Das Virus war nicht Ursache, sondern Auslöser und Verschärfer des Crashs – Der Exportüberschussweltmeister

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine sehr gute Analyse des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung https://www.isw-muenchen.de/2020/04/das-virus-war-nicht-ursache-sondern-ausloeser-und-verschaerfer-des-crashs/

und ein dazu passender Artikel von Heiner Flassbeck aus dem Makroskop auszugsweise:

A. Das Virus war nicht Ursache, sondern Auslöser und Verschärfer des Crashs

  1. April 2020 Conrad Schuhler

Bei dem Text handelt es sich um eine Vorabveröffentlichung aus dem isw-report 121: Finanzcrash, Rezession, Pandemie – Der Finanzkapitalismus befeuert die Triple-Krise.

Diese Wirtschaftsentwicklung belegte, dass wir es nach dem Absturz 2009 zunächst mit einem kräftigen Aufschwung zu tun hatten, aber danach mit einer anhaltenden Stagnation, die schließlich in ein Null-Wachstum führte. (Schuhler, 2020) Die 2019-Quartale definierten den Zustand einer anhaltenden Stagnationskrise:

1. Quartal; + 0,5%;
2. Quartal: – 0,2%;
3. Quartal: + 0,2 %;
4. Quartal: 0,0%.

In derselben Zeit schmierte die Industrieproduktion ab von 12% plus 2010 auf 5% minus 2019, weltweit sank die Industrieproduktion von 14% plus auf 2% minus.

Wir haben es also mit einer ein Jahrzehnt anhaltenden Überakkumulationskrise zu tun – das Wertschöpfungspotential übersteigt die effektive Nachfrage, worauf die Industrie, das Herzstück der Wertschöpfung, mit einem Rückgang ihrer Produktion reagiert; und die Finanzstrategen, die Vermehrer der Geldvermögen, reagierten mit weiteren Einstiegen in die Finanztitel, bliesen den Ballon des fiktiven Vermögens weiter auf.
Es ist dies die klassische Struktur des Finanzkapitalismus, der entsprechend dem klassischen Muster Kurs genommen hatte auf den Tiefpunkt der Krise, den ultimativen Crash des Finanzsystems.

Den Zündfunken spendierte das Coronavirus, so wie es in früheren Zeiten das Öl tat, der Rubel oder gar der Tequila. Die Bezeichnungen verdeckten den Umstand, dass diese Krisen – in Wahrheit ging es um die Erhöhung des Ölpreises und um die Verschuldungen in Russland und Mexico – den globalen Kapitalismus stets zu einem Zeitpunkt trafen, da seine periodische Überakkumulation an einem Höhepunkt angelangt war.
Das Statistische Bundesamt sagte schon Ende 2019 voraus, dass eine Wachstumsnull ins Haus stünde, die WTO rechnete damals schon vor, dass der Welthandel zurückgehen würde. (Schuhler, a.a.O.) Die ersten Nachrichten über das Treiben des Coronavirus in China erschienen am 7.1.2020 (wir bestätigen hierzu den 31.12.2019, Anmerkung Redaktion).
Die Krise ebenso wie Informationen darüber waren also schon Wochen und Monate vor dem Auftauchen des Virus zu erkennen.
Es handelt sich um keine Coronakrise, sondern um eine Krise des Kapitalismus.

Corona ist nicht nur Auslöser der Krise, es verstärkt diese auch – und vor allem ist es die Legitimation der „Notstandsmaßnahmen“

Dennoch ist es falsch, Corona bloß als „schwarzen Schwan“, als Alibi-Mythos zu verharmlosen. Die Pandemie ist ein zusätzlicher Krisenfaktor von erheblicher Dimension, sowohl was seine realen Effekte angeht als auch und vor allem seine Eignung als Vorwand für antidemokratische Notstandsmaßnahmen schlimmster Qualität.
Die Stilllegungen und Ausgangssperren liquidieren das öffentliche Leben und halten die wirtschaftliche Produktion über längere Fristen an und legen den internationalen Kultur- und Wissenschaftsaustausch ebenso lahm wie den Handel.

Teil II des isw-Konjunkturberichts (erscheint in Kürze, Anmerkung Redaktion) hatten wir überschrieben: „Das Coronavirus – der Sturz in die globale Rezession. Der Exportüberschussweltmeister ist einer der Hauptgeschädigten.
Wir haben im vorigen Abschnitt festgestellt, dass die Triple-Krise – Finanzcrash, reale Rezession, Pandemie – in Deutschland einen Schaden von bis zu 729 Milliarden Euro verursachen wird.

Wieviel dieses Schadens auch ohne die Corona-Pandemie entstanden wäre, ist natürlich nicht mehr exakt zu quantifizieren. Dass die hochspekulierten Kurswerte ein Vielfaches des realen Werts der Unternehmen ausmachten, ist indes unbestreitbar.
Ein Rückgang dieser Aktien um 50% ihrer Kurswerte ist nötig, um den Profit- und damit den Spekulationstrieb der Vermögensverwalter und der Vermögensbesitzer aller Art wieder in Gang zu setzen.
Ein Rückgang der realen Produktion um zehn Prozent und mehr ist nötig, um Investitionen zu den verlangten Profitaussichten wieder in produktive Bereiche zu lenken.
Die realen wie die Finanzmärkte verlangen die Korrektur der vorhandenen Werte, sonst würde es beim Stillstand bleiben.

Da kam Corona gerade recht, um diese Korrektur mit den schärfsten Waffen von Notstand und Demokratie-Shutdown durchzusetzen.
Die Corona-Pandemie ist kein „schwarzer Schwan“, keine Erfindung oder Verschwörung profitgieriger Kapitalisten, sie ist eine kostspielige Realität, aber die Kapital-Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien nutzen sie einerseits, um die Kosten der „Krisenbewältigung“ abzuwälzen auf die Massen der Bevölkerung und dabei deren heftige Zustimmung zu finden.
Und zweitens, um die Bevölkerung an den Abbau von Demokratie, von Privatheit, Freizügigkeit, Versammlungs- und Demonstrationsrechten aller Art bei dieser und dann den kommenden Krisen zu gewöhnen und auch dafür noch den Beifall der Massen zu finden.
75% der Deutschen finden die „Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung“ gerade richtig, 20% meinen sogar, sie „müssten härter ausfallen“, nur 3% sagen, sie „sind übertrieben“
. *)

Diese Erkenntnis, dass die Kapitalelite solche Maßnahmen jetzt dringend braucht, beantwortet auch die Frage, warum die Maßnahmen jetzt so rigoros ausfallen, wo sie doch bei der Umweltkrise, deren Folgen weit gravierender sind, so überaus bescheiden sind.

  1. Fabian Scheidler bezeichnet die Maßnahmen zur Corona-Pandemie als beispiellos „in der jüngeren Geschichte“. Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Person seien suspendiert worden, ebenso das Grundrecht auf Asyl. Große Teile der Wirtschaft wurden lahmgelegt, „fast die gesamte Kulturbranche, die Gastronomie, der Sport, der Tourismus und sogar – bisher unvorstellbar – die Autoindustrie und der Flugverkehr“.Würde man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf die weitaus schwerwiegendere Krise des Klimawandels und des Artensterbens vergleichen, dann schreit der Kontrast zum Himmel. Beim Virus wird die Gesellschaft lahmgelegt, während „in der Klimafrage seit 40 Jahren so gut wie nichts passiert“.
    Zu dieser Diskrepanz fallen ihm zwei Gründe ein. Erstens: Die Klimakatastrophe kommt schleichend, es handelt sich um ein langfristiges Problem, unsere politischen und medialen Systeme seien aber „kurzfristig ausgerichtet“. Zweitens seien von der Umweltkatastrophe eher die Armen im „Süden“ als die Reichen im „Norden/Westen“ betroffen; das Virus aber mache vor Schranken von Klasse und Nationalität nicht Halt. „Auch reiche weiße Männer in den Industriestaaten sind gefährdet.
    Beides trifft sicher zu, aber der letzte Grund liegt tiefer: Die Profitinteressen der Schmutzindustrien von der Autoproduktion bis zur Landwirtschaft sind politisch stark genug, um die Geschwindigkeit der Transformation zu ökologischen Wirtschafts- und Verkehrsverfahren enorm, vielleicht gar entscheidend zu verringern. Dass sogar die Autoindustrie in den Lockdown der Wirtschaft einbezogen ist, muss man aus ihrer Interessenlage heraus verstehen. Sie braucht die Stilllegung ihrer Produktion angesichts des Nachfragerückgangs und der Typenumstellungen und nun übernimmt der Staat auch noch per Kurzarbeitergeld – das aus der Solidarkasse der Arbeitnehmer stammt – den Großteil der Personalkosten.
  2. Wir stehen in der Einschätzung Hararis in der heutigen Krisenzeit vor zwei grundsätzlichen Entscheidungen. Wir haben zu wählen zwischen totalitärer Überwachung oder weitergehender Ermächtigung der Bürger, zwischen Abschaffung der Demokratie oder ihrer Ausweitung. Zweitens zwischen nationalistischer Isolierung oder globaler Solidarität.
    Mit der Corona-Pandemie ist der tipping point, der Kipppunkt, erreicht.Vor die Alternative „Gesundheit oder Privatheit“ gestellt, wählt eine Mehrheit den Überwachungsstaat, der diesmal „under the skin“ geht – buchstäblich unter die Haut, die Regierung will jetzt ein Überwachungssystem durchsetzen, das Körpertemperatur, Blutdruck, Herzschlag erfasst.
    Wie Fieber und Husten sind Ärger, Freude, Langeweile, Liebe biologische Phänomene, die erkannt, bewertet und sanktioniert werden.
    Corona macht die Tür auf für „Big Brother“. Nicht nur der Virenträger, auch der unliebsame Ideenträger, alle mit „falschem Temperament“ oder „falscher“ DNA könnten stigmatisiert werden, ihre Kontakte überwacht, ihre Aktionen Schritt für Schritt kontrolliert werden. Die Alternative kann für Demokraten natürlich nicht lauten „Krankheit oder Überwachung“, sondern es muss heißen: Wir brauchen ein funktionales Gesundheitssystem und ebenso Freiheits- und Persönlichkeitsrechte.Die Würde des Menschen ist unantastbar – das muss unsere Maxime für alle Bereiche des sozialen Lebens sein. Und nicht: Hier müssen wir die Würde leider antasten, die Demokratie leider aussetzen, damit nicht alles zusammenbricht.
  3. Dass die Menschen jetzt „reif“ für faschistische Demagogen sind, ist das Werk der Kapital-Eliten. Diese haben in der Globalisierung die rigorose Ausdehnung des global value, des Höchstprofits in den letzten Winkel der Erde durchgesetzt. Die einheimischen ArbeiterInnen wurden verarmt auf Globalniveau, die Finanzmittel dorthin abgezogen, wo der der Profit am Höchsten war.
    Woher soll das Vertrauen dieser Globalisierungsverlierer in diese Eliten kommen? Fremdenhass und Führertum fallen auf günstigen Boden. Das gilt geradeso für die Innenpolitik.
    Die Privatisierung der Sektoren der unmittelbaren Lebensversorgung hat u.a. zur Dequalifizierung des Gesundheitswesens geführt. Wer arm ist, muss früher sterben. Er/sie hat auch schlechtere Bildungschancen, es sei denn, er kann dafür bezahlen, sich schon zu Beginn des Arbeitslebens mächtig verschulden.
    Sozialer Aufstieg? Der Eintrittspreis wird immer höher. Alt werden ist ganz schlecht. Nur wer Geld hat, kann sich wirklich gute und würdevolle Pflege und Betreuung leisten.
    Unter- und Mittelschicht unserer Gesellschaft erleben eine bedrohliche Gegenwart und haben eine prekäre Zukunft vor sich.
    Unser Land ist, wie der ganze Westen, eine Zwei- oder Drei-Klassengesellschaft, wo den unteren Klassen – und es werden immer mehr – langsam, aber immer schneller die Geduld reißt. Die Kasernen-Gesellschaft der optimalen Gesundheit – „sonst droht der Massentod“ – soll sie gefügsam machen. Ein Virus kommt alle zwei, Jahre. Das Virus wird zum Dauerzustand und mit ihm die Kasernen- und Klinikdisziplin.
  4. Wie lange dauert der Notstand und die von ihm abgeleiteten diktatorischen Regeln? In Deutschland haben wir immer noch die 1968 so erbittert umkämpften Notstandsregeln, die jetzt wieder zur Blüte kommen. Israel hat noch seine Notstandsregeln des Krieges 1946, die jetzt ergänzt werden. Trump hat das Kriegsrecht ausgerufen. Die Krise, heißt es allenthalben, ist die Stunde der Exekutive.
    Diese erstarkte Exekutive wird ihre neu gewonnenen Spielräume nicht von selbst wieder aufgeben. Dazu braucht man eine Öffentlichkeit, die aus ihrer Schockstarre herausmuss.
  5. Der Staat muss sich fragen lassen, warum er seine Wirkungsmacht immer dann massiv einsetzt, wenn das Kapital darniederzuliegen droht, es aber des äußersten Einsatzes der demokratischen Kräfte bedarf, um Interessen der Menschen an einem fairen, demokratischen, solidarischen, für alle vorteilhaften Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft durchzusetzen.
    Dann heißt es, die Widerstände seien zu stark, die Rechte anderer würden negativ berührt, alle möglichen Nebenwirkungen negativ, die Expertenmeinungen kontrovers, und morgen auch noch ein Tag. Diese politischen Eliten brauchen keine neuen Vorgaben. Ihre „Aufzucht“, ihre Karrierebedingungen, ihre positiven Sanktionen – sie sind strukturell an die Kommandos des Kapitals gewöhnt, mal „sozialer“, mal marktliberaler, doch stets sind Kommandos für sie „Moses und die Propheten“, wie Marx formulierte.
    Diese Eliten müssen ausgewechselt werden. Wir brauchen neue Formen der Demokratie. Wir brauchen Räte in Nachbarschaften, Gemeinden und Ländern, aus Betrieben und aus den Organisationen der Zivilgesellschaft – von den Umweltgruppen über Berufsgenossenschaften und karitativen Vereinigungen bis zu Sport- und Kulturverbänden. Das System der Berufspolitik alten Schlags – ob korrupt, opportunistisch oder sträflich naiv – muss durch die direkte Bindung der Gewählten an Nachbarn und Kollegen ersetzt werden. **)
  6. Die internationalen Organisationen machen zum Teil hervorragende Arbeit, wie etwa die Weltgesundheitsorganisation WHO.
    Ihre Arbeit ist umso besser, je mehr sie aus Expertengruppen im Dienst des globalen Kapitals zu solidarischen Vereinigungen für die Interessen aller ohne Ansehen von Rasse, Geschlecht, Nationalität umgewandelt werden. Dies ist ein langwieriger Prozess, der sich stützen muss auf die Organisationen der internationalen Zivilgesellschaft, die bisher an den Katzentischen der internationalen Politik ihren Platz finden müssen. Beginnen muss es damit, dass das Prinzip der Solidarität jetzt schon durchgesetzt wird gegen egoistische Politik der Nationalstaaten.
    Die deutsche Weigerung, Euro-Bonds – die Übernahme der Schulden der einzelnen europäischen Staaten durch gemeinsame europäische Anleihen, um die Insolvenz der Schuldner zu verhindern – zu verabschieden, ist ein weiterer Skandal in der ruchlosen Ausplünderung europäischer Länder durch die überlegene deutsche Wirtschaftsmacht.

B. Corona und der Exportüberschussweltmeister

flasbeck2013k

Von Heiner Flassbeck

Deutschland ist mit seiner extrem einseitigen, auf Exportüberschüsse ausgerichteten Wirtschaftsstruktur in und nach der Krise in höchstem Maße gefährdet.
Jetzt gilt es, Schaden dadurch abzuwenden, dass alte Dogmen schnell ad acta gelegt werden.

Wer glaubt, die Industrieländer würden etwa gleichartig von den wirtschaftlichen Folgen des Corona-Schocks betroffen sein, liegt falsch. Weil die Bekämpfung der Krise eine nur dramatisch zu nennende Rückkehr des Nationalstaates und abgeschotteter Grenzen mit sich gebracht hat, werden diejenigen wirtschaftlich am meisten leiden, die auf offene Grenzen und den freien Austausch von Waren und Gütern angewiesen sind.
Das Land, das ganz oben auf der Liste derer steht, denen die Unterbrechung des globalen Handels massiv schaden wird, heißt Deutschland.

Gerade hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine erste Prognose für die Weltwirtschaft in diesem Jahr vorgelegt. Für die gesamte Welt steht dort eine Zahl von minus 3 Prozent, was nicht gewaltig aussieht, es in Wirklichkeit aber ist.
Deutschland muss entsprechend den Erwartungen der Ökonomen aus Washington mit einem Rückgang des BIP von sieben Prozent rechnen, die USA mit sechs Prozent, Frankreich mit über sieben Prozent, Spanien mit acht, und Italien sieht sich sogar mit einem neunprozentigen Rückgang der gesamten Wirtschaftsleistung konfrontiert.

Für Deutschland geht der IWF also von einem deutlich größeren Rückgang aus, als ihn die Sachverständigen (mit minus 2,8) und die Institute (mit minus 4,2) vorhergesagt haben.
Aktuelle Zahlen über Arbeitslose, Produktion und Umsätze in den USA lassen allerdings darauf schließen, dass auch diese Schätzung noch auf der optimistischen Seite liegt.
Europa und Deutschland glänzen durch die Abwesenheit jeder ernsthaft zu verwendenden Zahl; die Statistischen Ämter sind offensichtlich nicht in der Lage, ihren gewohnten Trott zu durchbrechen, der darauf hinausläuft, dass es erst Anfang Mai Zahlen für den März gibt.

So hat das Statistische Bundesamt zwar eine Internetseite für „Statistiken mit Bezug zu COVID-19 erstellt. Aber außer einem Lkw-Maut-Fahrleistungsindex steht dort nichts Neues, was der schnelleren Beurteilung der Lage dienen könnte. Und die Zeitreihe des besagten Index ist viel zu kurz, um daraus Schlussfolgerungen für die Produktion ziehen zu können.
Eurostat hat seinen Internet-Auftritt ebenfalls etwas angepasst, dreht den Spieß allerdings um. Dort erklärt man: „Eurostat and the National Statistical Institutes (NSIs) are doing their best to continue publishing relevant statistics of the highest quality, as planned in the national and Eurostat release calendars.“
Das kann man auch so lesen, dass wir schon froh sein können, überhaupt Daten im normalen Rhythmus zu erhalten.

Die Bundesagentur für Arbeit gibt zwar laufend neue Rekorde bekannt bei der Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit anmelden (zuletzt 725 000), war bisher aber offenbar nicht bereit oder fähig, für mehr als die ersten 55 000 geprüften Anträge anzugeben, für wie viele Menschen dabei Kurzarbeit angemeldet worden ist.

Was passiert mit dem Exportüberschuss?

Erstaunlich an allen vorliegenden Prognosen ist, dass sie damit rechnen, der deutsche Überschuss im Außenhandel werde nahezu unverändert hoch bleiben, obwohl der internationale Handel nach einer Vorhersage der Welthandelsorganisation um 13 bis 32 Prozent einbrechen wird (der IWF rechnet mit minus 11 Prozent).
Die Institute setzen zwar einen Rückgang der deutschen Exporte von mehr als zehn Prozent an, vermindern aber auch die Importe um fast zehn Prozent, so dass der deutsche Überschuss sich nur wenig verringert. Auch der IWF rechnet mit einem Überschuss von 6,6 Prozent des BIP, nach 7,1 Prozent im vergangenen Jahr.

Diese Vorhersagen werden sich als falsch erweisen. Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Währungen vieler Schwellen- und Entwicklungsländer, mit denen Deutschland insgesamt einen Überschuss von mehr als vierzig Milliarden Euro aufweist (plus OPEC-Staaten gar fast 60 Milliarden), stark abgewertet haben, was deren Einkauf ausländischer Güter generell verteuert und in vielen Fällen nahezu unmöglich macht.

Auch die Regierungen dieser Länder werden darauf achten müssen, dass viel weniger importiert wird. Auslandsverschuldung wird in der Krise wieder als ein gewaltiges Problem betrachtet, weil davon das Rating der Kapitalmärkte sehr stark mit abhängt, dem sich die Entwicklungsländer leider nicht entziehen können (vgl. dazu auch diesen Artikel).
Hinzu kommt, dass die Rohstoffpreise enorm gesunken sind, was die Verfügbarkeit ausländischer Währung in diesen Ländern weiter einschränkt.

Gegenüber den anderen Industrieländern gibt es zwar keine deutlichen Aufwertungen des Euro, aber sowohl gegenüber dem Rest der Welt als auch gegenüber den EWU-Partnerländern wird das deutsche Außenhandelsgeschäft in den kommenden Monaten mit Sicherheit deutlich schwieriger.
Deutschlands Kerngeschäft ist nämlich der Verkauf von Gütern, die man genau jetzt nicht unbedingt braucht. Bricht die Wirtschaft weltweit nur in dem Ausmaß ein, das der IWF jetzt erwartet, sind die weltweiten Kapazitäten in einem Maße unterausgelastet, wie es das seit der Großen Depression der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht gegeben hat.

Bei unausgelasteten Kapazitäten wird die Investitionstätigkeit zunächst einmal für ein bis zwei Jahre extrem schwach sein und folglich die Nachfrage nach deutschen Maschinen.
Auch für große Infrastrukturprojekte, für die man deutsches Knowhow und deutsche Schwermaschinen braucht, wird es in den nächsten Jahren überall an Geld fehlen, weil die öffentlichen Haushalte zwar nicht in einer objektiven Zwangslage sind, die Politik aber fast überall die Lage in dieser Weise interpretieren wird und sich damit selbst knebelt.

Schließlich geht es um die Automobilindustrie, die immer noch das große Standbein der deutschen verarbeitenden Industrie ist. Wenn man einmal unterstellt, dass in allen wichtigen Abnehmerländern der deutschen Automobilunternehmen mindestens ein Viertel aller Arbeitnehmer in diesem Jahr einen völlig unerwarteten finanziellen Rückschlag erleiden, weil sie für mindestens zwei Monate Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld beziehen, kann man sich ohne weiteres vorstellen, dass der Kauf eines neuen Autos erst einmal weit in die Zukunft geschoben wird.
Auch ein Großteil der Unternehmen, die erhebliche Gewinneinbußen erlebt haben, hat sicher anderes zu tun, als über den Kauf neuer Automobile nachzudenken.

Die deutsche Automobilindustrie, die sich schon vor Corona in einer ausgeprägten Rezession befand und mit Modellumstellungen zu kämpfen hat, dürfte vor ihrer größten Bewährungsprobe in den letzten siebzig Jahren stehen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich das Wunder von 2010 wiederholt, als die chinesische Nachfrage nach deutschen Autos regelrecht explodierte und der Branche wie der gesamten deutschen Wirtschaft entscheidend half, die globale Rezession rasch zu überwinden.

Exportüberschüsse wollen alle

Der entscheidende Zusammenhang, der dem Exportüberschussweltmeister das Leben schwer machen wird, ist mit dem bisher gesagten jedoch noch nicht einmal angesprochen.
Praktisch alle Länder der Welt werden in der Krise ihre öffentlichen Defizite massiv erhöhen und nach der Krise unter politischem Druck sein, die Defizite und Schuldenstände wieder zu begrenzen. Ganz besonders gilt das für Europa, wo noch niemand mit politischer Verantwortung gesagt hat, dass die Maastricht-Kriterien – einschließlich der 60 Prozent-Grenze für den öffentlichen Schuldenstand – nun für alle Zeit obsolet sind.

Unter dem Druck, die öffentlichen Defizite gering zu halten, werden nach der Krise alle Länder versuchen, ihre Leistungsbilanzdefizite abzubauen bzw. selbst Überschüsse zu erzielen.
Weil die Unternehmen schon lange nicht mehr die traditionelle Rolle des Schuldenmachers und Investors übernehmen, gibt es – wie wir oft gezeigt haben – keine andere Möglichkeit, die Wirtschaft zu beleben, wenn der Staat als Schuldner ausfällt, außer der, dass man das Ausland zum Schuldenmachen zwingt.

Daraus folgt, dass der deutsche Weg der vergangenen 15 Jahre, nämlich über Leistungsbilanzüberschüsse das Schuldenmachen auf das Ausland zu verlagern, hundertprozentig versperrt ist.
Weder die übrigen Europäer noch die USA werden es hinnehmen, dass Deutschland noch einmal voll auf Außenhandelsüberschüsse setzt.
Von den Schwellen- und Entwicklungsländern werden bei sehr niedrigen Bewertungen ihrer Währungen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Leistungs- und Handelsbilanzsalden auf die Überschussseite zu bringen.

Um diesem Dilemma zu entkommen, müsste Deutschland rasend schnell lernen, dass es in seinem eigenen Interesse nicht darauf beharren sollte, dass nach der Krise die Maastricht-Kriterien wieder in Kraft gesetzt und die Staaten zu einer Austeritätspolitik gezwungen werden.
Nur wer den Zusammenhang von Sparen, Verschulden und Investieren begreift, hat eine Chance, die ökonomischen Schäden der Coronakrise einigermaßen zu begrenzen.
Ob sie will oder nicht, die deutsche Politik wird sich neue ökonomische Ratgeber suchen müssen, um im Inland und in Europa über die Runden zu kommen.

Meine Anmerkungen

Schock-Strategie_Naomi_Klein*: Genau diese Strategie beschrieb Naomi Klein in ihrem Buch: Die Schock-Strategie; in der EU wird hier die Anwendung schon 2017 beschrieben: https://josopon.wordpress.com/2017/08/01/griechenland-verordnete-verarmung/

**: Dazu wieder die Fragen des lesenden (und leidenden) Intellektuellen – wenn die Meinungsmache wieder so perfekt inszeniert wird wie oben beschrieben, woher soll dann der Widerspruchsgeist erwachsen ? Es bleibt nach der guten Analyse wieder beim moralischen Appell des Müssens. Davon abgesehen finde ich als Arzt die jetzigen Kontaktsperremaßnahmen leider bis auf weiteres unumgänglich, um Hunderttausenden das Leben zu retten. Siehe https://josopon.wordpress.com/2020/04/07/corona-geht-gerade-erst-los-warum-es-schlimmer-kommt-als-die-regierung-sich-zu-sagen-traut-und-was-sie-trotzdem-richtig-macht/
und 200414-Analyse-Dr.-Vogt
Jochen

Terrorhysterie im Land, wer dadurch zum Verfolgten wird und wer davon profitiert – Ein Interview

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sehr aufschlussreiches Interview auf den NachDenkSetien:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=24886
Auszüge:

Fast jedes terroristische Attentat führt in Folge unmittelbar zu einem weiteren. Zu einem politischen nämlich, welches auf die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte aller Bürgerinnen und Bürger abzielt, um hierdurch – so wird behauptet – der terroristischen Gefahr besser begegnen zu können.
Aber, mal ehrlich: Wenn die Totalüberwachung der Kommunikationswege wirklich vor Terror schützen würde und deswegen nun auch in Deutschland nötig wärewarum genau hat sie mit diesem Anliegen in Frankreich dann soeben vollends versagt?
Und wenn die Einschränkungen der Grundrechte für so genannte „Gefährder“ wirklich und ausschließlich weiteren Terror verhindern sollen – warum verbleibt der Begriff dann so nebulös und werden in Großbritannien inzwischen investigative Journalisten zum Teil als solche überwacht?
Und: Schützt ein Bundeswehreinsatz im Inland, wie er nun erneut in die Diskussion gerät, wirklich dabei, Anschläge zu verhindern – und wenn ja, wie und wodurch eigentlich genau?

Über die „Antiterror“-Gesetze im Land und ihre bisherigen wie zu erwartenden Wirkungen sprach Jens Wernicke mit Michael Csaszkóczy vom Bundesvorstand der Roten Hilfe.

Herr Csaszkóczy, sie sind Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe, die sich vor allem für politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum einsetzt.
Wie bewerten Sie die aktuelle Terrorhysterie im Land und welche Entwicklungen zeichnen sich Ihrer Einschätzung nach hier ab?

Terroranschläge waren schon immer ein willkommener Anlass, sicherheits- und ordnungspolitische Maßnahmen durchzusetzen und Grundrechte weiter einzuschränken. Die dafür notwendigen Gesetze liegen meist bereits vorformuliert in den Schubladen bereit. Anlass sind oft Anschläge von Gruppen, deren Bekämpfung wirklich kaum jemand missbilligen kann. Rechte oder Islamisten also zum Beispiel.
Die rechtlichen Maßstäbe, die dabei verschoben werden, betreffen aber dann letztendlich auch emanzipatorische Bewegungen. Und ob die so genannten Antiterrormaßnahmen ihrem vorgeblichen ursprünglichen Zweck überhaupt dienlich sind und sein können, fragt dann aber bald niemand mehr und ihre Rücknahme steht ohnehin nicht mehr zur Debatte.
Das ursprünglich im Gefolge des 11. September vom Deutschen Bundestag verabschiedete Antiterrorgesetz wurde 2007 einfach ohne große Debatte um weitere fünf Jahre verlängert und soll danach in ein dauerhaftes Gesetz gegossen werden. Dabei müsste jedem und jeder eigentlich klar sein: Ein Anschlag wie der auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt in Paris sind durch einen Staat präventiv unmöglich zu verhindern, wenn er sich nicht in einen Polizeistaat verwandeln will.

Wie meinen Sie das mit dem Polizeistaat? Im Rahmen einer so evidenten terroristischen Bedrohung muss man doch geeignete Maßnahmen ergreifen…

Ich gebe zu, dass es eine erschreckende Wahrheit ist, der man sich aber meiner Meinung nach stellen muss: Wenn jemand nichtsahnende unbewaffnete Menschen umbringen will, dann wird er immer auch eine Möglichkeit dazu finden.
Das gilt umso mehr, wenn Gruppen, die solche Aktionen planen, andernorts aus wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen vom Westen mit Waffen versorgt und gefördert worden sind.

Wir haben daher letztlich nur die Möglichkeit, Ideologien und gesellschaftliche Strukturen zu bekämpfen, unter deren Einfluss Menschen solche Anschläge begehen.
Alle angefeindeten Gruppen unter permanenten Polizeischutz zu stellen ist dabei eine genauso irrwitzige Vorstellung wie jene, durch geheimdienstliche Operationen alle Menschen herauszufiltern, die so etwas in Zukunft tun wollen könnten, und diesen schließlich präventiv die Grundrechte zu entziehen.

Der Kampf gegen Rechts – und dazu gehört für mich natürlich auch der Kampf gegen religiöse Fundamentalisten – bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nicht an Polizei und Ordnungsbehörden delegieren können.

Noch einmal: Es geht hier um Grundrechte, deren Aufhebung nicht nur gesellschaftlich erkämpfte Positionen angreift, sondern sich sehr bald auch gegen Bewegungen richtet, die für sozialen Fortschritt, Gleichheit und Solidarität kämpfen.

Tangieren die spätestens seit 9/11 institutionalisierten „Antiterrormaßnahmen“ denn auch die Möglichkeiten linker Gesellschaftskritik? Und wenn ja: Inwiefern?

Natürlich. Mit den Antiterrorgesetzen wurden den Geheimdiensten weitreichende zusätzliche Rechte eingeräumt, Grundrechte wie das Post- und Fernmeldegeheimnis aufgeweicht, die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung in die Wege geleitet und zum Beispiel im Zuge der Antiterrordatei das Trennungsgebot von Geheimdiensten und Polizei weiter aufgeweicht.

Das Ausländerrecht wurde verschärft und mit dem Paragraphen 129 b die politische Verfolgung von Widerstandsaktivitäten auch dann ermöglicht, wenn die angeblichen Taten im Ausland gegen befreundete Staaten wie etwa die Türkei verübt wurden.

„Politische Verfolgung“? In Deutschland wird doch niemand politisch verfolgt – erst recht nicht als Terrorist.

Der Begriff des Terrorismus ist leider sehr dehnbar und propagandistisch zudem hochgradig aufgeladen. Wer ein Terrorist ist, das bestimmt der Staat recht willkürlich.

Nur zur Erinnerung: Bis zum Jahr 2008 stand Nelson Mandela auf den Terrorlisten der USA. Und je nach innen- und außenpolitischer Gemengelage verwandeln sich beispielsweise auch linke Kurdinnen und Kurden von Terroristinnen und Terroristen zu Freiheitskämpfenden und umgekehrt.

Der einzige Paragraph, der in Deutschland so etwas wie eine Definition von „Terrorismus“ liefert, der § 129 a des Strafgesetzbuches, darf getrost als Gummiparagraph bezeichnet werden und dient in erster Linie zur Ausforschung, Einschüchterung und Kriminalisierung linker Bewegungen.

Das lässt sich auch statistisch belegen: Nur 3 Prozent der nach § 129 a eingeleiteten Verfahren enden nämlich mit einer Verurteilung.
Bis zur Einstellung derselben aber bietet der Paragraph den Ermittlungsbehörden eine sonst nirgendwo mögliche Aushebelung von Grundrechten – von der kompletten Überwachung des persönlichen Umfeldes über die nicht weiter zu begründende Untersuchungshaft und die Einschränkung von Verteidigerrechten bis hin zur Isolationshaft.
Und selbst für eine Verurteilung ist keine konkrete Straftat notwendig – die bloße Mitgliedschaft in einer als terroristisch definierten Gruppe reicht bereits aus. Das führt nicht nur bei der migrantischen Linken, deren Verfolgung oftmals gar nicht ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerät, zu grotesken Verfahren. Bekannt wurde in jüngster Zeit etwa auch die Geschichte des Sozialwissenschaftlers Andrej Holm, der 2007 wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert wurde.

Ja, von Andrej Holm und seiner Geschichte habe ich lose gehört. Wer ist er – und was ist geschehen?

Andrej Holm forscht und lehrt in Berlin zu den Themen Stadterneuerung, Wohnungspolitik und Gentrifizierung. Für die Ermittlungsbehörden wurde daraus die Beschäftigung mit so genannten „anschlagsrelevanten Themen“.
Treffen wurden zu “konspirativen Sitzungen“ einer so genannten “militanten gruppe“ hochstilisiert, weil Holm „möglicherweise kein Handy dabei hatte“.

Das war alles, was der Staatsschutz nach mehr als einem Jahr intensivster Überwachung vorzuweisen hatte – faktisch also nichts als Behauptungen und Verdrehungen.
Das reichte aber zur Inhaftierung wegen Terrorverdachts inklusive martialischer Stürmung der Familienwohnung durch ein Sondereinsatzkommando.

Die Untersuchungshaft wurde schließlich erst sehr viel später durch den Bundesgerichtshof wieder aufgehoben, weil es „keine hinreichenden Indizien für einen dringenden Tatverdacht“ gegeben habe. Zu einer Anklage gegen Andrej Holm ist es nie gekommen.

Und derlei Entwicklungen nehmen zu? Warum und wodurch?

Nun, es sind nicht nur die spektakulären Fälle wie die 129 b-Prozesse gegen türkische Exillinke in Stammheim – für die sich übrigens kaum jemand interessiert – oder der Fall von Andrej Holm, bei denen sich die Überwachungswut der Verfolgungsbehörden offenbart.

Aktivistinnen und Aktivisten der außerparlamentarischen Bewegung kennen die Folgen solch staatlicher Feinderklärung allzu häufig bereits aus ihrem politischen Alltag.
In die Personenfahndungsdatei „LiMo“ – das steht für „linksmotivierte Gewalttäter“ – kann beispielsweise jeder politisch aktive Mensch geraten, auch wenn er noch nie in seinem Leben eine Straftat begangen hat.
Im Zweifelsfall reicht schon eine Polizeikontrolle auf dem Weg zu einer Demonstration, bei der die Polizei irgendwelche Probleme – etwa Sitzblockaden oder ähnliches erwartet, um in dieser angeblichen „Gewalttäterdatei“ zu landen. Die Betroffenen erfahren in der Regel nichts von dieser Speicherung.
Wenn im Nachbarland gerade ein G7-Gipfel oder ein NATO-Treffen ist, kann für den Betreffenden an der Grenze dann sehr schnell Schluss seinen Grundrechten – ich meine beispielsweise das Versammlungsrecht – und seiner Reisefreiheit.

Direkt spürbar wird das neue Selbstverständnis der Polizei als politischer Akteur, wenn zum Beispiel in Dresden bei den Blockaden gegen den Naziaufmarsch eine Funkzellenabfrage mit 800.600 Verkehrsdaten und 229 Bestandsdaten durchgeführt wird und dabei auch die Handys von Bundestagsabgeordneten mit ins Visier geraten.
Dass solche Maßnahmen gelegentlich für rechtswidrig erklärt werden, kratzt die Repressionsbehörden wenig – denn das hat ja mit keinerlei Konsequenzen für sie.
Erst Mitte Januar hat beispielsweise die Leipziger Polizei bei einem Polizeikessel nach einer Spontandemonstration ungefähr 150 Handys beschlagnahmt um deren Daten auszuwerten. Dass das später für illegal erklärt wird, wissen die Beamten vermutlich ganz gut. Interessieren tut es sie aber nicht.
Und so wird gesammelt und gesammelt und geraten auch Freunde und Bekannte von Menschen, die ihre Grundrechte noch mit Entschlossenheit verteidigen, immer mehr ins Visier.

Und wer von politischer Polizei und Geheimdiensten erst einmal als Linksextremist gebrandmarkt ist, der kann damit rechnen, dass seine Grundrechte im konkreten Zweifelsfall überhaupt nicht mehr zählen.
Dabei findet die Eingruppierung als Extremist durch den sogenannten „Verfassungsschutz“, die weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen hat, weitgehend in extralegalem Rahmen statt.

Wie meinen Sie das mit den Geheimdiensten und der Extralegalität? Extremist ist schließlich Extremist, oder nicht?

Über die Dehnbarkeit und gelegentliche Absurdität dessen, was als Terrorismus bezeichnet wird, haben wir ja schon gesprochen.
Für den Begriff Extremismus – der ja im Behördendenken als so eine Art Vorstufe zum Terrorismus fungiert – gilt Ähnliches. Wer „Extremist“ ist, das liegt weitgehend in der Definitionsmacht des „Verfassungsschutzes“ und richtet sich mitnichten nach verfassungsrechtlichen oder ähnlichen Grundsätzen, sondern ist schlicht eine vom Geheimdienst selbst ausgesprochene „staatliche Feinderklärung“, die je nach politischer Opportunität wechseln und modifiziert werden kann.

So wurde erfreulicherweise nach dringenden Bitten seitens der Politik die Beobachtung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die vom Verfassungsschutz jahrzehntelang als „linksextremistisch beeinflusst“ geführt wurde, in einigen Bundesländern inzwischen eingestellt.
Sie erschien mittlerweile wohl als gar zu anachronistisch. Ob damit die geheimdienstliche Bespitzelung der Betroffenen aber wirklich beendet wurde, steht auf einem anderen Blatt. Antifaschismus – selbst der historische Widerstand gegen den Nationalsozialismus – gilt dem Inlandsgeheimdienst immer noch als verdächtig, selbst wenn damit die Opfer der Nazis erneut ins Visier des Staates geraten.

Beim Verfassungsschutz sitzen ja nicht in erster Linie Verfassungsrechtler, sondern Mitarbeiter eines Geheimdienstes, der nach dem Krieg von Altnazis aufgebaut wurde und weiter in den Kategorien des Kalten Krieges denkt. Kritik am Kapitalismus ist nach den Kategorien des Verfassungsschutzes fast schon gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die so genannte freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Dass der „Verfassungsschutz“ nach dem wiederholten Bekanntwerden seiner Verstrickungen mit der Naziszene noch nicht aufgelöst wurde, ist schlimm genug.
Dass aber ausgerechnet dieser Geheimdienst geeignet sein soll, Linke zu Verfassungsfeinden zu erklären und über politischer Verfolgung immensen Ausmaßes sozusagen nicht nur Deutungshoheit, sondern auch Handlungsmacht innehat, ist schlicht grotesk.

Aber rassistische Aufmärsche wie jene von PEGIDA, die müssen doch verboten werden – das muss doch gerade auch im Interesse linker Akteure sein?

Sich rassistischen Aufmärschen entgegenzustellen, sollte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, die wir nicht der Polizei überlassen können.
Allerdings ist das Verbot der PEGIDA-Demonstration ein schönes Beispiel dafür, wie rasant sich vorgeblich gegen wirklich bekämpfenswerte Gruppen gerichtete Maßnahmen, die mit Terrorabwehr begründet werden, alsbald auch gegen Linke wenden können.

Denn ohne weitere Begründung wurde das mit diffusen Anschlagsplänen begründete Demonstrationsverbot auch auf alle antirassistischen Demonstrationen ausgeweitet. Gleichzeitig werten Regierungsvertreter wie Sigmar Gabriel den rassistischen Mob zu besorgten Bürgern um und somit auf, deren Anliegen man ernst nehmen müsse. Die Behauptung einer Terrorgefahr, die niemals belegt worden ist, diente hier faktisch der Aushöhlung fundamentaler Grundrechte – und zwar auf allen Seiten.

Wenn das nun alles so ist… was zu tun täte aktuell dann am ehesten not?

Die Linke täte gut daran, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Grundrechte in historischen Kämpfen um Befreiung errungene Rechte sind.

Sie zu verteidigen, wo sie vom Staat ausgehöhlt werden, ist dabei nicht nur dort notwendig, wo die Linke selbst betroffen ist. Das gilt auch und insbesondere dann, wenn man sich etwas Besseres vorstellen kann als eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft.

Und eine solche Haltung bedeutet eben nicht, rassistische Demonstrationen, antisemitische Hetze oder islamistischen Terror achselzuckend hinzunehmen. Sie bedeutet ganz im Gegenteil: Der Kampf dagegen ist unsere ureigenste persönliche, politische sowie soziale Sache und nicht etwa die von Polizei und Geheimdiensten.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Michael Csaszkóczy (geb. 1970) ist Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe. Von 2003 bis 2007 war er als Lehrer mit Berufsverbot belegt.
Begründet wurde diese Maßnahme mit seiner vom Verfassungsschutz monierten Mitgliedschaft in antifaschistischen Gruppen und der Roten Hilfe.
2007 wurde das Berufsverbot in letzter Instanz für grundrechtswidrig erklärt.