Die Deutsche Einheit – ein kapitalistisches Übernahmeprojekt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

MausfeldEndlich hat sich Kollege Mausfeld diesem Thema zugewendet und hat dazu mit Daniela Dahn eine exzellente Mitstreiterin gefunden:
https://www.heise.de/tp/features/Die-Einheit-ein-kapitalistisches-Uebernahmeprojekt-4914128.html
Dort finden sich auch lesenswerte Kommentare.

Das Thema habe ich hier auch schon mehrmals bearbeitet:daniela dahn

https://josopon.wordpress.com/2020/01/13/ostdeutschland-und-die-treuhand-eine-geschichte-einer-annexion-die-den-deutschen-wohl-nicht-zugemutet-werden-sollte/
https://josopon.wordpress.com/2017/10/03/the-dark-side-of-the-wende-was-sich-seit-1990-fur-die-ostdeutschen-verschlechtert-hat/
https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/30/zum-jahresabschluss-eine-erinnerung-wie-horst-kohler-und-thilo-sarrazin-den-ddr-anschlus-ausbruteten/

Auszüge
1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte, da es einzigartige Chancen bot – die aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner blockiert und verspielt wurden

1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen.
Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft aufgekündigt und sich neue gesucht, die seine Vertreibung ins Paradies, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten.
Das Paradies der kapitalistischen Warenwelt, der grenzenlosen Reise- und Redefreiheit, der individuellen Bedürfnisbefriedigung, der bunten Medienvielfalt und der unerschöpflichen Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie.
Keine Frage, nach den Kriterien des westlichen Vorbilds ist der Lebensstandard für eine Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gestiegen – und mehr noch, das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltungen.

Für den Sieger war dies ein überwältigender Sieg, und da die Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird, kann es keinen Zweifel geben, wer der Sieger des historischen Augenblicks ist.
Es ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit ihr die Lebensformen und Annehmlichkeiten des Konsums, die sie ermöglicht.

Bleibt noch die Frage, wer eigentlich die Verlierer der Ereignisse von 1989 sind. Über den Hauptverlierer gibt es wohl ebenfalls keinen Zweifel, es ist der real existierende Sozialismus, er hatte schon früh gezeigt, dass er bereit ist, seine emanzipatorischen Versprechen zu verraten und zu missbrauchen. Auch hat er in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.
1989 hat das Volk sein Veränderungsbedürfnis klar artikuliert und sich für einen besseren, demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen.

„Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“, schreibt Daniela Dahn in ihrer Abrechnung mit der Einheit Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute.
Das ist eine Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen und zugleich mehr erfahren wollen über die Persönlichkeit des Wiedervereinigers, der Bundesrepublik.

Nach einem zunächst verheißungsvollen Aufbruch oppositioneller Gruppen in der DDR, die einen Demokratisierungsdruck aufzubauen suchten, der auch auf den Westen übergreifen sollte, wurde jedoch die friedliche Revolution, die keine war, regelrecht aufgekauft. Der Kapitalismus hat bekanntlich einen großen Magen. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt.
Die historische Chance auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die, wie es in Paragraph 146 des Grundgesetzes heißt, „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, also die Chance einer wirklichen Demokratisierung in beiden Teilen, wurde in rigoroser Siegermentalität blockiert.

In diesen Siegesstunden bewies der Kapitalismus noch einmal, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt.
Keine andere autoritäre Herrschaftsform verfügt über so ausgefeilte Mittel, Menschen zu einer freiwilligen Knechtschaft zu verführen. Dazu gehören insbesondere Mittel zur Spaltung der Gesellschaft und zur Zersetzung von Dissens.
All diese Mittel konnten 1989 höchst wirksam zur Anwendung gebracht werden, dazu noch mit singulären Renditen für die Kapitalbesitzer.

Die Stimmen einer demokratischen Revolution verhallten und der kapitalistische Weg war frei zu einer – in Daniela Dahns prägnanter Formulierung – feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen.
Auch das war Demokratie, nur eben kapitalistische Demokratie, über die noch zu sprechen sein wird. Sieger und Verlierer lassen sich also leicht identifizieren, wenn man nur bereit ist, die Perspektive auf die historische bipolare Systemkonkurrenz von real existierendem US-Kapitalismus und real existierendem Kommunismus zu verengen.
Doch genau eine solche Perspektivenverengung blockiert ein tiefergehendes Verständnis, denn tatsächlich geht es um sehr viel mehr als um eine solche Alternative.

Wir sollten daher auf der Suche nach den Verlierern nicht an der Oberfläche der offiziellen Rahmengeschichte bleiben, denn die Sieger stehen hier berechtigterweise in dem Ruf, in globalem Maßstab Verlierer zu produzieren.
Auf materieller Ebene ist der Kapitalismus schon seiner Funktionslogik nach darauf angelegt, Verlierer geradezu im Überfluss zu produzieren.
Wie dies ganz konkret funktioniert, hat die ostdeutsche Bevölkerung nach 1990 in einem von den westdeutschen Eliten veranstalteten Crash-Kurs lernen können.
Zu den verordneten Lerneinheiten gehörte die systematische Zerstörung der ostdeutschen Volkswirtschaft, die Privatisierung ihres Volkseigentums, bei der achtzig Prozent des von der Treuhand verwalteten, ehemals ostdeutschen Produktionsvermögens an westdeutsche und nur sechs Prozent an DDR-Bürger fielen, sowie ein Verlust von mindestens 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.

Aus Sicht der Verlierer haben diese gesellschaftlichen Verwüstungen übrigens rein gar nichts mit der Funktionslogik des Kapitalismus zu tun, sondern sind, wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, jüngst feststellte, schlicht eine Konsequenz daraus, „dass die Ostdeutschen das Pech hatten, vierzig Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben“.

Ein erfolgreiches Verbrechen zeichnet sich bekanntlich gerade dadurch aus, dass es dem Täter gelingt, den Opfern die Überzeugung zu vermitteln, dass sie ihr Schicksal verdient hätten.
Zu den traumatischen Lerneinheiten gehörte auch die Erfahrung, dass Korruption nicht einfach zu den Auswüchsen des Kapitalismus zählt, sondern dass sie Teil seiner natürlichen Funktionsweise ist.

Es waren wahrlich paradiesische Zeiten für westdeutsches Kapital, in dem sich die Funktionslogik des Kapitalismus ungehemmt offenbaren konnte.
Dennoch müssen wir bei der Suche nach den Verlierern von 1989 noch tiefer unter die Oberfläche dringen, denn es geht um mehr, es geht um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz.
Der folgenschwerste Verlust betrifft die zivilisatorische Leitidee von Demokratie, einer der bedeutendsten zivilisatorischen Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren.

Nachdem die Bemühungen um eine wirkliche Demokratisierung innerhalb der DDR an den machtpolitischen Realitäten zerschellt waren, erhielten die Neubürger einen weiteren Crash-Kurs im Fach „Kapitalistische Demokratie“.
Daher konnten nun diejenigen, die sich das Wort Demokratie nicht durch eine pervertierte Verwendung enteignen lassen wollten, selbst erfahren, wie weit die demokratische Leitidee und die Realität der kapitalistischen Demokratie auseinanderliegen. Diese Diskrepanz ist eigentlich nicht überraschend, denn es gehört gerade zum Wesensmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, dass sie keine ist.
Der Widerspruch ist so offenkundig, dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.

In ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik sind Demokratie und real existierender Kapitalismus in fundamentaler Weise unverträglich miteinander.
Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit.
Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt.

Der Kapitalismus ist darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen.
Daher kann er sich auch niemals eine demokratische Legitimation aus sich selbst heraus verschaffen, das ist eine Binsenwahrheit der politischen Wissenschaft.
Schon Aristoteles lehnte die Demokratie ab, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, dass die Armen, weil sie die Mehrheit bilden, das Vermögen der Reichen unter sich teilten, was Aristoteles als Unrecht ansah.

Dass Kapitalismus und Demokratie in fundamentaler Weise unverträglich miteinander sind, ist also seit ihren historischen Anfängen bekannt, so dass es danach nur noch darum ging, wie sich geeignete Mittel finden lassen, mit denen sich dieses Spannungsverhältnis so lindern oder verdecken lässt, dass eine Herrschaft der Besitzenden nicht gefährdet ist. Seit je haben also die Besitzenden großen Aufwand betrieben, solche Mittel zu schaffen.

Ohne eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch eine geeignete Form der Indoktrination würde in einer kapitalistischen Demokratie rasch offenkundig, dass es sich in Wahrheit gar nicht um eine Demokratie handelt.
Historisch gingen daher die Entwicklung kapitalistischer Demokratien und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der Indoktrination Hand in Hand. Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde und wird in den USA und auch bei uns, mit hohem finanziellem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und auch der Psychologie, ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und Affektmanipulation entwickelt.

Die riesigen Fortschritte, die in hundert Jahren intensiver systematischer Erforschung von Manipulationstechniken erreicht wurden, lassen sich besser ermessen, wenn man sich die Fortschritte vor Augen führt, die in diesem Zeitraum in der Entwicklung der Unterhaltungstechnologie erreicht wurden.
Der Entwicklungsabstand vom alten Stummfilm-Kino über den 3D-Digitalfilm bis zu einem Virtual-Reality-Setting lässt vielleicht erahnen, wie groß der Entwicklungsabstand von traditioneller Propaganda zu modernen Indoktrinationstechniken ist. (Rainer Mausfeld)

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1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern.
Die Essayistin Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie in ihrem neuen Buch „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge.
Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert.
Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie.
Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie.

Über Kommentare hier auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen

Himmlischer Segen: Wie die IS-Revolution stark gebombt wird.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein sehr lesenswerter Artikel aus den USA, hier auf Deutsch:IPGlogo
http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/religion-und-politik/artikel/detail/himmlischer-segen-1177/
Dazu wäre noch anzumerken:
Es fehlt völlig der Gesichtspunkt, den IS von seinen Finanzierungsquellen abzuschneiden, die in Gestalt von Öl-, Waffen-, und Menschenhandel über die Türkei, Saudi-Arabien, Qatar u.a. sprudeln.
Es fehlt auch der Gesichtspunkt, dass weder die USA noch die türkische Regierung den IS völlig vernichten wollen, weil sie dessen Bedrohungspotential gegen die rechtmäßig gewählte Regierung Syriens einerseits, gegen die Kurden andererseits noch brauchen. Aus diesem Grund lassen beide auch einen kontinuierlichen Strom von Waffen in das Krisengebiet zu.

Die seitens der UN unterstützten diplomatischen Konfliktbeilegungsversuche unter Einschluss der Regierung Syriens wurden seitens der NATO und Saudi-Arabien untergraben. Um so zynischer und verlogener sind nun die „Bemühungen“ der deutschen Regierung um eine „diplomatische Lösung“.

Die Parallelen zwischen der islamistischen „Revolution“ und denen in Frankreich, Russland, China und Kuba kann nur jemand ziehen, der von der materialistischen bewegungskraft der Geschichte nun wirklich völlig unbeleckt und weltfremd ist, wie leider die Mehrzahl der US-Intellektuellen.

Und hier auszugsweise der Artikel:

Die brutale Taktik und der religiöse Extremismus des sogenannten Islamischen Staates (IS) wirken auf den Betrachter schockierend und brandgefährlich. Den Aussagen ihrer Anführer zufolge will die Gruppe Ungläubige eliminieren, weltweit die Scharia einführen und die Wiederkehr des Propheten beschleunigen. Die Fußsoldaten des Islamischen Staates verfolgen diese Ziele mit erstaunlicher Grausamkeit.
Doch anders als die ursprüngliche Al-Kaida, die sich wenig für die Kontrolle von Gebieten interessierte, versucht der IS in den von ihm besetzten Gebieten auch die Grundlagen für einen echten Staat zu legen. Er hat eine klare Zuständigkeitshierarchie ebenso eingerichtet wie ein Steuer- und Bildungssystem und einen ausgeklügelten Propagandaapparat. Der IS mag sich selbst als »Kalifat« bezeichnen und das derzeitige internationale Staatensystem ablehnen, aber seine Führer haben genau das im Sinn: einen Territorialstaat.

Doch der Islamische Staat ist beileibe nicht die erste extremistische Bewegung, die einen Hang zur Gewalt mit vollmundige Zielen und Gebietskontrolle verbindet. Ungeachtet der religiösen Dimension ist die Gruppe nur die jüngste in einer langen Reihe staatenbildender Revolutionäre und ähnelt in verblüffender Weise den Regimes, die aus den Revolutionen in Frankreich, Russland, China, Kuba, Kambodscha und dem Iran hervorgingen. Diese Bewegungen standen vorherrschenden internationalen Normen ebenso ablehnend gegenüber wie der Islamische Staat heute, und auch sie setzten skrupellos Gewalt ein, um ihre Gegner auszuschalten oder einzuschüchtern und der Welt ihre Macht zu demonstrieren.

Bei der Betrachtung des Islamischen Staats wirkt der Blick auf frühere Episoden durchaus beruhigend. Sie zeigen, dass Revolutionen nur dann eine ernsthafte Gefahr darstellen, wenn sie sich in Großmächten vollziehen, da nur Großmächte in der Lage sind, ihre revolutionären Prinzipien zu verbreiten. Der Islamische Staat wird nicht einmal annähernd zu einer Großmacht aufsteigen, und obwohl er, genau wie frühere Revolutionen auch, Sympathisanten im Ausland gewonnen hat, ist seine Ideologie zu eng, seine Macht zu begrenzt, als dass ihm außerhalb Iraks und Syriens eine ähnliche Machtübernahme gelingen könnte.

Die Geschichte lehrt uns auch, dass Bemühungen von außen, einen revolutionären Staat zu stürzen, oft nach hinten losgehen, weil sie die Hardliner stärken und ihnen zusätzliche Chancen für eine Expansion eröffnen. Die aktuellen Bemühungen der USA, den Islamischen Staat, wie die Regierung Obama es ausdrückt, zu »erodieren und letztlich zu zerstören«, könnte das Ansehen der Extremisten heben und ihre Darstellung vom islamfeindlichen Westen sowie ihre Selbststilisierung als eiserne Verfechter des Islam stärken. Besser wäre es, wenn die USA im Hintergrund geduldig abwarteten, dass Akteure in der Region der Gruppe Einhalt gebieten. Für diesen Ansatz muss man den Islamischen Staat als das nehmen, was er ist: eine kleine und schlecht ausgestattete revolutionäre Bewegung, die zu schwach ist, als dass sie die Sicherheit ernsthaft bedrohen könnte, sieht man einmal von der Sicherheit der unglücklichen Menschen ab, die unter ihrem Machteinfluss leben.

Wenn Extremisten die Macht übernehmen

Weil Revolutionäre in brutalen Kämpfen gigantische Hindernisse zu überwinden haben, brauchen ihre Anführer reichlich Glück, um ein Regime zu stürzen und anschließend ihre Macht zu konsolidieren. Sie müssen zudem ihre Anhänger dazu bringen, dass sie sich in große Gefahr begeben und ihre natürliche Neigung überwinden, andere für die Sache kämpfen und sterben zu lassen.

Revolutionäre Bewegungen bedienen sich meist einer Kombination aus Verführung, Einschüchterung und Indoktrination, um Gehorsam durchzusetzen und die Opferbereitschaft zu heben, genau wie es der Islamische Staat gerade tut. Insbesondere liefern sie Ideologien, mit denen sie ihre extremen Methoden rechtfertigen und ihren Anhängern versichern, dass ihre Opfer Früchte tragen werden. Die spezifischen Inhalte dieser Ideologien variieren, doch immer geht es darum, die Anhänger davon zu überzeugen, dass die bestehende Ordnung ersetzt werden muss und ihr Kampf am Ende zum Erfolg führt. Revolutionäre Ideologien tun dies auf dreierlei Weise.

Erstens werden die Gegner als bösartig, feindlich und reformunfähig dargestellt. Weil Kompromisse unmöglich sind, muss die alte Ordnung zerstört und ersetzt werden. Der Islamische Staat ist da nicht anders. Seine Anführer und Ideologen stellen den Westen als von Natur aus feindselig dar, bestehende arabische und muslimische Regierungen als ketzerisch und mit der wahren Natur des Islam unvereinbar. Kompromisse mit solchen Ungläubigen und Abtrünnigen seien sinnlos. Sie müssten beseitigt und von Anführern ersetzt werden, die die wahren islamischen Prinzipien, wie vom IS definiert, anwenden.

Zweitens predigen revolutionäre Organisationen, der Sieg sei gewiss, solange die Anhänger gehorsam und standfest blieben. Lenin erklärte, der Kapitalismus sei wegen seiner inneren Widersprüche zum Untergang verdammt, und Mao bezeichnete Imperialisten als »Papiertiger«; beide führten ihren Anhängern so den sicheren Triumph der Revolution vor Augen. Der derzeitige Anführer des Islamischen Staats, Abu Bakr al-Baghdadi, gab im November 2014 eine ähnlich optimistische Einschätzung ab. »Eurem Staat geht es gut, er ist in bester Verfassung. Sein Vormarsch wird sich fortsetzen«, sagte er seinem Publikum.

Drittens betrachten die Anführer revolutionärer Bewegungen ihr Modell als universell anwendbar. Wenn sie den Sieg davongetragen haben, versprechen sie ihren Anhängern, wird die Revolution Millionen befreien, eine bessere Welt schaffen und einen gottgegeben Plan erfüllen. Französische Radikale forderten in den 1790er Jahren »einen Kreuzzug« für die universelle Freiheit, und Marxisten-Leninisten glaubten, die Weltrevolution werde eine friedliche klassenlose und staatenlose Gemeinschaft hervorbringen. Auch Khomeini und seine Anhänger sahen in der Revolution im Iran den ersten Schritt hin zur Abschaffung des »unislamischen« Nationalstaatssystems und zur Etablierung einer globalen islamischen Gemeinschaft.

De Anführer des Islamischen Staats glauben, dass ihre fundamentalistische Botschaft für die gesamte muslimische Welt und darüber hinaus Geltung hat. Seine Bewegung werde eines Tages »die Kaukasier, Inder, Chinesen, Syrer, Iraker, Jemeniten, Ägypter, Nordafrikaner, Amerikaner, Franzosen, Deutschen und Australier« einen, erklärte Baghdadi im Juli 2014. Der IS verbreitet seine Botschaft im Ausland über soziale Netzwerke und bekennt sich bereitwillig zu Gewaltakten, die in fernen Ländern begangen wurden. Dieser Anspruch auf universelle Geltung ist einer der Hauptgründe, warum die Gruppe bei Ausländern Anklang findet und die Regierungen sie mit solcher Sorge betrachten.

Revolution und Krieg

Beobachter fürchten zu Recht, dass sich der revolutionäre Staat ausdehnen könnte. Revolutionsführer halten es meist für ihre Pflicht, ihre Bewegung zu exportieren, weil sie auf die Art am besten zu erhalten sei – eine Vorstellung, die sich im Leitspruch des Islamischen Staates »bleiben und ausweiten« (baqiya wa tatamaddad) widerspiegelt.
Es überrascht daher nicht, dass Nachbarn revolutionärer Staaten meist Präventivmaßnahmen ergreifen, um das neue Regime zu schwächen oder zu stürzen.
Eine Spirale aus Misstrauen und eine erhöhte Kriegsgefahr sind die Folgen.

Paradoxerweise können die Ungewissheiten, die mit den meisten Revolutionen einhergehen, dem neuen Staat das Überleben sogar sichern. Weil ausländische Mächte nicht genau wissen, wie einflussreich oder zugkräftig die Revolution sein wird, können sie nur schwer entscheiden, was gefährlicher ist: die Revolution selbst oder die Möglichkeit, dass Dritte das sich daraus ergebende Chaos nutzen und ihre eigene Position stärken.
Die Revolution in Frankreich überlebte zum Teil nur deshalb, weil feindliche Monarchien einander misstrauten und zunächst stärker an Gebietszugewinnen interessiert waren als daran, Louis XVI. wieder auf den Thron zu bringen.
Ähnliches geschah in Russland: Uneinigkeit unter den wichtigsten Mächten und die Ungewissheit darüber, was die Bolschewiken langfristig vorhatten, behinderten einen koordinierten Kampf gegen die Revolution und halfen Lenin und seinen Anhängern nach 1917, an der Macht zu bleiben.

Wie bei früheren revolutionären Bewegungen auch wurden Versuche, den Islamischen Staat zu besiegen, durch die widersprüchlichen Ziele seiner Gegner untergraben. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch der Iran wünschen sich das Ende des Islamischen Staats, doch kein Land will dem anderen mehr Einfluss im Irak verschaffen. Auch die Türkei betrachtet den IS als Bedrohung, lehnt aber das Assad-Regime in Syrien ab und stellt sich gegen jede Aktion, die den kurdischen Nationalismus stärken könnte.
Saudi-Arabien wiederum betrachtet die fundamentalistische Ideologie des Islamischen Staates als Bedrohung für seine eigene Legitimität, fürchtet aber den iranischen und schiitischen Einfluss gleichermaßen, wenn nicht noch mehr. Die Folge ist, dass keines dieser Länder dem Sieg über den Islamischen Staat oberste Priorität einräumt.

Ungeachtet seines Hangs zur Gewalt und der sexuellen Versklavung ist am Islamischen Staat kaum etwas neu. In seinen grundlegenden Merkmalen und seiner Wirkung ist der IS früheren revolutionären Staaten erstaunlich ähnlich. Wir haben diesen Film schon oft gesehen. Aber wie geht er aus?

Die Revolution wird sich nicht ausbreiten

Revolutionen können sich auf zwei Arten verbreiten. Mächtige revolutionäre Staaten setzen auf Eroberung: In den 1790er Jahren führte Frankreich Krieg gegen Monarchien in ganz Europa, und nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Sowjetunion Osteuropa. Schwächere revolutionäre Staaten dagegen müssen darauf hoffen, dass sie mit ihrem Vorbild andere mitreißen. Nordkorea unter der Familie Kim, Kuba unter Fidel Castro, Äthiopien unter der sogenannten Derg, Kambodscha unter den Roten Khmer, Nicaragua unter den Sandinisten – sie alle verfügten nicht über die Macht, ihr Modell mit Waffengewalt zu verbreiten.

Das gilt auch für den Islamischen Staat. Die Sowjetunion konnte Osteuropa den Kommunismus mithilfe der mächtigen Roten Armee aufzwängen, wohingegen der Islamische Staat dem US-Militärgeheimdienst zufolge rund 30 000 verlässliche Kämpfer und kein militärisches Leistungsvermögen für die Machtprojektion hat. Auch wenn Panikmacher davor warnen, dass der Islamische Staat heute ein Gebiet kontrolliert, das größer ist als das Vereinigte Königreich, so besteht es doch überwiegend aus unbewohnter Wüste. Das Gebiet des IS produziert jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 4 bis 6 Milliarden Dollar; damit liegt das Bruttosozialprodukt des Islamischen Staats auf dem Niveau von Barbados. Die jährlichen Staatseinnahmen betragen etwa 500 Millionen Dollar – das entspricht etwa einem Zehntel des Jahresbudgets der Universität Harvard –, und das mit abnehmender Tendenz. Der Islamische Staat ist von einer Großmacht weit entfernt, und angesichts der kleinen Bevölkerungszahl und der unterentwickelten Wirtschaft wird er auch nie eine werden.

Ebenso wenig wird er sich durch Ansteckung ausbreiten. Auch nur eine schwache Regierung zu stürzen, ist ein schwieriges Unterfangen, das revolutionären Bewegungen nur sehr selten gelingt. Es brauchte zwei Weltkriege, um die Marxisten in Russland und China an die Macht zu bringen, und der Erfolg des Islamischen Staats beruht bislang auf für ihn glücklichen Umständen: Die Vereinigten Staaten marschierten törichterweise in den Irak ein, der irakische Premierminister Nuri al-Maliki spaltete das Land, und Syrien versank in einem Bürgerkrieg. Sofern der Islamische Staat nicht auch weiter viel Glück hat, wird er sich schwer tun, seinen Aufstieg in anderen Ländern zu wiederholen. Auch seine Ideologie setzt seinem Wachstum enge Grenzen.

Die Anführer der Gruppe mögen ihre Vision eines neuen Kalifats für unwiderstehlich halten, doch steht zu bezweifeln, dass sie damit genügend Herzen und Köpfe gewinnen werden. Das in der Amerikanischen und Französischen Revolution verkörperte Ideal von Freiheit und Gleichheit hat sich in der Welt verbreitet, und die kommunistische Vision eines klassenlosen Utopia hat Millionen verarmter Arbeiter und Bauern mitgerissen. Die puritanische Botschaft des Islamischen Staats und seine brutalen Methoden breiten sich dagegen nicht so leicht aus, und der Entwurf eines expansiven Kalifats beißt sich mit den starken nationalen, religiösen und ethnischen Identitäten im Nahen Osten.
Auch über Twitter, YouTube oder Instagram wird die Kernbotschaft für die meisten Muslime nicht schmackhafter, zumal, wenn der Neuheitseffekt nachlässt und potenzielle Rekruten erfahren, wie es sich im Islamischen Staat tatsächlich lebt. Und eine Version des Islam, die schon der großen Mehrheit der Muslime ein Gräuel ist, wird bei Nicht-Muslimen schon gar keine nennenswerte Anhängerschaft finden. Wer versuchte, ein revolutionäres Credo zu erfinden, dem jede universelle Anziehungskraft abgeht, täte sich schwer, die harte und begrenzte Weltsicht des Islamischen Staates zu übertrumpfen.

Und sollte es schließlich einer IS-ähnlichen Bewegung gelingen, außerhalb Iraks und Syriens an die Macht zu kommen – im chaotischen Libyen könnte das durchaus geschehen –, würden die Anführer dieser Gruppe ihre eigenen Interessen verfolgen, statt sklavisch Baghdadis Befehlen zu gehorchen.
Außenstehende nehmen radikale Gruppen oft als monolithisch wahr – besonders, wenn sie die Rhetorik der Revolutionäre allzu ernst nehmen –, doch solche Bewegungen sind bekanntermaßen anfällig für interne Machtkämpfe. Tiefe Gräben trennten die Girondins und die Jakobiner, die Bolschewiki und die Menschewiki, die Stalinisten und die Trotzkisten, Chruschtschow und Mao. Da der Islamische Staat dazu neigt, schon geringen Widerspruch als ketzerischen Akt zu behandeln, auf den die Todesstrafe steht, sind solche Streitigkeiten unvermeidbar. Sie haben sogar schon ernsthafte Auseinandersetzungen mit Al-Kaida und anderen extremistischen Gruppen nach sich gezogen.

Abwarten und Tee trinken

Nur weil der Islamische Staat sein langfristiges Ziel unweigerlich verfehlen wird, heißt das jedoch nicht, dass sich die Gruppe leicht beseitigen ließe. Ein Blick in die Geschichte zeigt vielmehr, dass der Versuch, solche Bewegungen mit militärischen Mitteln zu zerstören, leicht nach hinten losgehen kann. Die Intervention durch Österreich und Preußen radikalisierte die Französische Revolution, und die Invasion der Iraker im Iran im Jahr 1980 erlaubte Khomeini und seinen Anhängern eine »Säuberung« unter moderaten Kräften der Islamischen Republik. Lenin, Stalin und Mao nutzten Bedrohungen von außen, um Unterstützung zu mobilisieren und ihre Macht zu konsolidieren, und sowohl die russische als auch die chinesische Revolution überlebten mehrere Versuche von außen, sie zunichte zu machen.
Aggressive Versuche, den Islamischen Staat zu zerstören, könnten sein Überleben sichern, besonders dann, wenn die Vereinigten Staaten sich an die Spitze dieser Bemühungen setzen.

Damit bleibt als beste Lösung die geduldige Containment-Politik. Mit der Zeit könnte die Bewegung an ihren eigenen Exzessen und inneren Spaltungen zu Grunde gehen. Siege, die der IS tatsächlich davonträgt, werden heftigere Gegenreaktionen von Seiten der Nachbarn provozieren.

Washington sollte zur Unterstützung solcher Anstrengungen Geheimdienstinformationen, Waffen und Militärausbildung bereitstellen, jedoch seine Rolle so klein wie möglich halten und klarstellen, dass es in erster Linie an den Streitkräften der Region ist, dem Islamischen Staat Einhalt zu gebieten. Die US-Luftwaffe sollte daher ausschließlich dafür eingesetzt werden, eine Ausdehnung des IS zu verhindern.
Der Versuch, den Islamischen Staat mit Bombenangriffen zu unterwerfen, wird unweigerlich unschuldige Zivilisten das Leben kosten und antiamerikanische Gefühle ebenso stärken wie die Popularität des Islamischen Staates.

Die politischen Entscheidungsträger in den USA sollten eines bedenken: Je intensiver sich die Vereinigten Staaten für die Eindämmung des Islamischen Staates engagieren, desto stärker hetzt die IS-Propaganda gegen westliche Kreuzritter und ihre angeblich ketzerischen muslimischen Verbündeten.
Was die verschiedenen muslimischen Glaubensrichtungen angeht, so würden die Vereinigten Staaten mit dem Versuch, einmal mehr unter hohen Kosten die irakischen Sicherheitskräfte aufzubauen, als Komplizen der anti-sunnitischen Politik dastehen, die dem IS erst zu seiner Popularität verhalf; die Sunniten im Irak und in Ostsyrien würden in ihrer Loyalität zum IS bestärkt.

Eine US-geführte Militärkampagne gegen den Islamischen Staat erhöht zudem das Risiko, dass der Zuspruch für ihn wächst: Wenn das mächtigste Land der Welt die Gruppe dauernd als ernsthafte Bedrohung darstellt, dann gewinnt die Selbstdarstellung des IS als standhaftester Verfechter des Islam an Glaubwürdigkeit.
Statt die Bedrohung zu dramatisieren und der IS-Propaganda in die Hände zu spielen, sollten die politischen Entscheidungsträger in den Vereinigten Staaten die Gruppe als ein eher nebensächliches Problem behandeln, das für die USA nicht oberste Priorität hat.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version eines Foreign Affairs Artikels.

Von: Stephen M. Walt
Veröffentlicht am 30.11.2015
Jochen

Zum 8.5.:Imitation und Indoktrination – Wie funktionierte die NS-Propaganda ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Und natürlich: wie ähnlich funktioniert NATO-Kriegspropaganda heute :

Wertvolles Gespräch in der Frankfurter Rundschau http://www.fr-online.de/wissenschaft/ns-propaganda–imitation-und-indoktrination-,1472788,30612608.html

Erziehungswissenschaftler der Universität Frankfurt untersuchen die Propaganda-Strategien der Nationalsozialisten.

Auszüge:

1.-Mai-Feier 1933 auf dem Frankfurter Römerberg. Foto: Hannah Reeck/Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

Der 1. Mai wurde gleich 1933 von der nationalsozialistischen Regierung zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Sie haben sich mit deren Propaganda gegen die Arbeiterbewegung beschäftigt. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Katharina Rhein: Das war ein geschickter Schachzug der Nationalsozialisten, die sich nicht zufällig Arbeiterpartei nannten. Die alte Forderung der Arbeiterbewegung wurde realisiert – aber im Sinne der Nazis. Besonders erschreckend ist, dass der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, Vorläufer des DGB, damals dazu aufgerufen hat an den Mai-Demonstrationen der Nazi-Regierung teilzunehmen.
Am 2. Mai wurden dann die Gewerkschaftshäuser gestürmt und Tausende Gewerkschafter verhaftet. Die Indoktrination als Begleitung des Terrors war von Anfang an vorhanden.

Sie sprechen in der Studie von einer Doppelstrategie, von Imitation und Indoktrination. Woran machen Sie das fest?
Benjamin Ortmeyer: Es beginnt schon bei der roten Farbe der Hakenkreuzfahne. Die Imitation setzt sich aber bei Demonstrationen und teilweise auch bei Parolen der Arbeiterbewegung fort. Die Nazis haben von vornherein gesehen, dass sie die Arbeiterbewegung nur zerschlagen und Teile ihrer Anhängerschaft gewinnen können, wenn sie an diese Formen anknüpfen, um ihre rassistischen und nationalistischen Inhalte zu verbreiten.

Wie viel Indoktrination war nötig? Konnten die Nazis auch auf verbreitete Überzeugungen zurückgreifen?
Rhein: Es wurde nicht so sehr der Inhalt, sondern vor allem die Form übernommen. Sprachlich versuchte man, an den Jargon der Arbeiterbewegung anzuschließen.
Die antikapitalistischen Slogans wandten sich aber immer gegen das so genannte ,jüdische Finanzkapital‘, waren also immer mit Judenfeindschaft verbunden.
Gleichzeitig wurde betont, dass die Arbeiter durch angebliche ,jüdische Hetze‘ verführt worden seien – so wurde etwa Karl Liebknecht zum Juden erklärt.

Was waren die Kernpunkte der Propaganda gegen die Arbeiterbewegung?
Ortmeyer: Im Zentrum steht der Begriff der Volksgemeinschaft. Die rassisch definierte Volksgemeinschaft verband Nationalismus und die Leugnung von Gegensätzen in der Gesellschaft mit der Konstruktion einer arischen, großartigen, harmonischen Gemeinschaft aller Deutschen.

Haben Sie für Ihre Forschung vor allem Schriften aus der NS-Zeit ausgewertet?
Rhein: Ja, unsere Studie steht in Zusammenhang mit einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in dem verschiedene pädagogische Publikationen, aber auch Jugend-Zeitschriften analysiert werden.
In der NS-Schülerzeitschrift „Hilf mit!“ wird besonders deutlich, wie und auf welche Weise gegen die Arbeiterbewegung gehetzt wurde, denn dort bemühten sich die Nazis selbst um eine einfache Sprache.

Welche Methoden haben Sie noch identifiziert?
Ortmeyer: Die Nazis haben ununterbrochen gelobt: den deutschen Arbeiter, die deutsche Mutter, die deutsche Jugend. Das war eine sehr erfolgreiche Methode.
Sie knüpfte an die Arbeiterbewegung an, die dafür gekämpft hatte, das Arbeiter wertgeschätzt wurden und nicht als letzter Dreck galten

Zur Arbeitsvorstellung der Nazis gehörte aber nicht nur der Arbeitskult, sondern auch die „Vernichtung durch Arbeit“.
Ortmeyer: Ja, außer dem Lob des ,deutschen Arbeiters‘ wurde die Losung ,Arbeit macht frei‘ propagiert, die sich auch an den Toren Dachaus und Auschwitz fand. Eine alte Formulierung, die auch bei Hoffmann von Fallersleben in einem Gedicht schon auftauchte.
Die Grundidee der Nazis war: Die Juden wollen nicht arbeiten, das liegt in ihrer ,Rasse‘, während die Deutschen zur Arbeit geboren sind. Die Arbeit adelt sie und hebt sie über andere ,Rassen‘ empor.

Rhein: Hinter dieser Logik steckt, dass sich die Hetze auch gegen diejenigen richtete, die aus Sicht der Nazis nicht arbeiten wollten. Sie machten sich verdächtig, nicht richtig deutsch zu sein.

Warum ist die Propaganda der Nazis eigentlich ein Thema für die Erziehungswissenschaft und nicht nur für Historiker?
Ortmeyer : Es klingt vielleicht unwahrscheinlich, aber die Nazis waren im bösen Sinne des Wortes ausgezeichnete Pädagogiktechniker. Sie haben das Repertoire der Reformpädagogen übernommen, um ihre Propaganda nicht nur in Schulen, nicht nur in der Hitlerjugend, sondern in der ganzen Gesellschaft zu organisieren.
Und gerade für heutige Studierende des Lehrberufes ist es wichtig, die verbrecherische Seite solcher Techniken zu kennen, um im Gegensatz dann darüber nachzudenken, wie eine Pädagogik funktioniert, in der nicht manipuliert und nicht indoktriniert wird.

Rhein: Die Ergebnisse der Studie werden als Buch, aber auch als Materialien veröffentlicht, die sich für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die Lehre an Unis und den Schulunterricht eignen.

Werden die Techniken, die Sie beschreiben, auch heute noch von Neonazis eingesetzt?
Rhein : Nehmen wir die Imitation: Die Nazis von heute imitieren nicht nur die alte NS-Propaganda, sondern auch die Linke.
Die Nachahmung heutiger linker Symbole oder auch des Kleidungsstils ist verblüffend.

Ortmeyer: Wenn man eine Nazi-Demonstration beobachtet, sieht man das gut. Da kann man als Gegendemonstrant nicht vorsichtig genug sein ( lacht ).

Die Denkfiguren selbst, die Sie herausgearbeitet haben, sind aber auch in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen. Man nehme etwa die Debatte um die „Heuschrecken-Hedgefonds“…
Ortmeyer: Es ist erschreckend, wie Denkfiguren der Ausgrenzung heute an alte Nazi-Denkfiguren erinnern. Sei es der antisemitische Diskurs, dass angeblich nur das ,Finanzkapital‘ oder die Banken an allem schuld seien – da schwingt das ,jüdisch‘ immer auch mit. Sei es die Haltung zu Flüchtlingen oder die merkwürdige Argumentation, warum in Betrieben angeblich alle mit den Chefs zusammenhalten müssen statt etwa zu streiken. Nicht zuletzt ist auch die Tradition des Antikommunismus zu nennen.

Interview: Martín Steinhagen

Benjamin Ortmeyer ist außerplanmäßiger Professor für Erziehungswissenschaft an der Frankfurter Universität. Er leitet die Forschungsstelle NS-Pädagogik.
Katharina Rhein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle NS-Pädagogik. Sie promoviert über den Einfluss erinnerungspolitischer Debatten auf die Pädagogik.
Beide haben gemeinsam das Buch „NS-Propaganda gegen die Arbeiterbewegung 1933–1945: Imitation und Indoktrination“ veröffentlicht (Beltz Juventa, 244 Seiten, 19,95 Euro).
Begleitend zur Studie sind Materialien für Unterricht, Lehre und Bildungsarbeit erschienen (drei Bände mit DVD, Protagoras Academicus, 59,80 Euro).

Jochen