Eine progressive Vision nationaler Souveränität für die Europäer ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein recht ausführlicher und ehrlicher Artikel von Thomas Fazi auf dem Makroskop:
https://makroskop.eu/2017/06/eine-progressive-vision-nationaler-souveraenitaet/
speziell in der Vorbereitung des Linken-Parteitags.
Dem Text fehlt aber noch viel konkretes „Fleisch“, das von alternativ denkenden Oekonomen erarbeitet werden müsste, ebenso die psychologische Begleitung mit der Zielsetzung, daraus auch eine Begeisterungsfähigkeit für diese Vision zu entwickeln, wie sie unter Willy Brandt noch spürbar war und auf deren Mangel u.a. A.Müller ständig hinweist.

Auch ich bin noch in einem inneren Diskussionsprozess, prinzipiell überzeugter Europäer und zerrissen bei der Frage, ob ich mir eine Regierungsbeteiligung der Linken wünschen soll oder lieber eine ausgedünnte Opposizion gegenüber einer neuen GroKo.
Hier Auszüge:

Eine progressive Vision nationaler Souveränität

Von Thomas Fazi

Die Meinung, dass nationale Souveränität mit rechtsgerichtetem Gedankengut einhergeht, hat bei vielen Linken den Status eines Dogmas und verhindert, das Thema als Antrieb für einen progressiven gesellschaftlichen Wandel zu nutzen.

In den letzten 12 Monaten hat eine Bewegung gegen das Establishment den Westen im Sturm erobert. Dazu zählt das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Wahl Donald Trumps in den USA, die Ablehnung Matteo Renzis konstitutioneller Reform in Italien, der wachsende Zuspruch für den Front National in Frankreich und anderer hauptsächlich rechter Parteien in ganz Europa. Auch wenn hinter diesen Phänomenen unterschiedliche Ideologien und Ziele stehen, sind sie alle als Ablehnung der (neo-)liberalen Ordnung zu interpretieren.

Obwohl die unmittelbaren Ursachen dieser Phänomene offensichtlich sind – sinkender Lebensstandard, wachsende soziale Ungleichheit, Angst vor Migranten usw. –, hat die derzeitige Krise viel tiefer gehende Wurzeln, die bis in die 70er Jahre zurückreichen; in die Zeit, als das fordistisch-keynesianische Modell der Nachkriegszeit – welches die Grundlage für ein 30-jähriges wirtschaftliches Wachstum bildete – in eine tiefe strukturelle Krise rutschte.
Damit wurde der Weg für ein grundlegend anderes Sozial- und Wirtschaftsmodell geebnet, das sich durch die folgenden Charakteristika auszeichnet: Handelsliberalisierung und Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Lohnzurückhaltung, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierung staatlicher Unternehmen und fiskalischer Einsparungen. In einem Wort: Neoliberalismus.

Diese „Gegenrevolution“ wurde durch die regierenden Eliten initiert, um die Macht ihrer Klasse wiederherzustellen, die aufgrund der wachsenden Forderungen organisierter Arbeitnehmer und radikaler sozialer Bewegungen extrem geschwächt wurde [1].
Der Erfolg dieser Gegenrevolution manifestierte sich in einem dramatischen Absinken des Anteils der Gehälter am Nationaleinkommen und somit der Kaufkraft der Arbeiterschaft [2].
Paradoxerweise droht dieser Erfolg das Ziel dieser Politik zunichte zu machen: Die Profitmaximierung. Denn Profite können nur erzielt werden, wenn ausreichend effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen besteht – und dabei spielt die Lohnhöhe eine entscheidende Rolle.

Finanzialisierung

Die Antwort des Kapitalismus auf die Widersprüche des neoliberalen Politikmodells war die Finanzialisierung und der schuldenbasierte Konsum. Haushalte, die mit stagnierenden Löhnen und sinkender Kaufkraft konfrontiert waren, wurden dazu ermutigt, immer mehr Geld zu leihen, um die Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben wettzumachen.
Das führte zu einem kolossalen Anstieg privater Schulden, speziell in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern.

Diese Form des „privatisierten Keynesianismus“ war zusätzlicher Treibstoff für die Entwicklung von Kreditblasen, die schließlich 2008 platzen. Sie erlaubte zudem einem winzigen Teil der Weltbevölkerung, immer mehr Vermögen anzuhäufen. Das alles geschah ohne nennenswerten Widerstand der „unteren Klassen“.
Diese waren durch wirkungsvolle neoliberale Diskurse eingeschläfert, die die liberalisierende Dynamik des „freien Marktes“ (vom Garagenerfinder à la Steve Jobs beispielhaft illustriert) gegen den verkrusteten und ineffizienten Staat (vom Papierschieber des Staates beispielhaft illustriert) in Stellung brachten.

Mit der Finanzialisierung war es möglich, die zur Stagnation beitragenden Effekte der neoliberalen Politik der Profitmaximierung vorübergehend hinaus zu schieben, führte aber dazu, dass dieses Akkumulationsregime 2007/2009 in Flammen aufging. Es lodert bis heute, da der Berg an Schulden, der in den vorhergehenden Jahrzehnten angehäuft wurde, krachend von der Decke ins Wohnzimmer fiel und die Weltwirtschaft einzuschmelzen drohte.

Zwar konnten die westlichen Regierungen einen GAU vermeiden und (für gewisse Zeit) die aus der Finanzkrise resultierenden negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen in Grenzen halten, indem sie – mit noch mehr Nachdruck – die Finanzialisierung erneut als Hauptmotor der Wirtschaft einsetzten.
Doch es half nicht, die wirtschaftliche Stagnation in vielen entwickelten Volkswirtschaften zu überwinden.

Der schuldenbasierte Konsum stand jetzt aufgrund der „Liquiditätsfalle“ und dem Schuldenabbau des Privatsektors nach der Krise nicht länger als Quelle autonomer Nachfrage zur Verfügung. Eine angemessene Gesamtnachfrage mittels lohnbasiertem Konsum lässt sich unter der derzeitigen Politik nicht aufrechterhalten – denn wie erwähnt sank die Kaufkraft der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten. In diesem Sinne sollte die derzeitige Stagnation als Folge der langen Krise gesehen werden, die bereits in den 70er Jahren ihren Anfang nahm.

Indes verschlimmert(e) sich die Situation nach der Krise weiter. Eine Reihe von westlichen Staaten sahen mit der Finanzkrise die Chance, einen noch radikaleren neoliberalen Kurs einzuschlagen.
Politische Maßnahmen wie die fiskalische Austeritätspolitik und Lohndeflation gereichten den Reichen und dem Finanzsektor zum Vorteil – und zum Nachteil aller anderen.

Kapitalisierung von Unzufriedenheit

Inmitten wachsender Unzufriedenheit, sozialer Unruhe und Massenarbeitslosigkeit (in verschiedenen europäischen Ländern), reagierten die politischen Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks mit business-as-usual-Politik und -Diskursen.
Als Folge ist das soziale Verhältnis zwischen Bürgern und Regierungen angespannter als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. In einigen Ländern wurde das Verhältnis bereits zerstört, wie eine Reihe von „Protestwahlen“ in diversen Ländern bezeugen. Der Protest richtete sich dabei, trotz der unterschiedlichen Umstände, unter denen diese Wahlen stattfanden, immer gegen den gleichen „Gegner“: Globalisierung, Neoliberalismus und das politische Establishment, welches die beiden Doktrinen befördert hat.

Viele sehen diese neonationalistische, gegen die Globalisierung und das Establishment gerichtete Revolte als Ankündigung des Endes der (neo-)liberalen Ära und das Einläuten einer neuen globalen Ordnung. Insbesondere Trump hat mit der Ankündigung und Implementierung „protektionistischer Maßnahmen“ Politiker und Kommentatoren weltweit in Alarmbereitschaft versetzt.

Doch ohne den symbolischen und ideologischen Wert dieser Entscheidungen kleinreden zu wollen, war die Globalisierung bereits weit vor der Wahl Trumps in Schwierigkeiten. Seit 2011 wuchs der Welthandel signifikant geringer als das globale BIP. Und mittlerweile sinkt er sogar, obwohl die Weltwirtschaft – wenn auch nur im Schneckentempo – wächst.
Die globalen Finanzströme haben seit dem Höchstwert kurz vor der Krise um 60% abgenommen.

In diesem Sinne sind der Wahlsieg Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer Parteien „nur Begleiterscheinungen bedeutsamer Verschiebungen in der globalen Volkswirtschaft und internationaler geopolitischer Anpassungen, die seit den 70er Jahren stattfinden“, wie Vassilis K. Fouskas und Bulent Gokay analysieren. Und zwar:

  • die Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells und der neoliberalen Ideologie, die nicht länger in der Lage ist, die immanenten stagnierenden und polarisierenden Tendenzen zu überwinden und gesellschaftlichen Konsens bzw. eine gesellschaftliche Vormachtstellung (in materiellem bzw. ideologischem Sinne) herbeizuführen. Darüber hinaus ziehen selbst die Unterstützer des Neoliberalismus immer weniger Nutzen aus ihm.
  • die Krise der Globalisierung, die nicht länger dem erbarmungslosen Druck der Überakkumulation und Überproduktion entrinnen kann, die vor allem der verstärkten Konkurrenz aus Ländern wie China geschuldet ist (die wiederum mit der eigenen Überakkumulation zu kämpfen hat);
  • die ökologische Krise, d.h. Grenzen hinsichtlich der Energieversorgung und Versorgung mit anderen biophysischen Ressourcen, die den wirtschaftlichen Prozess am Laufen halten und auf dessen Funktionalität Einfluss haben;
  • die Vorherrschaftskrise der USA, die nicht länger in der Lage sind, einseitig die globale neoliberale Ordnung durchzusetzen, weder durch weiche Macht (d.h. durch pro-westliche multilaterale Institutionen wie dem IWF und der Weltbank) wie während der 90er Jahre, noch durch harte Macht (d.h. mit reiner militärische Stärke) wie in den frühen 2000er Jahren – was sich vor allem durch den (bisher) fehlgeschlagenen Versuch des Westens, Assad in Syrien zu stürzen, zeigt. Trumps unnachgiebige Haltung bezüglich Chinas und anderer Überschussländer (wie Deutschland), die er der Währungsmanipulation bezichtigt, und seine Pläne zur „Wiederverstaatlichung“ der US-Wirtschaftspolitik sollten daher im Kontext mit dem sich abzeichnenden Kollaps der neoliberalen Ordnung verstanden werden.

Wovon wir Zeuge werden, ist nicht das Ende der Globalisierung. Sie wird weitergehen, auch wenn sie höchstwahrscheinlich durch verstärkte Spannungsfelder zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des internationalen Kapitals und einer Kombination aus Protektionismus und Internationalisierung gekennzeichnet sein wird. Was wir erleben, ist eher die Geburt einer post-neoliberalen Ordnung.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie diese Ordnung aussehen wird. Bisher liegt keine neue kohärente Ideologie oder kein neues Akkumulationsregime auf der Lauer, um den Neoliberalismus zu ersetzen.

Antonio Gramsci beschrieb organische Krisen, wie die, die wir gerade erleben, treffend als Situationen, in denen „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“. „In dieser herrscherlosen Phase“, so Gramsci, ist es nicht selten, dass „eine große Vielfalt an Krankheitssymptomen“ – so wie die, die ich oben geschildert habe – in Erscheinung treten.

Was diese „Krankheitssymptome“ als dominante Reaktion auf den Neoliberalismus und die Globalisierung hervorgerufen hat, ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass die Kräfte des rechten Lagers den Unmut der Massen, die aufgrund des vierzigjährigen neoliberalen Klassenkampfs von Oben entrechtet, an den Rand gedrängt, verarmt und enteignet wurden, viel effektiver als die linken bzw. progressiven Kräfte aufgegriffen haben.

Letztendlich waren sie die einzigen Kräfte, die eine (mehr oder weniger) schlüssige Antwort auf das weitverbreitete – und wachsende – Verlangen nach mehr territorialer und nationaler Souveränität liefern konnten. Denn dies wird zunehmend als der einzige Weg gesehen, um einen gewissen Grad an kollektiver Kontrolle über Politik und Gesellschaft – in Abwesenheit effektiver supranationaler Mechanismen der Repräsentativität – zurückzuerlangen.

Da der Neoliberalismus einen Krieg gegen die nationale Souveränität führt, sollte es nicht verwundern, dass „Souveränität das Grundgerüst zeitgenössischer Politik darstellt“, wie Paolo Gerbaudo anmerkt. Denn letzten Endes war das Aushöhlen der nationalen Souveränität und die Beschneidung gängiger demokratischer Mechanismen – was auch als Entpolitisierung definiert wurde – das essentielle Element des neoliberalen Projekts. Es zielte darauf, makroökonomische Politik von populären Streitfragen abzuschirmen und jegliche Hindernisse, die dem wirtschaftlichen Austausch und den Finanzströmen in den Weg gelegt wurden, zu beseitigen.

Laut Stephen Grills haben Neoliberalismus und Globalisierung somit nicht dazu geführt, dass – wie viele linke Studien behaupten – sich der Staat gegenüber dem Markt zurückgezogen hat. Eher hat er sich umgestaltet, um die Befehlsgewalt über die Wirtschaftspolitik „in die Hände des Kapitals und primär die der finanziellen Interessen“ zu legen.
Aufgrund der schädlichen Effekte der Entpolitisierung ist es nur normal, dass der Aufstand gegen den Neoliberalismus zuallererst in Form von Forderungen nach einer Repolitisierung des nationalen Willensbildungsprozesses erfolgen muss.

Rückgewinnung von nationaler Souveränität

Dass die Vision von nationaler Souveränität, welche im Zentrum der Kampagnen um Trump und den Brexit stand und derzeit den öffentlichen Diskurs dominiert, als reaktionär und quasi-faschistisch bezeichnet werden kann,[3] sollte kein Argument gegen das Konzept der nationalen Souveränität sein.
Die Geschichte zeigt, dass nationale Souveränität und Selbstbestimmung keine reaktionären oder chauvinistischen Konzepte sind. Tatsache ist, dass diese Konzepte den Kämpfen unzähliger Sozialisten und linker Freiheitsbewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts Ziele vorgaben.

Selbst wenn wir unsere Analyse auf die Kernländer des Kapitalismus beschränken, ist es offensichtlich, dass nahezu alle großen sozialen, ökonomischen und politische Fortschritte der letzten Jahrhunderte den Institutionen des demokratischen Nationalstaats zu verdanken sind und nicht den internationalen, multilateralen oder supranationalen Institutionen. In Wirklichkeit werden letztere in einer Vielzahl von Fällen genutzt, um gerade diese Fortschritte rückgängig zu machen.

Am besten lässt sich das im Kontext der Eurokrise beobachten. Supranationale Institutionen (die größtenteils niemandem Rechenschaft schuldig sind) wie die Europäische Kommission, die Eurogruppe und die EZB haben ihre Macht und Autorität genutzt, um einschneidende Austeritätsmaßnahmen gegen in Not geratene Länder zu verhängen. Das Problem, um es kurz zu sagen, ist nicht die nationale Souveränität, sondern der Umstand, dass das Konzept in den letzten Jahren größtenteils von den Rechten und Rechtsextremen für sich in Anspruch genommen wurde. Diese Gruppierungen sehen es als einen Weg, ihre ausländerfeindliche und identitäre Agenda durchzudrücken.

Warum also war es dem Mainstream der Linken nicht möglich, eine alternative, progressive Sicht auf die nationale Souveränität als Antwort auf die neoliberale Globalisierung zu entwickeln?

Die Antwort lautet, dass im Verlauf der letzten dreißig Jahre der Großteil der Linken das falsche Narrativ akzeptiert haben. Nämlich, dass Nationalstaaten im Wesentlichen durch den Neoliberalismus und/oder die Globalisierung überflüssig gemacht worden seien und daher bedeutsame Veränderungen nur auf internationaler/supranationaler Ebene herbeigeführt werden könnten. Übersehen wird, dass diese Entwicklungen hauptsächlich vom Staat selbst herbeigeführt wurden.

Hinzu kommt, dass die meisten Linken mittlerweile den makroökonomischen Mythen Glauben schenken, die das neoliberale Establishment nutzt, um den Staat davon abzuhalten von seiner fiskalischen Kapazität Gebrauch zu machen.
Beispielsweise wurde fraglos die sogenannten Haushaltsbudget-Analogie akzeptiert: Regierungen, die eine eigene Währung ausgeben, sind demnach genauso wie Haushalte in ihrem finanziellen Spielraum beschränkt; fiskalische Defizite führen zu Schulden, die die kommenden Generationen belasten.

Von dieser Analogie wird in der europäischen Debatte erfolgreich Gebrauch gemacht. Trotz der desaströsen Effekte der institutionellen Ausgestaltung der EU und der Währungsunion klammern sich die Mainstream-Linken weiterhin an diese Institutionen.
Sie glauben, dass diese in eine progressive Richtung reformiert werden können – ungeachtet der Faktenlage, die das Gegenteil beweist.
Zudem lehnen sie jegliche Diskussion über eine progressive Agenda auf Grundlage einer wiederhergestellten nationalen Souveränität ab.
Ein „Rückzug auf nationalistisches Terrain“ würde den Kontinent zwangsläufig mit einem Faschismus wie in den 30er Jahren überziehen, so die Überzeugung.

Damit überlässt man das weitläufige politische Schlachtfeld im Kampf gegen den Neoliberalismus dem rechten Lager bzw. den Rechtsextremen. Wenn progressiver Wandel nur auf globaler oder europäischer Ebene herbeigeführt werden könnte, bleibt den Wählern nur die Wahl zwischen reaktionärem Nationalismus und progressiver Globalisierung. Die Linke hätte den Kampf dann bereits verloren.

Das muss aber nicht so sein. Eine progressive, emanzipierte Vision von nationaler Souveränität, die eine ernsthafte Alternative zu den Rechten und den Neoliberalen darstellt, ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Sie basiert auf der Volkssouveränität, der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung von reich zu arm, Inklusion und gewissermaßen der sozioökologischen Transformation der Produktion und Gesellschaft.

Das alles muss auch nicht auf Kosten der europäischen Kooperation gehen. Ganz im Gegenteil: Die Fakten belegen, dass die schraubstockartige Umklammerung durch die Eurozone die nutzstiftenden Aspekte in Gefahr bringt, die mit der Gründung der Europäischen Union einhergegangen sind.
Demonstriert wurde das unlängst durch die Reaktion Europas auf die Flüchtlingskrise. Diese Umklammerung führt zu einer Verschärfung zwischeneuropäischer Divergenzen und zu weitreichender sozialer Verwüstung. Sie schürt nationale Ressentiments, wie man sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr gesehen hat.
Der wahre Wert des Europäischen Projekts besteht in seiner Fähigkeit, multilaterale Kooperationen hinsichtlich von Problemen wie der Immigration, dem Klimawandel, dem Menschenhandel, die einzelne Nationen alleine nicht lösen können, in Gang zu bringen und zu koordinieren.

Wenn man die monetären und fiskalischen Werkzeuge, die man zur Sicherstellung des Wohls der eigenen Bürger benötigt, den nationalen Regierungen wieder zurückgeben würde, wäre diese Art der Kooperation nicht untergraben.
Im Gegenteil: Es würde die Basis für ein erneuertes Europäisches Projekt – und im allgemeineren Sinne für eine neue international(istisch)e Weltordnung – legen, die auf der multilateralen Kooperation zwischen souveränen Staaten basiert.

Der Artikel erschien in englischer Sprache ursprünglich im Green European Journal und wird hier in leicht gekürzter und deutscher Fassung mit Zustimmung des Autors nachgedruckt.

Varoufakis: Wir brauchen eine »progressive Internationale«

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Varoufakis_mHier spricht mir wieder einer aus der Seele. Ich habe große Sympathien für das griechische Volk, genau so wie für die Spanier, Portugiesen und Italiener. Und die Franzosen natürlich mit ihrem fortgesetzten Kampf um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Eine neue Internationale ist das Einzige, was den Lohnabhängigen helfen kann gegen die neoliberale Dumpingkonkurrenz der Staaten.
Da fällt mit ein – hat es so was nicht schon mal gegeben ? Und ist mit Willy Brandt auch die Sozialistische Internationale gestorben?

Und wie kann man Mitglied dieser neuen Internationale werden ? Was ist mit denen, die keine Fremdsprachen sprechen ?

Also, Registrieren geht ganz einfach, nämlich hier und auch auf Deutsch:

https://www.diem25.org/forum/ucp.php?mode=register

Man soll sich die Teilnahmebedingungen bzw. den Nutzungsvertrag unbedingt durchlesen. Er ist sehr sorgfältig formuliert und verdient Respekt. Siehe unten!

Und: Wer kann in Deutschland, in Frankreich eine sozialistische Führungspersönlichkeit sein wie Sanders in den USA oder Corbyn in Großbritannien ? Solche Leute sind in der SPD seit Willy Brandt und Oskar Lafontaine nicht mehr zu finden.
Hier auszugsweise der Artikel aus dem Neuen Deutschland:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1020848.varoufakis-wir-brauchen-eine-progressive-internationale.html

DiEM25-Mitgründer: Rechte und Neoliberale sind »Komplizen« / Plädoyer für »grünes Bretton Woods«

Berlin. Vor dem Hintergrund des europaweiten Aufstiegs rechter Parteien und der Krise de s etablierten Politikbetriebs hat der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mehr Anstrengungen zur Schaffung »einer internationalen progressiven Bewegung« gefordert. »Die Politik in den Industrieländern des Westens steckt inmitten eines politischen Umbruchs, wie man ihn seit den 1930er Jahren nicht erlebt hat«, schreibt der Ökonom im »Project Syndicate«. Die auf beiden Seiten des Atlantiks um sich greifende Große Deflation sorge »für eine Wiederbelebung politischer Kräfte, von denen man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nichts mehr gehört hat«.

Die Rechte nutze dabei »den berechtigten Zorn und die enttäuschten Hoffnungen der Opfer aus, um ihre widerliche Agenda voranzutreiben«, warnt Varoufakis. Grund für die wachsende Zustimmung für Parteien wie den »Front National« in Frankreich oder die Rechtsaußen-AfD in Deutschland sei nicht zuletzt die Politik der neoliberalen Deregulierung, der Bruch mit der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods, die »den politischen Konsens der Nachkriegszeit prägte und auf einer ›gemischten‹ Ökonomie, Beschränkungen der Ungleichheit und starker Finanzregulierung beruhte«, so Varoufakis.

Das sich heute verbreitende Elend und die wachsende soziale Spaltung seien »natürliche Auswirkungen der Implosion zentristischer Politik aufgrund einer Krise des weltweiten Kapitalismus, im Rahmen derer ein Finanzcrash zu einer Großen Rezession und anschließend zur Großen Deflation von heute führte«.
Das Resultat der von Neoliberalen vorangetriebenen »extremen Finanzialisierung« der Ökonomie seien »enorme Ungleichheit und umfassende Schutzlosigkeit«.

Varoufakis zeichnet vor diesem Hintergrund ein Bild von zwei neuen Blöcken, die derzeit die politische Landschaft bestimmten: »Der eine Block besteht aus der alten Troika der Liberalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung.« Dieser Blocks befände sich teils »noch immer an der Macht, aber sein Marktwert fällt rasch, wie David Cameron, Europas Sozialdemokraten, die Europäische Kommission und sogar Griechenlands Post-Kapitulationsregierung von der SYRIZA bezeugen können«.

Den anderen Block nennt Varoufakis »eine nationalistische Internationale« aus rechten und »illiberalen« Regierungen – er reicht vom rechtspopulistischen Milliardär und Präsidentschaftskandidat Donald Trump in den USA über Großbritanniens rechte Brexit-Befürworter bis zu den Rechtsregierungen Polens und Ungarns sowie zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Sie eint die Verachtung der liberalen Demokratie und die Fähigkeit, jene zu mobilisieren, die diese Demokratie gerne vernichten würden«, so Varoufakis.

»Eigentlich keine Feinde, sondern Komplizen«

Was wie ein Konflikt zwischen diesen beiden Blöcken aussieht – die aktuellen Schlagzeilen zeugen europaweit davon – sei zwar auf der einen Seite eine reale Auseinandersetzung um Macht, andererseits »aber auch irreführend«. Die Widersacher »sind eigentlich keine Feinde, sondern Komplizen, verstrickt in eine Endlosschleife wechselseitiger Bestärkung, wobei sich jede Seite darüber definiert, wogegen sie ist – und ihre Anhänger auch auf dieser Grundlage mobilisiert«, so der frühere Finanzminister.

Varoufakis sieht aus der als politisch höchst gefährlich eingeschätzten Lage nur einen Ausweg: »progressiver Internationalismus auf Grundlage der Solidarität zwischen großen Mehrheiten auf der ganzen Welt, die bereit sind, demokratische Politik auf weltweiter Basis wieder aufleben zu lassen«.
Auf zu erwartende Skepsis, weil diese Forderung zu utopisch klingt, antwortet der Ökonom schon vorab: Es gebe bereits Ansätze dafür, es komme nun darauf an, diese zu stärken.

Zu den »Vorboten einer internationalen progressiven Bewegung« zählt er den Wahlkampf des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders in den USA, das Ringen des linken Labourchefs Jeremy Corbyn in Großbritannien und nicht zuletzt die von ihm selbst mitinitiierte linke Europabewegung DiEM25.
Die »Große Deflation« und ihre sozialen wie ökonomischen Folgen würden »eine große Frage« aufwerfen, so Varoufakis: »Gelingt es der Menschheit ohne Massenelend und Zerstörung wie sie dem ursprünglichen Bretton Woods vorangegangen waren, ein neues, technologisch fortgeschrittenes, «grünes» Bretton Woods zu konzipieren und umzusetzen?«

Entsprechende Vorschläge hatte der Ökonom bereits früher lanciert, unter anderem mit einem globalen Ausgleich von Handelsungleichgewichten, mit einem weltweiten Staatsfonds zur Förderung regenerativer Energien und nachhaltiger Technologien sowie starker Einhegung der Finanzmärkte. Es liege an den progressiven Internationalisten, diese Frage zu beantworten. Denn, so Varoufakis: »Keiner der derzeit im Westen um die Vorherrschaft ringenden politischen Blöcke möchte, dass diese Frage überhaupt gestellt wird.«

Kipping: Linke dürfen historische Chance nicht verpassen

Ähnlich hatte sich zuletzt auch die Vorsitzende der deutschen Linkspartei, Katja Kipping, geäußert. »Die europäische Idee ist in einer existenziellen Krise und uns droht die Wiederkehr der unseligen Zeiten nationalistischer und chauvinistischer Wallungen«, warnte sie in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter Rundschau«. Der Nationalismus mache »unser Leben nicht besser, er macht die Armen nur ärmer, er nimmt nichts den Reichen, sondern macht Flüchtlinge und Migranten zu Schuldigen der allgegenwärtigen Misere«, so Kipping.

Auch die Linkenpolitikerin setzt auf »eine demokratische Dissidenz jenseits der Hetze der Rechten und jenseits des marktradikalen Weiter-so der Etablierten«. Sie verwies auf »eine Kultur der Solidarität und Hilfe für Neuangekommene in diesem Land« sowie »wirkungsmächtige Proteste gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP«. Auch »das Engagement vieler in Stadtteilen, Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Bewegungen« gehöre dazu.
»Bisher haben eine postdemokratische EU-Kommission und ein anwachsender nationalistischer Furor die Zukunft des Kontinents weitgehend unter sich ausgemacht«, so Kipping. Nun müsse »eine solidarische Alternative auf europäischer Ebene« gestärkt werden. »Denn sozial geht in Zeiten globaler Finanzmärkte, von Klimawandel und Fluchtbewegungen nicht mehr national«, so die Bundestagsabgeordnete.

Die Krise biete »auch eine historische Chance, die linke, progressive und demokratische Milieus in Deutschland nicht verpassen dürfen«. Ein sozialer Aufbruch in Europa müsse etwa auf ein EU-weites Zukunfts- und Investitionsprogramm für die öffentliche Daseinsfürsorge und gegen Massenerwerbslosigkeit drängen sowie die Kontrolle der Banken, eine Finanztransaktionssteuer und eine tatsächliche Unternehmenssteuer zum Ziel haben.
Es sei »an der Zeit, die Demokratiefrage europäisch zu denken«, so Kipping. »Anstatt also nationale Egos zu bedienen, sollten sich alle progressiven Kräfte an das Erbe der Aufklärung erinnern und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit stellen – offensiv und radikalvk

Richtlinien für DiEM25-Freiwillige

https://diem25.org/richtlinien-fur-diem25-freiwillige/

Nach dem Berlin-Event hatte DiEM25 ziemlich schnell mehr als 17.000 Mitglieder, von denen sich mehr als 12.000 als freiwillige Helfer angeboten haben. Das ist großartig! Das verdeutlicht, wie groß das Bedürfnis nach Demokratie in Europa ist, und dass die Menschen bereit sind, selbst anzupacken, um dieses Ziel zu erreichen. Die Kerngruppe, die DiEM25s Infrastruktur geschaffen hat, zählt jedoch nicht mehr als eine Handvoll Menschen. Selbst wenn 100 weitere Koordinierende gefunden würden, könnten sie keine 12.000 Freiwilligen koordinieren.

Also wird DiEM25 zu radikalen Mitteln greifen: den eingereichten Bewerbungen nach sind die meisten Freiwilligen offenbar sehr kluge und fähige Menschen.Nutzt diese Fähigkeiten, um euch selbst zu organisieren und DiEM25 voranzubringen. Wir vertrauen euch. Wartet nicht’ auf Anweisungen, sondern tut euch mit ein paar weiteren Mitgliedern zusammen, nutzt eure Intelligenz, um eigenständig Strategien zu entwickeln, wie ihr DiEM25 zum Erfolg bringen könnt, und wartet nicht auf Genehmigung, legt einfach los!

Für DiEM25 sind Freiwillige viel mehr als nur Freiwillige, helft uns DiEM25 zusammen aufzubauen.

DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs) – DiEM25 Spontane Gemeinschaften

Unsere Idee ist nicht neu. Unter anderem greift sie auf das Konzept der “spontanen Ordnung” aus der schottischen Aufklärung zurück, auf gewisse Ideen oder Praktiken der Selbstverwaltung und Genossenschaften und auf Rick Falkvinges “Schwarm”. Bei DiEM25 geben wir diesen Erkenntnissen über die Fähigkeit der Teilnehmenden, sich selbst zu organisieren, nun neuen Schwung, indem wir Versammlungen in Stadthallen (aus welchen schließlich Koordinationskomitees entstehen) mit digitalen Teams aus DiEM25-Mitgliedern kombinieren, die wiederum ihren Teil dazu beitragen, die Ziele unseres Manifests voranzutreiben. Hoffentlich gefällt euch unser Neologismus: DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs) – DiEM25 Spontane Gemeinschaften

Einige Richtlinien für den Aufbau und die Inganghaltung von DSCs DiEM25 Spontaneous Collectives (DSCs)

Lokal – Für die meisten Aktivitäten bietet es sich an, mit Leuten in eurer Umgebung eine DSC zu gründen, damit ihr die Möglichkeit habt, euch ohne Sprach- und Kulturbarriere zu treffen. Daher ist der erste Schritt auf dem Weg zur Gründung einer DSC, das Forum eures jeweiligen EU-Mitgliedsstaats zu besuchen und ein paar Leute in eurer Umgebung zu finden. Ihr braucht nicht viele zu sein – die effizienteste Gruppengröße ist 7 oder weniger.

Horizontal – Niemand in eurer DSC (und niemand in ganz DiEM25!) kann euch etwas vorschreiben. Dennoch solltet ihr eine Person auswählen, die dafür verantwortlich ist, die Kommunikation zwischen DiEM25 und eurer DSC aufrechtzuerhalten. Wenn ihr etwas unternehmt, lernt oder einen Erfolg feiert, sollte die für die Koordination verantwortliche Person im entsprechenden EU-Mitgliedsstaat-Forum darüber berichten. Der oder die Koordinierende sollte auch Ideen und Erkenntnisse aus der größeren Organisation an eure DSC weiterleiten. Es ist sinnvoll, eine Stellvertreterin oder einen Stellvertreter für die Koordinatorin oder den Koordinator zu wählen, falls er oder sie sehr beschäftigt oder im Urlaub ist.

Verantwortungsvoll – Ihr werdet DiEM25 in der Öffentlichkeit repräsentieren, zumindest für diejenigen, die euch sehen. Aus diesem Grund vertrauen wir darauf, dass ihr keine anderen Angelegenheiten oder Werte vertretet als die im Manifest umrissenen sowie die aktuelle(n) Kampagne(n). Wenn ihr euch für andere Dinge einsetzen wollt, bitte tut dies als Individuen. Um sicherzustellen, dass alle Aktionen der einzelnen Zellen mit dem Manifest übereinstimmen, und um eine gewisse Kontrolle darüber zu behalten, wie DiEM25 in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, bittet fünf DiEM25-Mitglieder (können Zellenmitglieder sein, müssen aber nicht), alle Texte / Bilder / Videos / Aktionen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, abzusegnen. – wenn ihr die Zustimmung von fünf Mitgliedern habt, dann dürft ihr sie offiziell im Namen von DiEM25 posten.

Wer will mitmachen ?

Jochen

Lukrative Unwetter – Katastrophenanleihen bringen hohe Rendite

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Lesenswerter Artikel über eine neue Oase der Spekulation:
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/03/14.mondeText1.artikel,a0007.idx,1
Dazu auch Naomi Klein: Die Schock-Strategie

Auszüge:

von Razmig Keucheyan

Anfang November 2013 fegte der Supertaifun „Haiyan“ über die Philippinen hinweg. Die Bilanz: mehr als 6 000 Tote, 1,5 Millionen zerstörte oder beschädigte Wohnungen, Schäden in Höhe von 13 Milliarden Dollar.
Am 22. Januar 2014 präsentierten zwei der größten Versicherungskonzerne, Munich Re und Willis Re, in Anwesenheit von Vertretern des UN-Büros für Katastrophenvorsorge UNISDR (United Nations International Strategy for Desaster Reduction) dem philippinischen Senat, der zweiten Kammer des Parlaments, ein neues Finanzprodukt, das die angeblichen Schwächen des Staats beim Umgang mit Klimakatastrophen ausgleichen soll.

Bei dem Produkt namens Prism (Philippines Risk and Insurance Scheme for Municipalities) handelt es sich um eine Art Katastrophenanleihe mit hoher Rendite.(1)
Philippinische Gemeinden können dieses Versicherungspapier privaten Investoren anbieten, denen dank staatlicher Subventionen üppige Garantiezinsen winken. Allerdings riskieren sie auch, dass sie im Fall einer Katastrophe, die eine vorab definierte Stärke und Schadenssumme überschreitet, ihr ganzes Geld verlieren.

Klimaversicherungen vom Typ „Wetterderivate“ (weather derivatives) oder „Katastrophenanleihen“ sind seit einigen Jahren ein regelrechter Renner.
Einige asiatische Länder, aber auch Mexiko, die Türkei, Chile und der US-Bundesstaat Alabama (der 2005 vom Hurrikan „Katrina“ heimgesucht wurde), haben auf Varianten solcher Finanzprodukte zurückgegriffen.
Die Anbieter dieser Instrumente wollen die Versicherung gegen extreme Naturereignisse und alles, was damit zusammenhängt – Prämien, Gefahrenanalyse, Entschädigung der Opfer – auf die Finanzmärkte verlagern.
Hier stellt sich allerdings die Frage, warum die Finanzbranche auf diesem Markt ausgerechnet in dem Augenblick einsteigt, in dem die ökologischen Belastungsgrenzen der Natur immer deutlicher zutage treten.

Jahrhundertelang hat das Ökosystem Erde der globalen Wirtschaft nicht nur billige Rohstoffe und Bodenschätze geliefert, sondern auch die Abfälle der industriellen Produktion absorbiert. Mittlerweile jedoch sind beide Funktionen überstrapaziert. Das zeigt sich nicht nur in steigenden Preisen für Rohstoffe und für die Entsorgung der Abfälle, sondern auch daran, dass Naturkatastrophen immer häufiger auftreten und immer größere Schäden anrichten.
Das treibt die globalen Versicherungskosten in die Höhe, wodurch die Gewinne der Industrieunternehmen unter Druck geraten. Insofern ist die ökologische Krise nicht nur ein Abbild, sondern auch der mögliche Auslöser einer Krise des Kapitalismus.

In dieser Situation scheint sich als probater Ausweg die Finanzialisierung anzubieten, sprich: der Einsatz von Finanzinstrumenten in einem Lebensbereich, der zunächst einmal nichts mit dem Finanzsystem zu tun hat. In diesem Sinne haben Erstversicherer und Rückversicherer neue Möglichkeiten der Risikostreuung entwickelt.
Die wichtigste Methode dabei ist die „Verbriefung“ von Klimagefahren. Damit hat man ein Instrument auf den Bereich meteorologischer Ereignisse übertragen, das zuvor auf dem US-Immobiliensektor erprobt wurde – mit Resultaten, die uns noch in schlechter Erinnerung sind.

Zu den faszinierendsten Finanzprodukten in diesem neuen Arsenal gehören die Katastrophenanleihen (catastrophe bonds, abgekürzt „cat bonds“).
Eine Anleihe ist eine Schuldverschreibung oder der handelbare Teil einer Schuld.2 Die Besonderheit von Cat Bonds besteht darin, dass es nicht um Schulden geht, die ein Staat für die Modernisierung seiner Infrastruktur oder ein Unternehmen zur Finanzierung von Innovationen aufnimmt, sondern um die Wechselfälle der Natur.
Sie haben also mit einem Ereignis zu tun, das eintreffen kann, wenn auch nicht eintreffen muss, das aber im zweiten Fall erhebliche materielle und humanitäre Kosten verursachen wird.

Die Cat Bonds sollen natürliche Risiken zeitlich und räumlich so streuen, dass sie finanziell tragbar werden. Je globaler der Markt ist, auf dem solche Risiken gehandelt werden, desto größer wird die „Streuung“, die durch die Verbriefung der Cat Bonds erzielt wird.

Diese Wunderwerke finanzmathematischer Fantasie wurden nicht zufällig 1994 erfunden, als die Versicherungswirtschaft sich nach einer Reihe außerordentlich teurer Katastrophen (Wirbelsturm „Andrew“ 1992 in Florida, Erdbeben in Kalifornien 1994) neue Finanzquellen erschließen musste.
Seither wurden etwa 200 Cat Bonds mit einem Gesamtvolumen von 14 Milliarden Dollar aufgelegt, davon 27 allein im Jahr 2007.

Wie alle Finanzprodukte sind auch Klimaanleihen der Bewertung durch die internationalen Ratingagenturen – Standard and Poor’s, Fitch und Moody’s – unterworfen, die ihnen zumeist die mittelmäßige Note BB verpassen. Soll heißen: Diese Papiere sind mit erheblichen Risiken behaftet.

Der Marktpreis eines Cat Bond hängt zum einen von Angebot und Nachfrage ab, zum anderen von der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Katastrophenfalls. Manchmal werden solche Papiere in der Vorphase oder sogar noch während einer Katastrophe gehandelt, wie zum Beispiel während einer Hitzewelle in Europa oder bei einem Wirbelsturm in Florida. Die Börsenhändler sprechen dann – mit dem ihnen eigenen Formulierungsgeschick – von „live cat bond trading“, also vom Echtzeithandel mit Katastrophenpapieren.(3)

1995 entstand in New Jersey eine Börse für den Handel mit Katastrophenpapieren, die Catex (Catastrophe Risk Exchange). Ein Investor, der hohe Risiken im Zusammenhang mit Erdbeben in Kalifornien hält, kann dort sein Portfolio diversifizieren, indem er seine Erdbeben-Bonds gegen Papiere tauscht, die auf Wirbelstürme in der Karibik oder auf einen Tsunami im Indischen Ozean gemünzt sind. Die Catex wickelt solche Geschäfte nicht nur ab, sondern liefert ihren Kunden auch das nötige Datenmaterial für die Einschätzung der verschiedenen Risiken.

Eine entscheidende Rolle in diesem System spielen Agenturen, die „catastrophe modeling“ betreiben, also Modelle für den Ablauf von Katastrophen erstellen.
Sie wollen also die Naturkräfte kalkulieren, um die Unsicherheit so weit wie möglich zu reduzieren.

Weltweit gibt es nur eine Handvoll solche Agenturen, die meisten sind US-Unternehmen wie Applied Insurance Research (AIR), Eqecat und Risk Management Solutions (RMS).
Anhand von Parametern wie Windgeschwindigkeit, Ausdehnung von Wirbelstürmen, Temperaturen und Eigenheiten des betroffenen Gebiets (bauliche Qualität der Gebäude, Beschaffenheit des Bodens, Bevölkerungsdichte) schätzen sie die voraussichtlichen Kosten einer Katastrophe und die Höhe der Entschädigungszahlungen, die auf die Versicherer zukommen könnten. Aus all dem ergibt sich der Preis der Katastrophenanleihe.

Die allermeisten Cat Bonds wurden bisher von Erst- und Rückversicherern emittiert, seit Mitte der Nullerjahre aber auch immer häufiger von Staaten. Diese besondere Form von „Staatsanleihen“ geht auf Versicherungstheoretiker zurück, die an der Wharton School der Universität Pennsylvania, einer der renommiertesten Wirtschaftshochschulen weltweit, gelernt haben.
Von der Weltbank und der OECD wird dieser Anleihentyp aktiv propagiert.

Die Verlagerung von der Versicherungswirtschaft auf die Staaten illustriert den engen Zusammenhang zwischen der Haushaltskrise der Staaten (Verschuldung und sinkende Einnahmen) und der Umweltkrise. Aufgrund der Finanzknappheit sind die Staaten immer weniger in der Lage, die Kosten von Naturkatastrophen auf herkömmliche Art, sprich mit Steuergeldern abzudecken. In Zukunft wird das sogar noch schwieriger sein, weil die Schadensfälle als Folge des Klimawandels an Zahl und Umfang weiter zunehmen werden.
Wenn die Versicherung der Klimarisiken über die Finanzmärkte erfolgt, werden die bedrängten Regierungen entlastet. Die Verbriefung tritt gewissermaßen an die Stelle von Steuern und nationaler Solidarität, was die Verschmelzung von Umweltkrise und Finanzkrise bedeutet.

Zu viele teure Katastrophen

Das lässt sich am Beispiel Mexiko zeigen. Das Land ist von „natürlichen“ Bedrohungen regelrecht umzingelt: Hurrikane im Golf, Erdbeben, Erdrutsche, der aktive Vulkan Popocatepetl, in dessen Einzugsgebiet 30 Millionen Menschen leben. Bei einer Katastrophe entschädigt der Staat als Versicherer letzter Instanz die Opfer aus dem Staatshaushalt, das heißt mit Steuergeldern.
Das entspricht dem Grundsatz der nationalen Solidarität, der zum modernen Nationalstaat dazugehört.

1996 richtete die mexikanische Regierung einen Fonds für Naturkatastrophen ein (Fondo de desastres naturales, kurz: „Fonden“), der den Betroffenen rasch helfen und den Wiederaufbau der Infrastruktur ermöglichen sollte. Dieser Fonds hat sich lange bewährt, aber dann folgten mehrere extrem teure Katastrophen aufeinander.
Allein 2005 musste die mexikanische Regierung 800 Millionen Dollar für die Linderung der Folgen ausgeben – eingeplant waren lediglich 50 Millionen.(4)

Ein Jahr später nahm die Idee, die Versicherung von Erdbebenrisiken zu verbriefen, auf Betreiben der Weltbank konkretere Gestalt an. 2009 beschloss Mexiko, auch Wirbelstürme einzubeziehen.
Man legte ein Programm auf, das eine Vielzahl von Risiken abdeckt („multi cat“). Ausgehandelt wurde es von lauter seriösen Leuten, zu denen der mexikanische Finanzminister, Vertreter der Bank Goldman Sachs und des Rückversicherers Swiss Re Capital Markets gehörten. Letztere bekamen den Auftrag, Investoren für das Programm zu finden. Auch der Rückversicherer Munich Re war beteiligt, ebenso wie die beiden großen US-Anwaltskanzleien Cadwalader, Wickersham & Taft und White & Case.

Das Unternehmen Applied Insurance Research (AIR), das auf die Entwicklung von Katastrophenmodellen spezialisiert ist, bekam den Auftrag, die Parameter zu definieren, die nach einer Katastrophe die Schadenszahlung auslösen. Damit hatte sie auch den Schweregrad zu bestimmen, ab dem die Investoren ihr eingesetztes Kapital verlieren. AIR präsentierte zwei Modelle: eines für Erdbeben und eines für Wirbelstürme. Die entsprechenden Cat Bonds wurden von Goldman Sachs und Swiss Re auf den Kaimaninseln registriert und potenziellen Investoren auf von Banken veranstalteten „Roadshows“ vorgestellt.

Wann immer Mexiko von einer Katastrophe heimgesucht wird, muss AIR prüfen, ob das Ereignis den vereinbarten Parametern entspricht. Ist dies der Fall, müssen die Investoren Geld an den mexikanischen Staat zahlen. Im negativen Fall müssen sie nichts bezahlen, sondern kassieren weiter eine stattliche Versicherungsprämie.

So geschah es im April 2010, als ein Erdbeben den mexikanischen Bundesstaat Baja California verwüstete. Weil das Epizentrum nördlich der in dem Cat Bond definierten Zone lag, wurde das Geld der Anleihe nicht freigegeben, Mexiko zahlte weiter Zinsen. Zwei Monate später fegte ein Wirbelsturm über den Bundesstaat Tamaulipas. Die gemessenen Windgeschwindigkeiten blieben aber unterhalb der für den Versicherungsfall festgelegten Schwelle, und Mexiko bekam wieder kein Geld. Die Kriterien sind so eng gefasst, dass nur bei drei der rund 200 Cat Bonds, die in den letzten 15 Jahren emittiert wurden, der Zahlungsfall eintrat.(5)

In Südostasien, einer besonders gefährdeten Region, werden staatliche Cat Bonds nach speziellen Modalitäten aufgelegt. In Indonesien, dem größten muslimischen Land der Welt, gelten die Regeln der schariakonformen Versicherung Takaful. In der Branche weiß man sehr genau, dass der Bereich der Versicherungen nach islamischem Recht seit rund zehn Jahren um etwa 25 Prozent jährlich wächst, der Bereich der traditionellen Versicherungsprodukte dagegen nur um 10 Prozent. Angesichts dessen unternimmt der Rückversicherer Swiss Re große Anstrengungen, um seine „sharia credibility“ zu stärken, wie das Unternehmen selbst sagt.(6 )

Ein milder Winter als Finanzrisiko

Entwicklungsländer werden von Naturkatastrophen oft besonders hart getroffen. Zum einen wegen ihrer geografischen Lage, zum anderen, weil sie sich vor solchen Ereignissen nicht so effektiv schützen können wie die Industrieländer. Der Anstieg der Meeresspiegel betrifft die Niederlande ebenso wie Bangladesch, aber Amsterdam ist gegen steigende Fluten eben besser gewappnet als Munshiganj.7

Katastrophenanleihen sind nicht die einzigen Finanzprodukte, die sich auf Vorgänge in der Natur beziehen. Man denke nur an die CO(2)-Zertifikate oder an die Wetterderivate (weather derivatives), bei denen Investoren Wetten auf das Wetter oder genauer auf Veränderungen des Wetters abschließen.
In der Tat werden viele Aspekte des modernen Lebens durch das Wetter beeinflusst – von Sportereignissen und Rockkonzerten bis zu Ernten in der Landwirtschaft oder den Gaspreisen. Man schätzt, dass in den Industrieländern bis zu einem Viertel der jährlichen Wertschöpfung vom Wetter abhängig ist.

Die Funktionsweise von Wetterderivaten ist ganz einfach: Der Käufer des Papiers bekommt eine festgelegte Summe Geld, wenn eine bestimmte Temperatur – oder ein anderer meteorologischer Parameter – überschritten beziehungsweise nicht erreicht wird. Zum Beispiel, wenn aufgrund besonders niedriger Temperaturen die Energiekosten steigen oder wenn wegen einer sommerlichen Regenperiode die Besucher eines Freizeitparks ausbleiben.

Bei manchen Derivaten im landwirtschaftlichen Bereich wird der Basiswert (der reale Wert, der dem Finanzprodukt zugrunde liegt) durch die Bedingungen für das Wachstum der Pflanzen definiert. Zum Beispiel erfasst der Index der Wachstumsgradtage (growing degree days) den Unterschied zwischen der Durchschnittstemperatur, die Pflanzen zum Reifen brauchen, und der tatsächlichen Temperatur. Sobald die Abweichung einen festgelegten Wert übersteigt, wird die Versicherungszahlung fällig.

Möglich sind auch Swap-Geschäfte, durch die sich zwei Unternehmen, die von Klimaschwankungen in gegensätzlicher Weise betroffen sind, wechselseitig absichern können: zum Beispiel ein Energiekonzern, der in einem milden Winter Geld verliert, und ein Unternehmen, das Sportveranstaltungen organisiert und entsprechend unter einem strengen Winter leidet.

Für die Klimaderivate gibt es historische Vorläufer, die etwa in der Landwirtschaft schon im 19. Jahrhundert auftauchten, vor allem in den USA, wo sie an der Terminbörse Chicago Board of Trade gehandelt wurden. Als Basiswerte dienten damals Rohstoffe wie Baumwolle und Weizen.
Im Zuge der Liberalisierung und Öffnung der Finanzmärkte in den 1970er Jahren und aufgrund der immer stärkeren Verbreitung von Derivaten hat sich die Zahl möglicher Basiswerte vervielfacht. Pioniere bei der Konstruktion solcher Derivate waren Energiemultis wie Enron. Für sie bedeuteten Derivate eine Möglichkeit, ihre Verlustrisiken „glattzubügeln“.(8)

Ein Beispiel: Nach dem Winter 1998/99, der in den Vereinigten Staaten aufgrund des Wetterphänomens „La Niña“ besonders warm ausfiel, beschlossen einige Energieversorger, sich in Zukunft mit Derivaten gegen warme Winter abzusichern. Für diese Unternehmen steht bei Schwankungen um wenige Grad nun sehr viel Geld auf dem Spiel.

Seit 1999 werden Klimaderivate an der Chicago Mercantile Exchange gehandelt, einer traditionell auf Agrarprodukte spezialisierten Börse. Die Verbreitung dieser Finanzprodukte ging einher mit einer Privatisierung der meteorologischen Dienste, vor allem in den angelsächsischen Ländern. Es sind solche Firmen, die maßgeblich bestimmen, bei welcher Schwelle die Zahlung aus einem Derivat fällig wird.

Dabei sind der Fantasie der Versicherungstheoretiker keine Grenzen gesetzt. In einem Artikel mit dem Untertitel „Warum die Umwelt die Hochfinanz braucht“ wurde kürzlich vorgeschlagen, ganz neue „species swaps“ zu schaffen. Gemeint sind Derivate, mit denen auf das Aussterben von Arten gewettet werden kann.(9 )Hier wird die wechselseitige Durchdringung von natürlicher Welt und Finanzwelt auf die Spitze getrieben: Unternehmen bekommen die Möglichkeit, vom Artenschutz finanziell zu profitieren, was einen Anreiz zum Schutz der Artenvielfalt setzen soll. Für diese kostspielige Aufgabe ist derzeit noch allein der Staat zuständig, doch immer häufiger fehlt den Regierungen das nötige Geld. Auch in diesem Fall dient der Verweis auf die klammen öffentlichen Kassen als Rechtfertigung für die Finanzialisierung des Naturschutzes.

Wetten auf das Artensterben

Nehmen wir an, der Bundesstaat Florida schließt mit einem Unternehmen ein Species Swap ab, dessen Basiswert eine bedrohte Schildkrötenart ist, die in der Umgebung des Unternehmens lebt.
Wenn die Zahl der Schildkröten steigt, weil das Unternehmen ihren Lebensraum schützt, zahlt der Staat dem Unternehmen Zinsen; wenn hingegen die Schildkröten weniger werden oder gar vom Aussterben bedroht sind, zahlt das Unternehmen dem Staat Geld, mit dem er eine Rettungsoperation finanzieren kann.

Es gibt noch weitere ähnlich konstruierte Finanzprodukte: „Umwelthypotheken“ (environmental mortgages) sind Subprime-Papiere, bei denen der Basiswert keine Immobilie ist, sondern ein Stück Natur; oder Wertpapiere, die mit Wald besichert sind (forest backed securities) oder angeblich zum Schutz von Sumpfland dienen.
All diese neuen Derivate wurden in den 1990er Jahren dank der Liberalisierung der Finanzbranche durch die Regierung von George Bush senior möglich.

Laut dem Ökosozialisten James O’Connor hat der Kapitalismus die Tendenz, seine eigenen „Produktionsbedingungen“ im Zuge seiner Entwicklung auszuzehren oder sogar zu zerstören(.10)
Ein klassisches Beispiel ist das Erdöl: Über ein Jahrhundert hat billiges Öl das Funktionieren der „Kohlenstoffdemokratie“(11 )gewährleistet. Dann aber wurde dieser Schmierstoff des Wirtschaftswachstums knapp und entsprechend teuer. Das Kapital erschöpft also zwangsläufig seine Produktionsbedingungen.
O’Connor nennt dies den „zweiten Widerspruch“ des Systems: den zwischen Kapital und Natur.

Zwischen diesem zweiten und dem ersten Widerspruch – dem zwischen Kapital und Arbeit – gibt es laut O’Connor einen systemischen Zusammenhang: Die menschliche Arbeit schafft Wert, indem sie die Natur umgestaltet. Der erste Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit führt zu einem tendenziellen Fall der Profitrate, das heißt zu schweren Krisen des Systems. Der zweite Widerspruch verteuert die Produktionsbedingungen kontinuierlich, weil zu deren Erhaltung immer mehr Kapital eingesetzt werden muss, wie zum Beispiel bei der Erschließung neuer Ölvorkommen, die laufend teurer wird. Damit trägt auch der zweite Widerspruch zur Senkung der Profitrate bei.

In dieser Konstellation fungiert der moderne Staat als Schnittstelle zwischen Kapital und Natur: Er regelt, wie die Produktionsbedingungen genutzt werden dürfen, also den Grad ihrer kommerziellen Ausbeutung.

Der Ökosozialismus hat das Ziel, diese Dreiecksbeziehung zwischen Kapitalismus, Natur und Staat aufzulösen und zu verhindern, dass der Staat im Interesse des Kapitals funktioniert.
Stattdessen soll sich staatliches Handeln am Wohlergehen der Menschen und an der Erhaltung der natürlichen Gleichgewichte orientieren.
Die UN-Klimakonferenz in Paris 2015 (COP 21) bietet der globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit die Chance, die ökosozialistischen Forderungen zu Gehör zu bringen.

Fußnoten:
(1) Siehe Imelda V. Abano, „Philippines mulls disaster risk insurance for local governments“, Thomson Reuters Foundation, London, 22. Januar 2014.
(2) Anleihen können an der Wertpapierbörse notiert sein, sind aber nicht börsenpflichtig.
(3) Siehe dazu die Reportage von Michael Lewis, „In Nature’s Casino“, „New York Times Magazine, 26. August 2007.
(4) Siehe Erwann Michel-Kerjan (Hg.), „Catastrophe financing for governments: Learning from the 2009-2012 Multicat Program in Mexico“,“ OECD Working Papers on Finance, Insurance and Private Pensions, Nr. 9, Paris 2011.
(5) Siehe „Perilous Paper“, „The Economist, 5. Oktober 2013.
(6) Siehe „Insurance in the emerging markets: overview and prospects for Islamic insurance“, „Sigma, Nr. 5, Zürich 2008.
(7) Siehe dazu Donatien Garnier, „Klimaflüchtlinge in Bangladesch“, „Le Monde diplomatique, April 2007.
(8) John E. Thornes, „An introduction to weather and climate derivatives“, „Weather, Bd. 58, Nr. 5, Mai 2003; Samuel Randalls, „Weather profits. Weather derivatives and the commercialization of meteorology“, „Social Studies of Science, Nr. 40, 2010.
(9) Siehe James T. Mandel, C. Josh Donlan und Jonathan Armstrong, „A derivative approach to endangered species conservation“, „Frontiers in Ecology and the Environment, Nr. 8, 2010.
(10) James O’Connor, „Natural Causes: Essays in Ecological Marxism“, New York (Guilford) 1997.
(11) Siehe Timothy Mitchell, „Carbon Democracy, Political Power in the Age of Oil“, London (Verso) 2011.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Razmig Keucheyan ist Soziologe. Dieser Text basiert auf einem Kapitel seines Buchs „La nature est un champ de bataille. Essai d’écologie politique“, Paris (Zones) 2014.

Le Monde diplomatique Nr. 10360 vom 14.3.2014, 579 Zeilen, Razmig Keucheyan

Jochen