»Nuit Debout« macht weiter – Hier die Möglichkeit, Solidarität mit den französischen Arbeitern zu bekunden !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

http://arbeitsunrecht.de/mitmachen/solidaritaet-mit-protesten-in-frankreich/

Setzen Sie ein Zeichen: Unterstützen Sie diese Resolution mit einer Unterschrift!

Wir, Menschen aus Wissenschaft, Publizistik und Gewerkschaften aus Deutschland, erklären unsere Solidarität mit den Menschen in Frankreich, die gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ weiter protestieren und streiken. Diese Streiks und Proteste sind berechtigt, notwendig und ein Vorbild für die gesamte Europäische Union.

So kann Demokratie nicht funktionieren

Wir protestieren gegen das Gesetz, das per Notverordnung am Parlament vorbei diktiert wird. Es stimmt weitgehend mit den Forderungen des Arbeitgeberverbandes MEDEF überein und richtet sich gegen die Meinung und Interessen der Mehrheitsbevölkerung. Diese Demokratur verschärft die Rechtsentwicklung in der Europäischen Union.

Wir protestieren ebenfalls gegen die massive Polizeigewalt und Verurteilungen, mit denen die Versammlungs- und Meinungsfreiheit der Streikenden und Protestierenden eingeschränkt wird.

Niedriglohngesetze nicht erfolgreich

Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls haben auf angebliche Erfolge gleichartiger Gesetze in anderen EU-Staaten verwiesen.
Doch diese Erfolge gibt es nicht, im Gegenteil.

Die Bundesrepublik Deutschland, die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Agenda 2010 am frühesten mit solchen „Reformen“ begann, wurde dadurch zum größten Niedriglohnstaat in Europa. Das schädigt nicht nur die Beschäftigten, die Arbeitslosen und vor allem die Jüngeren in Deutschland selbst, sondern auch die Volkswirtschaften der anderen EU-Mitgliedsstaaten, nicht zuletzt Frankreichs. Diese Reformen sind eine Ursache für die wachsende Arbeitslosigkeit in der ganzen EU.

Gewerkschaftsvermeidung und gesteigerte Arbeitshetze

Durch die Agenda 2010 und weitere Maßnahmen der Folgeregierungen wurden in Deutschland kollektive, transparent entwickelte Tarifverträge zurückgedrängt. Die Gewerkschaften werden geschwächt. Einzelbetriebliche Vereinbarungen führen unter dem internen Druck der Arbeitgeber – sie drohen mit der Schließung oder Verlagerung des Betriebs oder mit Entlassungen – zur noch weiteren Entgrenzung der Arbeitszeiten, zu Lohnsenkungen, zu unbezahlten Überstunden, zu noch mehr Teilzeit- und Minijobs, zu noch mehr befristeten oder sogar unbezahlten Arbeitsplätzen (Praktika).

Altersarmut und Burn-out

Selbst die deutsche Regierung muss mittlerweile zugeben: wegen der Niedriglöhne und begleitende Rentenkürzungen bildet sich bereits jetzt eine gewaltige Altersarmut. Pensionäre sind in wachsender Zahl zu Nebenarbeit gezwungen. Hunderttausende Niedriglöhne müssen staatlich subventioniert werden. Mithilfe von etwa tausend Tafeln muss der Hunger der Verarmten notdürftig gestillt werden. Die wachsende Unsicherheit und der unkontrollierte Leistungsdruck haben zu mehr Stress und einem Anstieg der psychischen Krankzeiten und Depressionen geführt.

Das Rattenrennen stoppen

Die nach deutschem Vorbild durchgezogenen Arbeitsrechts-„Reformen“ sind Teil eines zerstörerischen Standort-Wettbewerbs und haben zu Ungleichheiten geführt, die auch den demokratischen und sozialen Zusammenhalt in der EU schon jetzt schwer schädigen.

Wir stimmen mit den Streikenden und Protestierenden in Frankreich überein: Die abhängige Arbeit muss aufgewertet, deren finanzielle und moralische Herabwürdigung muss beendet werden! Auch Flüchtlinge dürfen nicht für Lohn-Dumping missbraucht werden!

Kämpfen wofür?

Wir schließen uns der Forderung von Attac Frankreich an:

  • Lohnerhöhungen insbesondere für die unteren Einkommensgruppen!
  • Investitionen müssen in Arbeitsplatz-schaffende Produkte fließen, etwa in den ökologischen Umbau der Systeme für Transport und Energie!
  • Investitionen in Bildung und Ausbildung für alle!
  • Arbeitszeitverkürzung für alle!
  • Beendigung des zerstörerischen Lohndumping-Wettbewerbs zwischen den EU-Mitgliedsstaaten!

Hier unterschreiben !

Erstunterzeichner_innen

Initiativen: Makroskop Mediengesellschaft (Prof. Dr. Heiner Flassbeck, Dr. Paul Steinhardt) | Labour Net Germany (Mag Wompel) | aktion./.arbeitsunrecht (Jessica Reisner) | Lunapark21 (Dr. Winfried Wolf) | Welt der Arbeit (Franz Kersjes) | Naturfreunde Deutschlands (Uwe Hiksch) | Sand im Getriebe (Marie-Dominique Vernhes) | Klartext (Prof. Rainer Roth ) |

Dazu auch der Soziologe und Aktivist Clouet über die Ziele der Protestbewegung »Nuit Debout« im Interview

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1015170.protestieren-bis-zum-ruecktritt.html

Herr Clouet, die Europameisterschaft hat begonnen, die Streiks gehen weiter. Will die Protestbewegung die gesamte EM sabotieren?
Wenn ich zwischen der EM und meiner Zukunft wählen muss, dann wähle ich meine Zukunft. Ich habe gar kein Problem damit, die EM zu sabotieren. Wenn die Regierung uns dazu drängt, bleibt uns keine andere Wahl. Sie setzt sich einfach über das Parlament hinweg und drückt ein Gesetz durch, obwohl es die Mehrheit der Franzosen ablehnt.

Wie lange ist das noch durchzuhalten?
Die sozialen Bewegungen werden immer größer und stärker. Sie entwickeln immer neue Aktionsformen. Zum Beispiel gibt es seit Wochen in Paris vergünstigte Stromtarife, weil die Gewerkschaft CGT den Stromanbieter EDF besetzt hat. Die meisten Arbeitnehmer unterstützen die Streiks auch weiterhin.

Auch wenn sie dafür lange Arbeitswege und stundenlanges Warten vor Tankstellen in Kauf nehmen müssen?
Viele Leute sagen natürlich, dass es nicht immer ganz einfach ist. Aber deshalb fordern sie nicht von den Gewerkschaften, die Streiks zu beenden. Die meisten sind sich einig, dass die Regierung hier die Schuld trägt.

Es gab in den vergangenen Wochen aber auch viele Verletzte, ein Demonstrant liegt sogar im Koma.
Die Strategie der Polizei war von Anfang an sehr gewalttätig. Außerdem gibt es einige Autonome, die die Demonstrationen künstlich anheizen, kleine Läden und öffentliche Einrichtungen beschädigen. Wir wissen leider nicht, wie viele Autonome für die Polizei arbeiten. Aber wir glauben, dass die Steinewerfer Teil der Polizeitaktik sind. Mittlerweile werden auch Gewerkschaftler der CGT von den Autonomen angegriffen. Die Polizei nutzt sogenannte Ordnungstechniken, die eskalierend wirken.

Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Zum Beispiel werden die Demos in zwei oder drei Teile aufgespalten. Dann wird ständig Tränengas auf die Leute geschossen, die friedlich demonstrieren. Daraufhin kommt es zu gewaltsamen Reaktionen einiger Demonstranten und damit rechtfertigt die Polizei dann ihren Angriff.

Glauben Sie wirklich daran, dass die Regierung das umstrittene »El-Khomri-Gesetz« noch zurückziehen wird?
Das Gesetz wurde bereits geändert – allerdings nicht zum Besseren. Nachdem die Regierung den ersten Entwurf in den Senat gegeben hat, wurde es von den konservativen Senatoren noch einmal komplett umgeschrieben. Nun ist es neoliberaler als vorher. Jetzt kommt es zurück ins Parlament – auch dort kann sich noch viel ändern.
Wahrscheinlicher ist aber, dass die Regierung wieder den Artikel 49.3 der Verfassung benutzt und ihre eigenen Leute im Parlament in eine Mehrheit zwingt. Nach dem Artikel kann die Regierung die Abgeordneten vor die Wahl stellen: Entweder für die Regierung und das Gesetz mit Ja oder gegen die Regierung und das Gesetz mit Nein zu stimmen. Wenn sich Ende Juni genug Sozialisten für ein Nein entscheiden, kann die Regierung gestürzt werden. Darauf warten wir.

Keine Änderung des Gesetzes, sondern gleich Neuwahlen?
Ich glaube, das ist die einzig vernünftige Lösung. Denn es gibt viele Sozialisten, die nicht zwischen dem Gesetz und der Regierung wählen wollen.

Viele Linke in Deutschland blicken gespannt nach Frankreich, denn Proteste in Deutschland, beispielsweise gegen die Hartz-Gesetze im Jahr 2004, werden nicht annähernd so stark ausgetragen. Da kommt das Klischee von den revolutionären Franzosen und den braven Deutschen auf.
Ich glaube nicht, dass es hier um kulturelle Unterschiede geht. Die Hartz-IV-Gesetze sind viel klüger durchgesetzt worden als unser »El-Khomri-Gesetz«. Wir hatten keine Hartz-Kommission mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich in den Gesetzgebungsprozess einbringen konnten. Das »El-Khomri-Gesetz« wurde allein von der Regierung geschrieben – ohne Sozialpartner. Danach waren alle Gewerkschaften dagegen und selbst der Arbeitgeberverband – allerdings weil es ihm nicht liberal genug war. Außerdem trafen die Hartz-Gesetze nur eine Minderheit, nämlich die schwächsten Glieder der Gesellschaft. In Frankreich wären durch die Veränderung des Arbeitsrechts fast alle Arbeitnehmer betroffen. Das erklärt, warum so viele Franzosen die Streiks in Kauf nehmen und selbst auf die Straße gehen: Sie sind einfach fast alle betroffen.

Was sagt das über die sozialdemokratischen Regierungen beider Länder aus?
Die deutsche Sozialdemokratie geht viel klüger vor, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen von Leuten zu verschlechtern. Für konservative Parteien ist es generell schwerer, soziale Kälte zu organisieren, da sie von vornherein die Gewerkschaften und viele Arbeitnehmer gegen sich haben. Sozialdemokraten glauben am Anfang noch, die Sozialpartner auf ihrer Seite und die tun sich auch schwer damit, gegen ihre politischen Partner zu agieren. Außerdem nähern sich die beiden sozialdemokratischen Parteien immer mehr der neoliberalen Einheitspolitik in Europa an.

Zur Person – privat

Hadrien Clouet ist Doktorand der Soziologie am Pariser Institut für politische Studien Sciences Po. Der Arbeitsmarktexperte engagiert sich in der Protestbewegung »Nuit Debout«, die seit Ende März auf dem Platz der Republik in Frankreichs Hauptstadt gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts demonstriert. Über 70 Prozent der Franzosen lehnen das nach der Ministerin Myriam El Khomri benannte Gesetz ab.

Dazu auch eine Kritik des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty am Arbeitsmarktgesetz der Regierung:

Auszüge:
Während die sozialen Spannungen Frankreich zu blockieren drohen und die Regierung weiterhin den Dialog und Kompromiss verweigert, erweist sich das Gesetz zur Reform des Arbeitsmarkts immer deutlicher als das, was es ist: ein heilloses Durcheinander, ein weiteres in einer fünfjährigen verpatzten Regierungszeit, und vielleicht das schlimmste.
Die Regierung will uns glauben machen, dass sie den Preis dafür zahlt, Reformen voranzubringen, und dass sie allein gegen alle Formen von Konservatismus kämpft. Die Wahrheit sieht auch bei diesem Thema anders aus: Die Regierungsmacht vervielfältigt die Improvisationen, Lügen und den handwerklichen Pfusch.
Das zeigte sich bereits beim Thema Wettbewerbsfähigkeit. Die Regierung stieg damit ein, dass sie – zu Unrecht – die Kürzungen der Arbeitgeberbeiträge zurücknahm, die die vorherige Regierung veranlasst hatte, bevor sie ein unwahrscheinliches Monsterverfahren startete, und zwar in Form eines Steuerkredits, der darauf zielte, den Unternehmen einen Teil der ein Jahr zuvor geleisteten Beiträge zu erstatten, wobei sie einen enormen Reibungsverlust wegen des Mangels an Verständlichkeit und Nachhaltigkeit ihrer Maßnahmen bewirkte. Stattdessen hätte sie eine ehrgeizige Reform der Finanzierung der Sozialversicherung angehen sollen.

Blogbeitrag von T. Piketty vom 2.6.2016: http://piketty.blog.lemonde.fr/2016/06/02/loi-travail-un-effroyable-gachis/.
Aus dem Französischen von Marion Fisch.

Jochen

Die Hartz-IV-Gesetze sind die Arbeitshäuser des 21. Jahrhunderts

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein Vergleich mit der Geschichte zeigt, dass nur wenig Leute aus ihr gelernt haben.
Vor allem nicht die, die als Arbeiter noch SPD wählen, vergl. meine Nachrichten schon hier: https://josopon.wordpress.com/2014/01/14/inge-hannemann-ich-furchte-das-unbezahlte-burgerarbeit-eingefuhrt-wird/

sowie der letzten 3 Tage.
http://www.heise.de/tp/artikel/42/42717/

Patrick Spät 09.09.2014
Zum 1. April 2015 soll das Hartz-IV-Gesetz verschärft werden. Armut soll damit weiterhin als abschreckendes Beispiel dienen
Haben Sie keine Erwerbsarbeit? Früher hätte das ungemütliche Konsequenzen haben können: 1589 wurde in Amsterdam eines der ersten sogenannten „Arbeitshäuser“ eröffnet, um die „Abneigung gegen Arbeit zu kurieren“.
Die Heilmethoden waren alles andere als homöopathisch: Die Müßiggänger sperrte man in ein Verlies, in das man nach und nach Wasser füllte. Die im Wasser stehenden Gefangenen mussten ununterbrochen eine Pumpe betätigen, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Mit dieser perversen Folter wollte man den Arbeitsunwilligen ihre Faulheit austreiben und ihnen hautnah demonstrieren, dass emsiges Arbeiten überlebensnotwendig sei. Die Menschen, die der Logik der Erwerbsarbeit in der aufkommenden kapitalistischen Gesellschaft nicht folgen wollten, wurden durch Gewalt zugerichtet und diszipliniert.
Die grausamen Arbeitshäuser verbreiteten sich schnell in ganz Europa; erst 1969 wurden sie in Deutschland abgeschafft. Nach Ronald Reagan und Margaret Thatcher dauerte es dann etwas, bis sich der Neoliberalismus auch in Deutschland vollends entfalten konnte.
Am 1. Januar 2005 aber kam „Hartz IV“. Seitdem leben Millionen Menschen mit dem ALG II, das bekanntermaßen weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Selbst Menschen, die um jeden Preis arbeiten wollen, aber nicht können, bekommen das zu spüren. Ganz zu schweigen von denen, die durch Krankheit, Kündigung oder andere Schicksalsschläge in Hartz IV gestürzt sind.
Kurz nach der Einführung von Hartz IV drohte der damalige SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering mit den biblischen Worten Paulus’: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“
SPD und Grüne wussten damals genau, was sie taten. Nichts zieht so sehr den Volkszorn auf sich wie die (vermeintliche) Faulheit.
Mit der Drangsalierung der Arbeitslosen lässt sich prima Stimmung machen – und Wahlen gewinnen.
Das geschieht auf vielerlei Wegen: Von Wirtschaft und Politik hören wir ständig das Gefasel von „Wachstum“, „Wettbewerb“ und „Standortsicherheit“, um uns einzureden, dass wir „Gürtel enger schnallen“ müssten, weil nur so „sichere Arbeitsplätze“ möglich seien – alles andere sei „alternativlos“.
Eine Lohnerhöhung sei nicht drin, weil sonst die Firma pleitegehe.
Wir dürften die Reichen nicht zu stark besteuern, weil sonst die „Leistungsträger“ ins Ausland gingen. All diese Dinge werden Konsens – sogar bei den Erwerbstätigen selbst.
Untermauert wird dieser verheerende Konsens, indem massiv die reale Lage verdreht wird: Angeblich haben wir einen „Fachkräftemangel„, zum Beispiel bei Ingenieuren, wie uns Lobby-Verbände und unkritisch abschreibende Medien weismachen wollen. Tatsächlich aber spricht die Bundesagentur für Arbeit von einem solchen Mangel, wenn auf eine Stelle drei Bewerber kommen – der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) sieht einen angeblichen Fachkräftemangel bei fünf Bewerbern pro freier Stelle[1]. Die Wirtschaft will sich die Rosinen aus einem Überangebot an Bewerbern herauspicken, die anderen Bewerber fallen unter den Tisch – und schlimmstenfalls in Hartz IV. Und bei Hartz IV geht die Propaganda weiter: Jede BILD-Schlagzeile über vermeintliche „Sozialschmarotzer“ und jede RTL-II-„Teenie-Mütter“-Folge untermauert die feindliche Stimmungslage gegen erwerbslose Menschen.
Seit der Einführung von Hartz IV stimmen 47,3 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass die meisten Arbeitslosen kaum daran interessiert seien, einen Job zu finden, wie das Forschungsprojekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“[2] ermittelt hat.
Aufschlussreich ist dabei die Feststellung, dass die Hetze gegen Arbeitslose und Arbeitsverweigerer mit dem Einkommen steigt.
Wilhelm Heitmeyer
, der Leiter des Projekts, sieht die Ursachen hierfür in einer „Ökonomisierung des Sozialen“[1]:

In der Selbstwahrnehmung der Vermögenden strotzen deren Biografien vor Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit.
Dazu kommen durch ihre Sozialisierung – etwa durch Abschottung, ihre Wohnlage – bestimmte Habitusmuster. Dazu gehört Gleichgültigkeit gegenüber Obdachlosen. Es gibt eine elitäre Parallelgesellschaft, in der ein eisiger Jargon der Verachtung herrscht und kaum Interesse an gesellschaftlichen Integrationsproblemen.
Es gibt also keine Auseinandersetzung mit dem, was in unserer Gesellschaft geschieht. Es geht den Reichen bei ihrer Abschottung um die Sicherung ihres Status. Insofern gibt es sozusagen einen Klassenkampf von oben.

Feindbild des Arbeitslosen

Der Tenor der Reichen ist eindeutig: Jeder ist seines Glückes Schmied. Die so genannten sozial Schwachen müssen selbst schauen, wo sie bleiben und wie sie über die Runden kommen. Die Wohlhabenden grenzen sich ab vom Pöbel und ziehen sich zurück aus der Solidargemeinschaft.
Aktuellstes Beispiel: Der FDP-Politiker Lars Lindemann fordert[3], dass Hartz IV-Empfänger aus der Innenstadt verschwinden und an den Stadtrand ziehen sollen, denn, so Lindemann: „Jemand, der von Sozialhilfe lebt, kann nicht denselben Anspruch haben, wie jemand, der sein Geld selbst verdient!“
Genau solche Sichtweisen führen dazu, dass bei Heitmeyers Studie 25,8 Prozent der Aussage zustimmen, „dass moralisches Verhalten ein Luxus ist, den wir uns nicht mehr leisten können“.
Folgerichtig sagen die Vermögenden ganz offenherzig, dass der Hartz IV-Regelsatz noch viel zu hoch sei. Schließlich handelt es sich um Staatsknete, also auch um die Einkommenssteuer der arbeitenden Bevölkerung. Diejenigen, die das Geld haben, sehen in den vermeintlichen Sozialschmarotzern eine ökonomische Konkurrenz (Große Teile der bürgerlichen Mittelschicht sind dabei, sozial zu verrohen[4]).
Was überaus lachhaft ist, trägt realpolitische Früchte. Die Mehrheit prügelt mit Sanktionen und scharfen Worten auf die Minderheit ein. Das victim blaming, die Opferschelte, erfüllt seinen Zweck.
All das sind Strategien der Manipulation, um Menschen auf ihren bloßen Nutzen und Mehrwert zu reduzieren, oder passender: auf ihre Verwertbarkeit.
Im Kampf „jeder gegen jeden“ entsolidarisiert sich die Gesellschaft; gleichzeitig sollen die Menschen gesellschaftsfähig gemacht werden, was nichts anderes heißt, als sie auf Arbeit zu drillen. Wer diese soziale Selektion nicht mitmachen will oder kann, kommt schnell unter die Räder.
Zudem hat Hartz IV erfolgreich den Niedriglohnsektor etabliert: Nach dem Motto: „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“ verdingen sich Millionen Beschäftigte für einen Hungerlohn und müssen mit Hartz IV aufstocken.
Gleichzeitig werden damit diejenigen Unternehmen staatlich subventioniert, die die Hungerlöhne zahlen. Jeder vierte deutsche Beschäftige arbeitet mittlerweile im Niedriglohnbereich[5], das heißt er oder sie verdient weniger als 9,54 Euro brutto die Stunde.
Wer ist davon konkret betroffen? Fast 90 Prozent der Taxifahrer arbeiten für einen Niedriglohn, nicht besser sieht es aus bei Friseuren und Kosmetikern (85,6 Prozent), Reinigungskräften (81,5 Prozent) oder in der Gastronomie (77,3 Prozent). Hätte das Statistische Bundesamt auch Studentinnen und Studenten und Kleinbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten erfasst (beide fallen aus der Statistik heraus), wären die Zahlen wohl noch alarmierender ausgefallen.

Das Feindbild des Arbeitslosen hat aber auch noch eine andere Funktion: Politik, Medien und Stammtische vergewissern sich ihrer vermeintlichen Überlegenheit, indem sie über die „faulen Nichtstuer“ und „Sozialschmarotzer“ hetzen. Der Hartz-IV-Empfänger bestätigt in seiner Funktion als Sündenbock den vermeintlich besseren Status desjenigen, der ihn beschimpft. Insofern untermauert und stützt die Armut den Status quo des Gesellschaftssystems:
„Armut ist gewollt und bewusst erzeugt, weil sie die ‚Aktivierung‘, Motivierung und Disziplinierung der Bevölkerungsmehrheit gewährleistet. Die (Angst vor der) Armut sichert den Fortbestand der bestehenden Herrschaftsverhältnisse“, wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge feststellt[6].

Ab dem 1. April 2015 soll die Angst vor der Armut noch weiter wachsen

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat seit Monaten an einer Reform des SGB II[7] herumgebastelt, um die Arbeitslosen abermals zu schikanieren.
Das Ganze lief unter dem schöngefärbten Titel „Rechtsvereinfachungen im Zweiten Sozialgesetzbuch“, offiziell heißt es nun „Neuntes SGB II-Änderungsgesetz“.
Unter den 36 geplanten Änderungen[8] finden sich unter anderem diese abstrusen Punkte[9]:
Menschen, die Hartz IV beziehen, sollen deutlich schlechtere Karten haben, wenn sie Verwaltungsvorgänge rückwirkend (nach § 44 SGB X) überprüfen lassen wollen, das soll dann „nur bei geänderter Rechtslage“ und „neuen Beweismitteln“ möglich sein. Ein Freifahrtschein für Willkürakte seitens der Jobcenter.
Es kommt noch schlimmer: Zum einen sieht der Entwurf eine Änderung des SGG 73 vor: „Einführung eines Vertretungszwangs auch für Beteiligte vor dem Landessozialgericht.“ Leistungsberechtigte sollen sich also künftig von einem Anwalt vertreten lassen müssen.
Zum anderen droht eine Änderung des SGG 184 Abs. 3 sowie SGB X 64 Abs. 3 Satz 2: „Abschaffung der Pauschgebührenbefreiung für Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende im sozialgerichtlichen Verfahren.“ Und als Sahnehäubchen eine Änderung des SGG 183 sowie SGB X 64: „Einführung einer Gebühr für 1) Klage (SN) bzw. 2) Klage und Widerspruch (z.B. 20 Euro).“
Wovon soll man diese Gebühren und die Anwälte zahlen, wenn man am Existenzminimum lebt? Wer sagt, dass es bei 20 Euro bleibt? Und wie viel kostet erst ein Rechtsanwalt?
Die geplante Reform verstößt eklatant gegen unseren sogenannten Rechtsstaat, in dem jeder und jede das Recht und die Möglichkeit haben müssen, den Rechtsweg einzuschlagen – auch gegen den Staat selbst. Man erinnere[10] sich: Jeder dritten Klage gegen Hartz IV wird recht gegeben; und in 42 Prozent der Verfahren gegen Sanktionen wird zugunsten der klagenden Arbeitslosen entschieden.
Es ist geradezu menschenverachtend, wenn das Hartz-IV-System nun auch noch die ohnehin schwer und langwierig zu öffnende Tür zum Gericht verriegeln will.
Darüber hinaus ist folgendes geplant: Die sogenannten „temporären Bedarfsgemeinschaften“ (getrennt lebende Paare mit einem oder mehreren Kindern) sollen abgeschafft werden, um Verwaltungskosten zu sparen.
Heißt: Die Jobcenter dürfen Leistungen für Kinder zusammenkürzen, wenn diese beispielsweise ein Wochenende im Monat beim anderen Elternteil verbringen. (Die Berechnung würde vermutlich so aussehen: Monatssatz für ein Kind von X Euro, geteilt durch 30 Tage, multipliziert mit den Aufenthaltstagen beim anderen Elternteil.)
All das würde, erstens, zu einer noch drastischeren Überwachung der Hartz-IV-Bezieher führen, wenn nicht nur mehr die Zahnbürsten und Bettlaken in den Privaträumen überprüft werden, sondern auch noch die private Terminplanung.
Zweitens ist es hanebüchen, dass ein Elternteil massiv Geld spart, wenn das Kind für ein Wochenende woanders übernachtet: Kleidung, Hausrat und Schulsachen wollen trotzdem bezahlt werden.

Ebenso drastisch ist der Vorschlag der Bundeagentur für Arbeit, den Mehrbedarfsanspruch für Alleinerziehende zu kürzen, der momentan durchschnittlich bei 130 Euro monatlich liegt. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt[11] hierzu:
„Ziel: Es erfolgt eine Korrektur von Fehlanreizen. Die Erwerbstätigenquote liegt bei Alleinerziehenden bundesweit bei rund 60%. Alleinerziehende im Leistungsbezug nach dem SGB II sind hingegen oft schwer beruflich zu integrieren.
Lösungsvorschlag: Der Mehrbedarf für Alleinerziehende wird zukünftig nur noch gewährt, wenn die/der erwerbsfähige Leistungsberechtigte eine Erwerbstätigkeit ausübt oder an einer Maßnahme zur beruflichen Qualifizierung bzw. Eingliederung in Beschäftigung teilnimmt und für den gleichen Zeitraum Arbeitslosengeld II zu beanspruchen hat.

Anhang – Links
[1] http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Der-Arbeitsmarktreport-das-M%C3%A4rchen-vom/Das-Erste/Video?documentId=22510396&bcastId=799280
[1] http://www.zeit.de/2011/52/DOS-Maria-und-Josef-Gespraech
[2] http://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/EntwicklungGMF.html
[3] http://www.bild.de/regional/berlin/hartz-4/empfaenger-aus-der-city-an-den-stadtrand-37060156.bild.html
[4] http://www.heise.de/tp/artikel/40/40798/
[5] http://www.tagesschau.de/wirtschaft/niedriglohnsektor104.html
[6] http://www.tagesspiegel.de/meinung/armutsforscher-christoph-butterwegge-deshalb-werden-die-ursachen-von-armut-in-deutschland-verschwiegen/10043732.html
[7] http://www.harald-thome.de/media/files/sgb-ii-hinweise/Fahrplan-SGB-II—-nderungen.pdf
[8] http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/massive-verschlechterungen-fuer-hartz-iv-bezieher-90016230.php
[9] http://www.harald-thome.de/media/files/ASMK-Rechtsvereinfachungen-SGB-II—27.09.2013.pdf
[10] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-iv-klagen-haben-laut-arbeitsministerium-haeufig-erfolg-a-975370.html
[11] http://www.harald-thome.de/media/files/2013-06-12_Vorschl-ge_TOP_B-L-AG_inkl_4-Nachtr-gen.pdf

Jochen