Sahra Wagenknecht im MOZ-Interview: „Werden keine Koalition eingehen, die die soziale Spaltung vergrößert“

Der Märkischen Oder-Zeitung hat sie ein Interview gegeben:Wagenknecht2013

http://www.moz.de/wirtschaft/wirtschaft/artikel-ansicht/dg/0/1/1533562/

Auszüge:

In den USA wurde ein Präsident gewählt, der vielen Menschen Angst macht, auch weil er sich mit dem russischen Präsidenten so gut versteht. Bildet sich da eine neue Achse des Bösen?

Man muss erst mal abwarten. Ich halte Trump für wenig berechenbar. Aber selbstverständlich wäre eine Neuorientierung der US-Außenpolitik sehr wünschenswert, in einer Richtung, die nicht auf die Eskalation von Konflikten, womöglich bis an die Grenze einer militärischen Konfrontation, setzt sondern auf Dialog und Interessenausgleich. Zuallererst in Syrien, um den Krieg dort zu beenden.

Sie sind gegen die Fortsetzung der Sanktionen gegen Russland und stehen damit in der EU ziemlich allein. Was haben Sie gegen eine konsequente Haltung der Europäer gegenüber Putin?

Was verstehen Sie unter konsequent? Wenn konsequent heißt, dass man die eigene Wirtschaft schädigt, wie es die EU mit den Sanktionen gegen Russland tut, obwohl es keinerlei positiven Effekt gibt, dann kann ich auf solche Konsequenz gut verzichten. Außerdem sind durchaus nicht alle Europäer für die Fortsetzung dieser Politik. Die Bundesregierung hat viel Mühe darauf verwandt, die westeuropäischen Regierungen auf ihren Kurs zu bringen. In Frankreich oder Italien ist das nicht populär.

Sie haben bei der Haushaltsdebatte im Bundestag über die Lage im Land gesprochen, und Ihr Satz, dass der einfache Bürger ums Überleben kämpft, ist vielleicht nicht wörtlich gemeint gewesen, aber das komplette Gegenteil von dem, was die Bundeskanzlerin gesagt hat: Es geht den deutschen so gut wie nie. Leben Sie in verschiedenen Welten?

Der Satz ist ein Zitat aus einer Mail, die mir eine 31jährige Hochschulabsolventin geschickt hat, die jetzt als Flugbegleiterin arbeitet und Angst um ihren Job hat. Das ist eine Situation, die viele Menschen in diesem Land erleben. Wir haben viele Beschäftigte in dauerbefristeten Jobs, Leiharbeit und Werkverträgen, sie leben in einer ständigen Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, und sie haben Einkommen, die oft gerade so reichen von Monat zu Monat.

Betrifft das nicht eher eine Minderheit?

Wenn ich mir die Zahlen anschaue, so bekommt heute jeder zweite Beschäftigte keinen Tariflohn mehr, und Beschäftigten ohne Tarifvertrag verdienen heute im Schnitt 18 Prozent weniger als im Jahr 2000. Das ist doch ein dramatischer Rückschritt. Jeder sechste Rentner lebt mittlerweile in Armut, obwohl viele ein Leben lang gearbeitet haben. Auch Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende haben ein hohes Armutsrisiko. Das alles wegzureden ist die Linie einer Politik, die Union und SPD seit Jahren verantworten. Deshalb wenden sich immer mehr Menschen von diesen Parteien und von der Demokratie insgesamt ab, weil sie sich im Stich gelassen fühlen.

Bei diesem Szenario müsste Ihnen doch sehr gelegen kommen, dass Frau Merkel wieder als Kanzlerkandidatin antritt. Ist sie so etwas wie Ihre Wunschgegnerin im kommenden Wahlkampf?

Warum soll ich mich darüber freuen, dass Frau Merkel wieder antritt und vielleicht vier Jahre Weiter-so folgen? Zurzeit stärkt Frau Merkel mit ihrer Politik in erster Linie die AfD. Es sollte alles dafür getan werden, dass wir nach der Wahl eine andere, eine sozialere Politik bekommen. Der einzige Weg dahin ist ein deutlicher Zugewinn der Linken, weil nur das die SPD letztlich davon abhalten wird, sich wieder in einer Großen Koalition zu verkriechen.

Kann das Erstarken der AfD nicht damit zu tun haben, dass Rot-Rot-Grün die heute schon bestehende Mehrheit im Bundestag nicht nutzt, sondern seit 2013 wieder eine große Koalition regiert?

Wenn diese Mehrheit tatsächlich genutzt worden wäre, um eine sozialere Politik zu machen, die den Menschen das Gefühl gegeben hätte, ihre sozialen Interessen werden endlich wieder ernst genommen, dann stimme ich Ihnen zu. Dann wäre die AfD jetzt bei weitem nicht so stark. Wenn diese Mehrheit aber nur formal genutzt worden wäre, um eine ähnliche Politik zu machen wie die große Koalition, dann hätte das die berechtigte Enttäuschung und Verärgerung der Menschen nur verstärkt.

Eine Möglichkeit für Rot-Rot-Grün wäre ja die Nominierung eines gemeinsamen Kandidaten für die Bundesversammlung gewesen. Woran ist das gescheitert?

Daran, dass die SPD ihn nicht wollte. Und bei den Grünen war ich mir auch nicht so sicher. Die Ankündigung von Sigmar Gabriel, Herrn Steinmeier zu nominieren, war jedenfalls ein Angebot an die CDU/CSU, nicht an uns. Herr Steinmeier ist der Architekt der Agenda 2010, er steht für das Weiter-so der Politik, die in Deutschland seit der Jahrtausendwende gemacht wird. Aber die Wähler werden der SPD nicht abnehmen, dass sie eine sozialere Politik will, solange sie immer wieder den Konsens mit der CDU sucht.

Werden Sie Herrn Steinmeier denn in die Fraktion einladen vor der Bundesversammlung?

Es ist üblich, dass sich die Kandidaten auch in den anderen Fraktionen vorstellen. Das werden wir nicht ablehnen. Wir haben aber mit Professor Butterwegge sehr bewusst einen eigenen Kandidaten aufgestellt, der als profilierter Agenda-Kritiker gegen diesen muffigen Konsens von Union, SPD, FDP und Grünen steht, und hoffentlich weit über die Linke hinaus gewählt werden wird.

Die Linke war ja strikt gegen den scheidenden Bundespräsidenten Gauck. Haben sich Ihre Bedenken bestätigt oder nicht?

Wir hatten keine Vorbehalte, sondern haben gesagt, Herr Gauck steht für eine Politik, die wir für falsch halten. Genau das hat er auch bestätigt. In seiner Amtszeit ist die soziale Spaltung in Deutschland größer geworden, die Ungleichheit gewachsen. Es gibt immer mehr Menschen, die sich abgehängt fühlen. Es wäre Aufgabe eines Bundespräsidenten, sich zu solchen Fragen zu äußern. Das hat er nie gemacht.

Steinmeier personifiziert aus Sicht der Linken den Hauptvorwurf, den Sie der SPD machen, nämlich den Sozialstaat in Deutschland zerstört zu haben. Jüngst haben sich über 100 Abgeordnete von SPD, Linkspartei und Grünen getroffen. Waren das nur Sandkastenspiele oder kann daraus mehr werden für die Zeit nach der Wahl?

Es ist gut, dass es solche Gespräche gibt, wenn man einmal zusammenarbeiten will. Allerdings hängt alles davon ab, ob die SPD bereit ist, die Grundrichtung ihrer Politik zu verändern. Wir werden keine Koalition eingehen, die die soziale Spaltung des Landes weiter vergrößert.

Das klingt immer noch so wie 2013.

Eine andere Koalition ist 2013 nicht an uns gescheitert. Die SPD war ja nicht einmal bereit, in Sondierungsgesprächen auszuloten, was möglich wäre. Dieses Mal signalisiert sie zwar Offenheit, das ist ein Fortschritt, aber ob sie dann auch zu einer sozialeren Politik bereit ist, wird vor allem von einem starken Wahlergebnis der Linken anhängen.

Die anderen müssen sich ändern – Sie nicht?

Wir sind gegründet worden, um die unsoziale Grundrichtung der Politik in diesem Land zu korrigieren. Deswegen wäre es absurd, wenn wir uns an einer Koalition beteiligen würden, die fortsetzt, was die Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte gemacht haben. Das würde übrigens auch der AfD nicht das Wasser abgraben, sondern sie weiter stärken, weil sich wieder nichts verbessern würde für die Menschen.

Der Spitzenkandidat der Linkspartei im Saarland, Oskar Lafontaine, sagt, Rot-Rot-Grün im Land ja, im Bund nicht. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das hat er nicht gesagt. Wer können auch im Bund jederzeit Rot-Rot-Grün machen, wenn diese Parteien zu ihren eigenen Wurzeln zurückfinden: Die SPD war einst eine soziale Reformpartei, die Grünen eine Friedenspartei. Wenn sich beide auf diese Traditionen zurückbesinnen, haben wir viele Gemeinsamkeiten. Natürlich sind die Dinge auf Landesebene einfacher. Da gibt es nicht die großen Fragen von Steuerpolitik und Außenpolitik, vielleicht ist die Saar-SPD auch ein bisschen anders aufgestellt als die Bundes-SPD. Natürlich wäre es gut, wenn die CDU zumindest auf Landesebene immer weiter zurückgedrängt wird. Es ist schlimm genug, dass Frau Merkel wegen der Schwäche der SPD für viele alternativlos erscheint.

Wenn Sie über die anderen im Bundestag vertretenen Parteien geht reden, verwenden Sie den Begriff „Parteienkartell“. Das ist AfD-kompatibel. Stört Sie das nicht?

Den Begriff habe ich schon benutzt, als es die AfD noch gar nicht gab. Er drückt aus,dass sich die Unionsparteien, die SPD, die FDP und die Grünen politisch so angenähert haben, dass sie kaum noch unterscheidbar sind. Das ist einer der Gründe, warum so viele Menschen an der Demokratie verzweifeln. Wir hatten in den vergangenen 15 Jahren drei verschiedene Koalitionen. Rot-Grün, Schwarz-Gelb und zweimal die Große Koalition. Die Politik war im Kern immer die gleiche: Eine Politik gegen die Mehrheit und für eine reiche Minderheit. Eine Politik, die den Konzernlobbyisten die Wünsche von den Augen abgelesen hat.

Eine Nähe zu AfD-Positionen wurde Ihnen auch in der eigenen Partei vorgehalten. Man hört kaum noch etwas davon. Weil sie vorsichtiger geworden sind?

Nein. Diese unsinnigen Debatten sind beendet. Dass die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen nicht unbegrenzt sind, ist kein besonders origineller Gedanke und hat nichts mit AfD zu tun. Inzwischen hat Frau Merkel ja auch ihre Flüchtlingspolitik komplett verändert. Heute dealt sie mit dem türkischen Diktator Erdogan, damit er die Flüchtlinge von Europa fernhält. Das noch größere Problem liegt aber woanders. Merkel unternimmt nichts, um endlich Fluchtursachen zu bekämpfen.

Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel die Handelspolitik. Vielen ärmeren Ländern werden Freihandelsabkommen aufgezwungen, die ihre Wirtschaft ruinieren. Dann gibt es keine Jobs mehr, die Menschen haben Null Perspektive und faktisch gar keine andere Chance, als zusammenzulegen, damit es wenigstens einer aus der Familie nach Europa schafft. So produziert man also Fluchtursachen. Übrigens auch damit, dass, wie die SPD es plant, gezielt Fachkräfte aus ärmeren Ländern abgeworben werden.

Sie sind also gegen ein Einwanderungsgesetz?

Ja. Auf jeden Fall gegen eines, das darauf hinausläuft, die bestqualifizierten Kräfte aus armen Ländern abzuwerben. Ein reiches Land wie Deutschland sollte seine Ärzte und Ingenieure schon selbst ausbilden. Dafür brauchen wir bessere Schulen und besser ausgestattete Universitäten. Wenn Ärzte fehlen, sollte man vielleicht mal den Numerus clausus beim Medizinstudium lockern.

Gibt es etwas, das Sie an der AfD gut finden? Zum Beispiel, dass sie das Parteienkartell aufmischt?

Das macht sie doch gar nicht. Viele glauben, mit der Wahl der AfD der herrschenden Politik eine Ohrfeige zu verpassen. Aber einen Druck für eine sozialere Politik gibt es dadurch nicht. Wenn man sich das Programm der AfD ansieht, dann ist da von Alternative nicht viel zu sehen. Das ist im Grunde das Programm des CDU-Wirtschaftsflügels.

Sie sitzen mit AfD-Politikern in Talk-Shows und haben mit Frauke Petry ein gemeinsames Interview gegeben. Sie scheinen keine Berührungsängste zu haben.

Warum sollen wir die Auseinandersetzung scheuen? Das haben wir doch gar nicht nötig. Wie gesagt, ökonomisch unterscheiden sich die Ansichten von AfD-Politikern nicht großartig von neoliberalen Auffassungen, wie man sie in der CDU oder in der FDP findet. Mit denen setze ich mich ja auch auseinander. Natürlich gibt es in der AfD offene Rassisten und Nazis.Aber das gilt nicht für jeden AfD-Politiker und schon gar nicht für die Mehrheit ihrer Wähler.

Sie wurden auf dem Magdeburger Parteitag körperlich attackiert. Ein junger Mann, der mit Ihren Ansichten nicht übereinstimmte, drückte Ihnen aus nächster Nähe eine Torte ins Gesicht. Hat das bei Ihnen psychische Spuren hinterlassen?

Na ja, es ist ja zum Glück nichts Dramatisches passiert….

….Der Angriff erfolgte aus nächster Nähe und der Gegenstand hätte auch etwas anderes als eine Torte sein können.

….Das stimmt. Und das vergisst man auch nicht.Ich schaue bei öffentlichen Auftritten heute anders um mich. Das ist schon so. Früher habe ich einfach verdrängt, dass ich angegriffen werden könnte.

Konnte Ihnen Ihr Mann bei der Verarbeitung des Geschehens helfen? Immerhin war er ja selbst Opfer eines Attentates?

Das kann man nicht vergleichen. Ich habe einen kurzen Schreck bekommen. Aber dann war klar, dass nichts Schlimmes passiert ist. Wenn man am Boden liegt und nicht weiß, ob das Leben jetzt vorbei ist, das ist etwas ganz anderes.

Seit über einem Jahr führen Sie im Bundestag zusammen mit Dietmar Bartsch die Links-Fraktion. Das soll ein Knochenjob sein. Ihnen scheint das wenig auszumachen.

Freut mich, dass das so aussieht. Es ist ein Knochenjob, aber Dietmar Bartsch und ich teilen uns die Arbeit und die Fraktion zieht sehr gut mit. Da hat sich das Klima deutlich verbessert. Deshalb macht es Spaß und deswegen sind die Anstrengungen auch gut auszuhalten. Ich schaffe es auch immer mal wieder, mir ein paar freie Tage zu organisieren. Die brauche ich, zum Ausspannen und um mal wieder zu lesen, nachzudenken, neue Ideen zu entwickeln. Ich achte sehr darauf, nicht nur zu funktionieren.

Sie haben schon früher gesagt, wie wichtig Ihnen Literatur ist. Nicht zuletzt Belletristik. Schaffen Sie es denn wirklich noch, in den von Ihnen so geliebten Goethe hineinzuschauen?

Ja. Schon deswegen, weil ich Veranstaltungen mache, in denen es immer wieder um Goethe geht. Viel um Faust. Kürzlich ging es um die Pandora. Und einige Gedichte von Goethe habe ich auch gerade einmal wieder gelesen. Einerseits kann man sich mit Goethe auch mal aus dem Alltagsstress zurückziehen. Andererseits hat sich Goethe mit Fragen beschäftigt, die verblüffend aktuell sind.

Können Sie ein Buch empfehlen, das Sie gerade gelesen haben?

Ja. Der Roman von Didier Eribon „Rückkehr nach Reims“. Außerdem das Anti-Euro-Buch von Joseph Stiglitz „Europa spart sich kaputt.“ Sehr spannend. Und wer etwas Tiefgründigeresüber die Türkei erfahren will, dem empfehle ich „Der Fall Erdogan“ von Sevim Dagdelen.

Können Sie sich noch ein Leben außerhalb der Berufspolitik vorstellen? Und wenn ja, was würden Sie dann machen?

Ich würde wieder Bücher schreiben und als Publizistin arbeiten. Und über ein solches, selbstbestimmtes Leben würde ich mich sehr freuen. Das könnte ich mir jederzeit wieder vorstellen.

 

Die gekaufte Grenze – Tunesien mit deutscher Überwachungstechnik

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Deutschland rüstet afrikanische Staaten wie Tunesien mit Überwachungstechnik auf, um Flüchtlinge zu stoppen. Für europäische Konzerne ist das ein Milliardengeschäft.

Von Hauke Friederichs und Caterina Lobenstein

http://www.zeit.de/2016/45/fluechtlinge-grenze-schutz-tunesien-ueberwachungstechnik

Auszüge:

Die wichtigste Grenze der Bundesrepublik Deutschland liegt nicht vor Passau oder Deggendorf. Sie liegt nicht am Rhein, nicht an der Oder, den Alpen oder am Wattenmeer.
Sie liegt weit von Deutschland entfernt, sie führt durch sandige Wüsten, entlang von Küsten mit weißem Strand und türkisblauem Meer.
Deutschlands wichtigste Grenze liegt in Afrika. Frank Vornholt soll dafür sorgen, dass sie gesichert wird.

An einem warmen Oktobertag fährt Vornholt in einem Kleinbus von der tunesischen Hauptstadt Tunis Richtung Südwesten, um nach den Männern zu schauen, die die Grenze bewachen. Er trägt Jeans und Sakko, auf seinem Schoß liegt eine Mappe mit Reiseunterlagen.

Vornholt ist Beamter im deutschen Innenministerium, Referat B4: Internationale grenzpolizeiliche Angelegenheiten.
Jenes Referat, das zurzeit vor allem ein Ziel verfolgt: Es soll der Bundesregierung dabei helfen, Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg nach Deutschland zu stoppen.

Tunesien – Deutsche Polizisten bilden tunesische Grenzschützer aus
Video:  //players.brightcove.net/18140073001/c09a3b98-8829-47a5-b93b-c3cca8a4b5e9_default/index.html?videoId=5187246764001hoffe das funktioniert
Allein 2016 hat die Bundespolizei in 66 Missionen Trainer und Ausrüstung nach Tunesien geschickt. Die Grenzschützer sollen Terroristen abwehren, Schmuggler – und Flüchtlinge.

„Die Flüchtlingskrise“, sagt Vornholt, „wird man allein auf dem europäischen Kontinent nicht lösen können.“ Tunesien aber könnte der Schlüssel zu einer Lösung sein.

Nach zwei Stunden Fahrt biegt der Kleinbus in einen Feldweg ein und hält vor einem Tor. Uniformierte Männer salutieren, sie tragen Maschinengewehre. Vornholt ist am Ziel: die Kommandoschule der tunesischen Nationalgarde im Dorf Oued Zarga. Vor dem Schulgebäude weht die tunesische Flagge, daneben Schwarz-Rot-Gold. Hier, mitten in Nordafrika, bildet Deutschland tunesische Grenzpolizisten aus.

Die Grenzer rennen mit vorgereckten Sturmgewehren über das holprige Übungsgelände, geduckt und fast lautlos, nur der Schotter knirscht unter ihren Stiefeln. Sie tragen dunkelgrüne Uniformen, Funkgeräte baumeln an ihren Gürteln, Ferngläser um ihren Hals. Geschmeidig schwenken sie die Gewehre nach rechts, nach links, nach vorn.

„Los, los, los!“, ruft ein Mann mit Safarihut und aufgenähtem Bundesadler an der Schulter. Er ist der Ausbilder hier, ein Polizeioberkommissar aus Sachsen. Mit verschränkten Armen steht er auf dem Platz.
Er pustet in seine Trillerpfeife. Die Tunesier gehen in Deckung. Sie ducken sich hinter rostigen Ölfässern und alten Autoreifen, werfen sich auf den Boden, robben über den Schotter, keuchen, schwitzen und schnaufen. Die Mittagssonne brennt.

Der deutsche Kommissar bringt den tunesischen Grenzschützern bei, wie sie sich und ihre Kameraden vor bewaffneten Feinden schützen. Am Ende der Übung ruft er die Rekruten zusammen. „Ein Superergebnis war das heute“, sagt er. „Weiter so!“

Der große Plan aus dem Innenministerium

Drinnen im Hauptgebäude der Polizeischule sitzt Frank Vornholt in einem Büro mit gepolsterten Türen und schweren Sesseln, neben ihm ein Übersetzer und zwei Bundespolizisten, die seit einem Jahr in Tunesien stationiert sind. Es ist das Büro des Brigadegenerals, der die Schule leitet, ein kleiner Tunesier mit breiten Schultern, in Flecktarnuniform. Über dem Schreibtisch hängen goldgerahmte Urkunden, in einer Vitrine liegen Orden und Ehrennadeln.
Der General schüttelt Vornholt und den anderen die Hände. „Mes amis allemands!“, ruft er: „Meine deutschen Freunde!“ Er reicht Pistazien und geröstete Mandeln, bedankt sich für die Unterstützung aus Deutschland und verspricht: „Bis spätestens 2020 wird an allen Grenzen Tunesiens nach deutschem Standard patrouilliert.“

Frank Vornholt nickt zufrieden.

Mehr als 60 Ausbildungsmissionen hat die deutsche Bundespolizei in diesem Jahr für Tunesien organisiert. Sie hat Trainer und Ausrüstung nach Tunesien geschickt und tunesische Grenzer zur Ausbildung nach Deutschland geholt. Die Tunesier haben gelernt, wie man patrouilliert, wie man gefälschte Pässe erkennt und verdächtige Personen befragt, wie man Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras bedient, wie man die Seegrenzen kontrolliert, wie man Bootsflüchtlinge rettet und Schleuser auf See verhaftet.

Die Ausrüstung liefert Deutschland gleich mit: Lastwagen, Pick-ups und Schnellboote für Patrouillen, Anhänger mit Lichtmasten zum Überwachen der Grenze bei Nacht, Tausende Gefechtshelme und Splitterschutzwesten, Hunderte Schutzbarrieren und Fernrohre, Dutzende Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräte.
Bald sollen für die tunesisch-libysche Grenze auch Dingos geliefert werden, gepanzerte Fahrzeuge der Bundeswehr. Außerdem haben die Deutschen den Tunesiern ein Dokumentenprüflabor geschenkt, mit dem sie gefälschte Pässe erkennen können, für rund 250.000 Euro. Die Schnellboote, die Deutschland der tunesischen Küstenwache gratis überlässt, kosten jeweils 300.000 Euro.

Allein in diesem Jahr hat Deutschland einen zweistelligen Millionenbetrag in Tunesiens Grenzschutz investiert. Und das ist erst der Anfang: Die Hilfe soll bis mindestens 2020 weiterlaufen.
Auch Frankreich, Großbritannien und Italien unterstützen Tunesiens Grenzbehörden mit Millionen, ebenso die EU. In den kommenden Jahren will sie unter anderem drei große Kasernen für die Grenzer bauen.

Die tunesische Regierung muss für all das keinen einzigen Cent ausgeben. Die Ausrüstung ist ein Geschenk. Und das Geschenk ist Teil eines großen Plans. Der Plan kommt aus Berlin.

Einen Monat vor seiner Reise nach Tunesien sitzt Frank Vornholt im Büro seines Chefs im Bundesinnenministerium in Berlin-Moabit. Vornholts Chef heißt Helmut Teichmann, er ist Leiter der Abteilung Bundespolizei – die rechte Hand des Innenministers beim Thema Grenzschutz.

Teichmann, ein Mann mit Bürstenschnitt und fester Stimme, legt eine laminierte Landkarte von Nordafrika auf den Tisch. „Die Verhinderung der illegalen Migration beginnt nicht erst an unseren Binnengrenzen“, sagt er, „wir müssen uns auf die Transitstaaten zubewegen.“
Während er das sagt, fährt Teichmann mit dem Zeigefinger die Länder am südlichen Rand des Mittelmeers ab. Einige sind blau eingefärbt: Ägypten, Tunesien, Marokko. Dorthin hat Deutschland Polizeibeamte entsandt, die bei der Bewachung der Grenzen helfen sollen. In Tunis hat die Bundesregierung vor einem Jahr sogar ein Verbindungsbüro für ihre Polizisten eröffnet. Ginge es nach Teichmann, wäre auf dieser Karte bald ganz Nordafrika blau.

Die Bundesregierung will Flüchtlinge stoppen, bevor sie Europa erreichen. „Vorverlagerungsstrategie“ nennt Teichmann das. Die Strategie ist längst zur Staatsräson geworden, europaweit: Spanien und Italien schicken seit Jahren Technik, Trainer und Milliarden von Euro nach Nordafrika, um Migration zu verhindern.

Die EU unterstützt selbst Diktaturen wie den Sudan mit Geld, um Flüchtlingen den Weg zu versperren. Mit etlichen afrikanischen Staaten verhandelt sie Rückübernahmeabkommen, um Flüchtlinge, die es doch aufs Meer geschafft haben, zurück nach Afrika zu bringen.
Eine Schlüsselrolle könnte dabei Tunesien spielen: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel regte kürzlich an, mit dem Land einen ähnlichen Deal zu schließen wie mit der Türkei. Die war lange auch ein Transitland für Flüchtlinge. Jetzt hat sie sich verpflichtet, ihre Küsten streng zu bewachen. Und vor allem: Flüchtlinge, die es nach Europa schaffen, wieder zurückzunehmen.

Ein neuer Eiserner Vorhang entsteht

Wegen dieses Deals kommen zurzeit kaum Menschen aus dem Nahen Osten in die EU. Aus Afrika aber fliehen sie weiter. Die meisten von ihnen legen in Libyen ab, Tunesiens östlichem Nachbarstaat. Das Land ist vom Bürgerkrieg zerstört. Es gibt dort keine verlässliche Grenzpolizei, die man ausrüsten, keine stabile Regierung, mit der man Abkommen schließen könnte.

Was aber wäre, wenn die Menschen, die vor der libyschen Küste von europäischen Rettungsschiffen geborgen werden, künftig nicht mehr nach Italien gebracht würden, sondern nach Tunesien?

Eigentlich hat Tunesien kein Interesse daran, Fremde ins Land zu lassen. Das Land wird von Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) bedroht, die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Doch auch die Türkei hatte sich anfangs gegen ein Flüchtlingsabkommen gesperrt. Dann versprach die EU Geld und politische Zugeständnisse. Schließlich willigte die türkische Regierung ein.
© ZEIT-Grafik

Teichmann tippt auf die Nordafrikakarte. „Die EU müsste bereit sein, auch Länder wie etwa Tunesien für die Aufnahme von Flüchtlingen finanziell großzügig zu unterstützen“, sagt er.

Mitte Oktober trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU, um zu beraten, wie sie Menschen, die aus Afrika nach Europa fliehen, aufhalten könnten.
Sie legten fest, dass Länder, die Flüchtlinge zurücknehmen und ihre Grenzen gut bewachen, mehr Entwicklungshilfe bekommen sollten. Jenen Staaten, die das nicht tun, soll Geld gestrichen werden.

Ein neuer Eiserner Vorhang entsteht vor den südlichen Toren Europas. Beschlossen haben ihn die Staats- und Regierungschefs der EU. Errichtet wird er unter anderem von europäischen Rüstungskonzernen, nicht nur in Tunesien. Das französische Unternehmen Thales etwa hat an 25 afrikanische Staaten ein elektronisches System für Passkontrollen geliefert, zum Teil subventioniert von der EU.
Der italienische Konzern Leonardo-Finmeccanica produziert Aufklärungsflugzeuge für die Seeüberwachung in Nordafrika, Rheinmetall baut in Afrika eine Fabrik für Panzerwagen auf, mit denen man an der Grenze patrouillieren kann.
Auch die Rüstungssparte des Airbus-Konzerns, der zu gut elf Prozent dem deutschen Staat gehört, verdient an den neuen Grenzen. Im vergan-genen Jahr hat die deutsche Regierung etliche Airbus-Produkte an die tunesische Grenzpolizei verschenkt: Nachtsichtgeräte vom Typ Night Owl M, Wärmebildkameras, Hightechfernrohre und Radarsysteme.
Früher verdienten die Rüstungskonzerne an der Grenze zwischen Ost und West. Heute verdienen sie an der Grenze zwischen Nord und Süd.

Ob sich Tunesien darauf einlässt, die Flüchtlinge, die in Libyen starten, für Geld und Geschenke an seine Küste zu holen, ist noch nicht klar. Die Grenzschutzausrüstung der Deutschen nimmt die tunesische Regierung aber schon einmal dankend an – vor allem um sich vor Terroranschlägen zu schützen. Kämpfer des IS hatten im vergangenen Jahr an einem Badestrand in Sousse und in einem Museum in Tunis um sich geschossen, seitdem fürchtet das Land weitere Angriffe. Bei den Anschlägen kamen vor allem Urlauber ums Leben.
Nun liegt der Tourismus brach, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes, die Strände sind fast leer. Im März dieses Jahres fielen dann auch noch mehr als 60 IS-Kämpfer in die tunesische Grenzstadt Ben Gardane ein. Sie kamen aus Libyen. Deshalb errichten die USA an der tunesisch-libyschen Grenze nun eine moderne Grenzanlage. Deutschland steuert die Technik für ein mobiles Überwachungssystem bei.

Tunesien hat in Deutschland einen wichtigen Partner im Kampf gegen den Terror gewonnen – und Deutschland hofft auf einen verlässlichen Helfer bei der Abwehr von Flüchtlingen. Während vor einigen Jahren noch Tausende Menschen von der tunesischen Küste ablegten und in kleinen Holzbooten nach Europa fuhren, wagt heute kaum mehr jemand die Überfahrt. Grenzschützer patrouillieren vor der tunesischen Küste. Darauf hatten anfangs vor allem die Italiener gedrängt und Geld dafür gegeben.
Nun aber unterstützt auch Deutschland die Offiziere der tunesischen Küstenwache.

In der Neustädter Bucht an der deutschen Ostseeküste kann man ihnen beim Training zuschauen. An einem kalten Oktobermorgen preschen dort zwei rote Schnellboote über die Wellen. Der Himmel ist dunkelgrau, der Nieselregen kommt von der Seite. Auf den Schnellbooten stehen tunesische Grenzschützer, sie tragen die dunkelblauen Regenanzüge der deutschen Bundespolizei, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie halten auf ein Schiff zu, das wenige Meter vor ihnen fährt. Der Außenborder röhrt, es riecht nach Benzin, dann prallt die Gummischnauze des Schnellboots gegen die Bordwand. Der Tunesier am Steuer hebt die Hand, die anderen schwingen sich über die Reling, stürmen das Schiff. Dort kriegen sie einen Mann zu fassen, drücken ihn an die Wand, fesseln seine Hände mit Handschellen. Dann tragen sie den Gefangenen vom Schiff, hieven ihn auf das Schnellboot und drehen wieder ab.

Tunesien wird zur Türkei Nordafrikas

Hier, im Maritimen Trainingszentrum der Bundespolizei in Neustadt in Holstein, üben die Tunesier, wie man feindliche Boote entert, Boote von Menschenschmugglern zum Beispiel. Zwei Wochen werden sie kostenfrei unterrichtet, dann fliegen sie zurück nach Tunesien.

Mithilfe der Bundespolizei soll Tunesien zur Türkei Nordafrikas werden, zum vorgelagerten Grenzposten der Bundesrepublik. Bis vor Kurzem hatten sich die Polizeiausbilder vor allem um die Unterstützung der Sicherheitsbeamten in Afghanistan gekümmert, auch Frank Vornholt war mehrmals in Kabul, er hat dort Generäle beraten.
Damals hieß es, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Heute müsste der Spruch anders lauten: Deutschlands Grenze wird auch am Mittelmeer geschützt.

Noch immer wagen jeden Monat Tausende Menschen die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer, sie fliehen vor Kriegen, Gewalt und Armut. Vor wenigen Wochen wurden auf der Route von Libyen nach Italien an einem einzigen Tag mehr als 6.000 Flüchtlinge aus dem Wasser geborgen und nach Italien gebracht, so viele wie nie zuvor.
Mehr als 3.000 Menschen sind allein in diesem Jahr auf der Route gestorben – ebenfalls so viele wie noch nie.

Helmut Teichmann, der Abteilungsleiter aus dem Innenministerium, glaubt, dass noch viel mehr Menschen fliehen werden. Er blickt auf die Landkarte von Nordafrika und setzt den Zeigefinger auf einen Staat südlich von Tunesien: Niger. „In Niger hat im Schnitt jede Frau über sieben Kinder“, sagt er. „Der Kontinent explodiert bevölkerungsmäßig.“
Auch deshalb, sagt Teichmann, würden künftig mehr Afrikaner nach Europa aufbrechen, mag die Überfahrt noch so gefährlich sein. „Solange die Tür auch nur ein Stück breit aufsteht, werden sie es versuchen.“

Teichmann soll diese Tür schließen. Deshalb schickt er den Beamten Frank Vornholt nach Tunesien.

Während seiner Reise dort spricht Vornholt mit Offizieren der Grenzpolizei und mit Beamten des tunesischen Innenministeriums. Er schüttelt Hände, klopft auf Schultern, trinkt höflich den bitteren Kaffee, den ihm die Tunesier in verzierten Tässchen servieren. Er besucht das Verbindungsbüro der Bundespolizei in Tunis, einen Wachposten an der tunesisch-algerischen Grenze und eine Polizeidienststelle in der Provinz Jendouba.
Die Dienststelle ist ein zerfallener Kolonialbau mit bröckelndem Putz und zersplitterten Fliesen. Drinnen steht ein Sofa, aus dem der Schaumstoff quillt, draußen picken Hühner im Staub. Im kommenden Jahr soll das Gebäude renoviert und vergrößert werden. Die Kosten von rund 900.000 Euro trägt der deutsche Staat.

Jochen

Europas bittere Medizin – Kannibalisierend aus der Krise

Featured Image -- 3933Guter Überblick, der einige Motive erklärt. Um von inneren Spannungen abzulenken, hat es schon immer gepasst, nach außen Krieg zu führen. Auch die Wirtschaft des deutschen Nationalsozialismus war ohne ständige Eroberungen und Raubzüge gegen die Industrie, die Banken und die wohlhabenden Bevölkerungsschichten der überfallenen Länder nicht denkbar.
Soll die EU dieses Prinzip wieder aufleben lassen, nachdem in den neuen Ländern Osteuropas nichts mehr zu holen ist ?

Neue Debatte

Die Europäische Union als Entwurf der führenden Nationalstaaten und deren wichtigsten Kapitalfraktionen ist an ihre Grenzen gestoßen.

Ursprünglichen Post anzeigen 1.069 weitere Wörter

Messie beim Verfassungsschutz ? Wie die Aufklärung über die Verbrechen des NSU und die »Unfähigkeit « der Sicherheitsbehörden gesteuert wird

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es stinkt weiterhin zum Himmel, was das Neue Deutschland da herausgefunden hat:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1014041.die-story-vom-messie-beim-verfassungsschutz.html

Auszüge:

Solide Arbeit, Verfassungsschutz! Fast wäre der NSU-Skandal aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein entschwunden.
Dass dann die Kanzlerin, die vollständige öffentliche Aufklärung versprochen hat, als Lügnerin dastehen würde, scheint man allerorten locker hinnehmen zu können.

Das mit dem NSU bereut der Verfassungsschutz gewiss sehr. Warum? Vor allem deshalb, weil der Geheimdienst seit Auffliegen der rechtsextremistischen Terrorgruppierung im November 2011 pausenlos mit Anfragen vor allem aus Parlamenten sowie Recherchen der Medien gepeinigt wird.
Dabei hat man doch ganz andere Ziele: Islamismus-Abwehr, Cyber-Abwehr, mehr Zusammenarbeit mit den Diensten in der NATO und der EU.

Anfang des kommenden Jahres wird das Oberlandesgericht in München sein Urteil über die als Täter oder Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrundes Angeklagten sprechen. Der NSU wird dann mit einiger Sicherheit auf eine Person zusammengeschmolzen sein: Beate Zschäpe. Die Öffentlichkeit wird einen Haken hinter den Skandal machen. Erledigt.
Die Geheimdienste gehen, dank neuer Kompetenzen und Möglichkeiten, gestärkt aus dem von ihnen wesentlich zu verantwortenden Unheil hervor.
Wie aber sichert man bis dahin, dass all jene, die den NSU-Skandal im Interesse der Demokratie und des Rechtsstaates wirklich aufklären wollen, nicht noch mehr Nahrung erhalten? Wie verhindert man, dass die Verquickung von Verfassungsschutzspitzeln mit dem NSU-Umfeld nicht noch deutlicher wird?

Durch Köder offenbar. Der Geheimdienst wirft sie aus. Einer heißt Thomas Richter, Deckname »Corelli«. Der seit Jahren abgeschaltete V-Mann wurde am 7. April 2014 tot in seiner Wohnung im Paderborner Stadtteil Schloss Neuhaus gefunden. Offiziell starb er an einem hyperglykämischen Schock in Folge einer unerkannten Diabetes. Offenbar schon drei Tage, bevor ihn Verfassungsschutzagenten besuchen wollten.
Es war absehbar, dass die Nachricht zum medialen Ereignis wuchs. Verschiedene Untersuchungsausschüsse beschäftigten sich mit dem Fall, das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages setzte den Sonderermittler Jerzy Montag ein. Der und die Staatsanwaltschaft kamen aufgrund der Obduktion und des laborchemischen Gutachtens zum Schluss, dass der Tod ein natürlicher war. Es gebe keine Substanz, die eine solche Hyperglykämie mit Todesfolge auslösen könnte.

Genau das aber hat der Gutachter am Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen zurückgenommen. Also gibt es wieder mehr Raum für Verschwörungstheorien? Das muss nicht sein. Für seriöse Nachfragen aber muss Platz sein.

Thomas Richter war 18 Jahre lang Spitzel in der rechtsextremen Szene. Er war bundesweit bestens vernetzt, galt als Fotograf der rechtsextremistischen Szene, fertigte auch bei Demonstrationen jede Menge Bilder vom politischen Gegner an.
Verstorben ist er, kurz bevor er zu einer CD befragt werden konnte, die den Titel NSU/NSDAP trug. »Corelli« hatte sie bereits 2005 seinem V-Mann-Führer übergeben. Doch der Dienst konnte damals nichts anfangen mit dem Begriff NSU. Als das herauskam, hieß es: Ein Skandal! War der womöglich geplant?

Corelli musste abgeschaltet werden, weil der damalige Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stallknecht, ihn hochgehen ließ. Eine Ungeschicklichkeit. Wahrscheinlich.
Corelli wurde versteckt, unter anderem in den Niederlanden. Sein V-Mann-Führer schlug vor, mit dem Ex-Spitzel zusammenzuziehen. Das offenbart eine geradezu intime Nähe der beiden und damit einen weiteren Skandal.

Seit Anfang Mai nun weiß man, das bereits im vergangenen Sommer im Panzerschrank dieses V-Mann-Führers ein »privates« Handy von »Corelli« gefunden wurde. Darauf sollen Tausende Fotos und zahlreiche Adressen von Szenemitgliedern sein. Keiner kennt sie – außer dem Geheimdienst, aber es heißt: Skandal!
Drei Wochen später findet man nicht nur die SIM-Karte dieses Handys, sondern vier weitere, die mit dem V-Mann zu tun haben. Es heißt, der V-Mann-Führer sei »ein Messie«, in seinem Panzerschrank sehe es aus, »wie bei Hempels unterm Sofa«. Unordnung im Bundesamt? Der Skandal im Skandal!
Nun verweigert das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Untersuchungsausschuss in NRW die Befragung des V-Mann-Führers von »Corelli«. Man ahnt, das Thema schlägt wieder mediale Wellen.

Lauter Skandale um Corelli, die die Aufmerksamkeit immer wieder auf ihn lenken. Aber was hat Richter alias Corelli wirklich mit dem NSU zu tun gehabt?
Nach allen Erkenntnissen bisher gibt es gerade mal zwei Hinweise auf Berührungspunkte. 1995 traf er Uwe Mundlos während seines Grundwehrdienstes bei der Bundeswehr in Thüringen. Vermutlich deshalb steht Richter auf einer Adressliste, die 1998 in einer Bombenbastler-Garage des späteren NSU-Trios in Jena gefunden wurde.
Und: Corelli hat das rechtsextreme Szene-Magazin »Der Weisse Wolf« unterstützt. Gleichzeitig legte er dieses dem Verfassungsschutz vor, womöglich nur, um seinen Unterhalt als Spitzel zu rechtfertigen.
Und: In der Ausgabe 18/2002 war nach einer Mitteilung über eine Spende des Nazitrios aus Zwickau zu lesen: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter…«

Es wäre überraschend, wenn da noch mehr »NSU-Nähe« herauskäme. Ist der tote »Corelli« also nur der Köder, mit dem von anderen Verfassungsschutz-»Pannen«, also beispielsweise von einem V-Mann namens »Primus« abgelenkt werden soll?

Dieser »Primus«, Deckname für Ralf Marschner, stammte aus Zwickau, war dort die Nazi-Größe schlechthin. Er hatte offenkundig intensiven Kontakt zum Trio, zu Unterstützern aus dem Blood&Honour-Netzwerk in Sachsen zum »Fußballprojekt« Hooligans-Nazis-Rassisten (HooNaRa). Auf einem Rechner des V-Mannes fand sich die Paulchen-Panther-Melodie.
Auch auf der Bekenner-CD des NSU ist diese zu hören, doch Marschners Musikgeschmack ist eigentlich ein anderer. Das beweist er als Sänger der Nazi-Band »Westsachsengesocks« und Verkäufer der Landser-CD.
Ein Zeuge hat ihn zusammen mit den inzwischen toten NSU-Killern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Greiz gesehen, andere Aussagen deuten darauf hin, dass »Primus« Uwe Mundlos in seiner Baufirma beschäftigt hat und Beate Zschäpe womöglich in einem der Szeneläden Marschners aushalf.
Bauservice-Marschner, der fast ausschließlich von Aufträgen eines Scientology-Mannes lebte, arbeitete überraschenderweise zu den passenden Zeiten an Orten, die jenen nicht fern sind, an denen Migranten vom NSU umgebracht worden sind.
Im Sommer 2007, also nach der vermutlich letzten und fragwürdigsten Mordtat des NSU, bei der die Polizistin Michele Kiesewetter umkam, verschwand »Manole« Marschner urplötzlich und lebt seit 2008 – nein, nicht in den Niederlanden – sondern in der sicheren Schweiz.

Die Kette der Indizien ist gewiss lückenhaft, weil der Verfassungsschutz keine Akten zu »Primus« an den Untersuchungsausschuss liefert.

Also hielten sich die Abgeordneten an das Bundeskriminalamt (BKA), das im Auftrag des Generalbundesanwaltes seit dem 11. November 2011 mit den NSU-Recherchen betraut ist.
Die lange Befragung eines BKA-Mitarbeiters vor dem Berliner Ausschuss am Donnerstag offenbarte erschreckende Inkompetenz der obersten Kriminalpolizeibehörde. Und zugleich Zweifel daran, dass das BKA wirklich so naiv und faul ist. Der junge Oberkommissar hat sich intensiv mit den Brüdern und dem Ehepaar Eminger beschäftigt. Die hatten nachweislich engste Kontakte zu Marschner und zu Zschäpe. Doch der Kriminalist war von erschreckender Ahnungslosigkeit.
Vielleicht deshalb: Vor einer anderen Befragung von Marschner durch einen Schweizer Staatsanwalt, die der junge Kollege vorbereiten musste, hatte man ihm im Vertrauen klargemacht, dass Marschner ein V-Mann des Verfassungsschutzes war.

Den NSU-Ausschussvorsitzenden Clemens Binniger (CDU), von Hause aus Kriminalist, wundert nun vermutlich nicht mehr, dass die Vernehmung im schweizerischen Chur so zaghaft und wenig ergiebig verlief. Wie sein Partei- und Polizeikollege im NSU-Ausschuss Armin Schuster erfragte, interessiert sich das BKA erst jetzt, also fast fünf Jahre nach dem Auffliegen des NSU, etwas genauer für das Firmengeflecht von Ralf Marschner.
Vor allem die Baufirma erweckt den Eindruck, als sei sie ein »Honigtopf« des Geheimdienstes gewesen, um harte Nazis via V-Mann-Marscher im Blick zu behalten. Dass unter den Beschäftigten, die allesamt gegenüber dem BKA – wie das Amt meint – glaubhaft versicherten, dass sie in Zwickau nie einen vom NSU-Trio gesehen haben, »schwere Jungs« waren, lässt sich bei einem Blick ins polizeiliche Informationssystem in Sekundenschnelle herausfinden.
Einer der »Bauarbeiter« wohnte sogar direkt gegenüber den NSU-Killern in der Zwickauer Polenzstraße, doch hat er das Trio »nie bewusst« gesehen. Das BKA hatte dazu trotzdem keine Nachfragen.
Interessant wäre allerdings auch, wieso man die sächsische Polizei soeben gebeten hat, über 20 Jahre alte Meldebögen durchzusehen. Es gehe um neue Alias-Namen, mehr hat man den Kollegen vor Ort, die diese Arbeit per Hand ausführen müssen, nicht mitgeteilt.

Dass Marschner – wie die Linksfraktions-Obfrau Petra Pau – nachwies, als »Rolf Rollig« noch immer über Facebook ganz ungeniert Kontakte zu Kameraden hält, rief bei den angeblich kundigen Ermittlern Verwunderung hervor. Dabei hätten auch sie mühelos die Nachricht an einen Kumpan vom 18. November 2011 finden können: »Trink ordentlich. Heil NSU. Hahaha«

Von der Regierungsbank wurde am Donnerstag im Ausschuss übrigens angedeutet, dass man »schon« in drei Wochen Material zu Marschner übermitteln könnte. Klar, dann ist das Thema »durch« beim Bundestags-Untersuchungsausschuss.
Also wird man dort weiter an vorgeworfenen »Corelli«-Knochen nagen?

Der Geheimdienst versteht seinen Job.

Jochen

Desinformationskampagnen – Ein Erlebnisbericht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

In Gänze lesenswerter Text, auf den die NachDenkSeiten hingewiesen haben.
Passt zu meinem Referat über Manipulation und Meinungsmache.
Mit ausführlichen Kommentaren hier im Blog::
http://logon-echon.com/2016/03/27/desinformationskampagnen/
Auszüge:

Es geht wieder mal ein Gespenst um in Europa. Dieses Mal gruselt es Deutschland ganz besonders, aber auch die EU ist voller Furcht. Das Gespenst trägt den Namen russische Desinformation oder auch russische Propaganda. Die EU und die Bundesregierung rufen ihre Geisterjäger von BND und Verfassungsschutz, gründen sogar eine eigene Geisterjägertruppe, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Die Hysterie wird auf ganz großer Flamme gekocht, immer mehr Zutaten werden in den Topf geworfen, der täglich weiter angeheizt wird.
Putins Trolle seien überall, in den Foren der Nachrichtenmagazine, man macht ganze Trollfabriken ausfindig, es wird suggeriert, sie seien in Organisationen wie der Publikumskonferenz, sie betrieben subversive Blogs und bombardierten mit russlandfreundlichen Parolen die sozialen Netzwerken.

Nun betreibe auch ich einen Blog, der ausgesprochen freundlich von Russland spricht, und meine Texte werden vielfach geteilt. Entsprechend häufig bekomme ich den Vorwurf gemacht, ich sei ein Kreml finanzierter Troll, der die Desinformationskampagnen Russlands unterstützt.

Da ist zum Teil etwas Wahres dran, denn tatsächlich sind Desinformationskampagnen ein zentraler Motor meines Schreibens. Wer meinem Blog folgt, bekommt über meine Motivation Auskunft.

Vor drei Jahren noch war ich braver, systemkonformer Putin-Gegner. Schrecklich, was da alles passiert in diesem dunklen Russland, das eingeklemmt ist zwischen orthodoxer Kirche und rückwärts gewandter Politik eines homophoben, sein Volk aller Freiheiten beraubenden Diktators. Schauprozesse, unterdrückte Presse, Gewalt gegen Schwule und Lesben, ein eigenes Gesetz sogar, das die Gewalt gegen Minderheiten festschrieb. Einfach entsetzlich.

Aber irgendwann war es mir dann so, als würde doch etwas zu dick aufgetragen. Es waren Meldungen wie die, dass Bundespräsident Gauck diplomatische Verwicklungen riskiert und seinen Besuch bei den Olympischen Spielen in Sotchi aus Sorge um die Schwulen und Lesben absagte.
Die Inkarnation des deutschen Opportunismus wirft sich schützend vor eine Minderheit?
Irgendwie war das ein bisschen zuviel, um glaubhaft zu sein. Es wurde mir klar, ich musste da selbst mal gucken gehen. Hinfahren also und einen Sprachkurs machen. Genau das habe ich dann auch getan.

Was soll ich sagen? Das, was ich fand, war so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was in den deutschen Medien berichtet wurde. Überall Lebenslust und Lebensfreude, aufgeklärter Hedonismus, politisches Bewusstsein, tief in der Gesellschaft verwurzelte Solidarität, eine große queere Szene mit einer funktionierenden Infrastruktur.

Schon nach einem verlängerten Wochenende war mir klar: Ich war angelogen worden.
Es war ganz schlicht und einfach: Ich war von meiner Regierung und meinen Medien hinters Licht geführt worden. Sie hatten mich belogen. Da gibt es gar nichts zu beschönigen. Und ich habe ihnen viel zu lange geglaubt.
Ich hatte gedacht, manches mag vielleicht nicht ganz so stimmen, manches könnte man eventuell auch anders sehen, aber im Großen und Ganzen wäre es schon richtig, schließlich arbeiteten hier gut bezahlte und gut ausgebildete Journalisten. Allein an die Möglichkeit einer ganz großen Lüge war ich noch nicht reif zu glauben.
Jetzt bin ich es und ich kann auch nicht mehr zurück.
Ganz offensichtlich wird von deutscher, von westlicher Seite eine gezielte Desinformationskampagne gegen Russland und damit auch gegen die eigene Bevölkerung geführt.

Ich musste, das war mir nach meinem ersten Besuch klar, wieder nach Russland, musste mein Engagement intensivieren, musste der Anti-Aufklärung aus Deutschland, Europa und den USA etwas entgegensetzen.

Es war und ist immer noch wie aufwachen. Aus einem Traum aufwachen, den man für wahr gehalten hat, und sich in der Realität wiederfinden, die vielfältiger und reicher ist, als jeder Traum es sein kann.

Wie ein Schwamm sauge ich inzwischen alles auf, was mit Russland zu tun hat. Ich höre russische Popmusik, schaue russische Filme und Serien, lese russische Nachrichten.
Und immer noch überprüfe ich alles, was hier über bei uns über Russland erzählt wird. Es könnte ja sein, dass ich etwas übersehen. Meinen zentralen Vorwurf musste ich bisher nicht korrigieren. Wir werden hier falsch informiert und es steckt Absicht dahinter.

Es sind lauter kleine Erlebnisse der Überführung der westlichen Propaganda, die meine Faszination und meine Liebe zu Russland aufrecht erhalten. Bei meiner zweiten Reise nach Moskau beispielsweise unterhielt ich mich über den Einfluss der orthodoxen Kirche. Ja, der sei schon gewachsen in den letzten Jahren.
Wie das denn aussähe wollte ich wissen. Es würden einfach immer mehr Leute in die Kirche gehen, bekam ich zur Antwort. Und nein, so was wie eine Kirchensteuer gäbe es nicht. Und Krankenhäuser und Kindergärten würde die Kirche auch nicht betreiben, das sei alles staatlich. Nein, die Kirche sei kein wichtiger Arbeitgeber. Es gäbe sowas wie Armenspeisung, das sei aber eher symbolisch, weil dafür auch der Staat zuständig sei.

Ich habe das überprüft, es stimmt alles. In der Mitte Moskaus beispielsweise steht die Christ-Erlöser-Kathedrale. Sie ist das Zentrum der russischen Orthodoxie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie originalgetreu wieder aufgebaut, denn sie wurde unter Stalin abgerissen und durch ein öffentliches Schwimmbad ersetzt. Die finanziellen Mittel für den Wiederaufbau kamen ausschließlich aus Spenden, staatliche Gelder flossen nicht.
Das ist in Deutschland nachweislich anders. Da werden aus Steuermitteln Kirchen saniert.

So sieht er also aus, der wachsende Einfluss der orthodoxen Kirche: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehen wieder mehr Menschen in die Kirche. Das ist wirklich angst einflößend und muss hier dringend auf die Nachrichtenagenda gesetzt werden.
Dabei ist Russland weit von der Verflechtung von Staat und Kirche entfernt, wie er in Deutschland üblich und meines Erachtens zutiefst übel ist.

Ich habe die Krim besucht. Nach deutschen Medien sollte es dort nach dem Anschluss an Russland ganz schrecklich sein. Sich ausbreitende Armut, Inflation, Unsicherheit, ausbleibende Touristen und unterdrückte Tartaren, so sähe es da jetzt aus. Nur ein paar alte Sowjetspinner würden da hinfahren, in Nostalgie schwelgen und vom wiederaufleben der Sowjetunion träumen.
Nichts davon ist auch nur annähernd wahr. Die Hotels gut gebucht, die Strände voll, die Tataren integriert. Sie arbeiten als Taxi- und Busfahrer und betreiben Restaurants und Cafés in touristischen Ausflugszielen wie dem Berg Aj Petri. Systematische Unterdrückung sieht anders aus.

In Zusammenhang mit der Krim wird in den deutschen Medien immer das Wort Annexion gebraucht, möglichst häufig, versteht sich, damit auch der letzte versteht, dass Russland Unrecht begangen hat.
Nur trauert auf der Krim der Ukraine wirklich niemand hinterher, denn allen ist klar, die Alternative zu subtropischem Ferienidyll wäre ein tobender Bürgerkrieg. Auch die Wiederholung des Wortes, macht es in diesem Zusammenhang nicht wahrer. Man muss das Selbstbestimmungsrecht der Völker völlig negieren, um im Zusammenhang mit der Krim den Begriff der Annexion aufrecht erhalten zu können. Die USA halten im Hinblick auf die Krim diese Interpretation des Völkerrechts übrigens für richtig.
Und wer jetzt meint, mit den freundlichen grünen Männern argumentieren zu müssen, deren Anwesenheit Putin doch schließlich doch zugegeben hat, dem sei gesagt, dass er auch da wieder auf einen Propagandatrick reingefallen ist. Die Anwesenheit russischen Militärs wurde nie und zu keinem Zeitpunkt geleugnet, das wäre auch ziemlich unsinnig gewesen, schließlich war Sewastopol auch während der Zeit der Zugehörigkeit der autonomen Republik Krim zur Ukraine ein russischer Stützpunkt. Allerdings wurden die vertraglich zugesicherten Obergrenzen nie ausgeschöpft und der Nachweis, die Anwesenheit von einzelnen und kleinen Gruppen von russischen Soldaten wäre befehligt gewesen, kann eben nicht geführt werden. Der Anschluss der Krim an Russland verlief friedlich und folgte dem bekundeten Interesse der Bewohner der Krim.

Ursprünglicher Kristallisationspunkt meiner Auseinandersetzung mit Russland aber war das Anti-Gay-Propaganda-Gesetz, das hier im Westen für großen Wirbel gesorgt hat und immer noch sorgt.
Das Gesetz ist Mist, das steht außer Frage, allerdings werden seine Folgen für die queere russische Community völlig übertrieben und es wird auch die eigene Geschichte dabei völlig ausgeblendet.
Es war Margaret Thatcher, die mit der Clause 28 im Jahr 1988 eine Verwaltungsvorschrift erlassen hat, die positive Berichterstattung über gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Schulen, Gemeinden, kurz dem öffentlichen Raum untersagte. In Deutschland forderten konservative Politiker ähnliches.
Die Clause 28 ist praktisch die Blaupause zum russischen Gesetz. Sie war übrigens bis 2003 in Kraft.
Es ist also noch keine 15 Jahre her, dass beispielsweise den Briten vom Saulus zum Paulus gewendet ganz tugendhaft die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte der Schwulen und Lesben am Herzen liegen.
Die Clause 28 wie auch Internierungsgedanken des damaligen bayerischen Gesundheitsministers Peter Gauweiler fielen auch nicht einfach vom Himmel, sondern waren eine Reaktion auf die Aids-Krise, die plötzlich in grausamer Weise Homosexualität sichtbar gemacht hat. Es sind einfach viele gestorben.
Gleichzeitig war die Clause 28 und die konservative Diskussion hier in Deutschland Auseinandersetzung mit Pop- und Jugendkultur. Denn ebenso plötzlich wie durch Tod die Verbreitung von Homosexualität in der Gesellschaft sichtbar wurden, war in der Pop-Kultur nämlich plötzlich alles schwul, lesbisch, androgyn, trans.
Das hat wenig verwunderlich konservative Reaktionen ausgelöst. Erst die Rap-Bewegung mit ihren tief konservativen Repräsentanten wie Bushido, Moses Pelham und Sabrina Setlur brachten musikalisch das durcheinander gewirbelte Geschlechterverhältnis wieder in spießige Ordnung und die Diskussion war vorbei.

Mein Blog dient daher auch dazu, über die Entwicklungen in der russischen Pop-Kultur zu berichten, denn dort geht es wie bei uns in den 80-ern und beginnenden 90ern wundervoll bunt und queer zu. Das nimmt man hier nur leider nicht zur Kenntnis.

Eine Argumentation über gesellschaftliche Entwicklungen erklärt aber eine konservative Reaktion der russischen Gesellschaft viel besser und tiefer als das deutsche Geschreibsel von einem homophoben Diktator und schwachsinnige Meldungen, wie die, in Russland dürften Transsexuelle keinen Führerschein besitzen.
Es wäre Aufgabe einer an journalistischen Prämissen orientierten Berichterstattung gewesen, über genau diese gesellschaftlichen Entwicklungen aufzuklären, anstatt Ressentiments zu schüren und Hass zu erzeugen. Dieses Züchten von Hass geht bis in die queere Community hinein und wird dort mit Inbrunst ausgelebt.

Wenn man nach Russland einreist, dann warnt die weit verbreite schwule Dating-App Scruff. An der sogenannten Reisewarnung ist so ziemlich alles falsch. Schwuler Aktivismus ist in Russland natürlich genauso wenig verboten, wie Versammlungen generell illegal sind.
Die in der Warnung geschürte Angst verhindert Kontakt und Austausch. Perfide.
Man muss es sich eigentlich auf der Zunge zergehen lassen. Eine App aus einem Land, das nachweislich foltert, völkerrechtswidrige Kriege zuhauf führt, Menschenrechte mit Füßen tritt, radikalen Fundamentalismus züchtet und weltweit Chaos verbreitet, eine solche App schwingt sich zum Moralapostel auf und lügt ihren Nutzern die Hucke voll.
Dieser Unwillen zur Aufrichtigkeit und Reflexion ist eine Unverschämtheit. Auf Nachfrage, was das soll, bekommt man einen Textbaustein zurück, der sich für die Nachfrage bedankt. Ansonsten beredtes Schweigen.

Scruff funktioniert in Russland übrigens nicht. Das liegt nicht daran, dass Schwule da alle unterdrückt werden, sondern eher daran, dass sie, wenn sie aus dem Ausland zurückreisen beim Grenzübertritt von Scruff gesagt bekommen, wie scheiße und gefährlich es in ihrem Land ist. So eine Anwendung deinstalliert man, zumal dann, wenn es vorne und hinten nicht stimmt. Den gleichgeschlechtlich liebenden Männern unter meinen Lesern mit Reiseabsichten nach Russland empfehle ich Growlr.

Ich bin kein Freund des Wortes Lügenpresse, weil es politisch instrumentalisiert wird, aber in meiner Auseinandersetzung mit Russland wurde und wird deutlich, wir werden systematisch falsch informiert. Es sind nicht einzelne Ausrutscher oder Akzentuierungen, über die man sich streiten kann. Es sind tatsächlich flächendeckende Fehlinformationen. Es geht gar nicht anders als Absicht zu unterstellen. Es stellt sich freilich die Frage, warum und mit welchem Ziel das alles passiert.

Um dieser Frage nachzugehen, ist das, worüber wir falsch informiert werden zu ergänzen um das, worüber wir überhaupt nicht informiert werden.

Augenfällig ist in Russland, dass überall gearbeitet wird. Überall ist Personal. Viel Personal. Alle arbeiten. In Russland wurden durch die Sanktionen absichtlich eine Wirtschaftskrise herbeigeführt und die Arbeitslosenquote liegt bei 5 Prozent. In der Krise! In den Museen an der Garderobe, viel Personal, in den Sälen viel Personal. In der Metro neben den Automaten besetzte Kassenhäuschen, in den Restaurants, überall viel Personal. In den Zügen hat jeder Waggon einen Zugbegleiter, in den Supermärkten sitzen Kassierinnen an Kassen und warten auf Kunden. Nicht wie bei uns, wo die Kunden schon mal die Waren aufs Band legen und dann auf die Kassiererin warten, die gerade noch ein Regal einräumt, damit auch jede Sekunde Arbeitskraft gewinnbringend ausgenutzt wird. Überall ist in Russland Personal. Alle arbeiten. Viel dieser Arbeiten könnten sofort und ohne viel technischen Aufwand wegrationalisiert werden. Dass es nicht getan wird, ist Absicht.

Und weiter noch: Überall wird gebaut. Kostenintensiv gebaut. Rund um die Uhr, auch an den Wochenenden und Feiertagen. Straßen, Brücken, Häuser, Gleistrassen. Es ist wirklich augenfällig.

Und dann die Armut. Auch das ist augenfällig. Die viel beschriebene russische Armut. Sie fehlt weitgehend. Es gibt sie, aber im Vergleich zu meiner Stadt Berlin ist die öffentlich sichtbare Armut in Moskau verschwindend klein. Und nein, die Bettler werden da nicht von der Polizei abgeführt.

Ich war im Winter dort, bei minus 25 Grad. Das kann man ungeschützt draußen nicht überleben. Ich hätte sie sehen müssen in der Metro, in den Einkaufszentren, an den öffentlich zugänglichen Plätzen, an denen es warm ist. Und ich habe ein Auge dafür, denn es sind meine Patienten, die, mit denen ich hier in Berlin arbeite, die Gescheiterten, Schizophrenen, Süchtigen. Es gibt sie auch in Russland, aber in viel geringerer Zahl. Irgendetwas fängt sie auf, bevor sie ganz tief fallen.

Und ich glaube, das, was sie auffängt, ist Arbeit. Ich werde dem weiter nachgehen, bin mir aber jetzt schon ziemlich sicher.
Mit meiner Vorgesetzten hatte ich darüber eine interessante Diskussion. Sie wurde in der DDR geboren. Sie meinte, ich solle mir keine Illusionen machen, alle meine Patienten, so psychiatrisch auffällig sie auch seien, hätten in der DDR gearbeitet. Auf irgendeiner Stelle wie in einem Kassenhäuschen neben einem Automaten vielleicht, nicht hart und schwer. Aber sie hätten alle gearbeitet und teilgenommen.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen wie absurd unser System ist. Wir haben einen ausschließlich auf Leistung verkürzten Arbeitsbegriff, dem die soziale Komponente von Arbeit geraubt wurde, und sortieren darüber Menschen aus der Gesellschaft aus, die wir dann in sozialpsychiatrischen Einrichtungen unterbringen, die gesellschaftliche Zugehörigkeit über arbeitsähnliche Maßnahmen faken.
Zu wessen Nutzen ist das? Es nutzt denen, die aus Arbeit Gewinn erzielen. Es ist Umverteilung von unten nach oben durch Ausgrenzungen und Entsolidarisierung.

Merkels brandgefährlicher Ausdruck von der marktkonformen Demokratie jedenfalls wäre Putin niemals über die Lippen gekommen. Nicht, weil er kein Demokrat wäre, sondern weil die Marktkonformität die Aufgabe von Demokratie bedeutet.
Man hat bei uns einfach noch gar nicht begriffen, was diese Frau da tatsächlich gesagt hat. Es ist nichts weniger als die Preisgabe des Politischen und Unterordnung aller Interessen unter die Metaphysik des Marktes. Da kann man eigentlich auch Diktatur dazu sagen. Und in dieser Hinsicht sind wir auf einem guten Weg.

Mir scheint, die Koordinaten haben sich einfach verschoben. Während es früher zwischen Ost und West zugespitzt um die Frage Karl Marx oder Adam Smith gehandelt haben mag, handelt es sich heute ganz unzugespitzt um die Frage Keynes oder Hayek. Das ist meines Erachtens der eigentliche Motor hinter dem andauernden Russland-Bashing. Es geht um die Verteilungsfrage.
Russland präferiert offensichtlich ein Wirtschaftssystem, das den Menschen zum Mittelpunkt macht. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen. Bei uns ist es umgedreht. Es ist der Verdienst Putins, den Sozialstaat nach Jelzin wieder hergestellt und den Einfluss der Oligarchen zurückgedrängt zu haben. Es ist weiterhin sein Verdienst, eine Balance zwischen privater und staatlicher Wirtschaft hergestellt zu haben. Es ist sein Verdienst, das Primat der Politik über den Markt wiedererlangt zu haben. Unsere Politik betreibt das Gegenteil. Sie befördert die Aufgabe des Politischen und übergibt Macht an das Kapital.
Dabei ist das russische Modell im Gegensatz zum europäischen Neoliberalismus und der Austeritätspolitik erfolgreich. Europa desintegriert und verarmt. Demgegenüber ist die russische Staatsschuldenquote eine der niedrigsten der Welt und in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs gelang es Russland einen Staatsfund zu schaffen, aus dem es jetzt zehrt und mit dessen Mitteln es die Wirtschaft ankurbelt. Das ist Keynes, der starke, regulierende Staat.

Und gerade als Europäer sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Ein Lebensstandard wie der in Russland wäre für die Menschen in den europäischen Krisenländern eine Verbesserung. Eine deutliche Verbesserung!
Was aber Europa von Keynes und einer auf den Menschen ausgerichteten Wirtschaftspolitik hält, das hat Schäuble mit EU, EZB und IWF im Bunde an Varoufakis und Griechenland vorgeführt.
Russland ist mit seiner Wirtschaftsordnung nicht die Überwindung des Kapitalismus, aber es zeigt seine alternative Form. Doch genau davon schweigt der deutsche Mainstream nicht ganz zufällig. Das alles kommt nicht in den Nachrichten.
Es ist aber wichtig, genau darüber zu berichten. Ein lauterer Journalismus würde das tun.

Wer meint, es ginge in der Auseinandersetzung mit Russland um Menschenrechte, um die Freiheiten von Schwulen und Lesben, der versteht von Geopolitik reichlich wenig. Wer sich hier in eine schwule Bar stellt und es gut findet, dass die den russischen Wodka boykottiert, er sich daher mit finnischem besäuft, beweist tiefe politische Unbildung.
Wer dem Mainstream glaubt, und denkt, Russland hätte die Absetzung von Merkel im Sinn, ebenfalls.
Es geht um Verteilungsfragen und es geht nach wie vor um die Konkurrenz von Wirtschaftssystemen. Wir lassen uns gegeneinander ausspielen.

Die Desinformationskampagnen hierzulande sind äußerst massiv. Ich bin seit zwei Jahren sehr regelmäßig in Russland. Und wenn ich zurück bin, vermisse ich Moskau schon nach wenigen Tagen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich, wenn ich hier von Russland erzähle, ich großes Misstrauen ernte.
In der Regel bekomme ich dann von Menschen, die noch nie in Russland waren und die auch die Sprache nicht sprechen, die auch nie da hin fahren würden, weil es nach allem was man hört da ja schrecklich sein soll, von solchen Menschen bekomme ich dann erklärt, wie es in Russland wirklich zugeht: Unterdrückung der Presse, der Schwulen, Morde an angeblichen Oppositionellen und so weiter und so fort. Da haben die Spin-Doktoren und Think-Tanks wirklich gute Arbeit geleistet. Die Absurdität fällt meinen Gesprächspartnern in der Regel nicht auf. Sie sind sich absolut sicher.

Im Gegenteil. Die Propaganda hier ist so massiv, dass ich Freundschaften verliere. Wegen meiner russlandfreundlichen Position wenden sich Menschen ab. Es wurde absichtlich eine Pogromstimmung gezüchtet, die jede Form anderer Meinung diskriminiert. Wir können gar nicht mehr miteinander sprechen. Wir können uns nur wechselseitig unserer Konformität versichern. Falls das nicht möglich ist, folgt unmittelbar der Kontaktabbruch.
Gegenüber Russland werden medial primitivste Rassismen vorgetragen, die man sich sonst verbietet. Es ist kein Argument zu blöd, um nicht noch gegen Russland ins Feld geführt zu werden. Vor allem die Mittelschicht in der Bundesrepublik ist derart aufgehetzt, dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, eine andere Meinung einfach nur hören und stehen lassen zu können. Dabei vertritt weder die Bundesregierung noch die Europäische Kommission, die NATO oder die USA irgendwelche Interessen, die auch nur annähernd deckungsgleich wären mit den Interessen der deutschen Mittelschicht. Diese in Deutschland herrschende politische Blindheit empfinde ich als einfach nur furchtbar und deprimierend.

Und dann ist da noch etwas, über das die deutschen Medien nicht berichten. Sie berichten nicht über die unglaubliche Wertschätzung, die Russland und Russen gerade Deutschland entgegen bringen.
Das dem so ist, kann man sich hier vermutlich auch gar nicht vorstellen, denn hier wird ja permanent auf Russland eingedroschen. Warum sollten die uns wertschätzen?

Während bei uns das Bild vom primitiven Russen in seiner ganzen rassistischen Varianz medial gepflegt wird, glaubt man in Russland an eine Gemeinschaft mit der deutschen Kultur, die die Jahrhunderte und alle Verwerfungen überdauert.
Dass der zentrale Platz Berlins durch die Jahrhunderte und durch die Systeme nach einem russischen Zaren benannt ist, der eine Freundschaft mit Preußen pflegte, ist jedem meiner Besucher aus Russland untrügliches Zeichen dafür, dass es so ist. Dass die meisten Deutschen nicht wissen, warum der Alexanderplatz Alexanderplatz heißt, wollen meine Freunde dann kaum glauben.

Dabei ist an der Hoffnung meiner russischen Freunde sogar was dran. Angela Merkel und ihre Regierung wird als relativ machtlos und eingeschränkt wahrgenommen. Eingeklemmt zwischen den USA und Konzerninteressen kann diese Regierung nach Auffassung meiner russischen Freunde ohnehin kaum etwas wirklich selbst entscheiden. Vermutlich haben sie recht.
Aber so eröffnen sich auch positive Visionen von Zukunft. Denn wenn man die transatlantische Einklemmung und die erdrückende Umarmung der Lobby abschütteln könnte, dann tun sich Möglichkeiten auf.
Nach wenigen Überlegungen schon ist klar, dass Deutschland als wichtiger Anker in Europa im Zusammengang mit Russland in der Lage wäre einen ewig währenden Frieden zu stiften. Eine Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok, daran angeschlossen und verbunden die BRICS. Ein riesiges Geflecht von Handel und kulturellem Austausch.
Es wäre ein großer Schritt zu dem, was Immanuel Kant in seiner Schrift “Zum ewigen Frieden” beschrieben hat. Es ist genau dieses Angebot, das wir von Russland beständig gemacht bekommen, das hier nie thematisiert wird und das unsere Eliten ohne uns zu fragen mit Vehemenz zurückweisen. Sie hetzen uns lieber gegeneinander auf.
Es ist an uns, Mittel und Wege zu finden, das zu durchbrechen. Das, was die Bundesregierung mit TTIP und ihren Kriegen gegen den Terror, mit Überwachung und Einschränkung von Freiheiten plant, ist nicht in unserem Interesse.
Das was Russland mit BRICS und den alternativen Institutionen zu Weltbank und IWF tut, mit Russlands an Frieden ausgerichteten Politik, sowie der Absicht, der UNO und dem Sicherheitsrat nach seiner Beschädigung durch westliche Politik wieder Leben einzuhauchen, das ist sehr wohl in unserem Interesse.
Wir müssen das wenigstens zur Kenntnis nehmen und diskutieren, bevor wir es eventuell zurückweisen. Dann wüssten wir wenigstens, was wir aufgeben, warum und zu welchem Preis wir es aufgeben.
Mit meinem Blog trage ich dazu bei, die Desinformationskampagnen des Mainstreams zu durchbrechen.
Aus freien Stücken, nicht als bezahlter Troll, sondern weil ich Aufklärer bin.

Auch ich verstehe mich als Aufklärer. Und ich habe einige aus Russland stammende Patienten, die das gleiche über ihre Heimat berichten wie Gert Even Ungar von seinen Besuchen. Mein letzter Besuch in Russland liegt über 30 Jahre zurück, da war Gorbatschow noch als „Mineralsekretär“ an der Macht, es gab überall in Moskau und Leningrad Mineralwasserautomaten mit dem entfernt nach Desinfektionsmittel schmeckenden Leitungswasser aufgesprudelt, und den Wodka musste man nach langem Schlangestehen in speziellen kleinen Läden kaufen.

Kurz nach Jelzins Putsch sank die Lebenserwartung der russischen männlichen Bevölkerung um 10 Jahre.
Jochen

Rieser Friedensbote Nr.4 – März 2016

Rieser_Friedenstaube

Mitteilungen der DFG-VK Nordschwaben

EU und Türkei einigen sich auf Flüchtlingsabkommen

Super, jetzt kann es richtig losgehen. Beide Teile, die EU und die Türkei werden alle Vereinbarungen einhalten. Jetzt ist die Flüchtlingskrise vorüber. Und weil die Türkei so artig ist, bekommt sie ein Bonbon und die Beitrittsverhandlungen gehen in die nächste Runde. Über die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS redet man nicht, denn das ist eine andere Geschichte.  Aus www.contra-magazin.com

Die EU und die Türkei haben sich auf ein Flücht­lingsabkommen verständigt. Das teilte EU-Rats­präsi­dent Tusk am Freitag nach den zweitägigen Beratun­gen in Brüssel mit. Die EU-Staaten und die Türkei hätten das vorgelegte Maßnahmenpaket „einstimmig“ angenommen. Auch die Bedenken Zyperns seien geklärt worden, so Tusk. Erdogan_MerkelDemnach soll die Türkei bereits ab Sonntag in Griechenland illegal einreisende Flüchtlinge zurücknehmen. Im Gegenzug will die EU Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Die Türkei be­kommt dafür finanzielle Hilfen in Milliardenhöhe und Visa-Erleichterungen. Der bisherige Visazwang für türkische Bürger soll ab Juni „unter Auflagen“ gelockert und ein neues Kapitel in den Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU eröffnet werden. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zeigte sich am Freitag im Brüssel zuversichtlich, die Auflagen bis zum Sommer zu erfüllen.

Mein Kommentar: amnesty international nennt das Abkommen unmoralisch und illegal. Der zugrun­de­liegende Plan ist von European Stability Initiative be­reits im Oktober 2015 ausgearbeitet worden, of­fen­bar auch parallel dazu mit einer stategischen Medien­initia­tive, die den Termin der Land­tags­wah­len in Deutsch­land einge­schlos­sen hat, um Merkel dabei zu unter­stützen. ESIDie ESI wird von zahlrei­chen europäischen und amerikanischen Regierungen, CIA-nahen NGOs und Think Tanks, wie beispielsweise der Stiftung Mercator, George Soros´ Open Society Institute, dem Rockefeller Brothers Fund und dem German Marshall Funds finanziert: http://www.esiweb.org/index.php?lang=en&id=156&document_ID=170

Daher muss man hier Fragen stellen:

  • Wer hat den Plan beauftragt?
  • Wer hat das ESI für diese Arbeit be­zahlt?
  • Ist die Bundesregierung nicht auch der Meinung, dass eine In­teressenkollision vorliegt, wenn sie sich Konzepte von einem Think Tank erarbeiten lässt, der auch von amerikanischen Interessengruppen finanziert wird?
  • Meint die Bundesregierung, dass es der demokratischen Praxis entspricht, bei derartig weitreichenden Weichenstellungen nicht nur den Bundestag, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen?

Und natürlich darf hier auch die obligatorische Frage nicht fehlen:

Warum liest, hört und sieht man davon nichts in unseren Qualitätsmedien?

„Sultan vom Bosporus“  – Baut Erdogan die Türkei zu einem osmanischen Sultanat um?

Präsident Erdogan ist ein großer Anhänger des Osmanischen Reiches und träumt davon, die Türkei wieder zu jenem glanzvollen Imperium auszubauen, welches in früherer Zeit von Osteuropa über den Schwarzmeerraum bis nach Persien reichte und sich im Süden auf die arabische Halbinsel und Ägypten erstreckte. Auch vertritt der Anhänger der Muslim-Bruderschaft eine konservativ-islamische Ideologie, welche den seit Atatürk geltenden Laizismus im Land schrittweise wieder aufheben möchte. Dies ist eine Mischung, die zusammen mit seiner starken Persönlichkeit darauf hinweist, dass der politische Weg der Türkei wieder hin zu einem Sultanat gehen soll. Deshalb hat er auch dem IS den Weg gebahnt und bombardiert andererseits die Kurden.

Wie wenig Erdogan von den republikanischen Grundmauern der modernen Türkei hält, zeigt sich in jüngster Zeit auch im Umgang mit der Meinungs- und Pressefreiheit, sowie mit dem Verfassungsgericht des Landes. Als dieses die Freilassung zweier inhaftierter „Cumhuriyet“-Journalisten anordnete, sagte er, er hoffe, dass das Verfassungsgericht keine Entscheidungen mehr treffe, „mit denen die Frage nach seiner Existenz und Rechtmäßigkeit gestellt wird“. Eine klare Drohung gegenüber den türkischen Verfassungshütern – entweder sie entscheiden in Zukunft so wie er es will, oder es gibt Konsequenzen. Denn die Richter hätten „gegen Land und Volk“ geurteilt.

Dazu passt auch, dass oppositionelle und/oder kritische Medien schrittweise unter staatliche Kontrolle gebracht werden. Die Zeitung „Zaman“ des Erdogan-Gegners Fetullah Gülen ist hierbei nur einer der jüngsten Schritte nach der Attacke auf die Zeitung „Cumhuriyet“. Erdogan weiß genau, dass eine Gleichschaltung der Medien propagandistisch unabdingbar ist, wenn er die Opposition im Land dauerhaft kleinhalten möchte.

Zum Thema Meinungsmache haben wir Albrecht Müller von den NachDenkSeiten am 19.2.16 nach Nördlingen einladen können. Über 100 hörten zu:

A_MuellerDer gelernte Volkswirt Albrecht Müller, der schon in den 60er Jahren für den damaligen Wirtschafts­minister der ersten GroKo, Karl Schiller, Reden schrieb, der danach unter den Kanzlern Brandt und Schmidt Chef des SPD-Planungsstabs wurde und schließlich für 2 Perioden als Abge­ordneter im Bundestag arbeitete, gründete angesichts der ihm immer deutlicher werdenden Manipulationswirkung der Medien 2003 seine ausgesprochen erfolgreiche und von sehr vielen Internetnutzern geschätzten, täglich neuen www.Nach­denk­seiten.de  als ein Mittel einer unerläßlichen Gegenöffent-lichkeit. Er erläuterte an zahlreichen aktuellen Beispielen, wie z.B. die Fi­nanzkrise, Griechenland, der Konflikt um die Ukraine, Syrien, die Flücht­linge und das Verhältnis zu Rußland viel zu häufig reichlich einseitig in den Medien behan­delt wurden und werden. Auch Kriege, so zeigte er,  werden heute gezielt durch Stimmungsmache und sogar Lügen vorbe­reitet. Wenn Paul Sethe von der FAZ vor Jahrzehnten noch sagen konnte, die Presse­freiheit sei bei uns die Freiheit von ca. 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen, sei diese Zahl inzwischen auf eine Handvoll von superreichen Familien ge­schrumpft, die über viel zu viele  Medien in Schrift, Bild und Ton herrschten und die sich deshalb – für ihn kaum überra­schend – nicht durch große Meinungsvielfalt auszeichneten.

 Mahnwache gegen den ersten AfD-„Stammtisch“ in Nördlingen am 17.2.16

_DSC0179

Spontane Kundgebung der DFG zum Volkstrauertag 2015 in Nördlingen

_DSC0026m

Mit 2 Transparenten erinnerten 3 Aktive der DFG-VK zur offiziellen Gedenkfeier um 10:30 Uhr auf dem Nördlinger Marktplatz stumm an die Ursachen vielfältiger Trauer. Während die Lokalpresse das Ereignis geflissentlich ignorierte, wurde unser Sprecher Bernhard Kusche von dem anwesenden Polizeibeamten und einer Zivilbeamtin zur Erfassung seiner Personalien abgeführt, da er sich an einer „unangemeldeten Demonstration“ beteiligt habe. Wir fragen uns, zu welchem Zweck auf einer solchen Veranstaltung eine Zivilbeamtin eingesetzt werden muss. 

Weitere Termine 2016

Sa 26.03.

11:30

Nein_zum_KriegOstermarsch auf dem Königsplatz in Augsburg, unterstützt von der DFG-VK Augsburg und Nordschwaben  
Mo 28.03.

10:20

Ostermarsch nach Schrobenhausen zur Rüstungsfirma MBDA führt (11,4 km Fußmarsch). Wir fahren mit dem Zug (Bayern­tickets) nach Schrobenhausen und treffen uns um 10:20 Uhr am Augsburger Hauptbahnhof.  
Mo- Fr 11.04.-15.04. Friedenspolitische Info-Woche an den Nördlinger Berufs­schulen – wir machen das Kontrastprogramm zu einer Werbeveranstaltung der Bundeswehr für Berufsschüler  
Di 5.04.

19:00

Königsbronner Friedensgespräche, Alte Hammerschmiede, Königsbronn

Auf dem Podium: Agnieszka Brugger (MdB, Bündnis90 / Die Grünen), Tobias Pflüger (Die Linke) und Roland Hamm (IGM). Musik von „Dieter&Dieter

 
Sa 9.04.

12:00

0007m

Demonstration und Kundgebung, Start am Bahnhof Königsbronn, Georg-Elser-Denkmal

 
Juni   Ukraine – der vergessene Konflikt

– Gernot Lennert, DFG-VK Hessen, Nördlingen – Ort u. genauer Termin werden noch bekannt gegeben

September   Krisenregion Mittlerer und Naher Osten

Clemens Ronnefeldt, Internationaler Versöhnungsbund – Nördlingen – Ort u. genauer Termin werden noch bekannt gegeben

Do 13.10.

19:30

Religion und Friedensbewegung

– Dr. Markus Weingardt, Stiftung Weltethos – Nördlingen

Do 1.12.

19:30

Syrien und die politische Verstrickungen des Westens

Andreas Zumach, Korrespondent der taz – Nördlingen

Die DFG-VK Gruppe Nordschwaben trifft sich jeden 3.Dienstag im Monat 19:30 Uhr im Nördlinger Hotel „Zur goldenen Rose“, Baldinger Straße

Kontakt u.KDV-Beratung:Bernhard Kusche, 86754 Munningen, 09082/90056

Eine finanzpolitische Zeitbombe: Die geplante Kapitalmarktunion

Die geplante Kapitalmarktunion setzt auf noch mehr Deregulierung in der EU

https://monde-diplomatique.de/artikel/!5264078

von Frédéric Lemaire und Dominique Plihon

Auszüge:

Knapp sieben Jahre nach Beginn der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise steht die nächste Deregulierungswelle bevor. Die Panik, die im Herbst 2008 die Chefetagen der Banken erfasst hat, ist nur noch ferne Erinnerung, ebenso die seinerzeit geplanten Maßnahmen gegen diverse halsbrecherische Finanzoperationen.

EU-Finanzkommissar Jonathan Hill meint, es sei an der Zeit, in Europa „alte Schranken einzureißen und den freien Kapitalverkehr zwischen allen 28 Mitgliedstaaten zu erleichtern“ – weshalb die EU-Kommission der Kapitalmarktunion höchste Priorität einräumt. Der dazu im September verkündete Aktionsplan sieht bis 2019 eine Reihe von Konsultationen, Überprüfungsmaßnahmen und Gesetzesinitiativen vor.

Kritiker der neuerlichen Deregulierung speist Jonathan Hill mit den üblichen Argumenten ab: Das größte Risiko für die Stabilität sei nun einmal fehlendes Wachstum, deshalb sei die Belebung der Investitionstätigkeit so wichtig. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die das Rückgrat der Gesamtwirtschaft bilden, könnten sich derzeit nicht angemessen finanzieren, weil die herkömmlichen Quellen für Investitionsgelder blockiert sind. Die Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe beeinträchtige auch die kapitalaufwendigen Programme zum Erhalt und Ausbau der Infrastruktur, zumal die öffentlichen Investitionen aufgrund der Sparpolitik zurückgehen. Heute müsse, so Hill weiter, die Kapitalbeschaffung wieder vermehrt über die Finanzmärkte laufen, wozu eine Reihe von Reformen notwendig seien.

Maßgeschneiderte Verfahren sollen den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen reduzieren, die Bonitätsprüfung vereinfachen und vor allem die „Privatplatzierungen“ fördern. Letztere erlauben es nicht börsennotierten Unternehmen, sich statt an kreditvergebende Banken direkt an Finanzinvestoren zu wenden, zum Beispiel an spezialisierte Anlagefonds und Versicherungen. Diese unterliegen weniger strengen Vorschriften als die Publikumsgesellschaften,1 die in der Regel der Börsenaufsicht und geregelten Berichtspflichten unterliegen. Dieser Markt für privates Beteiligungskapital erlebt derzeit einen enormen Aufschwung, sein Umsatz könnte in den nächsten Jahren auf bis zu 60 Milliarden Euro steigen.

Die französische Regierung unterstützt diese Formen der Direktvermittlung und damit die Rückkehr zu bankfremden Finanzierungsmethoden. Das von Wirtschaftsminister Macron eingebrachte und am 7. August 2015 verkündete „Gesetz für Wachstum, Beschäftigung und wirtschaftliche Chancengleichheit“ fördert die Kreditvergabe zwischen Unternehmen, die ohne Vermittlung der Banken abläuft und damit jeglicher Regulierung entzogen ist.

Andere Maßnahmen erleichtern privaten Investoren den Rückkauf von Kreditverpflichtungen der Unternehmen gegenüber Banken. Die Kommission schlägt zudem für institutionelle Investoren (vor allem Pensionsfonds und Versicherungen) steuerliche Anreize für den Erwerb von Verbindlichkeiten nicht börsennotierter Unternehmen vor, was für Investoren weitaus rentabler – weil riskanter – ist als der Kauf von Staatsanleihen. So hat die französische Großbank Société Générale 80 Prozent ihrer Kredite mit mehr als fünfjähriger Laufzeit an KMU oder Midcap-Unternehmen2 an die Versicherungsgesellschaft Axa veräußert. Ähnliche Geschäfte laufen zwischen den Großbanken Crédit Agricole, BNP Paribas und Natixis und anderen Versicherungsunternehmen.

Das Leuchtturmprojekt der Kommission ist jedoch die Verbriefung der Bankenkredite. Sie erlaubt es den Banken, die von ihnen ausgegebenen Kredite auf den Kapitalmärkten weiterzuverkaufen und damit ihre Risiken zu entsorgen, ohne Verlust der Provisionen, die sie bei der Darlehensvergabe eingestrichen haben. Diese Möglichkeit haben sie Mitte der nuller Jahre exzessiv genutzt, als sie den Investoren massenhaft die zu Aktienpaketen „umgestrickten“ US-Immobiliendarlehen andrehten.

Freilich haben diese Verbriefungen, über die die Banken ihr Risiko an andere weiterreichen, nicht nur die Komplexität, sondern auch die Vernetzung und die wechselseitige Abhängigkeit der Finanzmärkte erhöht. Die Folge war, dass 2008 die Subprime-Blase platzte und die Finanzmarktkrise sich zu einer globalen Wirtschaftskrise ausweitete.

Legende vom Nutzen für kleinere Unternehmen

Weil die EU-Kommission um die Brisanz des Vorhabens weiß, plädiert sie für eine „hochwertige“ und möglichst „transparente“ Verbriefung – während die Bankenlobby schon an der Formulierung möglichst schwacher Regeln arbeitet. Finanzkommissar Hill hat bereits angekündigt, er werde eine Abmilderung der Regeln nicht verhindern, nach denen die Banken bislang wenigstens einen Teil der aus verbrieften Schuldforderungen resultierenden Risiken in ihren Bilanzen halten müssen.

In den Augen der europäischen Regierungen ist das stärker von den Märkten bestimmte US-Finanzsystem geradezu vorbildlich – und eine Sicherheitsgarantie für die Unternehmen. So erklärt die Kommission in ihrem Grünbuch allen Ernstes: „Die stärkere Abhängigkeit von Bankkrediten macht die europäische Wirtschaft und insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KUM) insgesamt anfälliger, wenn die Bedingungen für die Vergabe von Bankkrediten – wie in der Finanzkrise der Fall – strenger werden.“3 Dass ebendiese Finanzmärkte und ihre Deregulierung die Krise verursacht haben, ist offenbar längst vergessen.

Die Anwälte der Liberalisierung legen sich argumentativ schwer ins Zeug. So behaupten sie etwa, die Anpassung des europäischen Finanzsystems an die angelsächsischen Regeln werde der Kapitalmarktunion dauerhaft mehr Wachstum und Beschäftigung und den KMU einen leichteren Zugang zu Finanzmitteln bescheren. Gerhard Hue­mer, Chefökonom beim Europäischen Dachverband der KMU (­UEAPME), hat da erhebliche Zweifel: „Für die überwältigende Mehrheit der Kleinunternehmen wird der Bankkredit auch künftig die Hauptfinanzierungsquelle bleiben. Die Kapitalmarktunion kann die Funktionsstörungen der Bankenfinanzierung und deren Folgen nicht ausgleichen.“4 Auch beim marktfreundlichen Washingtoner Thinktank Brookings Institution hält man die Vorteile der Kapitalmarktunion für die KMU für „stark überschätzt“.5

Hill hat selbst zugegeben, dass er den Nutzen seines Projekts für die kleinen Unternehmen übertreibt, um die eigentlich Geprellten zu besänftigen – nämlich die europäischen Bürger. So erklärte er bei einer Diskussion in Washington: „Wenn wir in der europäischen Debatte über die Kapitalmarktunion die kleinen und mittleren Unternehmen in den Vordergrund stellen, dann deshalb, weil sie als ein wichtiger Wirtschaftsfaktor wahrgenommen werden und weil es leichter ist, die Öffentlichkeit mit Vorschlägen zu überzeugen, die diese Unternehmen stärken.“6 Dagegen kritisieren die Nichtregierungsorganisation Finance Watch und der deutsche Spitzenverband der genossenschaftlichen Kreditwirtschaft (BVR) die Kapitalmarktunion als ein Vorhaben, dessen Hauptziel die Rentabilitätssteigerung der Großbanken sei.

Die Kapitalmarktunion wird überdies die Schattenbanken begünstigen, die schon für die Krise 2008 maßgeblich verantwortlich waren und deren Verbriefungsprodukte nun bewusst gefördert werden, um die strengeren Regeln, denen das offizielle Bankensystem unterstellt ist, zu umgehen.

Die verstärkte Beteiligung von Versicherungen, Pensionsfonds und spekulativen Zweckgesellschaften an der Finanzierung der Wirtschaft birgt ein weiteres Risiko. Solche Investoren haben oft zu wenig Erfahrung, um die Qualität der gehandelten Anleihen zu beurteilen. Sie glauben, sie könnten den Sachverstand und den Kundenkontakt der Banken durch abstrakte Risikokalküle ausgleichen. Aber genau die versagen bekanntlich, wenn es auf den Finanzmärkten zu überraschenden Turbulenzen kommt. Das Platzen einer Kreditblase wäre für die Verbriefungsmärkte besonders dramatisch, weil spekulative Investoren im Fall der Fälle nicht – wie die Bankhäuser – auf die Rettungsmaßnahmen der Zentralbanken zählen können.

Eigentlich müssten sich die Banken gegen die Kapitalmarktunion wehren, denn damit schwindet ihr Einfluss. Aber sie sind eifrige Befürworter, und zwar, weil sie selbst längst im System der Schattenbanken mitmischen. Das Engagement auf den Verbriefungsmärkten erlaubt auch ihnen, die für herkömmliche Bankenkreditgeschäfte geltenden Vorschriften zu umgehen, etwa dank neuer komplexer Finanzprodukte, die außerhalb der Börse auf dem ungeregelten und undurchsichtigen „Over-the-counter“-Markt gehandelt werden.

Zutaten für die nächste schwere Krise

Zur Finanzierung ihrer spekulativen Transaktionen können die Banken in Zukunft sogar die Europäische Zentralbank (EZB) in Anspruch nehmen, die beschlossen hat, die Hinterlegung solcher verbrieften Kredite beim Austausch gegen frisches Geld als Sicherheitsgarantie anzuerkennen. Diese Beihilfe der EZB soll die Kreditvergabe an die „Realwirtschaft“ beleben. Dabei deutet alles darauf hin, dass damit vor allem die Geschäfte der Schattenbanken gefördert werden: Die von der EZB bereitgestellte Liquidität kann für spekulative Anlagen eingesetzt werden, so dass wiederum neue Spekulationsblasen entstehen – und platzen – können.

Die geplante Kapitalmarktunion droht also, die großen „Universalbanken“ in finanzielle Zeitbomben zu verwandeln. Dabei schützt der scheinbar rein fachliche Charakter des Themas das Projekt vor den Blicken der Öffentlichkeit, sodass die EU-Kommission in aller Ruhe die Zutaten für die nächste schwere Krise zusammenmischen kann.7 Im Oktober hat sie unter Leitung ihres Präsidenten Juncker ein Beratungsverfahren eingeleitet – unter anderem, um „unnötige regulatorische Belastungen und andere Faktoren“ zu ermitteln, „die sich langfristig negativ auf Investitionen und Wachstum auswirken.“8 Mit dem Argument könnte man auch die Finanztransaktionssteuer (Financial Transaction Tax, FTT) aushebeln, über die derzeit mühselige Verhandlungen zwischen elf europäischen Regierungen laufen.9 So forderten in einem Schreiben vom 6. November 2015 elf nationale Unternehmerverbände – unter der Führung des Dachverbands Business Europe – die europäischen Finanzminister auf, die FTT zu begraben. Schließlich gebe es „klare Beweise für die schädlichen Wirkungen der FTT im Hinblick auf Investitionen, Wachstum und Arbeitsplätze“.10

Nutzen zweifelhaft, Risiken beträchtlich – die „Bilanz“ der Kapitalmarktunion fällt eher negativ aus. Sie beruht von vornherein auf einer Fehldiagnose, weil die Kommission eine der zentralen Ursachen für die wirtschaftlichen Stagnation im Euroraum schlicht verdrängt: die staatliche Sparpolitik und die Lohnzurückhaltung. Dass die kleineren und mittleren Unternehmen nicht genug investieren, liegt vor allem an der geringen Nachfrage. Und die wird auch dadurch abgewürgt, dass die öffentliche Hand „den Gürtel enger schnallt“.

Bleibt die Frage, warum die EU dieses riskante Projekt so rasch vorantreibt? Ob das Ganze nur als Beruhigungssignal an Großbritannien gedacht ist, um einen „Brexit“ abzuwenden? Misstrauisch stimmen auch die Verbindungen, die Juncker und Hill zu Finanzkreisen unterhalten. Juncker war immerhin von 1995 bis 2013 Regierungschef in Luxemburg, einer der großen europäischen Steueroasen. Und Hill ist der Gründer von Quiller Consultants, einer auf den Finanzsektor spezialisierten Unternehmensberatung, die in der Londoner City unter anderem für die britische HSBC Bank gearbeitet hat.

1 Publikumsgesellschaften sind Personen- oder Kapitalgesellschaften mit vielen Großanlegern oder Anteilseignern, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften.

2 Mid Caps sind Unternehmen mit einem Börsenwert zwischen 500 Millionen und 2 Milliarden Euro/Dollar.

3 „Schaffung einer Kapitalmarktunion“, Grünbuch der EU-Kommission, Brüssel, 18. Februar 2015, S. 8.

4 Siehe: Maximising the Capital Market opportunity for SMEs and Start-ups; www.accaglobal.com/za/en/discover/news/2015/05/capital-markets.html.

5 Douglas J. Elliott, „Capital markets union in Europe: Initial impressions“, Brookings Institution, 23. Februar 2015; http://ec.europa.eu/finance/consultations/2015/capital-markets-union/docs/green-paper_de.pdf.

6 Diskussionsforum am 25. Februar 2015.

7 Siehe Sven Giegolds Blog-Eintrag vom 30. September 2015: www.sven-giegold.de/2015/kapitalmarktunion-darf-nicht-fuer-deregulierungswelle-missbraucht-werden.

8 „Kapitalmarktunion: Ein Aktionsplan für mehr Unternehmens- und Investitionsfinanzierung“. Pressemitteilung der Europäischen Kommission, 30. September 2015: europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5731_de.htm.

9 Siehe Stephan Schulmeister „Die vernünftigste Steuer in diesen Zeiten“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014.

10 Siehe: www.sven-giegold.de/wp-content/uploads/­2015/­11/2015-11-06-Letter-on-FTT-to-ECOFIN-Council-No­vember-Min-Gramegna-LU.pdf.

Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke

Frédéric Lemaire ist Doktorand am Centre d’économie der Universität Paris-Nord (CEPN). Dominique Plihon ist Professor für Finanzökonomie an der Universität Paris XIII. Beide sind Mitglieder von Attac France.

Die Geburtshelfer des IS – USA und EU

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Schon vor 1 Woche erschienen, aber wichtig, um die neuerlichen Verlautbarungen zu verstehen:
https://www.jungewelt.de/2016/01-22/052.php
Auszüge:

USA und EU haben durch Destabilisierung von Staaten und Militärinterventionen Wachstum und Ausbreitung des islamistischen Terrorismus gefördert

Von Knut Mellenthin

Seit bald 15 Jahren führen die USA und ihre Verbündeten »Krieg gegen den Terror«. In dieser Zeit haben sie es geschafft, das Problem, das sie angeblich bekämpfen wollen, über große Teile der Welt zu verbreiten. Die Gegner, gegen die bis zu 200.000 NATO-Soldaten im Einsatz waren, sind um ein Vielfaches zahlreicher und stärker geworden. Bewaffnete islamistische Organisationen verfügen heute über schwer angreifbare Rückzugsgebiete im Irak, in Syrien, auf der ägyptischen Sinaihalbinsel, in Libyen und anderen Staaten der Region, im Jemen und in Nigeria einschließlich seiner Nachbarländer.
Hunderte Anhänger des »Islamischen Staates« (IS) operieren auch in Somalia und Afghanistan.

Im Herbst 2001, als US-Präsident George W. Bush den »War on Terror« ausrief, besaß Al-Qaida, die damals als Nummer eins des internationalen Terrorismus galt, kein einziges Territorium dieser Art. Zwar begann die NATO ihre Militärintervention in Afghanistan mit der vorgeschobenen Begründung, der Organisation Bin Ladens einen »Safe haven« wegnehmen und eine Rückkehr verhindern zu wollen. Diese Ausrede wird selbst heute noch regelmäßig wiederholt, wenn es die Verewigung westlicher Militärpräsenz in Afghanistan öffentlich zu rechtfertigen gilt.
Tatsache ist jedoch, dass die Taliban zu keinem Zeitpunkt versucht haben, ihre Ideologie mit Terrorakten oder durch die Unterstützung ausländischer Terrorgruppen in alle Welt zu exportieren.

Als Bush nach den Angriffen vom 11. September 2001 von der Regierung in Kabul ultimativ die Auslieferung Osama bin Ladens verlangte, lehnten die Taliban diese Forderung nicht etwa rundweg ab, sondern wollten lediglich Beweise für die US-amerikanischen Anschuldigungen gegen den Al-Qaida-Führer sehen. Bush war nicht bereit, darüber zu verhandeln oder auch nur zu sprechen.
Das ist nicht weiter verwunderlich: Erstens waren die militärische Zerschlagung der Taliban-Herrschaft und eine langdauernde Besetzung Afghanistans von der US-Regierung und auf sie einwirkenden Thinktanks wie dem American Enterprise Institute (AEI) schon mehr als ein Jahr vor dem 11. September in allen Einzelheiten geplant worden.

Zweitens konnte die US-Regierung ihre Behauptung, Al-Qaida habe bei der Organisierung der Angriffe irgendeine Rolle gespielt, nicht belegen. Gegen Bin Laden wurde im Zusammenhang mit dem 11. September niemals Anklage erhoben, es fand nie ein Prozess gegen ihn statt, seine Tötung durch ein US-Spezialkommando in Pakistan am 2. Mai 2011 war – sofern die ganze Geschichte überhaupt stimmt – ein von Präsident Barack Obama befohlener Mord.

Destabilisierung von Regionen

Eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbreitung des IS und ähnlicher Organisationen über große Teile Asiens und Afrikas war und ist die nachhaltige Destabilisierung mehrerer vergleichsweise »laizistischer«, nicht von religiösem Extremismus geprägter Staaten durch die USA und ihre europäischen Verbündeten.
Das war zunächst der Irak, der im März 2003 von US-amerikanischen und britischen Truppen überfallen wurde. Heute befindet sich das Land teilweise unter der Herrschaft des IS und im übrigen in einem Zustand, der kaum noch eine Rückkehr in einen gemeinsamen Staatsverband von Schiiten, Sunniten und Kurden vorstellbar erscheinen lässt. Mehrere Millionen Menschen, darunter Akademiker mit gesellschaftlich wichtigen Berufen, haben den Irak verlassen. Die Lebensverhältnisse der meisten Frauen sind deutlich schlechter als vor der Beseitigung der Baath-Herrschaft durch die US-Streitkräfte.

Das gilt ähnlich auch für Libyen und Syrien, den nächsten Opfern der Interventionskoalition aus USA, EU, Saudi-Arabien und anderen Monarchien der arabischen Halbinsel.
In Libyen führte das militärische Eingreifen der NATO, das im März 2011 begann, im Oktober zum Sturz und zur Ermordung des Staatsoberhaupts Muammar Al-Ghaddafi. Voraussehbare Folgen waren die bis heute wirkende Auflösung der Zentralmacht, ein chaotisches Neben- und Gegeneinander zahlreicher Milizen und die Überflutung Nordafrikas mit Waffen und islamistischen Kämpfern aus Libyen. Sowohl Waffen wie Kämpfer gelangten auch in großen Mengen nach Syrien.

Darüber hinaus erhielten der IS und ähnliche Organisationen in Syrien seit Frühjahr 2012 Waffenlieferungen, die hauptsächlich vom Saudi-Regime bezahlt und organisiert waren. Die Transporte, unter anderem aus Kroatien, wurden, Berichten der New York Times zufolge, nach der Präsidentenwahl in den USA Anfang November 2012 massiv gesteigert. An der »Luftbrücke« sollen saudische, jordanische und katarische Flugzeuge beteiligt gewesen sein.
Die Türkei habe für einen Großteil der Waffen- und Munitionslieferungen sowie deren Verteilung das Management besorgt. Wahrscheinlich hat nur die Unterstützung der syrischen Streitkräfte durch unmittelbar an der Front operierende iranische Berater und seit einigen Monaten das militärische Eingreifen Russlands einen Zusammenbruch des syrischen Staatsapparats verhindert.

Man sollte in diesem Kontext nicht vergessen, dass ein weiterer Versuch der US-Administration, ein Land des Großraums Nahost-Nordafrika zu destabilisieren und zu zerstören, am Kräfteverhältnis in der betroffenen Bevölkerung scheiterte. Im Februar 2005 begannen im Libanon Massendemonstrationen, an denen sich Zehntausende Christen und sunnitische Muslime beteiligten. Die Führer dieser Bewegung, für die westliche Werbeagenturen den Namen »Zedernrevolution« erfanden, waren bewährte Partner der US-Regierung.
Der von Washington offenbar angestrebte Bürgerkrieg scheiterte an einer Massenmobilisierung der schiitischen Hisbollah, die der Gegenseite demonstrierte, dass ein bewaffneter Konflikt allenfalls mit dem gemeinsamen Untergang enden könnte. Nach Schätzungen folgten am 8. März 2005 bis zu eine halbe Million Menschen dem Aufruf der Hisbollah zur Kundgebung in Beirut. Damit war die »Zedernrevolution« im wesentlichen beendet.

Im Juli 2006 unternahm Israel mit offener Unterstützung der USA einen Versuch, die politische Niederlage doch noch in einen militärischen Sieg zu verwandeln.
Ein Feldzug gegen Hisbollah, verbunden mit Luftangriffen auf Wohngebiete in Beirut und anderen Städten sollte zur Spaltung der libanesischen Bevölkerung und zur Isolierung der Schiitenmiliz führen. Der Krieg endete einen Monat später nach hohen Verlusten und weitgehend erfolglosen Operationen der israelischen Streitkräfte.

George W. Bushs Außenministerin Condoleezza Rice hatte Israels Angriff auf den Libanon zustimmend kommentiert: »Was wir hier sehen, ist gewissermaßen das Heranwachsen …, sind die Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens. Bei allem, was wir tun, sollten wir darauf achten, dass wir zu einem neuen Nahen Osten vorwärtsdrängen und nicht zum alten zurückgehen.«

Jochen