Die Deutsche Einheit – ein kapitalistisches Übernahmeprojekt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

MausfeldEndlich hat sich Kollege Mausfeld diesem Thema zugewendet und hat dazu mit Daniela Dahn eine exzellente Mitstreiterin gefunden:
https://www.heise.de/tp/features/Die-Einheit-ein-kapitalistisches-Uebernahmeprojekt-4914128.html
Dort finden sich auch lesenswerte Kommentare.

Das Thema habe ich hier auch schon mehrmals bearbeitet:daniela dahn

https://josopon.wordpress.com/2020/01/13/ostdeutschland-und-die-treuhand-eine-geschichte-einer-annexion-die-den-deutschen-wohl-nicht-zugemutet-werden-sollte/
https://josopon.wordpress.com/2017/10/03/the-dark-side-of-the-wende-was-sich-seit-1990-fur-die-ostdeutschen-verschlechtert-hat/
https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/30/zum-jahresabschluss-eine-erinnerung-wie-horst-kohler-und-thilo-sarrazin-den-ddr-anschlus-ausbruteten/

Auszüge
1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte, da es einzigartige Chancen bot – die aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner blockiert und verspielt wurden

1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen.
Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft aufgekündigt und sich neue gesucht, die seine Vertreibung ins Paradies, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten.
Das Paradies der kapitalistischen Warenwelt, der grenzenlosen Reise- und Redefreiheit, der individuellen Bedürfnisbefriedigung, der bunten Medienvielfalt und der unerschöpflichen Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie.
Keine Frage, nach den Kriterien des westlichen Vorbilds ist der Lebensstandard für eine Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gestiegen – und mehr noch, das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltungen.

Für den Sieger war dies ein überwältigender Sieg, und da die Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird, kann es keinen Zweifel geben, wer der Sieger des historischen Augenblicks ist.
Es ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit ihr die Lebensformen und Annehmlichkeiten des Konsums, die sie ermöglicht.

Bleibt noch die Frage, wer eigentlich die Verlierer der Ereignisse von 1989 sind. Über den Hauptverlierer gibt es wohl ebenfalls keinen Zweifel, es ist der real existierende Sozialismus, er hatte schon früh gezeigt, dass er bereit ist, seine emanzipatorischen Versprechen zu verraten und zu missbrauchen. Auch hat er in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.
1989 hat das Volk sein Veränderungsbedürfnis klar artikuliert und sich für einen besseren, demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen.

„Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“, schreibt Daniela Dahn in ihrer Abrechnung mit der Einheit Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute.
Das ist eine Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen und zugleich mehr erfahren wollen über die Persönlichkeit des Wiedervereinigers, der Bundesrepublik.

Nach einem zunächst verheißungsvollen Aufbruch oppositioneller Gruppen in der DDR, die einen Demokratisierungsdruck aufzubauen suchten, der auch auf den Westen übergreifen sollte, wurde jedoch die friedliche Revolution, die keine war, regelrecht aufgekauft. Der Kapitalismus hat bekanntlich einen großen Magen. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt.
Die historische Chance auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die, wie es in Paragraph 146 des Grundgesetzes heißt, „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, also die Chance einer wirklichen Demokratisierung in beiden Teilen, wurde in rigoroser Siegermentalität blockiert.

In diesen Siegesstunden bewies der Kapitalismus noch einmal, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt.
Keine andere autoritäre Herrschaftsform verfügt über so ausgefeilte Mittel, Menschen zu einer freiwilligen Knechtschaft zu verführen. Dazu gehören insbesondere Mittel zur Spaltung der Gesellschaft und zur Zersetzung von Dissens.
All diese Mittel konnten 1989 höchst wirksam zur Anwendung gebracht werden, dazu noch mit singulären Renditen für die Kapitalbesitzer.

Die Stimmen einer demokratischen Revolution verhallten und der kapitalistische Weg war frei zu einer – in Daniela Dahns prägnanter Formulierung – feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen.
Auch das war Demokratie, nur eben kapitalistische Demokratie, über die noch zu sprechen sein wird. Sieger und Verlierer lassen sich also leicht identifizieren, wenn man nur bereit ist, die Perspektive auf die historische bipolare Systemkonkurrenz von real existierendem US-Kapitalismus und real existierendem Kommunismus zu verengen.
Doch genau eine solche Perspektivenverengung blockiert ein tiefergehendes Verständnis, denn tatsächlich geht es um sehr viel mehr als um eine solche Alternative.

Wir sollten daher auf der Suche nach den Verlierern nicht an der Oberfläche der offiziellen Rahmengeschichte bleiben, denn die Sieger stehen hier berechtigterweise in dem Ruf, in globalem Maßstab Verlierer zu produzieren.
Auf materieller Ebene ist der Kapitalismus schon seiner Funktionslogik nach darauf angelegt, Verlierer geradezu im Überfluss zu produzieren.
Wie dies ganz konkret funktioniert, hat die ostdeutsche Bevölkerung nach 1990 in einem von den westdeutschen Eliten veranstalteten Crash-Kurs lernen können.
Zu den verordneten Lerneinheiten gehörte die systematische Zerstörung der ostdeutschen Volkswirtschaft, die Privatisierung ihres Volkseigentums, bei der achtzig Prozent des von der Treuhand verwalteten, ehemals ostdeutschen Produktionsvermögens an westdeutsche und nur sechs Prozent an DDR-Bürger fielen, sowie ein Verlust von mindestens 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.

Aus Sicht der Verlierer haben diese gesellschaftlichen Verwüstungen übrigens rein gar nichts mit der Funktionslogik des Kapitalismus zu tun, sondern sind, wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, jüngst feststellte, schlicht eine Konsequenz daraus, „dass die Ostdeutschen das Pech hatten, vierzig Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben“.

Ein erfolgreiches Verbrechen zeichnet sich bekanntlich gerade dadurch aus, dass es dem Täter gelingt, den Opfern die Überzeugung zu vermitteln, dass sie ihr Schicksal verdient hätten.
Zu den traumatischen Lerneinheiten gehörte auch die Erfahrung, dass Korruption nicht einfach zu den Auswüchsen des Kapitalismus zählt, sondern dass sie Teil seiner natürlichen Funktionsweise ist.

Es waren wahrlich paradiesische Zeiten für westdeutsches Kapital, in dem sich die Funktionslogik des Kapitalismus ungehemmt offenbaren konnte.
Dennoch müssen wir bei der Suche nach den Verlierern von 1989 noch tiefer unter die Oberfläche dringen, denn es geht um mehr, es geht um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz.
Der folgenschwerste Verlust betrifft die zivilisatorische Leitidee von Demokratie, einer der bedeutendsten zivilisatorischen Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren.

Nachdem die Bemühungen um eine wirkliche Demokratisierung innerhalb der DDR an den machtpolitischen Realitäten zerschellt waren, erhielten die Neubürger einen weiteren Crash-Kurs im Fach „Kapitalistische Demokratie“.
Daher konnten nun diejenigen, die sich das Wort Demokratie nicht durch eine pervertierte Verwendung enteignen lassen wollten, selbst erfahren, wie weit die demokratische Leitidee und die Realität der kapitalistischen Demokratie auseinanderliegen. Diese Diskrepanz ist eigentlich nicht überraschend, denn es gehört gerade zum Wesensmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, dass sie keine ist.
Der Widerspruch ist so offenkundig, dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.

In ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik sind Demokratie und real existierender Kapitalismus in fundamentaler Weise unverträglich miteinander.
Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit.
Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt.

Der Kapitalismus ist darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen.
Daher kann er sich auch niemals eine demokratische Legitimation aus sich selbst heraus verschaffen, das ist eine Binsenwahrheit der politischen Wissenschaft.
Schon Aristoteles lehnte die Demokratie ab, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, dass die Armen, weil sie die Mehrheit bilden, das Vermögen der Reichen unter sich teilten, was Aristoteles als Unrecht ansah.

Dass Kapitalismus und Demokratie in fundamentaler Weise unverträglich miteinander sind, ist also seit ihren historischen Anfängen bekannt, so dass es danach nur noch darum ging, wie sich geeignete Mittel finden lassen, mit denen sich dieses Spannungsverhältnis so lindern oder verdecken lässt, dass eine Herrschaft der Besitzenden nicht gefährdet ist. Seit je haben also die Besitzenden großen Aufwand betrieben, solche Mittel zu schaffen.

Ohne eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch eine geeignete Form der Indoktrination würde in einer kapitalistischen Demokratie rasch offenkundig, dass es sich in Wahrheit gar nicht um eine Demokratie handelt.
Historisch gingen daher die Entwicklung kapitalistischer Demokratien und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der Indoktrination Hand in Hand. Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde und wird in den USA und auch bei uns, mit hohem finanziellem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und auch der Psychologie, ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und Affektmanipulation entwickelt.

Die riesigen Fortschritte, die in hundert Jahren intensiver systematischer Erforschung von Manipulationstechniken erreicht wurden, lassen sich besser ermessen, wenn man sich die Fortschritte vor Augen führt, die in diesem Zeitraum in der Entwicklung der Unterhaltungstechnologie erreicht wurden.
Der Entwicklungsabstand vom alten Stummfilm-Kino über den 3D-Digitalfilm bis zu einem Virtual-Reality-Setting lässt vielleicht erahnen, wie groß der Entwicklungsabstand von traditioneller Propaganda zu modernen Indoktrinationstechniken ist. (Rainer Mausfeld)

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1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern.
Die Essayistin Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie in ihrem neuen Buch „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge.
Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert.
Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie.
Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie.

Über Kommentare hier auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen

Abgesang auf einen Militärpfarrer: Ein eiskalter Untertan

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

In der jungen Welt schöne Zusammenfassung von Gaucks Amtszeit, erfrischend polemisch: https://www.jungewelt.de/2017/02-11/069.php
GauckiMan hat nichts zu erwarten gehabt und auch jetzt hat man nichts zu erwarten. Zu Gauck stand hier schon 2016 das Passende: https://josopon.wordpress.com/2016/06/06/uniformfetischismus-geschichtsklitterung-fehlende-intellektuelle-tiefe-danke-joachim-gauck/
Nebenbei: Glückwunsch an Herrn Butterwegge, der wenigstens mal öffentlichkeitswirksam zu Wort kam.
Er konnte nicht nur die linken Delegierten überzeugen.
Auszüge:

Joachim Gauck war ein Kasperle des Kapitals.

Die Bundesversammlung wählte am Sonntag einen neuen Bundespräsidenten, der alte tritt ab

Von Jürgen Roth

Deutschland hat mehr Arbeit als je zuvor, es ist im Ausland beliebt wie nie, und Fußballwelt­meister sind wir auch.

Joachim Gauck, Weihnachtsansprache 2014

Es wird einem schlecht, sobald er den Mund aufmacht. Und er hat ihn in den vergangenen fünf Jahren oft, allzuoft, ja geradezu unermüdlich auf- und vermutlich nicht mal im präsidialen Schlafe zugesperrt.

Sogar eine gekürzte Hörbuchfassung seiner behämmerten Memoiren »Winter im Sommer – Frühling im Herbst« musste er partiell partout höchstselbst einlesen.
Nichts und niemand, kein prächtiges öffentliches Amt und kein Lektor, vermochte ihn davon abzuhalten, solche Formulierungsgranaten und Satzböller abzufeuern (ich habe nur eineinhalb Kapitel durchgestanden): »Erinnerungsbilder, die meine Seele aufbewahrt«, »das Haus, der Baum, der Himmel – hell«, »Ich spüre, ich bin einer, der dazugehört. Tante Marianne hat mich geborgen.«

Wenn je ein Schleimer war, dann kam er 1940 in Rostock zur Welt, und die Meinung, die der nachmalige Feldkurat vom Bodden von sich zu haben pflegt, dürfte von früh an »die beste« (Thomas Bernhard) gewesen sein;
eine Meinung zudem, in der die Lüge seit mindestens 1988, als er sich auf irgendeinem kreuzdummen Kirchentag zum erstenmal vorsichtig zum Deviationisten stilisierte, eine behagliche Heimstatt findet: »Das Schicksal unseres Vaters«, der, gleich der Mutter, ein strammer Nazi und in den Gulag verschleppt worden war, »wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus.«

Verachtung der Benachteiligten

Sauber geschummelt, zumindest, was seinen späteren Werdegang als Pfaffe anbelangt; allein, er kommt mit dergleichen Klitterungen in der betäubten Öffentlichkeit bis heute durch – genauso wie mit der Behauptung, ein Bürgerrechtler gewesen zu sein.
»Gauck war in Wahrheit gar nicht präsent. Er war einfach nicht da, auch in Rostock nicht. Die Arbeit machten andere«, erzählte der Pfarrer Heiko Lietz, ein Jugendfreund und Wegbegleiter Gaucks, vor zweieinhalb Jahren in einem grandiosen Porträt von Stefan Willeke über den Bundesgrüßaugust (Die Zeit 32/2014).

Ebenda läßt sich »König Jochen« gegenüber Willeke zu dem Statement herab: »Ich bin ein Bürgerpräsident, weil ich von unten komme. Das ist für mich auch heute noch ein höchst erstaunlicher Vorgang.«
Nicht wenige, die sich dazumal in der Friedensbewegung engagierten, nennen den GröBaZ, den »Größten Bürgerrechtler aller Zeiten«, einen Merkel-affinen Opportunisten, ja einen heimtückischen Heuchler und einen erstaunlichen Egomanen. In den lebensgeschichtlichen Details mögen ersteres die Befugten erläutern, letzteres belegt etwa die jüngst ausgestrahlte ARD-Dokumentation »Gauck. Der Präsident« (übrigens mit Jogi Löw und der Totschießlasserin Ursel von der L.) dankenswerterweise Bild für Bild; und beispielsweise durch diesen Satz aus dem Munde des über alle Maßen enervierenden Brummgockels: »Ich bin immer mit mir gegangen als ständiger Begleiter und habe mit mir geredet.«

Herrgott noch mal, wäre es doch bei der ständigen Begleitung seiner selbst und beim Selbstgespräch geblieben! Indes, fünf Jahre und länger haben wir es anhören müssen: das vor Eitelkeit triefende Geraune, diesen hochspeziellen rhetorischen Schmalz und Senf, diese aspirierte Bedeutungsreinpresserei voller Begeisterung für die Exorbitanz und Exklusivität der eigenen Person.

Das Pikanteste allerdings, sofern es um die Kratzfußansprachen vor Bankern und Waffenherstellern und die obszönen Versöhnungsreden in Sant’Anna di Stazzema, in Lidice oder in Oradour-sur-Glane geht, in denen Gauck die Deutschen, deren Waffen-SS, deren Polizisten und deren Wehrmachtssoldaten ganze Dörfer ausgelöscht und ihre Bewohner abgeschlachtet hatten, exkulpierte und »von der routinierten Verlogenheit zur dreistesten, plattesten Lüge« (Hermann L. Gremliza) voranschritt: Gauck »kann nicht schreiben. Es reicht nur für Textbausteine, die seine Mitarbeiter verwerten müssen«. (Willeke)

»Der Mann spricht wie ein Schriftsteller – ist aber keiner«, merkte der Paul-Celan-Spezialist Gernot Wolfram bereits am 5. März 2012 in der taz an und machte sich ein paar weitere Gedanken über die »vielgerühmte Redekunst« des hypokritischen Emotionsduslers. Es sind zum einen »Gaucks lange Pausen, das gefühlvolle Langstrecken von Sätzen, die im politischen Raum nur selten zum Zuge kommenden Vokabeln ›geheimnisvoll‹, ›Qual‹, ›Engel‹, ›schweigen‹, ›lieben‹« sowie die Marotte, »den Atem leicht anzuhalten, bevor er einen Satz beginnt«, die seinen hinterhältigen pathetischen Gestus mästen; zum anderen ist es die perverse privilegierte »Betroffenheit«, mit der sich Gauck unablässig als »Unterdrückter« in »Leidenszeiten«, als herzergreifende Schicksalsfigur inszeniert.

»Er ist sanft und empfindlich, wenn es um seine Wertvorstellungen geht, aber bisweilen auch hämisch und zynisch, wenn andere ihren Schmerz, ihre Wünsche oder Hoffnungen an ihn herantragen«, fuhr Wolfram fort, und Jutta Ditfurth attestiert Gauck, beinahe zu nachsichtig, »eine Form von verschleierter Verächtlichkeit gegenüber sozial Benachteiligten«.

Diener herrschender Interessen

Nein, nein, die sozial Benachteiligten, die gibt es ja gar nicht, genauso wenig wie diese angebliche Sache namens Kapitalismus. »Wissen Sie, dieses System kann man nicht einfach so unter Kapitalismus fassen. Das ist der semantische Trick der Linken gewesen«, sagte das Kasperle des Kapitals mal gegenüber einem Fernsehhansel.
Ein andermal bezeichnete Gauck die Occupy-Bewegung als »unsäglich albern«, um auf dem Bankentag 2014 schließlich bestens gelaunt zum allerbesten zu geben: »Henry Ford, dem amerikanischen Industriellen, wird folgende Feststellung zugeschrieben: ›Es ist gut, dass die Menschen das Bank- und Geldsystem nicht verstehen, sonst hätten wir eine Revolution noch morgen früh.‹«

Man muss sich das auf Youtube ansehen, dann hört man das Giggeln der Auftraggeber des Nestors der Monopole; dann lasse man sich überdies vorhalten, dass man – als systematisch Beschissener – keine Ahnung von Ökonomie habe, und man vernehme: »Zugleich habe ich den Eindruck, dass auch die Kritik an diesen Zuständen manchmal das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sie schlägt bisweilen um in eine ganz allgemeine Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft. Da werden Wettbewerb und Freiheit für das Problem gehalten.« Och nö.

Es ist schon ein ausgemacht infam-verfickter Salat mit diesem idealen Vertreter des ideellen Gesamtkapitalisten. Respektive hat sich kein Bundespräsident zuvor derart unverhohlen als »freundlich lächelnder Diener herrschender Interessen« (Ditfurth) geriert, aus voller und ja vollster Überzeugung, denn: »Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten.«

Im Gegenzug ließ Gauck – der Mentor der Blödel, die dem Salbadern von der Freiheit, sich schikanieren zu lassen, im grenzenlos ruinösen und an sich irre gewordenen Kapitalismus mit kindlicher Freude lauschten – kaum eine Gelegenheit aus, die Gedemütigten und Überrollten als »hysterisch« zu diskreditieren, ihre »Zukunftsangst« als »Leitkultur der Deutschen« (beziehungsweise »Kultur des Verdrusses«) lächerlich zu machen, die Proteste gegen die Planierung des Sozialstaats als »töricht und geschichtsvergessen« zu verspotten und die »Frage« in den Raum zu stemmen, »ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen«.
Das hart schuftende, kruppstählerne »Ekel von Bellevue« (Gremliza) a. D. wird die Antwort gewiss demnächst zu uns hereinreichen.

Unmittelbar vor dem Referendum zum Brexit, am 19. Juni 2016, sabberte Gauck, besoffen vor Gravität und Arroganz, in öffentlich-rechtliche Hauptstadtstudiokameras hinein: »Ich werde mir mal Zügel anlegen und die Briten frei entscheiden lassen.«
Kurz danach: »Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.«

So redet ein granitener Demokrat, der sich in seiner Rücktrittsankündigung nicht entblödete zu berichten: »Ich begegne fast täglich Menschen, die durch ihr beharrliches, oft selbstloses Engagement dafür sorgen, dass unser Land täglich stärker und schöner wird, sei es nun in der Politik oder in der Gesellschaft insgesamt.«
Man kommt, mit Verlaub, aus dem Brechen nicht mehr raus.

Sein Demokratieverständnis hat der Kanzelkämpfer und Freiheitsfighter J. Gauck vor Jahren folgendermaßen veranschaulicht: »Mit der Stimme des Volkes is’ es manchmal wunderbar, wenn sie solche schönen Sätze formuliert wie: Wir sind das Volk, ja. Konnte kein Professor besser erfinden. Und, äh, manchmal wissen wir nicht genau, ob die Stimme des Volkes das is’, was uns wirklich weiterbringt. Nicht jeder im Volk hat einen ganzen Stab von Mitarbeitern hinter sich wie ein Abgeordneter in einem unserer Parlamente.«

Was, daran anknüpfend, den ichsüchtigen ­ultraneokonservativen Missionar der Herren der Welt tatsächlich umtreibt, ist die Festigung der narzisstisch-gebieterischen Volksgemeinschaft. Stefan Willeke hat es auf den Punkt gebracht: »Sein zentrales Thema ist die Besinnung der Deutschen auf ihre Stärken – ihre gefestigte Demokratie, ihre Wirtschaftskraft und die daraus folgende Fähigkeit, sich mehr in die Probleme der Welt einzumischen. Das Land soll lernen, sich zu mögen. Es soll so selbstverliebt werden wie Gauck…«

Direkte Demokratie »abscheulich«

Nun mag man die Reihe seiner Vorgänger auch nicht unbedingt en détail betrachten: vom Antisemiten Theodor Heuss über den mutmaßlichen KZ-Baumeister Heinrich Lübke und die NSDAP-Mitglieder Walter Scheel und Karl CarsteNS bis zum alles andere als untadeligen Richard von Weizsäcker zum Beispiel, der am 8. Mai 1985 im Rahmen seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag der Befreiung coram publico Rudolf Heß begnadigt hätte, hätte ihm das sein Pressesprecher Friedbert Pflüger nicht ausgeredet.

Einer überragt sie alle, ohne jemals ein Aufhebens von sich gemacht zu haben: der Sozialdemokrat und Pazifist Gustav Heinemann. Er überragt sie ob seiner spröden Dignität, seiner antiwilhelminisch-antiautoritären Gesinnung, seiner Liberalität und seines Sinns für die Wirklichkeit und die realen Grundlagen der Geschichte.

»Ich liebe nicht den Staat, sondern ich liebe meine Frau«, war Heinemanns Credo, und in seiner Antrittsrede vom 1. Juli 1969 unterstrich er: »Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.«

Heinemann hegte erhebliche Sympathien für die 68er (»Ich habe es immer wieder betont, und ich wiederhole es auch hier, dass ich für die Unruhe der jungen Generation großes Verständnis habe und diese Unruhe für heilsam erachte« – »Wir müssen viel ändern, gründlich ändern, schnell ändern, die Zeichen unserer Zeit stehen auf Reform. Viele sagen, sie stehen unter dem Zeichen einer Revolutionsnotwendigkeit«), während Gauck sowohl den Widerstand gegen wahnsinnige Großprojekte als auch die direkte Demokratie als »abscheulich« abkanzelte.

Schon am 6. Juli 1954 hatte sich Heinemann auf dem Evangelischen Kirchentag in Leipzig zur Klassenjustiz geäußert: »Wie das Recht, das der Staat setzt, gestaltet sein soll, ist zu aller Zeit ein Gegenstand des Streites gewesen. Darum dreht sich immer wieder der politische Kampf der Klassen und Gruppen innerhalb eines jeden Volkes. Wer die Macht im Staate hat, wer die Klinke der Gesetzgebung zu fassen vermochte, der gestaltet die Rechtsordnung, und er tut es nur zu oft im Interesse des ökonomischen Vorteils seiner politischen Gruppe oder seiner Klasse oder zur Durchführung seiner Weltverbesserungsideen.«
Und als Bundespräsident diktierte er den Bildungspolitikern 1971 ins Stammbuch: »Einer demokratischen Gesellschaft, meine Herren, so meine ich, steht es schlecht zu Gesicht, wenn sie auch heute noch in aufständischen Bauern nichts anderes als meuternde Rotten sieht, die von der Obrigkeit schnell gezähmt und in die Schranken verwiesen wurden. So haben ja die Sieger die Geschichte geschrieben. Und immer schreiben die Sieger die Geschichte so, dass der Unterlegene überhaupt nicht zur rechten Darstellung kommt. Es ist Zeit, meine ich, dass ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt.«

Ausgeprägte Fähigkeit zu weinen

Und was fiel dem Pastor Joachim Gauck anläss­lich der bevorstehenden Verherrlichungsfeiern für Luther ein, für den Speichellecker der Obrigkeit, den rasenden Antisemiten (Karl Jaspers: »Was Hitler getan hat, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung in den Gaskammern«) und den fanatischen Bauernhasser (»Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein. Das wusste Gott wohl«)?
Ein frommer Berliner Schlossgeist hatte ihm den obligaten sprachlichen Schamott und verlogen-devoten Krempel von wegen »Bindung ans Gewissen« eingeflüstert, auf dass der gesegnete Truppenbetreuer mahnen konnte, es seien heute dringend »Agenten der Entängstigung« vonnöten. Um noch entschlossen-entängstigter in die von Gott gebilligten Kriege zu ziehen.

Nach deren Ende darf der gepuderte Bellizist dann gemäß jeweiliger Gefühlslage neuerlich weinen. Denn wenn Joachim Gauck in den fabelhaften fünf Jahren seiner geliebten Bundespräsidentschaft etwas eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, so ist es seine ausgeprägte Fähigkeit zu weinen.

»Das gab es noch nie: ein Bundespräsident, der weint«, hauchte es in der kürzlich servierten schmonzettenartigen ZDF-Hagiographie »Mensch Gauck!«. »Bei einem Liederabend in der Villa Hammerschmidt in Bonn singen die angegrauten Musiker von Die Höhner, Karat und Die Prinzen ›Über sieben Brücken musst du geh’n‹ – und bei Gauck fließen ungehindert die Tränen.« (Focus; diese Passage aus besagter »Dokumentation« bitte zu Gemüte führen!)
Gauck heult, sobald die US-amerikanische Hymne erklingt. Gernot Wolfram registrierte an Gaucks Auftritten eine permanente angespannte »Stille eines Fast-Weinens« und schilderte anschließend folgende Szene: »Irgendwann auf der Bühne hielt Gauck inne, pustete mehrmals heftig ins Mikrofon, fast ein Spucken, um sein plötzlich aufsteigendes Weinen zu unterdrücken. Stille im Saal. Dann die Erklärung: ›Sie sehen, wie nahe mir so etwas kommt‹«.

Wolfram sprach angesichts dieses Gebarens, dieser strategischen Attitüde vom »zärtlichen Weihrauch der Demagogen« und von einem »Sprachmissbrauch«, der die schiere Verachtung der Opfer staatlicher und imperialistischer Politik übertüncht und vergessen macht: »Er hat ja auch einen pragmatischen Zugang zum Afghanistankrieg. Über die Opfer dort würde er wahrscheinlich nicht öffentlich weinen, erst recht nicht in der Nähe der Kanzlerin.«

Weinen musste Gauck allerdings am 7. März 2014 in Lingiades. Am 3. Oktober 1943 hatten Wehrmachtssoldaten das Dorf im Nordwesten Griechenlands überfallen, dreiundachtzig Frauen, Alte und Kinder massakriert und nahezu sämtliche Gebäude niedergebrannt. »Lingiades war ja kein Einzelfall, sondern die Normalität der deutschen Besatzung. In Griechenland sind Hunderte solcher Orte im öffentlichen Bewusstsein präsent – in Deutschland kein einziger«, schrieb Jens König an jenem 7. März auf stern.de. Im näheren: Gauck »spricht tonnenschwere, deutsche Sätze. ›Mit Scham und Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung‹, sagt er. ›Ich verneige mich vor den Opfern der ungeheuren Verbrechen, die hier und an vielen anderen Orten Griechenlands zu beklagen sind.‹«

Neben ihm steht der ehemalige Partisan und damalige griechische Präsident Karolos Papoulias. »Gauck nimmt ihn fest in die Arme, er drückt ihn, ihm selbst laufen dabei ein paar Tränen über die Wangen.« Hinterher bescheidet er die von griechischer Seite seit bald sechzig Jahren vorgebrachte Forderung nach Reparationszahlungen abschlägig, durch und durch ungerührt: »Der Rechtsweg in dieser Frage ist abgeschlossen.«
König: »Übersetzt heißt es: Sorry, Griechen, für die deutschen Kriegsverbrechen gibt’s als Entschädigung keinen einzigen Cent.«

Eine Art Militärseelsorger

Ein anderer Weg ist seit des Geistlichen Amtsantritt, äh, wie sagt man im Duktus des Pestschwarzrocks? Begonnen worden? Endgültig aufgeschlossen worden?
Am 22. Mai 2010 hatte Gaucks täppischer Vorvorgänger Horst Köhler in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk einer mörderischen Tatsache Ausdruck verliehen, nämlich »dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen, negativ, durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.«

Drei Jahre später, im Juni 2013, schwätzte der Phraseur Gauck ebenso Tacheles. Während der Rückreise von einem Staatsbesuch in Norwegen »erklärte [er] auf die Frage eines Radioreporters, dass man im Kampf um Menschenrechte notfalls ›zu den Waffen greifen‹ müsse.
Im Amt lästerten daraufhin einige seiner Mitarbeiter, die sonst respektvoll über Gauck reden: ›Opi will wieder schießen.‹« (Willeke)

Dass er das will – obgleich nicht persönlich, er wird während der künftigen Gemetzel selbstgefällig grinsend vor seinem doofen Bodden herumschippern –, legte Gauck am 31. Januar 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz dar, einer lupenreinen Propagandaveranstaltung des militärisch-industriellen Komplexes.
»Von der Verteidigung des Westens hin zur Ordnungspolitik und von der Wehrkunde zu einem umfassenden Sicherheitsbegriff – was für ein Bogen!« hob er, vor Inflammiertheit zerfließend, an. Alsdann durfte man folgende Argumentationskette bestaunen: »Deutschland tritt ein für einen Sicherheitsbegriff, der wertebasiert ist und die Achtung der Menschenrechte umfasst. […] Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert, und es profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung, einer Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden.«

Zack. Von der Ordnungspolitik schließe auf den Sicherheitsbegriff, vom Sicherheitsbegriff auf die Wertebasierung, und weil die Wertebasierung, die sich aus dem ordnungspolitischen Sicherheitsbegriff zwingend erschließt und mit den deutschen Interessen zusammenfällt, global gilt, entscheidet Deutschland (mit), wie diese Weltordnung in seinem Sinne (im Sinne »der Werte«, gemeint: deutscher Interessen) gestaltet wird.

Jetzt noch ein paar Schlenker, und fertig ist der dreckige Lack, garniert mit einer perfiden Wendung:
»Die Kernfrage lautet doch: Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderungen im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? Ergreift die Bundesrepublik genügend Initiative, um jenes Geflecht aus Normen, Freunden und Allianzen zukunftsfähig zu machen, das uns doch Frieden in Freiheit und Wohlstand in Demokratie gebracht hat? (…) Und wenn wir überzeugende Gründe dafür gefunden haben, uns zusammen mit unseren Verbündeten auch militärisch zu engagieren, sind war dann bereit, die Risiken fair mit ihnen zu teilen?«

Ein Glücksfall für Deutschland

Die Antwort auf seine rhetorischen Fragen hätte Gauck nicht zu geben brauchen: »Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.« Heißt: rascher bombardieren, auch, um den Drückebergern zu zeigen, wo es fürderhin langgeht: »Ich muss wohl sehen, dass es bei uns neben aufrichtigen Pazifisten jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.«

»Ich war nie Pazifist. Es gibt immer wieder Situationen, in denen man ernsthaft prüfen muss, ob ein militärisches Engagement ethisch vertretbar, vielleicht sogar geboten ist.« Und solcher Situationen sind etliche, die man sich, so geschehen im September 2014 in Polen, zur Not halt zurechtbiegt, etwa wenn der Russ’ frech wird und mit »Bedrohungen an der östlichen Flanke« daherkommt, an jener Flanke, die die wortbrüchige NATO geschaffen hat.

Allein, in Jogi Gaucks Welt(-ordnung) »hat die NATO reagiert«, und »wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen«.

Zweifelsohne, der bigott-aggressive praeceptor magnae germaniae, nachweislich ein Verächter der Brandtschen Ostpolitik, »ist ein Glücksfall für unser Land« (W. Schäuble). Anders geflötet: »Gauck ist ein Glücksfall für Deutschland.« (S. Gabriel)

O ja, bereits zu München hatte der Siggi jubiliert: »Der Bundespräsident macht einen, wie ich finde, exzellenten Job«, und der Steinmeier Frank hatte ihm assistiert: »Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren« – jener Haus- und Außenmeier, der als Intimus des staatlichen Oberhaupts Gaucks brandgefährliches Geschwafel in enger Kooperation mit vorbereitet und regelrecht »befeuert« (Willeke) hatte. Frank-Walter Steinmeier. Wir sind beruhigt. Für Kontinuität ist gesorgt.

Jürgen Roth lebt als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main.

Jochen

Zum Jahresabschluss eine Erinnerung: Wie Horst Köhler und Thilo Sarrazin den DDR-Anschluß ausbrüteten

Aus einer Buchbesprechung in der jungen Welt:

https://www.jungewelt.de/2014/09-26/053.php?sstr=K%F6hler%7CSarrazin

Der Hamburger Publizist Otto Köhler veröffentlichte 2011 im Verlag Das Neue Berlin eine Neuauflage seines 1994 erschienenen Buches »Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte«. Das hinzugefügte erste Kapitel befaßt sich mit dem Anteil Horst Köhlers, 1990 Staatssekretär im Bonner Finanzministerium, und seines Fachreferenten Thilo Sarrazin am Entwurf der Währungsunion mit der DDR. Ein Auszug:

Abriss_Stralsund2008Seit neun Wochen ist die Mauer auf, alles ist vorbereitet, jetzt fällt die Entscheidung. In Bonn läßt der Bundesminister der Finanzen Theo Waigel seinen Vertrauten Horst Köhler zu sich kommen. Keiner sagt ein Wort, sie sprechen nur mit den Augen. Bis schließlich der Minister den Mund öffnet und Köhler anweist: »Kobra, übernehmen Sie!«

Darauf hat Köhler seit zwei Monaten gewartet, vorbereitet ist er längst. 1989 war er noch Leiter der Abteilung »Geld und Kredit«, seit Jahresbeginn 1990 ist er beamteter Staatssekretär im Finanzministerium. Mit seinem Team, wie man solche Leute heute nennt, hat er alles sorgfältig ausgearbeitet. 

Dies hat Kobra Köhler selbst so bezeugt in einem Beitrag für das viel zu wenig bekannte Buch, das Waigel noch während seiner Ministerzeit herausgab und das die Aufschrift trägt: »Tage, die Deutschland und die Welt veränderten«. (…)

Am 29. Januar 1990 war Köhlers Auftrag erfüllt, und Sarrazin hatte einen Plan vorgelegt, die DDR schleunigst in den Machtbereich der D-Mark einzugliedern. (…) Der künftige Autor von »Deutschland schafft sich ab«: »Mit der schlagartigen Einbeziehung der DDR-Wirtschaft in den D-Mark-Wirtschafts- und Währungsraum gewinnt der Reformprozeß eine neue, gänzlich anders geartete Qualität: Die Hirn zermarternden, fast unlösbaren Fragen, wie in einem planwirtschaftlichen System zügig und ohne zu große soziale Kosten ein funktionierendes Preissystem, Wettbewerb, ein funktionierender Kapitalmarkt verwirklicht werden können, lösen sich in ein Nichts auf, denn mit dem Tage der Umstellung ist dies alles da.«

Treuhand_LogoUOder alles weg, in den Händen der Treuhand und ihrer Komplizen geschmolzen. (…) Arbeitslosigkeit etwa: Sie war in dem von Köhler in Auftrag gegebenen und gebilligten Sarrazin-Papier für den Osten fest eingeplant.