Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN
Aufklärerisches aus der neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/international/wo-die-afd-der-linken-den-rang-ablaeuft-ld.1403444
Die neue Sammlungsbewegung *Aufstehen! will sich um die hier genau beschriebenen Defizite kümmern. Schon fürchten Pöstchenjäger, ihre Netzwerke könnten unbrauchbar werden.
Auszüge:
Im Osten Deutschlands sind die Rechtspopulisten oft da stark, wo auch die Linke ihre Hochburgen hat.
Dabei kämpfen beide insbesondere in den ehemaligen DDR-Plattenbauvierteln um die gleiche Wählerschicht: die Unzufriedenen. Um die, die sich abgehängt fühlen.
Dirk Auer
Ja, natürlich hat es geschmerzt. Und wenn man sieht, wie sich dabei das Gesicht von Wolfgang Brauer verzieht, wird klar: Das tut immer noch weh.
Wie auch nicht, wenn man von hier kommt und die Linke mit aufgebaut hat. Wenn man seit 1999 Direktkandidat war im Wahlkreis 1, in Marzahn-Nord, und all die Jahre Sieg um Sieg einfuhr.
Und dann tritt 2016 zum ersten Mal die AfD an, stellt mit Gunnar Lindemann einen Kandidaten auf, der von ihm, dem ehemaligen kulturpolitischen Sprecher der Berliner Linken, nicht mehr abweichen könnte: ein Zugezogener, ein Wessi, ein Eisenbahner, ein Rechter. Und aus dem Stand heraus holt dieser Kandidat bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 30 Prozent. Wie kann das nicht weh tun? Politisch und ja, natürlich, auch persönlich.
Wolfgang Brauer sitzt in einem Schnellrestaurant an der Havemannstrasse, der Hauptverkehrsader des Quartiers. Links und rechts stehen sechs- bis elfgeschossige Plattenbauten, dazwischen viel Grün, zwei Discounter.
Traditionell ist die Linke stark im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf mit seinen etwa 260 000 Einwohnern, wo Plattenbauten aus DDR-Zeiten das Stadtbild bestimmen.
Am stärksten war sie immer im sozial besonders schwachen Norden: einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigem Durchschnittseinkommen und Bildungsstand.
Da, wo sich die sogenannten Abgehängten sammeln, die Enttäuschten und Hoffnungslosen. Eine klassische Arbeitergegend, sagt Wolfgang Brauer. Und damit Stammland der Linken. Eigentlich.
Aber die Welt hat sich geändert. Seine Partei hat sich geändert. Und beides passt hier offenbar immer weniger zusammen in Marzahn-Nord. Die Linke, sagt Wolfgang Brauer, hat sich von ihrer sozialen Basis entfernt.
Links und sozialer Protest, das war hier eine weitgehende Einheit zuletzt, als die Linke noch PDS hiess und fest in den Vereinen und sozialen Hilfeprojekten verwurzelt war. Stichwort: Kümmererpartei.
Ihre Mitglieder halfen beim Ausfüllen von Formularen für die Rente, unterstützten bei Anträgen für Sozialhilfe und waren in Mieterinitiativen aktiv.
Und der Wähler dankte es: Auf dem Gipfel der Popularität, 2001, holte Wolfgang Brauer in seinem Wahlkreis 56 Prozent. Es war das Berlin-weit beste Ergebnis.
Aber dann passierte es, dass die Leute hier auf der Strasse wieder von «denen da oben» sprachen, und plötzlich war die Linke mit gemeint. Denn die sass seit 2002 mit der SPD in der Berliner Landesregierung. Und die Linke wurde für deren rabiaten Sparkurs mitverantwortlich gemacht.
Ihr hättet das verhindern müssen, musste sich Brauer immer wieder anhören, wenn er in seinem Wahlkreis unterwegs war.
Dazu gesellte sich eine schleichende kulturelle Entfremdung, als im Zuge ihrer Westausdehnung die Linke ihre Wähler zunehmend auch in den akademisch-mittelständischen Milieus der Innenstädte suchte.
Neue Themen kamen auf wie Antirassismus und Geschlechterfragen – um den Preis, so klagt der Kulturpolitiker Brauer, einer ideologisch zunehmend «verkopften Sprache» ), mit der sich die Partei von der hiesigen Lebenswelt entfernte. Dieses «ganze verschwiemelte Zeug» über die postindustrielle Gesellschaft etwa, dass es kein Proletariat mehr gebe. Und wenn selbst in der örtlichen Bezirkszeitung aus Arbeitern – politisch korrekt – «Arbeiterinnen» werden, dann könnten die meisten hier nur den Kopf schütteln: Ham die keine anderen Probleme?
Die Wahlen 2006 und 2011 brachten die Quittung. Und in Marzahn-Nord war der Fall besonders tief: Von 56 Prozent Erststimmen ging es runter auf 41, dann noch einmal auf 36 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag da bei nur noch knapp 40 Prozent – der niedrigste Wert in ganz Berlin. Die Frustrierten und sozial Abgehängten von Marzahn-Nord waren politisch heimatlos geworden.
Und dann kam die Flüchtlingskrise.
Eine neue Protestpartei
Zu dieser Zeit sitzt Gunnar Lindemann in seinem Plattenbau vor dem Fernseher und wird immer wütender. Schon die Griechenland-Rettung «mit deutschen Steuergeldern» hatte ihn auf die Palme gebracht, und nun auch noch der «unkontrollierte Zuzug» Hunderttausender Flüchtlinge.
Erst fünf Jahre zuvor war er aus Wuppertal ins Quartier gezogen. Die Wohnung lag in der Nähe des neuen Arbeitsplatzes, 20 Minuten mit der Strassenbahn ohne Umsteigen, drei Zimmer: 500 Euro warm. Alles prima, Marzahn sei schöner und besser als sein Ruf, findet er. Seine Frau war es dann, die ihn in die Politik drängte, weil sie sein blosses Meckern nicht mehr hören konnte.
Und so ist er bei der AfD gelandet, ist Direktkandidat geworden, weil es sonst niemand machen wollte – und die Unzufriedenen, die politisch heimatlos geworden waren, hatten eine neue Protestpartei als Angebot.
Irrational, denkt Wolfgang Brauer da noch. Was haben die schon zu bieten? Und eigentlich läuft es ja gar nicht so schlecht mit der Integration. Das Neben- und Miteinander von Kulturen ist auch in Marzahn-Nord nichts Ungewöhnliches. Schon seit Jahren leben auch Russlanddeutsche, Vietnamesen und Polen im Quartier. Dazu kommt seit einiger Zeit ein langsamer, aber stetiger Zuzug von Menschen aus der Innenstadt, die sich die hohen Mieten dort nicht mehr leisten können. Von ihnen haben viele einen Migrationshintergrund. Nennenswerte Konflikte gab es keine.
Aber die Flüchtlingskrise wirkte dann wie ein Katalysator für das schon vorhandene Gefühl, von der Politik vergessen worden zu sein. So wurden in Marzahn-Hellersdorf deutlich mehr Flüchtlinge untergebracht als in den West-Bezirken Berlins. Und die Unterkünfte, grosse Objekte mit ein paar hundert Plätzen, so Wolfgang Brauer, wurden dann genau in die Problemzonen «geknallt».
Die offizielle Begründung war: Da gibt es Platz, es sind landeseigene Flächen. Aber er glaubt, dass noch etwas anderes dahinterstand: Armut gehört zu Armut.
Und an den Rand der Stadt. Hier waren die Armenfriedhöfe, hier waren die Mülldeponien, hier wurden die Massenquartiere gebaut – dann ist hier auch der Platz für Flüchtlinge.
Dass der bürgerlich geprägte Süden des Bezirks verschont blieb, dafür hatte der örtliche CDU-Kandidat gesorgt.
Auch der Ost-West-Gegensatz habe eine Rolle gespielt: Die Wessis, die Reichen, entsorgen ihre Problem zu unseren Lasten. Das brachte die Leute auf die Palme.
Die Stimmung kippt
Die Nachricht, dass auch im Wahlkreis 1 eine Unterkunft gebaut werden sollte, platzte direkt in die Vorwahlkampfzeit. Es gab eine grosse Anwohnerversammlung im Stadtteilzentrum, ein paar hundert Menschen kamen.
Dass man Menschen unterbringen muss, war weitgehend Konsens. Aber die Leute stellten Fragen: Wie ist das mit der Sicherheit? Was genau soll gebaut werden? Stimmt es, dass hauptsächlich junge und alleinstehende Männer kommen?
Der Linke Wolfgang Brauer konnte die Aufregung nachvollziehen. Eine reine Wohngegend mit Kita und Grundschule, in der den Menschen ein Heim mit 500 Plätzen direkt vor die Nase gesetzt wird, das ist zumindest problematisch, dachte er.
Gar nicht viel anders hört sich der AfD-Mann Gunnar Lindemann an: «Massenhaft Flüchtlinge abkippen», wo die Menschen sowieso schon genug Probleme haben, das geht gar nicht.
Die AfD verknüpfte dann die Unterbringungsprobleme direkt mit den Nöten der Einheimischen: Für die Kinder hier fehlt das Geld, um die Heizung in der Schule zu reparieren, aber für 20 Millionen Euro wird ein Asylheim gebaut, hiess es. Dass das eine mit dem anderen wenig zu tun hat, dass es komplizierter ist: Natürlich, sagt Gunnar Lindemann. «Aber die Leute empfinden das eben so.»
Dann kam die Kölner Silvesternacht, die in ganz Deutschland die Stimmung zum Kippen brachte. Und der Wahlkampf wurde für Gunnar Lindemann zum Selbstläufer.
Er habe eben eine bürgernahe Politik gemacht, sagt er, das habe die Leute überzeugt. Praktisch hiess das: vorhandene Ängste aufnehmen und mit dem AfD-Lautsprecher verstärken – gegen «Islamisierung», «Asyl-Irrsinn», «Multikulti-Ideologie» und die «Einwanderung in die Sozialsysteme».
Der Herr Brauer, sagt Gunnar Lindemann, sei ja ein netter und sympathischer Mensch. Aber sein Fehler sei gewesen, dass er bei den Linken war und sich, zumindest damals, nicht kritisch äusserte.
Das habe er wohl, sagt Wolfgang Brauer. Probleme hatte er indes mit der eigenen Partei, die den Standort des Wohnheims verteidigte. Und auf Sorgen der Bürger sei «relativ rotzig» reagiert worden. Kritische Frager sahen sich dem unterschwelligen Verdacht ausgesetzt, etwas gegen Flüchtlinge zu haben – und von da war es nicht mehr weit zum Vorwurf des Rassismus, dem man Paroli bieten müsse.
Eine «grottige Überheblichkeit», findet Wolfgang Brauer, der eigentlich eine ordentliche Diskussion unter den Anwohnern erlebte. Doch am Ende sei alles auf die Frage hinausgelaufen: Bist du für Menschlichkeit oder dagegen?
Da fühlte er sich an die DDR erinnert, wo es eine ähnliche Disziplinierungsformel gab. «Frieden» lautete die offizielle Staatsdoktrin, und wenn es einmal nicht mehr weiterging, hiess es: Bist du für den Weltfrieden – oder etwa dagegen?
So war auch im Jahr 2016 in Marzahn-Nord kein Platz mehr für eine differenzierte Diskussion. Und die AfD-Parole war einfach: Wir wollen die hier nicht.
Bei der Wahl lagen Linke und AfD mit jeweils um die 30 Prozent fast gleichauf. 300 Stimmen fehlten ihm am Ende. Ein Witz, sagt Wolfgang Brauer, fast, als wolle er noch einmal beschwören, dass es letztlich auch ein bisschen Pech war.
Er wusste, dass es knapp wird. Dass Wahlkreise verloren gehen konnten angesichts der politischen Grosswetterlage, ja. Aber dieser? Doch nicht seiner. Nicht Marzahn-Nord.
Kurze Zeit später trat Wolfgang Brauer aus der Partei aus. Die Gründe seien vielfältig, betont er. Die verlorene Wahl war nur das fehlende i-Tüpfelchen.
AfD auf dem Weg nach oben
Der Wahlkreissieger Gunnar Lindemann beklagt derweil fehlende Mülleimer und kaputte Bänke; er sitzt im Elternausschuss und fordert mehr Sicherheitspersonal im öffentlichen Nahverkehr. Und die Asylunterkünfte sollen weg.
Dafür soll endlich ein öffentliches Freibad in Marzahn gebaut werden. Auch Vertreter von Vereinen ohne AfD-Sympathien anerkennen, dass Lindemann präsent ist. Mit einem mobilen Bürgerbüro tourt er auch ausserhalb des Wahlkampfs herum. «Der Kümmerer» hatte die linke Tageszeitung «TAZ» über ihn geschrieben. Das fand er gut.
Getragen vom deutschlandweiten Trend, hat die AfD nach letzten Umfragen bei den nächsten Wahlen gute Chancen, im Gesamtbezirk Marzahn-Hellersdorf stärkste Kraft zu werden.
Dann, sagt Gunnar Lindemann, ist Schluss mit dem «Asyl-Gedöns», mit Integrationskursen und Integrationsbeauftragten. Mit dem eingesparten Geld werde dann endlich was für die Leute hier getan.
Wie die Linke dagegenhalten kann? Schwierig, sagt Wolfgang Brauer, der heute wieder Lehrer an seiner alten Schule ist. Die soziale Frage müsse wieder in den Mittelpunkt, nicht nur deklarativ, sondern ganz konkret: Geht wieder in die Vereine, möchte er dem Nachwuchs seiner ehemaligen Partei zurufen. Mit politischen Sprüchen alleine, mit Ständen und Luftballons, das wussten die alten Genossen noch, kann man keinen Blumentopf gewinnen.
Brauer selbst ist immer noch Vorsitzender des Heimatvereins. Kein Traditionsverein, wie er betont. Es geht um Lokalgeschichte.
Noch so ein Fehler der Linken, sagt Wolfgang Brauer, den Heimatbegriff den Rechten überlassen zu haben.
Das Bedürfnis der Menschen, sich an einem bestimmten Ort verortet zu fühlen, selbst in Marzahn-Nord – was ist daran verwerflich?
Aber die AfD-Geister wird Wolfgang Brauer nicht los. Gegen den Trend konnte der Heimatverein in letzter Zeit einige Neueintritte verzeichnen, darunter die gesamte örtliche AfD-Spitze.
Und als der neue Vorstand gewählt wurde, mit Wolfgang Brauer erneut als Vorsitzendem, da hat auch Gunnar Lindemann per Tweet gratuliert. Und eine Art Mahnung hinterhergeschickt: «Heimat bedeutet auch ein Stück Identität.»
*)Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2018/08/24/identitatspolitik-und-entsolidarisierung-herkunft-ist-kein-ersatz-fur-zukunft/
Jochen