Kinder der Ungleichheit in Deutschland: „Das offen zu sagen, wagt kaum jemand“ – sagt Christoph Butterwegge

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.nachdenkseiten.de/?p=75647
Politiker halten Sonntagsreden, doch die Kinderarmut ist eine Realität in Deutschland und die Ungleichheit, basierend auf den finanziellen Möglichkeiten, ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Das sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview mit den NachDenkSeiten.
Mit deutlichen Worten zeigt der Politikwissenschaftler auf, was es bedeutet, wenn arme und reiche Kinder in einer Gesellschaft existieren: Nie war eine junge Generation zerrissener als die heutige.
Auf der anderen Seite, so führt Butterwegge aus, steht das, was man als Kinderreichtum bezeichnen kann: 90 Kinder unter 14 Jahren bekamen zwischen 2011 und 2014 im Durchschnitt je 327 Millionen Euro geschenkt. Steuerfrei, wohlgemerkt.
Butterwegge hält zusammenfassend fest: Wo eine Villa ist, da ist auch ein Weg. Von Marcus Klöckner.

Mein Kommentar: eine mögliche Erklärung dafür, warum die Armut nicht abgeschafft wird, ist, dass sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse mit Scham und Angst zementiert, was die Herrschenden schon seit Jahrtausenden wissen. Im Neoliberalismus ist das zur offen erklärten Doktrin geworden. Armut ist gewollt und bewusst erzeugt, weil sie die „Aktivierung“, Motivierung und Disziplinierung der Bevölkerungsmehrheit gewährleistet.Siehe schon 2014 https://josopon.wordpress.com/2014/06/18/die-angst-vor-der-armut-sichert-den-fortbestand-der-bestehenden-herrschaftsverhaltnisse-deshalb-werden-die-ursachen-von-armut-in-deutschland-verschwiegen/

Auszüge:

Herr Butterwegge, was bedeutet formale Gleichheit unter faktisch Ungleichen?

Nichts als Ungerechtigkeit. Die formale Gleichheit nützt den Mitgliedern einer Gesellschaft wenig, sofern zwischen ihnen materielle Ungleichheit besteht.
Damit es in einem Land gerecht zugeht, müssen Gleiche gleich und faktisch Ungleiche ungleich behandelt werden. Das wussten bereits die griechischen Philosophen der Antike.
Mich veranlasst diese Tatsache heute zu einer Fundamentalkritik am bedingungslosen Grundeinkommen und an einem Konzept der Kindergrundsicherung, das besser als Kindergrundeinkommen bezeichnet würde, weil Familien unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit für jedes Kind denselben Geldbetrag erhalten sollen. Kinder, die in Armut leben, brauchen aber erheblich mehr staatliche Unterstützung als Kinder aus wohlhabenden, reichen oder hyperreichen Familien, die Privilegien unterschiedlicher Art genießen.

Damit wären wir bei dem Titel Ihres neuen Buches: Kinder der Ungleichheit haben Sie es genannt. Dass wir in unserem Land ein reales Problem haben, was Chancengleichheit angeht, ist seit langem bekannt. Aber trotz immer wiederkehrender Medienbeiträge und Diskussionen scheint bei Vielen immer noch nicht angekommen zu sein, was es bedeutet, wenn Kinder hinsichtlich der ökonomischen Bedingungen in Ungleichheit aufwachsen. Was sagen Sie denjenigen, die den Kindern aus armen Verhlötnissen nicht helfen wollen?

Das offen zu sagen, wagt ja kaum jemand, erst recht im laufenden Bundestagswahlkampf kein Politiker der etablierten Parteien. Sie halten Sonntagsreden, die Kinderarmut in Deutschland verharrt jedoch seit über 20 Jahren, in denen meine Frau und ich uns damit beschäftigen, auf einem skandalös hohen Niveau.
Dabei ist die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht bloß moralisch verwerflich, sondern auch schädlich für eine Volkswirtschaft.
Letztlich bremst die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen das Wirtschaftswachstum. Vielleicht kann dieses mit der Standortlogik kompatible Argument sogar Wirtschaftsliberale von der Notwendigkeit überzeugen, einer weiteren Polarisierung entgegenzutreten.

armut auf rekordniveau

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Die soziokonomische Ungleichheit ist zudem Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der nicht bloß von Konservativen immer wieder als Ziel ihrer Bemühungen benannt wird. Je mehr die Sozialstruktur in Arm und Reich zerfällt, umso eher bilden sich Parallelwelten und Subkulturen heraus, in denen die Kinder der einzelnen Klassen und Schichten unter sich bleiben.
Es geht aber um die Zukunft unserer Kinder in einer wohlhabenden Gesellschaft der Gleichheit, die ihnen ausnahmslos ein glückliches Leben ohne materielle Sorgen und ohne Diskriminierung wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität ermglicht.

Auch wenn das eigentlich Jedem klar sein sollte: Lassen Sie uns doch einmal genauer darauf schauen, was es bedeutet, wenn Kindern aus den unteren Schichten Mittel fehlen, um am Leben in dieser Gesellschaft teilzuhaben. Was sind Ihre Beobachtungen? Wo fängt die Ungleichheit an?

Eine große Rolle spielt die zunehmende Kommerzialisierung von Kultur, Freizeit und Sport. Es gibt Kinder, die so gut wie nie in den Zoo, den Zirkus oder auf die Kirmes gehen können, weil ihren Familien das nötige Geld fehlt.

In einer Gesellschaft, deren wohlhabende Mitglieder viel Wert auf den privaten Konsum, Luxusgüter und kostspielige Statussymbole legen, wirken schon eine Minderausstattung mit Kinderspielzeug oder fehlende Markenklamotten für junge Menschen diskriminierend.

Wie gestaltet sich die Ungleichheit, wenn die Kinder etwas älter sind?

Wer als Jugendliche/r nichts von dem hat, was angesagte Stars und Influencer gerade auf ihren Kanälen promoten, wird im Kreis seiner Peers nicht akzeptiert. Ausgelacht oder sozial ausgegrenzt zu werden, ist zweifellos eine der schlimmsten Konsequenzen von Armut und Unterversorgung im Jugendalter.
Gerade junge Menschen sind davon abhängig, dass sie im Kreis ihrer Freunde und Klassenkameraden anerkannt werden.
Nichts ist schlimmer für ihr Selbstbewusstsein, als bei Gleichaltrigen auf Ablehnung zu stoßen und keine Freunde zu finden.

Sollten die Kinder aus armen Familien den Weg auf ein Gymnasium geschafft und das Abitur in der Tasche haben, geht das Problem weiter.
Was heißt es, ohne eine Familie, die einem finanziellen Halt gibt, zu studieren?

Da hat die Covid-19-Pandemie manchem die Augen geöffnet. Studierende, deren Eltern sie finanziell nicht unterstützen knnen oder die mit ihrem Bafög-Satz nicht auskommen, sondern arbeiten gehen mssen, standen plötzlich vor dem Nichts, als der Nebenjob etwa in der Gastronomie ber Nacht wegfiel.
Da nur zwölf Prozent der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie zu den Hauptleidtragenden des wiederholten Lockdowns.
Bei einer Geschäftsaufgabe oder Betriebsschließung konnten Studierende weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II erhalten. Akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums waren die Folge, es sei denn, dass es ihnen gelang, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen. Auch war der Gang zur Lebensmitteltafel manchmal die einzige Alternative zur dichtgemachten Mensa, wo sie vorher preiswert gegessen hatten.

Ich denke gerade daran, wie schwer es für junge Menschen aus armen Familien ist, wenn sie zum Beispiel den Beruf des Journalisten ergreifen wollen.
Für viele Medien sind Praktika unabdingbar, um einen Fuß in den journalistischen Beruf zu bekommen. Aber welche alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV lebt, kann ihrem Sohn oder ihrer Tochter schon mehrere Monate dauernde Praktika in Berlin, München oder Hamburg finanzieren?

Während der Pandemie litten die jungen Menschen unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der Generation Praktikum, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine Generation kein Praktikum, der 2020/21 weder genug Ausbildungs- noch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen.
Deshalb machte die Warnung vor einer verlorenen Generation die Runde, wenngleich sicher nicht alle jungen Menschen über einen Leisten geschlagen werden dürfen. Dazu sind ihre Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen einfach zu unterschiedlich. Nie war eine junge Generation zerrissener als die heutige.

Halten wir fest: Was das Wahrnehmen von Möglichkeiten in dieser Gesellschaft angeht, zieht sich Ungleichheit wie ein roter Faden durch das Leben der Kinder, die aus armen Verhältnissen stammen, oder?

Die soziokonomische Ungleichheit hat sich in Deutschland wie in allen Klassengesellschaften verfestigt und prägt das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Sie ist bereits in Kindertagesstätten deutlich spürbar, sofern dort Sprsslinge unterschiedlicher Bevölkerungsschichten aufeinandertreffen, sie bestimmt die Bildungsbiografien junger Menschen, sie macht sich im (Erwerbs-)Leben stark bemerkbar und prägt auch das Alter.
Ferner beschränkt sich die soziale Ungleichheit nicht auf die asymmetrische Verteilung von Einkommen und Vermögen, sie erstreckt sich vielmehr auf sämtliche Lebensbereiche der Familien.

Lassen Sie uns die Perspektive wechseln. Wie sieht es auf der anderen Seite aus?
Was bedeutet es für ein Kind, in soliden finanziellen Verhältnissen oder gar in Reichtum aufzuwachsen?

Kinder wohlhabender, reicher und hyperreicher Eltern finden weit bessere Rahmenbedingungen für ein sorgenfreies Aufwachsen vor. Hierzu gehren ein luxuriöses Wohnen und ein anregendes Wohnumfeld, optimale Bildungsmöglichkeiten (z.B. Besuch angesehener Privatschulen oder ausländischer Eliteinternate) und eine hervorragende Gesundheitsversorgung.
Ob ein Kind im Umfeld von parkähnlichen Grten, Garagen mit der Größe von Einfamilienhäusern, Grünflächen sowie Tennis- und Hockeyclubs oder im Umfeld von Spielhallen, Sonnenstudios, Wettbüros, Imbissbuden und Billigläden aufwächst, prägt sein ganzes Leben.
Die tief ins kindliche Gemüt eingebrannte Erfahrung der persönlichen Benachteiligung oder der familiären Privilegierung lässt Menschen bis ins hohe Alter nie los, beeinflusst ihren Bildungsweg, ihre Berufswahl und ihre Entscheidung für eine Partnerin/einen Partner ebenso wie ihre Persönlichkeit, Lebenseinstellung und Weltanschauung.*)

Können Sie die Unterschiede vielleicht auch mal an Zahlenbeispielen veranschaulichen?

Reichtum bleibt in der Familie. Aus den Steuerstatistiken der Bundesländer geht hervor, wie stark sich ein riesiger Kapitalreichtum bei wenigen Kindern konzentriert. Eltern verschenken Unsummen aus steuerrechtlichen Gründen an ihre Nachkommen.
Vor allem sogenannte Familienunternehmer, die man in anderen Ländern als Oligarchen bezeichnet, haben große Teile ihres Vermögens auf ihre Kinder übertragen aus Furcht, dass die Erbschaftsteuer für Firmenerben erhöht werden könnte, was übrigens wegen der erfolgreichen Lobbyarbeit ihrer Verbände gar nicht geschah. 90 Kinder unter 14 Jahren bekamen zwischen 2011 und 2014 im Durchschnitt je 327 Millionen Euro geschenkt. Steuerfrei, wohlgemerkt.
Da kann man mit Fug und Recht von Kinderreichtum sprechen, obwohl dieser Begriff im Deutschen ausschließlich für große Familien und Länder mit einer besonders jungen Bevölkerung verwendet wird.
Auf der anderen Seite sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland arm oder armutsbedroht.
Leben sie in einer Familie, die von Hartz IV abhängt, mssen sie je nach Alter mit 283, 309 oder 373 Euro im Monat auskommen.

Das ist sehr plastisch. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Vor allem, dass die extreme Ungleichheit beim Vermgen das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Menschheit ist. Ob ein Kind nach dem Schulunterricht auf den Bolzplatz oder in die Ballettschule geht, hängt nicht bloß von seinem Geschick und seinem Geschlecht, sondern auch oder vielleicht sogar noch mehr vom Einkommen, vom Vermögen und vom sozialen Status seiner Eltern ab.
Während die Kinder aus einkommensschwachen Familien im deutschen Schulwesen zu den größten Bildungsverlierern gehren, sind die Kinder reicher Eltern eindeutig im Vorteil. Man kann daher in Abwandlung eines Sprichwortes sagen: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruflichen Karriere.
Wer das Glück hatte, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die vermögend ist, muss sich gar nicht groß anstrengen, um mehr zu erreichen als sein der Unterschicht entstammender Altersgenosse. Habitus, sozialer Status und bekannter Name der Herkunftsfamilie reichen meist schon aus, um Personalchefs großer Firmen, Beratungsagenturen oder Anwaltskanzleien von der Qualifikation eines Bewerbers zu berzeugen.

Auch in der Pandemie zeigt sich die Ungleichheit bei den Kindern. Wo liegen die Probleme?

Deutlich wurde, dass sich die Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermgen der Familien in gesundheitlicher, Wohn- und Bildungsungleichheit der Kinder niederschlägt. Whrend viele Minderjährige aus sozial benachteiligten Familien whrend des wiederholten Lockdowns aufgrund fehlender digitaler Endgeräte regelrecht abgehängt wurden, verfügen Kinder aus gutem Hause manchmal bereits sehr früh ber ein Laptop, ein Tablet oder ein iPhone.
Finanzschwäche zieht Immunschwäche nach sich, weil Arbeitslose, Arme und sozial Ausgegrenzte häufiger als die übrigen Gesellschaftsmitglieder schwere Vor- und Mehrfacherkrankungen aufweisen.
Auch katastrophale Arbeits- und Lebensbedingungen sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhhten das Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV-2 sowie für einen schweren Krankheitsverlauf.**)
In den Gemeinschaftsunterkünften von Werkvertragsarbeiter(inne)n und Flüchtlingsheimen, wo selbst große Familien keine eigenen Sanitäranlagen haben sowie Abstands- und Hygieneregeln nur mit erheblicher Mühe oder gar nicht einzuhalten sind, ist die Ansteckungsgefahr besonders groß.

Sie sind schon lange als Ungleichheitsforscher tätig und bekannt. Wie reagieren Politiker, wenn Sie mit ihnen reden?
Was sagt beispielsweise ein konservativer Politiker der CDU, wenn Sie ihm die Auswirkungen der Ungleichheit schildern?

Er setzt in der Regel eher auf karitatives Engagement, auf das Spenden, Stiften und Sponsoring. Je mehr wohlfahrtsstaatliches Handeln um die Jahrtausendwende whrend der neoliberalen Reformära zurckgedrängt wurde, desto umfassender wurde das Bettigungsfeld für karitatives, bürgerschaftliches bzw. zivilgesellschaftliches Engagement.
Einrichtungen wie die Lebensmitteltafeln schossen zu jener Zeit nicht zufällig wie Pilze aus dem Boden. Inzwischen gibt es fast 1.000 Tafeln, deren Dachverband angibt, wchentlich 1,65 Millionen Kund(inn)en zu haben, wie die Bedürftigen im wirtschaftsliberalen, marktfixierten Neusprech genannt werden.
Ungefähr 30 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche, 44 Prozent Erwachsene im erwerbsfähigen Alter und 26 Prozent Senioren.

Welche Lösungsansätze haben Sie?

Karitatives Engagement reicht jedenfalls nicht aus. Ja, sie kann sogar kontraproduktiv sein, wenn Tafeln an die Stelle des Sozialstaates treten und zur Legitimation seiner neoliberalen Transformation beitragen.
Armut lässt sich in einem reichen Land nur politisch bekämpfen, und zwar, indem eine Um- oder Rückverteilung des privaten Reichtums stattfindet.
Kinder_d_UngleichheitWenn unsere Ursachenanalyse richtig ist, muss die Bekämpfung der Ungleichheit von Kindern bei einer Anhebung der nicht existenzsichernden Löhne ihrer Eltern beginnen. Neben einer sofortigen Anhebung des Mindestlohns auf deutlich mehr als 12 Euro ist die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung nötig, in die alle Wohnbürger/innen einzahlen, also auch Selbstsätndige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister.
Außerdem bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient. Sie muss armutsfest, bedarfsgerecht und repressionsfrei sein, also ohne Sanktionen auskommen.
Was Familien und Kinder in Armut berdies brauchen, ist ein Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur.
Ntig wre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf (junge) Menschen, die Unterstützung bentigen, um in Würde leben zu können.

Wohlhabende müssten hingegen nicht mehr Geld für ihre Kinder erhalten, sondern ebenso wie Reiche und Hyperreiche durch höhere Steuern stärker in die Pflicht genommen werden.
Zwar lsst sich der Kapitalismus mit steuerpolitischen Manahmen nicht abschaffen, es lsst sich auf diesem Weg jedoch etwas mehr Gerechtigkeit schaffen. Solange sich die Ungleichheit im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem reproduziert, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie durch Staatseingriffe unter Wahrung der Verhltnismigkeit dafür gesorgt werden kann, dass Armut gar nicht mehr entsteht.
Wenn die soziokonomische Ungleichheit ein strukturelles, das heißt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, kann sie nur durch tiefgreifende Strukturveränderungen beseitigt werden.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Nichts als Nebelkerzen: Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wagenknecht2013Diese Kampagne wird hier von Sahra Wagenknecht demontiert:
http://www.jungewelt.de/2014/06-07/054.php?sstr=Wagenknecht
Auszüge:

Die von Wirtschaftsverbänden lancierte Kampagne gegen das Rentenpaket ­verschleiert wirkungsvoll, worum es eigentlich geht:

Das Rentenniveau sinkt seit Jahren, die große Mehrheit wird im Alter nicht mehr menschenwürdig leben können

Die Unternehmerverbände schäumten, die Presse tobte. Der »Ausbau sozialer Wohltaten« sei ein »Betrug am Bürger«, zeterte BDI-Chef Ulrich Grillo, da in den Augen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie selbstverständlich nur der Abbau sozialer Leistungen einen Dienst am Bürger darstellt.
Klaus Zimmermann
, früher Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und heute Prototyp eines auf der Gehaltsliste interessierter Kreise stehenden Mainstream-Ökonomen, beschwerte sich: »Mit der Rentenparty, die die deutsche Bundesregierung gerade auf Kosten der jungen Generation vorbereitet, gibt Deutschland in Europa seinen Anspruch auf Führung in rentenpolitischen Zukunftsfragen auf.«

Ganz in diesem Sinne geißelte Springers Welt das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« als »fatales Signal der neuen deutschen Sozialromantik« und tischte den Lesern folgende Bewertung auf: »Andrea Nahles zertrümmert mit ihrer Sozialpolitik nicht nur die Agenda 2010, sondern gefährdet auch den Europa-Kurs der Kanzlerin. Der Preis dafür wird noch viel höher sein, als wir heute ahnen.«
Da schwante natürlich auch der Brüsseler EU-Kommission eine Gefährdung der »Stabilität der deutschen Staatsfinanzen«. Sie drohte eine Rüge wegen Vertragsverletzung an.

Simulierte Hysterie

Das Ganze ist ein Lehrbeispiel dafür, wie erfolgreiche Kampagnen funktionieren. Es ging um das vor gut zwei Wochen im Bundestag verabschiedete und am 1. Juli in Kraft tretende Rentenpaket, und tatsächlich ist zumindest dessen Preis während des monatelangen Feldzugs seiner Gegner ständig angestiegen.
Im Januar klagten der Direktor des von Verbänden und Unternehmen finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und ihm folgend die CDU-Mittelstandsvereinigung, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und wiederum der BDI über absehbare Mehrausgaben von 60 Milliarden Euro, die die Rentenpläne der Koalition von 2014 bis 2020 verursachen würden.
Dann fiel den Propagandaprofis offenbar auf, daß seit Beginn der Banken- und Euro-Rettung ständig weit höhere Beträge durch die Schlagzeilen geistern und die Zahl 60 Milliarden kaum noch geeignet ist, Angst und Schrecken zu verbreiten. Also nahm man kühn einen um zehn Jahre längeren Zeitraum ins Visier und schob eine Zahl in fast dreifacher Höhe nach: 160 Milliarden, hieß es nun, werde die gebeutelte Nation bis zum Jahr 2030 für die Neuerungen bei der Rente blechen müssen.
Der Eliteeinheit unter den Kampftruppen der Meinungsmache, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, genügte auch das nicht. Flugs beauftragte sie einen ihrer Hofökonomen, eine noch eindrucksvollere Zahl gutachterlich zu untermauern, und Reinhold Schnabel von der Universität Duisburg-Essen lieferte prompt: 230 Milliarden werde der Rentenwahnsinn kosten, orakelte er, von der Presse bereitwillig abgedruckt.

Während die beschlossene Besserstellung älterer Mütter, die die CDU/CSU im Wahlkampf versprochen hatte, nur gelegentlich mitkritisiert wird, richtet sich die öffentlichkeitswirksam vorgetragene Wut hauptsächlich gegen das, was Sozialministerin Andrea Nahles »Rente ab 63« nennt: die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren unter bestimmten Bedingungen und für einen eng begrenzten Zeitraum schon ab 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen zu können.

Gegen die dadurch angeblich heraufbeschworene »Frühverrentungswelle« wurde mit einer Hysterie getrommelt, als drohe eine Massenpensionierung von abhängig Beschäftigten bald jede Wirtschaftsaktivität in deutschen Landen zu ersticken.
»Länger leben und kürzer arbeiten, daß diese Rechnung nicht aufgeht, haben die meisten verstanden, nur die SPD und die Union nicht«, donnerte der Präsident des Verbandes »Die Familienunternehmer«, Lutz Goebel.
Auch die Grünen befürchten einen »Nahles-Knick« und meinen damit, daß die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 63 und 65 Jahren dramatisch einbrechen könnte, zum großen Schaden unserer händeringend Fachkräfte suchenden Unternehmerschaft.

Die ganze Debatte ist an Zynismus und Verlogenheit kaum zu überbieten. Zunächst einmal kann nach normalem Sprachgebrauch eigentlich nur eine Größe »dramatisch einbrechen«, die zuvor ein einigermaßen hohes Niveau erreicht hat.
Geflissentlich blieb in der lautstarken Debatte daher unerwähnt, wie viele Ältere aktuell in den bundesrepublikanischen Büros und Fabriken einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob nachgehen. Schaut man sich die Zahlen an, stellt man fest: Selbst unter den 60jährigen ist es gerade noch jeder dritte.
Mit jedem Lebensjahr mehr geht der Anteil drastisch nach unten: Unter den 63jährigen gibt es noch ganze 15 Prozent Vollzeitbeschäftigte, unter den 64jährigen noch 11,4 Prozent.
Bei den Frauen liegen die Werte noch niedriger. Das bedeutet: Selbst wenn alle 63jährigen sich von heute auf morgen in den Ruhestand verabschieden würden, beträfe das gerade 15 Prozent aller Menschen dieses Alters und würde die deutsche Wirtschaft kaum in den Ruin stürzen.

Wenn die offizielle Arbeitslosenzahl für die über 60jährigen dennoch »nur« bei 8,4 Prozent liegt, hat das mit schlichten statistischen Tricks zu tun. Wer das 58ste Lebensjahr überschritten hat, Hartz IV bezieht und länger als ein Jahr kein Jobangebot mehr bekommen hat, fällt bisher nämlich definitionsgemäß aus der Arbeitslosenstatistik heraus.
Das haben unsere Jobwunderpropagandisten bewußt so beschlossen, denn jeder weiß, daß Arbeitslose in dieser Altersgruppe kaum eine Chance haben, jemals wieder in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren.

Alt und Working poor

Statt einer »Frühverrentungs-« rollt hier die »Zwangsverrentungswelle«: Der von der letzten großen Koalition 2008 eingeführte Paragraph 12a im Sozialgesetzbuch II verpflichtet nämlich die Jobcenter, Hartz-IV-Beziehende an ihrem 63. Geburtstag in den Ruhestand zu schicken, ganz gleich, ob sie das wollen oder nicht.
Die meisten wollen verständlicherweise nicht, denn die erworbenen Rentenansprüche werden unter diesen Bedingungen mit gravierenden Abschlägen entwertet. Derzeit sind es 8,7 Prozent, bis 2027 steigen die Abschläge auf 14,4 Prozent. Ein Anspruch von 1000 Euro schmilzt so auf knapp 860 Euro. Die Zwangsverrentung zerstört damit oft jede Chance, im Alter noch einmal ein bißchen besser zu leben als auf Hartz-IV-Niveau. Pro Jahr trifft dies etwa 65000 Menschen.

Von den Frühverrentungshysterikern ebenfalls geflissentlich unterschlagen wird das aktuelle durchschnittliche Renteneintrittsalter, das ja mitnichten bei jenen 65 Jahren und drei Monaten liegt, mit denen man derzeit abschlagsfrei in Rente gehen kann.
Nein, im Schnitt bekommen die Leute derzeit mit 64 Jahren Altersrente. Ganz ohne Andrea Nahles und ihr Rentenpaket.
Allerdings ist der Preis dieser »Rente ab 64« hoch, eben weil sie mit kräftigen Abschlägen erkauft wird. Entsprechend erhält heute schon jeder zweite Ruheständler nicht mehr die Rente, die er eigentlich erworben hat, sondern eine geminderte.

Die schlechten Jobchancen Älterer sind in einem gesellschaftlichen Klima, das von den Beschäftigten das Ertragen von äußerstem Leistungsstreß, Verfügbarkeit rund um die Uhr, absolute Mobilität und selbstverständlich keine Anzeichen von Schwäche oder gar Krankheit erwartet, kein Wunder.
Der vielzitierten Facharbeiternot zum Trotz beschäftigen gut 36 Prozent aller Betriebe in Deutschland überhaupt keine über 50jährigen. Nur 11,7 Prozent aller Neueingestellten sind älter als 50. Mit jedem weiteren Lebensjahr geht die Zahl weiter zurück.
Wer also jenseits der 55 und gar der 60 seinen Arbeitsplatz verliert, kann relativ sicher sein, keinen neuen mehr zu finden.

Wenn die Regierung die zuletzt angestiegene Erwerbstätigkeit reiferer Jahrgänge lobt, vergißt sie in der Regel dazuzusagen, um welche Art von Jobs es sich dabei handelt.
Zum einen ist es so, daß Ältere einfach länger auf ihrer Stelle bleiben, weil es kaum noch attraktive Vorruhestandsregeln gibt und man bei einem insgesamt sinkenden Rentenniveau oft auch jeden erlangbaren Rentenpunkt braucht, um später einigermaßen über die Runden zu kommen.
Und da es vielfach trotzdem nicht reicht, gibt es eben auch immer mehr Ältere, die Minijobs, meist auch für Minilöhne, annehmen, selbst noch nach dem Renteneintritt.
So gehen heute 60 Prozent mehr Rentnerinnen und Rentner als noch vor zehn Jahren solch kreativen Tätigkeiten wie dem frühmorgendlichen Austragen von Zeitungen, dem Reinigen von Wohnungen oder dem Befüllen von Regalen in Supermärkten nach. Unbedingter Tatendrang kann dabei als Motiv ausgeschlossen werden.
Vielmehr hat die Politik der letzten Jahre erfolgreich immer mehr Menschen in die Situation gebracht, daß sie ohne Hinzuverdienst nicht mehr wissen, wie sie von ihren Hungerrenten Miete und Strom bezahlen sollen. Schließlich haben nach Berechnung des Sozialverbands Deutschland (SoVD) die Renten in den alten Bundesländern seit 2004 knapp zwölf Prozent und in den neuen Bundesländern rund acht Prozent an Kaufkraft verloren.

Damit ist allerdings auch klar, wie heuchlerisch das ganze Frühverrentungsgerede ist. Eine abschlagsfreie Rente ab 63 hätte mitnichten zur Folge, daß sehr viel mehr Menschen als ohnehin schon vor dem 65sten Lebensjahr aus dem Berufsleben ausscheiden würden.
Sie würde lediglich bedeuten, daß die Ansprüche der Betreffenden nicht gekürzt werden. So wären sie im Alter vielleicht nicht mehr gezwungen, irgendwelche entwürdigenden Tätigkeiten zu verrichten. Es geht also gar nicht um den Beginn der Rente, es geht um deren Höhe.
Und jetzt kommt der ernüchternde Teil der Wahrheit: Wenn derzeit jeder zweite Rentner mit Abschlägen in Rente geht, so wird dieses Schicksal auch ab dem Juli 2014, wenn Nahles’ sogenannte »Rente ab 63« für langjährig Versicherte eingeführt sein wird, nicht viel weniger Seniorinnen und Senioren treffen.
Denn tatsächlich ist der Kreis der Profiteure der neuen Regelung außerordentlich überschaubar. Mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen kann nämlich nur, wer zwischen Juli 1951 und Dezember 1952 geboren wurde und 45 Beitragsjahre nachweisen kann.
Für die ab 1953 Geborenen steigt die Altersgrenze allmählich wieder auf 65 Jahre an. Letzteres ist allerdings schon heute geltende Gesetzeslage, denn das hatte die damalige große Koalition bereits bei Einführung der »Rente erst ab 67« beschlossen: Wer 45 Beitragsjahre hat, soll nur bis 65 arbeiten müssen.

Das von den Wirtschaftslobbyisten zum »teuersten Rentenpaket aller Zeiten« aufgeblasene Gesetz entpuppt sich damit als schlichte Übergangsregelung: Während sich der reguläre Zeitpunkt für den Eintritt in die Altersrente – ohne irgendwelchen Widerspruch oder weitere Debatte – in Richtung der 67 bewegen soll, geht der für eine abschlagsfreie Rente der »besonders langjährig Versicherten« in Richtung 65. Genau zehn Jahrgänge sind etwas besser gestellt als jetzt, für die ab 1964 Geborenen gilt dann wieder das, was Müntefering ins Werk gesetzt hat.

Und natürlich sind auch nicht die zehn Jahrgänge insgesamt begünstigt, sondern aus jedem von ihnen nur ein relativ kleiner Personenkreis. So hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in einem Brief an Ministerin Nahles darauf hingewiesen, daß Altenpfler, Krankenschwestern, Sozialarbeiter oder Erzieher, also faktisch alle, die in sozialen Berufen oder im Gesundheitswesen tätig sind, selbst bei einer ungebrochenen Erwerbsbiographie und keinem einzigen Jahr Arbeitslosigkeit nicht in den Genuß der früheren Rente ohne Abschläge kommen werden.
Denn die Ausbildung dauert in solchen Berufen schlicht zu lang, um auf die nötigen 45 Beitragsjahre zu kommen. Als Hauptbegünstigter der Regelung wird zu recht der (meist männliche) Facharbeiter genannt, obwohl selbst von diesen Berufsgruppen nur eine Minderheit profitiert.
Zwar darf man mehrmals im Leben kurze Zeit arbeitslos gewesen sein, hat es allerdings ein Mal länger gedauert und man ist in Hartz IV bzw. war in Arbeitslosenhilfe gerutscht, ist es vorbei.

Die größte Verschlechterung, die den Kreis der Glücklichen nochmals drastisch reduziert hat, wurde auf den letzten Metern beschlossen, als die SPD vor der absurden »Frühverrentungs«-kampagne einknickte und der »rollierende Stichtag« ins Gesetz kam:
Danach werden von der vorgezogenen abschlagsfreien Rente genau die nicht mehr profitieren, die sie am dringendsten brauchen: diejenigen nämlich, die jenseits der 60 arbeitslos werden.
Die letzten beiden Jahre vor dem Renteneintritt zählen nämlich im Falle von Arbeitslosigkeit nur noch dann als Beitragsjahre, wenn letztere infolge einer Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers eintritt. Das gilt selbst dann, wenn der Betreffende Arbeitslosengeld I bezieht, von dem ja Beiträge abgeführt werden. So begünstigt das neue Gesetz faktisch nur die, die es geschafft haben, bis 63 und länger zu malochen, und deren bis dahin erworbene Rentenansprüche so gut sind, daß ein vorzeitiges Ausscheiden attraktiv erscheint – oder die von ihrem Unternehmen zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger sanft hinausgedrängt werden.

Wie viele das tatsächlich sein werden, weiß niemand genau. 2012 betrafen die Altersrenten für »besonders langjährig Versicherte« – also Menschen mit 45 Versicherungsjahren und mehr – gerade mal 12.306 Personen (10555 Männer und 1751 Frauen). Nun wurden unter dieser Rubrik allerdings nicht alle erfaßt, die in Zukunft profitieren würden.
Aber klar ist: Viele werden es nicht sein, für die sich aufgrund der »Rente ab 63« tatsächlich etwas verbessert. Die Regierung kalkuliert mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro bis zum Jahr 2017. Nach 2017 werden die Mehrausgaben dann immer kleiner, bis sie, wenn der Jahrgang 1964 in Rente geht, gleich Null sind.
Das »teuerste Rentenpaket aller Zeiten« kostet mit sieben Milliarden in dieser Legislatur also etwa ein Drittel dessen, was für den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan aufgebracht wurde.

Verkümmert auf Basisschutz

Sicher, zum Rentenpaket gehört noch die Mütterrente, die die CDU/CSU durchgesetzt hat. Für sie wird mit 6,5 Milliarden an jährlichen Kosten gerechnet, wobei Begünstigte natürlich nur jene älteren Mütter sind, deren Rente oberhalb der Grundsicherung liegt. Die Anderen gehen leer aus.

Aber nicht die Mütterrente, deren Kosten insgesamt ja ebenfalls überschaubar sind, sondern die »Rente ab 63«, die sich die SPD zurechnen kann, wurde öffentlich attackiert.
Wenn man sich die realen Zahlen ansieht, sowohl was die Kosten als auch was die Anzahl der Begünstigten angeht, erscheint die ausgebrochene Hysterie als schlichtweg krank. Aber das war sie nicht. Der Wahnsinn hat Methode. Es ging nie um die lächerlichen sieben Milliarden oder um die wenigen hunderttausend Leute, die tatsächlich einen Vorteil von dem beschlossenen Gesetz haben werden.
Es ging darum, unter dem ohrenbetäubenden Getöse über angebliche »Frühverrentungswellen«, »soziale Wohltaten« und »Kostenexplosionen« jede Debatte über den eigentlichen Skandal in der deutschen Rentenversicherung im Keim zu ersticken: den Skandal, der darin besteht, daß die gesetzliche Rente als eine den Lebensstandard im Alter halbwegs sichernde Leistung in den vergangenen 14 Jahren in Deutschland komplett zerschlagen wurde, den Skandal, daß das Rentenniveau seit Jahren sinkt und in Zukunft noch stärker sinken wird, den Skandal, daß selbst ein Durchschnittsverdiener mit relativ langer Beitragszeit heute nicht mehr damit rechnen kann, im Alter von seiner Rente menschenwürdig leben zu können, und natürlich auch den Skandal, daß die Riester-Betrugsprodukte schamlos mit öffentlichen Geldern subventioniert werden, obwohl sie bekanntermaßen nur die Banken und Versicherungen und keinen einzigen künftigen Rentner reich machen.
Und es ging darum, all jene in der SPD und in den Gewerkschaften, die sich vielleicht noch an die Wahlversprechen dieser Partei erinnern könnten, mundtot zu machen:
Wenn bereits eine so marginale und vorübergehende Verbesserung einen derartigen Aufruhr verursacht, wer wagt dann noch, mehr zu fordern, wer hat dann noch den Mut, auf das hinzuweisen, was eigentlich notwendig wäre: Die Wiederherstellung der gesetzlichen Rente.

Albrecht Müller hat vor kurzem auf den Nachdenkseiten aus einer schon älteren Rede von Bernd Raffelhüschen, einem der bekanntesten Lobbyisten der Versicherungswirtschaft, zitiert.
In dieser Rede aus dem Jahr 2008, die an selbstgefälligem Zynismus schwer zu überbieten ist, führt besagter Raffelhüschen vor Versicherungsvertretern aus: »Die Rente ist sicher – sag’ ich Ihnen ganz unverblümt. (Gelächter unter den Versicherungsvertretern.) Die Rente ist sicher, nur hat kein Mensch mitgekriegt, daß wir aus der Rente schon längst eine Basisrente gemacht haben. Das ist alles schon passiert. Wir sind runtergegangen durch den Nachhaltigkeitsfaktor und durch die modifizierte Bruttolohnanpassung. Diese beiden Dinge sind schon längst gelaufen, ja, waren im Grunde genommen nichts anderes als die größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat. (…)
Aus dem Nachhaltigkeitsproblem der Rentenversicherung ist quasi ein Altersvorsorgeproblem der Bevölkerung geworden.
So, das müssen wir denen erzählen! Also, ich lieber nicht, ich hab genug Drohbriefe gekriegt! Kein Bock mehr, irgendwie. Aber Sie müssen das, das ist Ihr Job!«

Damit diese von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP verantwortete »größte Rentenkürzung, die es in Deutschland jemals gegeben hat«, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet und die Verkümmerung der gesetzlichen Rente zu einem Basisschutz in Höhe des Hartz-IV-Niveaus mehr und mehr als Normalität empfunden wird, reden die vereinigten Kampflobbyisten vom »größten Rentenpaket aller Zeiten«, von »Sozialromantik«, »Rentenparty« und all dem Zeug, von dem sie selbst sehr gut wissen, daß es vollkommener Unsinn ist.

Um zu verstehen, wie erfolgreich diese Kampagne tatsächlich war, sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen, was die SPD sogar noch nach der Wahl, auf ihrem Parteikonvent am 24. November, beschlossen hatte. Damals hieß es wenig zweideutig: Der »… Einstieg in die Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre ist auszusetzen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist erst dann möglich, wenn die rentennahen Jahrgänge, also die 60 bis 64jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mindestens zu 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind«. Da diese Quote bei weitem nicht erreicht ist, bedeutet das eine klare Absage an die Rente erst ab 67.

Ähnlich entschieden wird zum Rentenniveau ausgeführt: »Wir werden das derzeitige Sicherungsniveau bis zum Ende des Jahrzehnts aufrechterhalten. 2020 gilt es neu zu bewerten, wie über die Wirkungen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf Beschäftigung, Einkommen und Produktivität die Ankopplung der Renten an die Erwerbseinkommen vorzunehmen ist.« Derzeit liegt das Sicherungsniveau der Rente bei 47,8 Prozent der Durchschnittslöhne. Das ist schon deutlich weniger als vor dem Unheil der Riester-Reformen, als es noch 53 Prozent waren. Bis »Ende des Jahrzehnts«, also bis zum Jahr 2020, soll dieses Niveau laut jetzt beschlossenem Gesetz auf nur noch 46,9 Prozent absinken. 2030 soll es bei mickrigen 43,7 Prozent liegen, niedriger als ohne die Neuregelung – und das alles ganz ohne »neue Bewertung«.

Manches besser, nichts gut

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Rente erst ab 67 jetzt auch von der SPD akzeptiert wird, ist übrigens nicht nur ein Bruch der eigenen Wahlversprechen, sondern fällt sogar hinter die bisher geltende Gesetzeslage zurück.
Unter öffentlichem Druck wurde die »Rente ab 67« nämlich nicht pauschal beschlossen, sondern eine Klausel aufgenommen (Paragraph 154 Absatz 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches), nach der alle vier Jahre geprüft werden soll, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint.
Um ihr Wahlversprechen »Aussetzung der Rente ab 67« zu erfüllen, hätte die SPD also noch nicht einmal ein neues Gesetz gebraucht. Sie hätte einfach nur darauf dringen müssen, die vorhandene Regelung erst zu nehmen.

»Manches wird besser, aber nichts wird gut«, hat der Rentenexperte der Linken, Matthias W. Birkwald, das Rentenpaket auf einen kurzen Nenner gebracht.
Und Norbert Blüm kritisiert: »Die verzweifelten aktuellen Reparaturversuche sind nur eine Ablenkung von den Folgen der Riester-Rente … Das Rentenniveau ist der Knackpunkt einer soliden Rentenpolitik. Wenn die 4 Prozent Beitrag zur Riester-Rente in die Rentenkasse fließen würden, wäre ein anständiges Rentenniveau zu sichern.«
Aber wer außer dem früheren CDU-Arbeitsminister, den unermüdlichen Autoren der Nachdenkseiten und vor allem der Linken thematisiert den Rentenskandal heute noch?
Die Gewerkschaften, die lange gegen die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Sturm gelaufen sind, sind weitgehend verstummt.
Und dank BDI, Springer und Co. steht Andrea Nahles öffentlich durchaus nicht als Wahlbetrügerin da, sondern als tapfere Frau, die »ihr Rentenprojekt« gegen den massiven Widerstand der Wirtschaft durchzusetzen vermochte.

Zufrieden mit ihrem Erfolg bereitet die Kampflobby jetzt ihr nächstes Projekt vor. Die Geschütze sind bereits in Stellung gebracht, die ersten gekauften Hofökonomen und solche Politiker, deren Ruf ohnehin ruiniert ist, beginnen zu feuern. »Der Anstieg der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer wie auch des Rentenzugangsalters auf 64 Jahre zeigt, daß die Rente mit 70 … nicht nur machbar, sondern auch geboten ist«, predigt IW-Chef Michael Hüther.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sekundiert: »Durch die steigende Lebenserwartung und die demographische Wende ist die Frage der Rente mit 70 unausweichlich«.
Und auch der Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, belehrt uns: »Um die finanzielle Stabilität der Rentenversicherung langfristig zu sichern, sollte das Renteneintrittsalter ab dem Jahr 2029 regelgebunden weiter ansteigen, orientiert an der absehbaren Entwicklung der künftigen Lebenserwartung«.
Aus der politischen Kaste wagt sich EU-Energiekommissar Günther Oettinger hervor, für den es, wie zu befürchten steht, auch in der neuen EU-Kommission Verwendung geben wird: »Wir haben einen Fachkräftemangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen.«
Noch Fragen?

Um die Notwendigkeit eines späteren Renteneintritts zu begreifen, reiche Volksschule Sauerland, hatte Franz Müntefering einmal gesagt.
Um die hinter der Renten-Kampagne stehenden Interessen zu verstehen, sollte eigentlich das simple Einmaleins genügen.
Freilich nur, wenn wir uns von dem öffentlichen Getöse nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Sahra Wagenknecht ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion von Die Linke im ­Bundestag

Jochen