebiets. Moskau hat das Vorgehen des Westens damals scharf kritisiert. Allerdings kann sich heute, wer die Abspaltung von Teilen fremder Staaten anerkennt, stets auf den Präzedenzfall berufen, den die NATO-Staaten mit der Abspaltung des Kosovo geschaffen haben – unter Führung nicht nur der USA, sondern auch der Bundesrepublik.
[1] Thomas Gutschker, Jochen Buchsteiner: Strafen gegen Abgeordnete, Oligarchen und Banken. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2022.
[2] Scholz stoppt Gasleitung Nord Stream 2. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2022.
[3] S. dazu Waffen für die Ukraine.
[4] S. dazu Führung aus einer Hand und Führung aus einer Hand (II).
[5] S. dazu Neue Hürden.
[6] Reinhard Veser: Kein Mittel zur Lösung des Konflikts. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.02.2022.
[7] Schwerwiegender Bruch des Völkerrechts – Deutschland an der Seite der Ukraine. bundesregierung.de 22.02.2022.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8853
EU reagiert mit scharfen Sanktionen auf Russlands gestrigen Überfall auf die Ukraine.
Mit dem Krieg reagiert Moskau auf die fortgesetzte Ostexpansion der NATO.
Mit einem neuen Sanktionspaket reagiert die EU auf Russlands gestern begonnenen Krieg gegen die Ukraine. Das Sanktionspaket, das als „umfassend und schmerzhaft“ bezeichnet wird, zielt unter anderem darauf ab, russische Banken und Unternehmen vom EU-Kapitalmarkt abzuschneiden und die russische High-Tech-Branche möglichst umfassend auszutrocknen.
Gleichzeitig setzte die NATO zum ersten Mal ihre Verteidigungspläne für Osteuropa in Kraft. Bei dem Krieg handelt es sich um den zweiten Angriffskrieg einer großen Macht gegen einen anderen Staat in Europa seit dem Ende der Systemkonfrontation; er weist Parallelen zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 auf, dem ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der Krieg gegen die Ukraine ist Russlands dritter Gegenschlag gegen gezielte prowestliche Provokationen bzw. gegen die stetige NATO-Ostexpansion.
Vorausgegangen waren eine umfassende Aufrüstung und kontinuierliche Kriegsübungen der NATO nahe der russischen Grenze sowie der Konflikt um eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.
Der Präzedenzfall
Anders als es in deutschen Medien gestern gelegentlich hieß, ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der erste in Europa seit 1945. Der erste Angriffskrieg auf dem Kontinent war der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999, der unter dem Vorwand gestartet wurde, serbische Gewalt gegen die albanischsprachige Minderheit im Kosovo beenden zu wollen.
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat eingeräumt, dass der Krieg unter Bruch des internationalen Rechts geführt wurde; der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Wolfgang Ischinger gibt – ein wenig vorsichtiger formulierend – zu, er sei völkerrechtlich „problematisch“ gewesen – „sehr!“[1]
Damals war die deutsche Luftwaffe führend daran beteiligt, durch die Zerstörung der serbischen Luftabwehr weitere NATO-Luftangriffe vorzubereiten; deutsche ECR-Tornados drangen in den serbischen Luftraum ein und feuerten dort mehr als 230 HARM-Raketen auf die serbischen Stellungen ab. Die Zahl der Menschen, die dadurch ums Leben kamen, ist bis heute nicht bekannt.
Mit dem Krieg gegen Jugoslawien hat die NATO die Büchse der Pandora geöffnet; mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine kommt ein zweiter völkerrechtswidriger Angriffskrieg in Europa hinzu.
Zwei Gegenschläge
Dabei ist der russische Krieg eine gewaltsame Reaktion auf das kontinuierliche Vorrücken der westlichen Mächte in Richtung Osten – und nicht die erste. Als im August 2008 das vom Westen unterstützte Georgien unter Bruch des dortigen Waffenstillstands Südossetien zu beschießen begann und dabei unter anderem russische Truppen traf, die den Waffenstillstand überwachten, marschierten Russlands Streitkräfte kurzzeitig in Georgien ein, um jeglichen weiteren Beschuss zu unterbinden: Es war Moskaus erster Gegenschlag.
Als die westlichen Mächte nach den ersten beiden Runden der NATO-Osterweiterung Anfang 2014 in Kiew eine Umsturzregierung an die Macht brachten, der mehrere Minister der faschistischen Partei Swoboda angehörten [2] und die klar auf einen – im Land selbst hochumstrittenen – NATO-Beitritt der Ukraine orientierte, nahm Russland die Krim nach einem erfolgreichen Abspaltungsreferendum auf: Es war Moskaus zweiter Gegenschlag.
Auf ihn wiederum hat die NATO reagiert, indem sie die Spannungen noch weiter eskalierte, Kampftruppen in Ost- und Südosteuropa stationierte – unter Bruch der NATO-Russland-Grundakte – und ihre Kriegsübungen ausweitete: Manöver unweit der russischen Grenze, aber auch Manöver, die den Aufmarsch von US-Großverbänden über den Atlantik nach Russland probten.[3]
„Voraussetzung für Russlands Sicherheit“
Gegen diese Maßnahmen hat Russland regelmäßig Protest eingelegt und seit dem Herbst immer wieder ausdrücklich gefordert, die NATO-Präsenz in Ost- und Südosteuropa abzubauen. Der westliche Militärpakt hat das beantwortet, indem er am 16. Februar offiziell beschloss, noch mehr Truppen in der Region zu stationieren (german-foreign-policy.com berichtete [4]).
Moskau hat zudem darauf gedrungen, die NATO-Osterweiterung zu stoppen und vor allem die Ukraine nicht in das Bündnis aufzunehmen. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wöge für Russland vor allem deshalb schwer, weil es durch sie „strategische Tiefe“ verlöre. Unter dem Begriff wird, so formulierte es kürzlich die US-Denkfabrik Carnegie Endowment, in Russlands Fall „der Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ verstanden, der historisch immer eine „entscheidende Voraussetzung für die Sicherheit des russischen Staates“ gewesen sei – im Krieg gegen das napoleonische Frankreich ebenso wie in den beiden Weltkriegen gegen Deutschland.[5]
Der dritte Gegenschlag
Die NATO hat es bis zum Schluss abgelehnt, einen Beitritt der Ukraine zu verweigern –unter Verweis auf die Freiheit der Bündniswahl, dabei aber das Prinzip der „ungeteilten Sicherheit“ ignorierend, das gleichfalls in internationalen Übereinkünften wie der Europäischen Sicherheitscharta festgelegt ist und das alle Staaten dazu verpflichtet, bei der Gewährleistung ihrer Sicherheitsbedürfnisse diejenigen anderer Staaten nicht zu gefährden (german-foreign-policy.com berichtete [6]).
Darüber hinaus haben mehrere NATO-Staaten auf die Forderung, die Ukraine nicht in das Bündnis zu integrieren, reagiert, indem sie die ukrainischen Streitkräfte noch umfassender aufzurüsten begannen.[7]
Auf die umfassende, demonstrative Missachtung seiner Sicherheitsinteressen durch die Verstärung der NATO-Präsenz in Ost- und Südosteuropa und durch die Anbindung der Ukraine an das westliche Militärbündnis – zuletzt nahm etwa der ukrainische Außenminister an einem Außenministertreffen der NATO teil – hat Russland jetzt mit einem dritten Gegenschlag reagiert. Der nimmt dieselbe Form an wie 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien.
Unkontrollierbare Eskalationsgefahr
Die NATO hat gestern zum ersten Mal ihre Verteidigungspläne für Osteuropa in Kraft gesetzt; außerdem stocken die NATO-Staaten ihre Militärpräsenz in Ost- und Südosteuropa weiter auf.
Die EU sowie der Westen insgesamt weiten zudem ihre Sanktionen aus; in der Union ist von einem Sanktionspaket die Rede, das „umfassend und schmerzhaft“ sein soll und nicht zuletzt darauf abzielt, russische Banken und Unternehmen vom EU-Kapitalmarkt abzuschneiden sowie die russische High-Tech-Branche gezielt auszutrocknen.
Mit der fortgesetzten Verschärfung der Lage steigt die Gefahr einer unkontrollierbaren Kriegseskalation.
[1] Wolfgang Ischinger am 24. März 2019 auf Twitter.
[2] S. dazu Kiewer Zwischenbilanz.
[3] S. dazu Nützliche Kriegsszenarien und Kriegsübungen gegen Russland.
[4] S. dazu Neue Hürden.
[5] Eugene Rumer Andrew S. Weiss: Ukraine: Putin’s Unfinished Business. carnegieendowment.org 12.11.2021.
[6] S. dazu „Gleiches Recht auf Sicherheit“.
[7] S. dazu Waffen für die Ukraine.
Vgl. dazu die Rede Putins vom 24.2.2022, hier nachzulesen:
http://en.kremlin.ru/events/president/news/67843
Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen