Warum die USA mehr Interesse an einer russischen Ukraine-Invasion haben als Putin – Interview mit Chrustschows Urenkelin

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aktuell aus dem Stern: https://www.stern.de/politik/ausland/russland-expertin—die-usa-haben-groesseres-interesse-an-einer-russischen-invasion-als-putin–31632222.html

Auszüge:

Wladimir Putin sieht sich selbst als genialen Geo-Strategen. Doch in der Ukraine-Krise werden die Fäden in Washington gezogen, sagt Professorin für Internationale Politik Nina Chruschtschowa.
Die Urenkelin des sowjetischen Führers Nikita Chruschtschow ist sicher: Putin plant keinen Krieg. Dennoch reiche ein Funke, damit die Ukraine brennt.

16. Februar, 3 Uhr morgens: Dann sollte mitten in Europa ein Krieg beginnen. Die US-Geheimdienste schrien am vergangenen Dienstag im dröhnenden Alarm in die Welt hinaus: Eine russische Invasion würde nur noch wenige Stunden entfernt sein, trotz aller diplomatischer Verhandlungsversuche und eines angekündigten Abzugs des russischen Militärs von der ukrainischen Grenze.

Am 16. Februar ist an der ukrainischen Grenze alles still geblieben. Absolut vorhersagbar, sagt Nina Chruschtschowa. Die Professorin für Internationale Politik an der New School in New York und Urenkelin des sowjetischen Politikers Nikita Chruschtschow war sich von Beginn der neuen Eskalationsrunde in der Ukraine-Krise an sicher: Putin plant keine Invasion in der Ukraine.
Aber warum dann der Alarmismus aus den USA? Dahinter steckt eine klare Strategie, sagt die Expertin für internationale Beziehungen.
Welche Ziele die USA verfolgen könnten, erklärt sie im Gespräch mit dem stern.

Wladimir Putin sieht sich selbst als genialen Geo-Strategen. Doch in der Ukraine-Krise werden die Fäden in Washington gezogen, sagt Professorin für Internationale Politik Nina Chruschtschowa. Die Urenkelin des sowjetischen Führers Nikita Chruschtschow ist sicher: Putin plant keinen Krieg. Dennoch reiche ein Funke, damit die Ukraine brennt.

16. Februar, 3 Uhr morgens: Dann sollte mitten in Europa ein Krieg beginnen. Die US-Geheimdienste schrien am vergangenen Dienstag im dröhnenden Alarm in die Welt hinaus: Eine russische Invasion würde nur noch wenige Stunden entfernt sein, trotz aller diplomatischer Verhandlungsversuche und eines angekündigten Abzugs des russischen Militärs von der ukrainischen Grenze.

Am 16. Februar ist an der ukrainischen Grenze alles still geblieben. Absolut vorhersagbar, sagt Nina Chruschtschowa. Die Professorin für Internationale Politik an der New School in New York und Urenkelin des sowjetischen Politikers Nikita Chruschtschow war sich von Beginn der neuen Eskalationsrunde in der Ukraine-Krise an sicher: Putin plant keine Invasion in der Ukraine. Aber warum dann der Alarmismus aus den USA? Dahinter steckt eine klare Strategie, sagt die Expertin für internationale Beziehungen. Welche Ziele die USA verfolgen könnten, erklärt sie im Gespräch mit dem stern.

stern: Dr. Chruschtschowa, die westliche Welt schaut seit Wochen gebannt auf die ukrainische Grenze und rätselt darüber, was für Pläne Wladimir Putin in seinem Bunker ausbrüten mag. Die USA haben sogar ein genaues Datum für einen russischen Einmarsch genannt: 16. Februar, 3 Uhr morgens. Stand ein russischer Angriff unmittelbar bevor?

Chruschtschowa: Ich bin zutiefst überzeugt, dass es keine Invasion geben soll und geben wird. Ich kann mich wahnsinnig täuschen. Aber wie ich Russland kenne, gibt es für Moskau keinen Grund, einen Krieg zu wollen. Für mich sieht es nach einer gezielten US-amerikanischen Kampagne aus. Die Entwicklungen der letzten Wochen erinnern in erschreckender Weise an das Vorspiel des Irak-Krieges. Damals machten die USA die Welt glauben, Saddam Hussein verfüge über biologische und chemische Massenvernichtungswaffen, was sich als Lüge entpuppte. Jetzt beschwört man die Gefahr einer russischen Invasion in die Ukraine herbei.

Was würde das den USA nützen?

Hinter dieser Strategie sehe ich gleich mehrere Interessen stehen. Zum einen mussten viele Akteure der aktuellen US-Regierung 2014 eine herbe Demütigung einstecken, als Putin die Krim annektierte.
Sie befinden sich auf einem persönlichen Vergeltungszug, um ihre Schmach wiedergutzumachen, darunter die Staatssekretärin im Außenministerium für politische Angelegenheiten, Victoria Nuland, und Außenminister Anthony Blinken.
Der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan hasst bekanntlich Putin aus tiefsten Herzen. Er will aus Putin am liebsten den nächsten Saddam Hussein machen.

Zum anderen gilt nach wie vor: Ein Präsident, der Krieg führt, bleibt an der Macht. Der Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan hat Joe Biden geschädigt. Um sein Image wieder aufzupolieren, braucht man einen neuen Schützling. Die Ukraine ist da der perfekte Kandidat. Sie liegt mitten in Europa, ist aber weit genug von der eigenen Haustür entfernt.

Der Schutz der Ukraine allein wird aber weder Vergeltung für die einen bringen noch den anderen die Macht sichern.

Ich denke, in Washington hat man beschlossen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um Putin in die Knie zu zwingen. Die Vergiftung der Skripals, der Anschlag auf Nawalny – da gibt es genug, was die Amerikaner nicht mehr dulden wollen. Und man muss klar sagen: Die USA lieben es, für Machtwechsel zu sorgen.
Putin kann dieses Vorhaben naturgemäß nicht gefallen. Er will nicht ausgewechselt werden. Deswegen versucht er mit allen Mitteln, die USA von sich fernzuhalten.

Und die Amerikaner versuchen ihrerseits alles, um ihn zu einem Fehler zu verleiten. Sodass er tatsächlich in die Ukraine einmarschiert. Washington spekuliert darauf, dass in diesem Fall Putin sich so sehr im eigenen Land unbeliebt macht, dass die Russen ihn stürzen. Dieser Tango wird von Washington und Moskau im Duo getanzt. Die Leidtragende ist die Ukraine.

Aber wer hat den Tango angefangen?

Ursprünglich war es Putin, der mit der Annektierung der Krim, den Konflikt ausgelöst hat. In der aktuellen Zuspitzung der Krise haben jedoch die USA den Tanz eröffnet. Sie haben Truppenbewegungen beobachtet und haben entschieden, Alarm zu schlagen.
Damit fährt Washington in jedem Fall sicher. Eskaliert die Lage, so muss sich die US-Regierung nicht den Vorwurf gefallen lassen, sie hätte nichts von dem aufkommenden Sturm bemerkt – wie es 2014 bei der Annektierung der Krim passiert ist. Kommt es zu keiner Eskalation, wird sich Washington auf die Fahnen schreiben, man habe Europa vor einem Krieg bewahrt.
Putin blufft. Aber die USA geben vor, nicht zu erkennen, dass es ein Bluff ist.

Das würde bedeuten, dass Washington die russischen Manöver als Vorwand nutzt, um eine Kriegsgefahr mitten in Europa vorzugaukeln.
Aber warum spielt dann Putin mit? Mit einer Verlegung der Truppen könnte er der US-Regierung jeden Wind aus den Segeln nehmen.

Putin ist Putin. Wenn die USA sagen, er könne die amerikanische Demokratie vorführen, dann macht er das. Wenn die USA sagen, dass russische Truppen an der Ukraine-Grenze stehen, dann beordert er sie dahin. Er macht sich einen Spaß daraus.
Kreml-Sprecher Peskow witzelte zuletzt, ob die USA Putin nicht noch verraten wollen, wann die Invasion stattfinden soll. Das ist der Humor Putins. In seinem Bunker lacht er sich schlapp. Wenn ihr wollt, bitte schön. Das ist seine Denke.

Zudem bekommt er das, was er so sehr liebt: Aufmerksamkeit, Kniefälle, Visiten der westlichen Staatsoberhäupter.
Putin ist süchtig nach Anerkennung. Er profitiert von der andauernden Krisensituation. Für ihn ist sie die Gelegenheit, giftige Pfeile in die Beziehungen der westlichen Staaten zu jagen.
Das ist ein Spiel, von dem der ehemalige KGB-Niemand nur träumen konnte.

Putin muss sich als der Nabel der Welt fühlen. So präsentiert er sich zumindest seinem heimischen Publikum. Warum geben die USA ihm aber diese Bühne?

Aus Eigennutz. Das Ziel ist, Russland zum Feind Nr. 1 zu stilisieren. Putin soll auf einer Linie mit Saddam Hussein und Kim Jong Un gebracht werden.
Dann können die USA Russland sanktionieren, wie immer sie wollen.

Aber die USA könnten auch jetzt schon für sich allein jegliche Sanktionen gegen Russland verhängen. Anlässe und Gründe gebe es genug.
Versucht Washington mit dieser Strategie Europa hinter sich zu bringen? Etwa was Nord Stream 2 angeht. Den Bau der Pipeline wollten die USA von Anfang an verhindern.

Europa spielt in diesem Spiel eine große Rolle. Die USA müssen Europa hinter sich vereinen. Und hierfür müssen sie Putin dazu bringen, wenigstens einen Fingerbreit auf ukrainisches Territorium vorzudringen. Wenn das geschieht, werden sich alle hinter Washington zusammenschließen.

Sind es also die USA, die von einer russischen Invasion in der Ukraine profitieren würden?

Ja, die USA haben ein viel größeres Interesse an einer Invasion als Putin. Ich weiß, das ist eine sehr rigorose Position, aber bislang sehe ich nichts, was das Gegenteil bedeuten würde.
Wozu bräuchte Putin einen Krieg? Wozu bräuchte er Kiew? Wozu sollte er ein Land einnehmen wollen, dessen 40 Millionen Einwohner, ihn aus tiefstem Herzen hassen?

Ich könnte erklären, wozu er die Krim braucht, oder sogar den Donbass. Aber Kiew? Nein. Er hat überhaupt kein Motiv.
Ich bestreite nicht, dass Putins Russland ein Imperium des Bösen ist. Aber die USA sind auch kein Imperium des Guten.

Dass die USA so präzise den Tag und sogar die Uhrzeit einer Invasion prognostiziert haben, aber ohne einen einzigen Beweis dafür vorzulegen, ist tatsächlich auf Skepsis gestoßen.

Betrachten wir doch die chronologische Abfolge des Geschehens. Macron verkündet nach dem Treffen mit Putin „Mission vollendet“. Kurz darauf erklärt Biden: Nein, am 16. Februar wird Putin einmarschieren. Macron soll schließlich auf keinen Fall die Lorbeeren für die Bändigung Putins bekommen.

Wenig später verkündet der russische Verteidigungsminister, dass die Übungen in Belarus zu Ende gehen und man die Truppen danach abzieht. Da erklärt Boris Johnson, man stünde praktisch am Abgrund. Jedes Mal, wenn es also Zeichen der Entspannung gibt, tauchen die Angelsachsen auf und erklären alles für nichtig.

Wenn man es so liest, dann scheint Washington nicht an einer Entspannung der Situation interessiert zu sein.

Gods_Own_CountryIn meinen Augen wird die Krise von den USA angefacht. Amerika braucht den Krieg. Es ist eine Cowboy-Kultur. Zudem werden diese Kriege woanders geführt, nicht in Amerika.
Ein Krieg würde Biden eine zweite Amtszeit garantieren. Ganz nach dem Szenario von Bush, der 2004 wiedergewählt wurde.

Zudem ist Russland der perfekte Sündenbock. Wenn Trump gewählt wird, sind die Russen schuld. Wenn Amerikaner in Afghanistan sterben, sind die Russen schuld. Leiden Diplomaten am Havanna-Syndrom, sind die Russen schuld. Russland ist an vielem Schuld, aber nicht an allem.

In Moskau sind nun Witze über die Ankündigungen konkreter Daten eines angeblichen Angriffs durch die US-Geheimdienste en vogue geworden. Im Westen spekuliert man derweil, ob es in Moskau nicht einen Maulwurf gibt, der die USA mit Informationen versorgt.
Könnte es aber nicht sein, dass Putin sich einen Spaß gönnt und die Informationen den USA extra zuspielt? Gerade wenn man annimmt, dass die Situation im Kreml wie ein spaßiges Spiel aufgenommen wird.

Absolut! Ich denke in dem Theater, was da seit drei Monaten gespielt wird, ist vieles auf diese Mentalität zurückzuführen. Putin liebt Verspottung dieser Art. Er schickt mal seine Panzer dahin, mal dahin, und schaut zu, wie die Amerikaner ihm hinterher hecheln. Er wirft das Stöckchen, und die Gegenseite jagt hinterher.

Wenn Putin etwas machen will, dann macht er das einfach. Das hat man 2008 (Einmarsch in Georgien) gesehen, das hat man 2014 (Annektierung der Krim) gesehen. Und die Welt erfährt es am nächsten Tag, wenn alles vollzogen ist.
Aber dieses andauernde Spiel? Ich denke, hier verhält es sich ähnlich wie mit Putins Auftritten, wo er mit entblößten Männerbüsten durch Sibirien läuft.
Es ist eine Inszenierung, die alle sehen sollen. Alle sollen sich den Kopf zerbrechen, was es soll. Wenn es nicht so gefährlich wäre, könnte man darüber lachen. Aber angesichts der Lage ist dieses Spiel erschreckend.

Wirft man einen Blick in die Geschichte, stellt man fest, dass viele Kriege von Nichtigkeiten, Missverständnissen oder Unachtsamkeit ausgelöst wurden.
Aus einem Funken wird schnell ein Feuer, wenn der Zunder trocken ist.

Das ist auch die Gefahr, die ich sehe. Auch wenn Putin ursprünglich keinen Angriff geplant hat, in so einer aufgeladenen Situation reicht ein falscher Schritt und es herrscht Krieg.

Haben sie ihren Großvater Nikita Chruschtschow noch kennengelernt?

Ja, das habe ich. Als Kind erzählte er mir noch von den Vorzügen des kommunistischen Systems.

Was würde er zu der heutigen Politik Russlands sagen?

Er wäre entsetzt. Über die Annektierung der Krim wäre er schockiert. Als 1968 sowjetische Panzer in die damalige Tschechoslowakei geschickt wurden, und das nachdem 1956 er selbst die Panzer nach Ungarn geschickt hatte, sagte er: „Es sind zwölf Jahre vergangenen, aber wir haben nichts gelernt.“
Die Ungerechtigkeit der sowjetischen Politik hat ihn in seinen späteren Jahren sehr beschäftigt.

Was ist mit der aktuellen Situation an der ukrainischen Grenze?

Über die aktuelle Zuspitzung der Krise wäre er ebenso entsetzt. Er und John F. Kennedy haben die Kuba-Krise innerhalb von 13 Tagen beendet, aus Entsetzten vor dem, wozu Muskelspiele führen könnten. Aber heute dauert das Säbelrasseln zwischen Washington und Moskau nun drei Monate an.
Jetzt stehen an der Grenze zu Ukraine erboste, verunsicherte und verängstigte Generäle. Da braucht nur einer die Nerven zu verlieren.

Nina Chruschtschowa

Nina Chruschtschowa ist Professorin für Internationale Politik an der New School in New York. Sie ist Senior Fellow des World Policy Institute.
Nach Erwerb ihres Doktortitels an der Princeton University, hatte sie eine zweijährige Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Historical Studies des Institute for Advanced Study in Princeton und war dann stellvertretende Herausgeberin der East European Constitutional Review an der NYU School of Law.

Nina Chruschtschowa kam am 1. August 1962 in Moskau zur Welt und ist eine Urenkelin des sowjetischen Politikers Nikita Chruschtschow. Bevor sie in die USA auswanderte, studierte sie Russisch an der Lomonossow-Universität Moskau mit einem Abschluss im Jahr 1987.
Nikita Chruschtschowwarvon 1953 bis 1964 als Erster Sekretär der KPdSU der mächtigste Politiker der Sowjetunion.

Anmerkung: Vieles kann ich natürlich nicht teilen. Aber es ist schon interessant, darauf hinzuweisen, wer langfristig der Profiteur des Spiels sein wird – nicht Putin.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Tricksen und Täuschen in der ARD

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein guter Artikel zu meinem Spezialthema Manipulation, mit einem aussagekräftigen Schaubild
http://www.nachdenkseiten.de/?p=35245

Das Ende des Informationsjournalismus – Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015

160930 maren muellerVon Beginn ihrer Arbeit an üben die NachDenkSeiten Medienkritik und leisten Aufklärung über  Meinungsmache, Reformlügen und den Machtwahn von Eliten und Politik. Inzwischen sind sie damit nicht mehr ganz so allein: Immer mehr Mediennutzer emanzipieren sich, immer häufiger gibt es Programmbeschwerden oder gar radikale Kritik. Eine solche leistet seit Längerem die Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien, die sich für Medienkompetenz und die demokratische Mitsprache bei der Umsetzung des gesellschaftlichen Programmauftrages der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten stark macht.

Jens Wernicke sprach mit der Vorsitzenden Maren Müller über die von der Publikumskonferenz soeben veröffentlichte Expertise „Das Ende des Informationsjournalismus – Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015“, die kein heiles Haar an der ARD-Berichterstattung zu Griechenland lässt und die tagtäglichen Methoden der Manipulation konkret beim Namen nennt.

Frau Müller, gerade erschien auf der Webseite der Ständigen Publikumskonferenz eine pointierte sowie sachlich fundierte Fundamentalkritik an der Griechenlandberichterstattung der ARD, in der anhand konkreter Beispiele ein komplexes Manipulations-Geflecht offengelegt wird. Tricks und Täuschungen werden dabei ebenso benannt wie das Geflecht der „heimlichen Verführer“ im Hintergrund, um deren Interessen es geht. In zwei Sätzen: Was werfen Sie der ARD konkret vor?

Da hat sich einiges angesammelt. Wir werfen der ARD vor, entgegen der Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrages das Publikum mit Desinformation, Falschaussagen und Auslassungen wichtiger Informationen über Wochen und Monate regelrecht überzogen zu haben.
Die Griechenlandberichterstattung der ARD – explizit von Tagesschau und Tagesthemen – war einseitig, regierungskonform, manipulativ, feindselig, verleumderisch und in Teilen geradezu absurd ob ihrer boulevardesken Erzählweise.

Durch die inflationäre Verbreitung national-stereotyper Klischees im Zusammenhang mit den griechischen Staatsschulden wurden bei der deutschen Bevölkerung niedere Instinkte wie Neid, Hass, Zynismus und offener Rassismus geweckt sowie Zwietracht unter den europäischen Nachbarn gesät.

Unter Verletzung ihres gesetzlichen Auftrages hat die ARD somit in manipulativer Weise Ressentiments geschürt und Feindbilder kreiert, die den Zusammenhalt der Völker in Europa gefährden und im eigenen Land die gesellschaftliche Spaltung forcieren. Der Selbstanspruch öffentlich-rechtlicher Redakteure ist in der Regel die „Einordnung“ (welt-)politischen Geschehens für das Publikum. Diese Art der Einordnung hat allerdings mit Journalismus oder gar mit wahrhaftiger Information herzlich wenig zu tun.

Im Text ist von der Technik des „Storytelling“ die Rede und es wird diesbezüglich die Leiterin der Abteilung Innenpolitik des NDR, Anja Reschke (die Reinemachefrau des Verfassungsschutzes), mit dem Satz: „Leider haben das die Leute gemerkt, dass auch unsere Berichte geprägt sind“ zitiert…

Storytelling bedeutet nichts Anderes als „Aufmerksamkeit holen und halten“ und spricht primär die Gefühlsebene des Zuschauers an. „Erzählen statt berichten“ ist die Devise. Durch Emotionalisierung, Unterhaltung und eine möglichst spannende Dramaturgie soll der Zuschauer davon abgehalten werden, sich der „Information“ durch Wegzappen oder anderweitige Verweigerung der jeweiligen Angebote zu entziehen. „Wie lenken Sie die Aufmerksamkeit des Publikums dauerhaft auf Ihre Botschaft?“, fragt zum Beispiel Marie Lampert in ihrem Bestseller, „Storytelling für Journalisten“.

Es geht den öffentlich-rechtlichen Anstalten dabei vorrangig um Quote, um Legitimation, um die dauerhafte Aufmerksamkeit des Rezipienten und natürlich um die subtile Vermittlung gewünschter Botschaften. Durch bestimmte Erzähltechniken wird die Kernaussage hübsch verpackt in einer Story auf eine unterschwellige Art und Weise an den Zuschauer gebracht. Es gibt eine ganze Reihe von Kommunikationsstrategen, die hierzu forschen und lehren – einige davon finden sich sogar an der Medienakademie von ARD und ZDF.

Storytelling wird seit Ende der 90er Jahre als Kommunikationsstrategie in Politik, Militär und Wirtschaft praktiziert und ist eine wirkungsvolle Kommunikationswaffe in den Händen von Spin Doktoren, Lobbyisten und anderen PR-Profis.
Denn in der Politik, in der Produktwerbung, im Marketing und selbst in der Kriegsführung und -vorbereitung wird mit einfachen Geschichten oft eine größere Wirkung erzielt als mit schnöden Fakten. Wir erinnern uns etwa an die 1000-fach medial kolportierte Brutkastenlüge, die den Irak-Krieg moralisch zu legitimieren half, rührend und tränenreich vorgetragen von einem jungen Mädchen. Wer fragt da noch nach Fakten?

Damit stellt sich allerdings wiederholt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem zur Neutralität verpflichteten öffentlich-rechtlichen Journalismus und PR, deren Ziel die „Konstruktion wünschenswerter Welten“ ist.

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Quelle:AcTVism Munich www.activism.org

Storytelling ist also … ja, in meinen Worten: die Demagogie der Oberen, mit der sie uns auf ihre Weltsicht und Werte einzuschwören suchen? „Gut gegen Böse“, „Krieg im Auftrag Gottes“, wie es bei Bush hieß, oder eben „Krieg gegen die neuen Hitlers dieser Welt“, wie es beim Kosovo-Krieg hieß?

Ja, es geht um eine Erzähltechnik, die starke moralische Bewertungen kolportiert, sodass die durch sie zu ziehenden Schlüsse massiv begrenzt und also vorgeprägt sind.

Eben das hat Anja Reschke wohl auch gemeint: „Wir Journalisten sind uns sehr bewusst, dass wir die Leute seit Jahr und Tag auch erziehen – dummerweise haben sie das nun mitgekriegt.“

Gut, die Manipulation geschieht also durch Sprache, Erzählweise und … „Dramaturgie“?

Ja und nein. Denn im Grunde spricht nichts dagegen, Informationen durch pointierte Sprache dramaturgisch spannend und unterhaltsam für den Rezipienten aufzubereiten. Laut des US-amerikanischen Linguisten und Politikberaters Lakoff *) ist es für gewöhnlich sogar der einzig funktionierende Weg, die tatsächlichen Mechanismen des Denkens zu benutzen – Weltsichten, Frames, Metaphern, Emotionen, Bilder oder persönliche Geschichten. Jedoch hat bei der Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien die Information des Publikums im Vordergrund zu stehen und nicht die hübsche, selbstgestrickte Legende.

Innerhalb der untersuchten Griechenlandberichterstattung im Jahr 2015 wurde durch die konsequente, schwarz-weiß-gefärbte Erzählweise, die sich jeglicher seriöser journalistischer Kategorie entzieht, ein Bild von unseren griechischen Nachbarn gezeichnet, welches perfider nicht hätte sein können.
Unser Autor stellt dazu fest:

„Das stereotypenspezifische Werte-Framing wirkt stark polarisierend. Es aktiviert und bestätigt zugleich das im Langzeitgedächtnis gespeicherte Stereotyp von den chaotischen, unzuverlässigen, trickreichen, unpünktlichen, unbeherrschten, faulen (=reformunwilligen) und verschwenderischen Südeuropäern, die angeblich die (nord-) „europäischen Gepflogenheiten“ (Rolf-Dieter Krause) missachten.“

Wenn die sachliche Debatte um ökonomische Lösungen für die griechische Schuldenkrise von einem medial inszenierten Theater über vermeintliche deutsche Sekundärtugenden übertönt und ein international anerkannter Wirtschaftsprofessor wie Yanis Varoufakis dem Publikum als halbstarker und trickreicher Ganove verkauft wird, dann ist diese Art der Informationsvermittlung mehr als verzichtbar. Sie ist für die freie Meinungsbildung wertlos – wie jede Form der Propaganda.

Im letzten Kapital des Aufsatzes legen Sie verschiedene Strategien der „versteckten Argumentation“ offen. Um was geht es dabei?

Persuasive Kommunikation hat das Ziel, Einstellungen von Kunden oder auch Rezipienten zu beeinflussen bzw. zu verändern. Verständigung oder gar Informationsaustausch sind nachrangig.

Die Techniken sind in verschiedene Kategorien einteilbar: die Nutzung spezieller Erzähltechniken durch die Journalisten, der Einsatz rhetorischer Strategien, die verdeckte Argumentation durch interessengeleitetes Framing sowie der Gebrauch semantischer, visueller oder auditiver Trigger.

Das klingt doch ein wenig sehr akademisch und erschließt sich nicht gleich. Skizzieren Sie doch bitte aus jedem Bereich ein konkretes Beispiel – und sagen mir vor allem auch, was der immer häufiger genutzte Begriff des „Framing“ eigentlich meint.

Die Erzählhaltung des Journalisten, die sich je nach Thema und politischer Gemengelage zwischen affirmativ-nah oder kritisch-distanziert bewegt, vermag zum Beispiel den uninformierten Zuschauer zur Bestätigung eines bestimmten Akteurs oder aber auch zu dessen Abwertung bewegen.
Affirmativ-nah wurden im Konflikt beispielsweise immer die Kanzlerin und der Bundesfinanzminister dargestellt und die griechische Regierung natürlich immer kritisch-distanziert. Letztere Erzählhaltung kann beim uninformierten Zuschauer leicht zur Abwehr, zur Entsolidarisierung und zur Herausbildung von Stereotypen führen.

Interessengeleitetes Framing meint einen bestimmten, gleich mitgelieferten Interpretationsrahmen und geht einher mit Falschinformationen, Auslassungen und dem Einbetten von Fakten in fremde Zusammenhänge.
Speziell da, wo dies journalistische Authentizitätsnachweise wie etwa O-Töne oder Bilder betrifft, die aus Sicht des Rezipienten den Status von „Wahrheitsbelegen“ haben, handelt es sich dabei um glasklare Verstöße gegen journalistische Kodizes.

Eine der beliebtesten rhetorischen Strategien ist etwa die Berufung auf sogenannte „Experten“, also das Insistieren darauf, dass es Menschen gibt, die sehr viel mehr wissen als andere, und denen dann auch – als sozusagen autoritärer Appell – unbedingt Glauben zu schenken ist. Am kuriosesten sind dabei sicher die „Terrorexperten“, die vom kuscheligen Studio aus terroristische Vorfälle bewerten, einordnen und kommentieren. Die Legitimität eines zuvor von der Moderation verkündeten Standpunkts soll durch die Berufung auf eine vermeintliche Autorität sozusagen bewiesen werden.

Auch die nachhaltige Denunziation politischer Gegner ist eine beliebte Strategie der öffentlich-rechtlichen Meinungsbildner und erfolgt zumeist über die Ad-hominem-Argumentation. Von der inhaltlichen Argumentation des Kontrahenten wird durch einen Angriff auf seine Glaubwürdigkeit – also etwa gen seines Verhaltens, seiner Motive, seines Charakters – abgelenkt. Wer erinnert sich noch an die absurde Hemd-aus-der-Hose-Diskussion?
Um so etwas geht’s: Von Varoufakis‘ ökonomischer Argumentation wurde durch Angriffe auf seine Kompetenz und seine Vertrauenswürdigkeit permanent abgelenkt. Die Glaubwürdigkeit eines Politikers ist jedoch der entscheidende Faktor jeder politischen Auseinandersetzung.
Im Fall von Varoufakis erzielte die ARD-Berichterstattung durch manipulative Darstellungen wie diese in Dauerschleife einen Glaubwürdigkeits-Wert, der gen Null tendierte. Rufmord nannte es Varoufakis und wir schließen uns dieser Meinung an.

Semantische, visuelle und auditive Trigger verstärken eine bestimmte Botschaft durch bestimmte Wortspiele oder Attributierungen, durch Musik, Geräusche oder entsprechende Bilder. Besonders eindrucksvoll waren in der ARD-Griechenlandberichterstattung die Metaphern aus der bunten Welt der Spiele, wenn es um die wissenschaftliche Disziplin der Spieletheorie ging, in der Yanis Varoufakis bewandert ist.
Diese Art der Darstellung eines wissenschaftlichen Erkenntnisinstrumentes kann man getrost als vorsätzliche Verdummung des Publikums bezeichnen.

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Quelle: Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien: „Das Ende des Informationsjournalismus–Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015, Kapitel 5“

Natürlich funktionieren auch Kampagnen gegen unliebsame, kritische Positionen, die den Mainstream infrage stellen, nach genau diesem Schema:
All die Denunziation mit Begriffen wie „Verschwörungstheoretiker“, „Querfrontler“, „Antisemit“, „Antiamerikaner“ etc. – immer häufiger sind das semantische Chiffren im Kampf gegen eben nicht das, was man vorgibt zu bekämpfen, sondern gegen die Reste an sozialem und friedenspolitischem Widerstand, die es noch hat in diesem Land.

Gab es bezüglich der Griechenland-Berichterstattung auch konkrete Falschdarstellungen? Wenn ja, geben Sie bitte zwei, drei konkrete Beispiele hierfür…

Es gab eine ganze Reihe von Falschinformationen in der Griechenlandberichterstattung, denen wir auch etliche Beschwerden gewidmet hatten.

Besonders Rolf-Dieter Krause tat sich mit Falschinformationen, teils unter Berufung auf anonyme Zeugen, in einer Art und Weise hervor, die einem Brüssel-Korrespondenten wenig zur Ehre gereichen.

„Wenn man dem griechischen Finanzminister zugehört hat, ist das lauter Zeugs, das er auf keinen Fall unterschreiben will“, sagte Krause etwa in einer Schalte anlässlich der Eurogruppensitzung in den Tagesthemen vom 16. Februar 2015. Obwohl Krause bei der entsprechenden Pressekonferenz zugegen war und die entsprechenden Inhalte, Vorschläge und Hemmnisse genauestens kannte, informierte er die Zuschauer der Tagesthemen nicht dem Informationsauftrag entsprechend.

Laut Varoufakis wurde das zwischen ihm und dem EU- Währungskommissar Pierre Moscovici vor der Sitzung ausgehandelte Papier kurz vor der geplanten Unterschrift des griechischen Finanzministers von Jeroen Dijsselbloem einfach durch ein anderes ersetzt. Die ARD zeigte dann zwar sogar einen Ausschnitt aus der Pressekonferenz vom 16. Februar 2015, in der Varoufakis diesen Vorgang bekannt machte – sie präsentierte ihren Zuschauern aber einen anderen Ausschnitt.

Unserer Untersuchung der mehr als 20 bedauerlichen Einzelfälle aus den ersten 4 Wochen der ARD-Berichterstattung über die Syriza-Regierung 2015 können Sie entnehmen, wie das Publikum systematisch und kontinuierlich vorsätzlich desinformiert wurde.

Im Gegensatz zur Medienkritik von rechts skizzieren Sie in Ihrem Aufsatz keine große Weltverschwörung finsterer Kreise, sondern Journalisten als Hauptakteure und -täter der täglichen Manipulation. Oder besser: eine Mischung aus eigenen Werturteilen, sozialer Position, ökonomischen Abhängigkeiten und regulären journalistischen Techniken. Ist das „Handwerkszeug“ also selbst schon Teil des Problems?
Meine: Sind Journalisten schon so ausgebildet und sozialisiert, dass ihrer Arbeit oftmals eine gewisse Parteilichkeit immanent ist?

Selbstverständlich sind Journalisten parteilich und agieren in ihrem Berufsfeld ihrer Sozialisation entsprechend. Es gibt in Deutschland für jedes politische Spektrum die entsprechenden Medienangebote – von Jungle World bis Junge Freiheit und dazwischen viel Libertäres, Liberales, Konservatives, Linksgrünes und Esoterisches. Diese Vielfalt der Meinungen ist Ausdruck unserer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, die natürlich über eine grundgesetzlich geschützte Pressefreiheit verfügt und auch alternativen Medienschaffenden Raum für ihre Publikationen gibt.

Der dauerhafte Erfolg von Albrecht Müller mit seinen NachDenkSeiten ist beispielsweise ein Indiz dafür, dass der Bedarf an sachlicher und kritischer Auseinandersetzung in unserem Land durchaus vorhanden ist und dass Parteilichkeit und das Handwerkszeug an sich eben nicht das Problem sind.
Zum Problem werden sie, wo sie in den Dienst von Obrigkeiten gestellt werden und den Journalisten ihr Bemühen um Objektivität und die Kritik an Unrecht, Ausbeutung und Unterdrückung aus Karrieregründen abhandenkommt. So einen „Journalismus“ braucht wirklich kein Mensch.
Die gesellschaftlichen Erwartungen an den öffentlich-rechtlichen Journalismus aufgrund seiner besonderen Finanzierungssituation und Unabhängigkeit von Werbung und Co. sind dabei naturgemäß höher als die an die privaten Medien. Bis auf wenige Ausnahmen gerieren sich die öffentlich-rechtlichen Korrespondenten aber – und zwar insbesondere jene bei Tagesschau und Tagesthemen – wie ein konzertierter PR-Stab der Bundesregierung.
Dass diese Offensichtlichkeit auch in kausalem Zusammenhang mit der aktuellen Vertrauenskrise der Medien steht, ist Fakt.

Inwiefern?

Für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gelten andere Gesetze als für die Konzernmedien, deren Programm nur dazu da ist, um Geld zu verdienen.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bekommen vom Beitragszahler Geld als Gegenleistung für objektive, wahrheitsgemäße, unparteiische und ausgewogene Berichterstattung.

Die Wahrheitspflicht des Journalisten ist nach geltendem Recht immer an die Erfüllung der Sorgfaltspflicht gekoppelt, die in der sorgsamen Prüfung, Sichtung und Darstellung von für alle frei zugänglichen Recherchematerialien konkretisiert ist. Nicht umsonst heißt es in Paragraph 11 Rundfunkstaatsvertrag explizit:

»Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.«

Sämtliche Falschdarstellungen innerhalb der Griechenlandberichterstattung wären allein durch die Befolgung professioneller Berufsnormen vermeidbar gewesen und folgten zudem grundsätzlich einem interessengeleiteten Narrativ.

„Wie konnte es nur wenige Wochen nach den selbstkritischen Äußerungen von Chefredakteur Kai Gniffke zur Ukraine-Berichterstattung innerhalb der Griechenland-Berichterstattung erneut zu einer solch eklatanten Missachtung des Rundfunkstaatsvertrages kommen und welche konkreten Maßnahmen gedenkt der Rundfunkrat als Konsequenz zu ergreifen, um in Zukunft die gesetzlich garantierte sachlich-neutrale Berichterstattung innerhalb der ARD-Nachrichtenformate zu gewährleisten?“

Eine Antwort steht, Sie ahnen es, nach wie vor aus.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

*) G.Lakoff, E.Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn, Heidelberg 2009

„Das wird man doch wohl noch sagen dürfen… – Die Rolle der Medien in der Meinungsbildung! “ Rede von Albrecht Müller beim DGB – Vortrag am 19.2.16 in Nördlingen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Für Freunde und Interessenten aus der Region:
Albrecht Müller kommt am Freitag, 19.2.16 nach Nördlingen und hält dort um 19:30 in der Schranne einen Vortrag zum Thema:

„Wie die tägliche Meinungmache unser Leben bestimmt“.

Am darauf folgenden Tag läuft ab 9:00 ein Workshop zu diesem Thema, bitte rechtzeitig anmelden !

Albrecht Müller, Rede bei der Neujahrsbegegnung des DGB in Hannover am 22. Januar 2016

http://www.nachdenkseiten.de/?p=30585

Versetzen wir uns zurück in den Sommer und Herbst 2002. Es stand nicht gut um die Wahlchancen der rot-grünen Regierung.
Bundeskanzler und Spitzenkandidat Gerhard Schröder sagte dann Nein zum Irakkrieg und er gewann die Gewerkschaften noch einmal dafür, sich für ihn und seine Koalitionsparteien einzusetzen.

Es klappte. Schröder blieb Bundeskanzler. Aber in den Augen der Macher des Geschehens bestand die Gefahr, dass die Gewerkschaften ihren Lohn vom wiedergewählten Bundeskanzler einfordern könnten und dass sie sich gegen die Agenda 2010 stellen könnten, die für das Jahr 2003 und die folgenden Jahre geplant war.

An ein paar Glanzlichter der dann eingesetzten Strategie möchte ich Sie erinnern. Sie werden sehen, dass die Medien und speziell „Der Spiegel“ bei dieser Strategie eine maßgebliche Rolle gespielt haben:

Am 18. November 2002 erschien ein Spiegel-Titel, auf dem Bundeskanzler Gerhard Schröder im Overall und eine rote Fahnen schwenkend abgebildet war. Darüber stand:

Genosse Schröder

Von der neuen Mitte zum Kanzler der Gewerkschaften

Und im Text war zu lesen:

„Vorwärts und vergessen

Zu den dringend nötigen Reformen will sich Kanzler Schröder nicht entschließen. Das Konzept der neuen Mitte ist passé, der Genosse hat sich von den Bossen abgewandt. Seine neuen Freunde sind die DGB-Funktionäre, die im Wahlkampf für ihn geworben haben – und nun reich belohnt werden.“

Die Autoren des Textes zum Titel waren:

Von Hammerstein, Konstantin von; Knaup, Horand; Nelles, Roland; Sauga, Michael; Steingart, Gabor; Tietz, Janko

Das sind alte Bekannte aus der Fabrik der Meinungsmache – das wird man doch wohl noch sagen dürfen.

Ende Dezember 2002 ließ man dann das Kanzleramtspapier lecken; es war eine Art von Ankündigung der Agenda 2010. Die angeblich viel zu hohen Lohnnebenkosten, die schuld seien an der hohen Arbeitslosigkeit, tauchten in diesem Papier als zentrales Reformmotiv auf.

Etwa zur gleichen Zeit, am 30. Dezember 2002, erschien wiederum im „Spiegel“ ein Essay des Schriftstellers und Juristen Bernhard Schlink. Dort, bei diesem sympathischen Autor, war zu lesen, wir kämen nicht weiter mit den notwendigen Reformen, weil sich die organisierten Interessen, namentlich die Gewerkschaften, der Arbeitsmarkt- und Rentenreform verweigerten.
Und dann wird wahrheitswidrig der Tenor des Spiegel-Titel vom 18. November aufgegriffen und behauptet, die Regierung Schröder sei auf Vorstellungen und Forderungen der Gewerkschaften eingegangen, und als Motiv wird angeführt, Schröder habe sich vom Verhalten der Wirtschaft im Wahlkampf gekränkt gefühlt und sich von den Gewerkschaften wieder aufrichten lassen, so „als gehe es in der Politik um Mögen und Gemocht werden“.

Als ich das damals las, wusste ich nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte angesichts des hier erkennbaren Niedergangs der deutschen Intellektuellen und ihrer Bereitschaft, sich von Medien und Politik instrumentalisieren zu lassen.

Ich weiß ja nicht, ob die Kampagne mit Bernhard Schlink abgesprochen war. Aber jene beim „Spiegel“, die seine Kolumne ins Blatt hoben, wussten genau, was sie tun.
Das diente der Vorbereitung weiterer so genannter Reformen, der Agenda 2010.

Die Gewerkschaften haben das damals alles ohne öffentliche Kommentierung hingenommen. Vermutlich war mancher Gewerkschaftsführer stolz auf die zugeschriebene Macht und hat nicht erkannt, was hier gespielt wird.

An dieser kleinen Geschichte wird schon Mehreres von Relevanz für unser Thema klar:

  • Erstens: Mit Meinungsmache werden wichtige politische Entscheidungen bestimmt und vorbereitet.
  • Zweitens: Meinungsmache wird strategisch geplant und eingesetzt.
  • Drittens: Medien stehen für Kampagnen zur Verfügung. Das darf man eigentlich nicht sagen. Kampagnenjournalismus gibt es nicht, behaupten die beleidigten Medienmacher.
  • Viertens: Gewerkschaften und die Arbeitnehmer sind nicht die Macher, sondern eher die Opfer dieser Operationen.

Sie haben für Ihre Neujahrsbegegnung ein Thema von zentraler Bedeutung für die Arbeiterbewegung ausgesucht, sozusagen das Oberthema für alles andere, für gute Löhne, für soziale Sicherung, für eine gute Betriebsverfassung, Mitbestimmung und vieles mehr, was das Herz der Lohnabhängigen höher schlagen lassen könnte.
Ihre Erfolge bei all den genannten Herzensanliegen hängt nämlich davon ab, wie die Meinungsmache zu diesen Themen verläuft und welche Rolle die Medien dabei spielen.

Wer dies nicht beachtet, quält sich schrecklich beim Versuch, das Geschehen zu erklären. Und er wird auch nicht sonderlich erfolgreich sein beim Versuch, den Einfluss der Gewerkschaften zu stärken:

Warum kam es eigentlich zur Agenda 2010? Oder: Warum hat sich der Neoliberalismus so deutlich durchgesetzt und kann sich trotz großer Fehler und Misserfolge halten?
Oder: Warum haben wir uns auf den Flop Riester-Rente eingelassen? Oder: War es wirklich nötig, der Entgeltumwandlung zuzustimmen und sie auch noch zu verlängern?
Und der Erhöhung des Renteneintrittsalters? War das vernünftig? War das im Sinne der Mehrheit der Betroffenen?
Oder war vor allem Meinungsmache im Spiel? Jedenfalls viel mehr als Vernunft!

Machen Sie mit mir noch einmal einen Spaziergang zurück, diesmal nur fünfeinhalb Jahre in den August 2010: Am 15. August versammelten sich im Presseclub der ARD zwischen 12:00 und 12:45 Uhr unter dem Vorsitz von Jörg Schönenborn weitere vier Journalistinnen und Journalisten. Ihr Thema „Rente mit 65, 67 oder mit 70?“.
Sie waren sich einig, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters richtig und eigentlich sogar die Erhöhung auf 70 Jahre und nicht nur auf 67 fällig sei.

Der Moderator erwähnte, man habe bei der Einladung erfolglos nach Journalisten gesucht, die eine andere Meinung vertreten als die nunmehr eingeladenen Gäste. Diese haben sich dann offensichtlich nur noch darüber gewundert, dass das Volk so blöd ist, dies nicht einzusehen, wo doch die demographische Entwicklung und alles andere dafür spräche.

Das war eine sehr erhellende Sendung: das normale Volk hat offenbar unter den Medienvertretern kaum noch Repräsentanten. Jene, die um die Nöte des Alltags von lohnabhängig arbeitenden Menschen ohne ausreichende soziale Sicherung und ohne ein bisschen Vermögen wissen, muss man mit der Lupe suchen. Ihre Arbeitgeber, ihre Chefs, die Eigentümer der medialen Produktionsmittel sind weit davon entfernt. Paul Sehtes Feststellung vom 5. Mai 1965,

„Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“,

gilt heute in verschärfter Weise: Denn die Konzentration der Medien ist vorangeschritten, in weiten Teilen unseres Landes herrschen Monopole; der Arbeitsmarkt für Medienschaffende ist so schlecht und einseitig so zulasten der dort arbeitenden Menschen, dass ihre Freiheit in der Regel vor allem auf dem Papier steht.

Unserem Gastgeber können wir wirklich gratulieren. Der DGB Niedersachsen-Mitte hat mit der Themenstellung signalisiert, dass man Bescheid weiß, wo die Kapelle spielt.

Vertreter der Wirtschaft haben als im Marketing geübte Menschen auf verschiedenen Märkten in der Regel eingeübt, wie man sich und die eigenen Anliegen verkauft, wie man Werbung macht; sie wissen, welche Bedeutung Werbung, Propaganda und Meinungsmache für den Verkaufserfolg haben. Sie haben es eingeübt und sie wissen, auch im Umgang mit ihren Tarifpartnern das Instrument der Meinungsmache zu gebrauchen.
– Gewerkschaftssekretären fällt es hingegen naturgemäß schwerer, die Bedeutung der Propaganda immer im Blick zu behalten.

Es gibt in der jüngeren Geschichte unseres Landes keine gravierende politische Entscheidung, die nicht mit Meinungsmache – meist kombiniert mit Lobbyarbeit – vorbereitet und nachbereitet war:

Ich muss Sie mit einer langen Kette von Beispielen belästigen, damit die Relevanz klar wird:

  • Der Krieg in Jugoslawien. Vorbereitet von verfälschender Propaganda zur Konferenz in Rambouillet, zum sogenannten Hufeisenplan und mit der Verbreitung des Scheins, man wolle eine friedliche Lösung. Tatsächlich wollte man immer den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs und den Einstieg der Bundeswehr in militärische Einsätze und die Abkehr von der Verteidigungsarmee einüben. Begleitet wurde die Entscheidung von im Stakkato wiederkehrenden Pressekonferenzen des Bundesverteidigungsministers Scharping und des NATO-Sprechers Shea – untermalt von aufsteigenden und heimkehrenden Jagdflugzeugen auf italienischen Militärbasen der USA.
  • Die Wiederbelebung des Ost-West-Konfliktes – mit der Neuauflage des alten Schemas: Wir sind die Guten und die Russen sind die Bösen.
  • Der Beginn des Irak-Krieges – Propaganda mit einer erfundenen Story über angebliche Massenvernichtungsmittel von Saddam Hussein.
  • Die Standortdebatte der Neunzigerjahre und die Erfindung der Lohnnebenkosten als Dreh- und Angelpunkt unseres Glückes.
  • Und der Löhne. Diese wurden als zu hoch dargestellt. Um sie real stagnieren zu lassen oder gar sinken zu lassen, wurde dieses Anliegen zum vermeintlich selbstverständlichen gesellschaftlichen Ziel erklärt, dem jenseits des engen Bereichs der gewerkschaftlich Engagierten gehuldigt wurde. Und selbst in Gewerkschaftskreisen soll es ja Menschen gegeben haben, die für niedrige Löhne eintraten und deshalb nicht erschraken, als der Niedersachse und Bundeskanzler, Gerhard Schröder, am 28.1.2005 in Davos sich dessen rühmte, einen der „besten Niedriglohnsektoren“ aufgebaut zu haben. Dem vorausgelaufen war eine richtige Kampagne der Meinungsmache, wonach niedrige Löhne vom Heil einer Volkswirtschaft und eines Volkes künden – aus der Sicht von Gewerkschaften und Lohnabhängigem eine ziemlich perverse Idee.

Weiter mit den Beispielen für die Präsenz und die Allmacht von Kampagnen der Meinungsmache:

  • Der Kampf gegen Beschäftigungsprogramme. Keynes is out, skandierten die neoliberalen Agitatoren unter dem Beifall so genannter linker Ökonomen und Soziologen.
  • Mit Meinungsmache haben sie es geschafft, die Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise umzudeuten. Sie haben dazu nur etwa drei Jahre gebraucht, die Zeit zwischen 2007 und 2010.
  • Mit Meinungsmache und Unterstützung der Medien ist es gelungen, eine Partei, die einmal stolz und offensiv auf ein Flugblatt schrieb: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“, zum Gralshüter der Entstaatlichung und Privatisierung öffentlicher Leistungen zu machen.
  • Steigende Aktienkurse tun gut, so haben wir gelernt und lernen es jeden Abend wieder zur besten Sendezeit kurz vor acht.
  • Die Lobby hat uns mithilfe der öffentlich-rechtlichen und der privaten Sender eingetrimmt, an den Aktienmärkten würden Werte geschaffen. Mittels Propaganda und mit Unterstützung von gut bezahlten Schauspielern – denken Sie an Manfred Krug – sind abertausende von Menschen in den neunziger Jahren dazu gebracht worden, die „Aktienkultur“ zu fördern. Und besagter Bundeskanzler hat uns damals, als die Aktienkurse sich zuerst vervierfacht hatten und dann gevierteilt, verkündet, damit seien X Milliarden an Werten vernichtet worden. – Diese Vorgänge und diese Themen sind nicht unerheblich für Gewerkschaften und Arbeitnehmer. Vor Beginn der Pflege der Aktienkultur und des Singens des hohen Liedes von der angeblichen Wertschöpfung an den Finanzmärkten dachten wir naiven Menschen ja irgendwie, wir hier in den Betrieben und Büros, am Schaltpult zur Steuerung von Werkzeugmaschinen, oder am Schraubstock oder im Büro oder beim Verkauf im Kaufhaus oder im Friseursalon würden Werte schaffen. Jetzt machen das die Spekulanten, so erfuhren wir das von höchster Stelle. Und dann retten wir sie, die Spekulanten. Mit Arbeitergroschen so zu sagen. Ja, in einer großen Koalition von Merkel und Steinbrück und unterstützt von den Chefredakteuren nach einer gemeinsamen Sitzung mit der Bundeskanzlerin am 8. Oktober 2008 haben uns alle maßgeblichen Führungskräfte erzählt, jede Bank in Deutschland sei systemrelevant. Also ran Ihr lieben Mehrwertsteuerzahler und Lohnsteuerzahler aller Klassen: Rettet die Spekulanten, bezahlt ihre Wettschulden. Denn ihre großen Gewinne lassen uns alle mit gewinnen. Nach der berühmten Pferde-Äpfel-Theorie, vornehm gestimmt sagt man Trickle-down-Theorie – nach unten durchsickern.

Von den ganz großen medial gemanagten Manipulationen, von den wahren Orgien der Meinungsmache, und den damit verbundenen gravierenden gesellschaftspolitischen Entscheidungen habe ich noch nicht gesprochen:

Da ist zum Ersten der Komplex Globalisierung, Reformstau, Reformen: Es wurde uns erzählt, alles sei neu, die Globalisierung sei ein gänzlich neues Phänomen, wir müssten uns mit Reformen darauf vorbereiten. Und dabei wurde der wunderschöne Begriff Reformen, der in Deutschland mit guten Eindrücken und Erfahrungen aufgeladen ist, neu gefüllt: Reformen, das sind heute Veränderungen zulasten der Mehrheit des Volkes, zulasten der Arbeitnehmer-Seite und des ärmeren Teils unseres Volkes.

Da ist zum Zweiten der Komplex demographischer Wandel und die Umstellung der Risikovorsorge. Nehmen wir das Beispiel Altersvorsorge. Es wurde uns erzählt, wir würden immer weniger, wir würden immer älter, die Alten lebten auf Kosten der Jungen, der Generationenvertrag trage nicht mehr. Jetzt helfe nur noch Privatvorsorge. – Die Lernziele wurden tausendfach in die Köpfe gehämmert. Es wurde der Generationenkonflikt geschürt. Rücksichtslos und für Produkte, die sich nicht rechnen können. Denn das Umlagesystem ist ausgesprochen effizient. Man müsste es erfinden, wenn es dies nicht gäbe. Und dennoch ist der Weg zur Rückkehr in eine vernünftige Politik zur Rettung der Gesetzlichen Rente und damit auch zum Versuch, die drohende Altersarmut zu vermeiden, ziemlich verbaut. Propagandistisch verbaut. Von Medien verbaut, von Medienschaffenden verweigert, die die Geschichten der Lobby in sich aufgenommen haben und sich deshalb schwertun, sich zu korrigieren.

Sie sehen, liebe Neujahrs- und Gewerkschaftsfreunde, wir sind umstellt von Meinungsmache und von einer Heerschar von hilfreichen Medienschaffenden.

Das Entscheidende: wer viel Geld hat und über publizistische Macht verfügt, der kann die öffentliche Meinung und auf jeden Fall schon die veröffentlichte Meinung, also die Meinung der Mehrheit der Publizisten bestimmen und damit auch die politischen Entscheidungen zu seinen Gunsten prägen.

Für Menschen und Organisationen wie die Gewerkschaften, die nicht über große Vermögen verfügen und nicht über Medien, ist das eine bittere Erkenntnis. Aber was hilft es. Wir sind darauf getrimmt, dies doch eine Demokratie zu nennen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen: das heißt aufklären, aufklären, aufklären … und eine Gegenöffentlichkeit aufbauen.
So nannten wir das übrigens schon beim Wahlkampf 1972. Wir sprachen vom Großen Geld, das die politische Macht zurück erobern wolle, und wir forderten die Menschen, vor allem die Lohnabhängigen und die Intelligenz auf, dagegen aufzustehen. Das ist gelungen und das könnte auch heute wieder gelingen. Allerdings unter Einsatz von viel Intelligenz und viel Mühe, und viel Arbeit und viel Mut.
Vom Himmel fällt die Rückeroberung demokratischer Verhältnisse in Deutschland nicht.

Jeder ist seines Glückes Schmied. Das war dann die neue Philosophie. Vergleichen Sie diese Parole mal mit dem Werben um compassion, um Mitleiden und Mitdenken, das sich der frühere Bundeskanzler und Spitzenkandidat Willy Brandt gerade mal fünf Wochen vor dem Wahltermin des 19. November 1972 geleistet hat, auf der Wahlparteitagsrede am 12. Oktober 1972.

Es geht so und es geht so. Das ist ein ermutigendes Zeichen: die Welt und die Zukunft sind nicht verloren.
Allerdings bedarf es der Intelligenz und des Mutes, den anderen, den solidarischen und menschlichen Weg zu finden und zu gehen.

Das war früher einmal bewusst so geschehen. Es gab ein wunderschönes Plakat im Landtagswahlkampf 1985 in Nordrhein-Westfalen. Damals hatte die Regierung Kohl einen Gipfel mit den Regierungschefs und neoliberalen Ideologen Thatcher und Reagan zur Unterstützung der NRW-CDU nach Bonn eingeladen. Da sollte die neoliberale Wende von 1982 gefeiert und weiter festgeklopft werden. Die NRW-SPD hat mit nur Großflächenplakaten, quasi als PR-Maßnahme plakatiert:

Herzlich willkommen,

Aber wir hier in NRW gehen unseren eigenen Weg, den sozialen, den menschlichen.

Das saß und brachte der SPD mit 52,1 % das bis dahin und seither beste Ergebnis und wieder die absolute Mehrheit.

Meinungsmache zu Gunsten privater Interessen wird nicht zufällig betrieben. Dahinter stecken meist ausgefeilte Strategien der Meinungsbeeinflussung. Zum Beispiel:

  • Die Kombination von Dramatisierung des demographischen Wandels und der Agitation für private Vorsorge ist im Einzelnen geplant.
  • Die Agitation zu den angeblich zu hohen Lohnnebenkosten und der Übertreibung des Sozialstaats ist systematisch betrieben worden. Jeweils übrigens unter oft käuflich erworbener Mitwirkung der so genannten Wissenschaft.
  • Es werden Begriffe erfunden, die eingängig sind und leicht zu lernen und medial zu transportieren sind: TINA zum Beispiel, es gäbe keine Alternative Oder jetzt ganz neu: „Querfront“. Wenn fortschrittliche Menschen einem nicht in den Kram passen, dann werden sie über den Begriff Querfront mit dem Vorwurf konfrontiert, rechtes Gedankengut zu verbreiten.

Zusammenarbeit von Medien und großen Interessen

Das Zusammenspiel ist bei der Kampagne zum demographischen Wandel und zur Privatvorsorge sichtbar geworden. Da gab es zum Beispiel eine direkte Kooperation zwischen der Allianz AG und der Bild-Zeitung. In einer Vertreterinformation der Allianz AG wurde damals den Vertretern mitgeteilt, dass die Bild-Zeitung nicht nur mit Anzeigen der Lebensversicherer, sondern auch im redaktionellen Teil für die Produkte der Privatvorsorge, im konkreten Fall der „Volksrente“, wie die Riester-Rente der Allianz AG hieß, werben werde.

Reihenweise haben sich öffentlich-rechtliche Medien wie auch die privaten für die Werbung für Privatvorsorge einspannen lassen. Es gab eine enge Zusammenarbeit zwischen Instituten wie etwa dem Institut von Professor Raffelhüschen oder dem Berlin-Institut mit einzelnen Medien wie zum Beispiel dem SWR. Bei Bertelsmann liegt sowieso alles in einer Hand – Medien, Wissenschaft, Geld.

Der „Spiegel“ hat sich über weite Strecken nicht von der Bild-Zeitung unterschieden. Titel und Überschriften wie „Der letzte Deutsche“ und „Raum ohne Volk“ zierten nicht die Bild-Zeitung, sondern Titel und Titelgeschichte des Spiegel.

Damit sind wir bei einer Entwicklung, die dramatische Folgen für die demokratische Willensbildung hat und insbesondere dramatische Folgen für das Gewicht hat, das die Interessen der Mehrheit bei der politischen Willensbildung spielen:

  • Kritische Medien sind weggebrochen. Das gilt für den Spiegel und weite Teile der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, der Frankfurter Rundschau, der TAZ und anderer mehr.
  • Wo sind die Medien, die die Lebenswelt der lohnabhängigen Menschen und der Schwächeren und Armen in unserer Gesellschaft abbilden und davon berichten? Ausgesprochen dünn gesät und selten. Die Gewerkschaften kommen selten vor. Die grundlegende Überlegung, dass in unserer Gesellschaft kollektives Handeln nötig ist, wird vermutlich nur noch von Resten der Medienschaffenden geteilt.

Das ist ein echtes Problem, um das wir nicht herum reden können.

Therapie?

Es ist viel kaputt gegangen und es wird viel Kraft und Intelligenz verlangen, wieder aufzubauen.

Zum Beispiel. Menschen und einer ganzen Gesellschaft zu vermitteln, dass eben nicht jeder seines Glückes Schmied ist, und dass kollektives Handeln notwendig, lebensnotwendig ist, das wird schwer.
Aber es ist notwendig.

Bei der Aufklärungsarbeit hilft, dass solidarische Lösungen oft effizienter sind als private Lösungen. Beste Beispiel: das Umlageverfahren kostet circa ein Prozent an Verwaltungskosten. Die Privatvorsorge kostet 10 % und mehr, für Provisionen, für Werbung, für die Gewinne der Versicherungskonzerne.

Ganz wichtig: Aufklären über die Situation der Medien, über die Eigentümer, über ihre Interessen. Nicht mit Schaum vor dem Mund. Erklärend, spielerisch.
Menschen helfen, hinter die Kulissen zu schauen. Wir haben als Betreiber und Macher der Nachdenkseiten und ich habe als Autor meiner Bücher „Die Reformlüge“ und „Meinungsmache“, die die Aufklärung zum erklärten Ziel haben, immer wieder die Erfahrung gemacht, wie dankbar Menschen sind, wenn man ihnen hilft, hinter die Kulissen zu schauen, die Augen zu öffnen.

Wenn Gewerkschaften das bei ihren Mitgliedern und potentiellen Mitgliedern erreichen, wenn sie Aha-Effekte auslösen, dann verschafft das Sympathie. Nutzen Sie das.

Und schützen Sie Ihre Mitglieder und Sympathisanten vor dem Einfluss der Gegenseite. Das geht dann am besten, wenn Sie vorhersagen, was von Seiten Ihrer Widersacher zu vermitteln versucht wird.
Das ist schon oft geplant und realisiert worden. Die SPD zum Beispiel hat schon oft ihre Mitglieder und Sympathisanten immunisiert gegen den Einfluss der Bild-Zeitung zum Beispiel oder der Arbeitgeberverbände. Man muss allerdings dazu den Mut haben, man muss früh daran arbeiten. Man darf sich nicht von Kleingläubigen beeinflussen lassen.

Sie werden auf eine Doppelstrategie angewiesen sein. Einerseits werden Sie immer wieder erklären müssen, wie Medien manipulieren und warum Sie das tun.
Andererseits werden Sie auf jene Medienschaffenden zu gehen müssen, die vernünftige und gute Arbeit leisten. Die gibt es. Und diese sollte man stützen.

Der Zentrale Ansatz: jenen Medienschaffenden Glaubwürdigkeit verleihen, die gute Arbeit leisten. Und jenen Medien Glaubwürdigkeit entziehen, die Kampagnen betreiben.

Sie könnten den Menschen die Augen dafür öffnen, dass es noch etwas anderes gibt als die Wegmarken der Neoliberalen, etwas anderes als Egoismus als „Wert“orientierung und „Jeder ist seines Glückes Schmied“ als Handlungsmaxime:

Gemeinsam und für einander etwas tun. Solidarität neu entdecken.

Solidarität und die Rolle des Staates neu entdecken.

Wir sollten uns auf eine andere gesellschaftspolitische Konzeption verständigen, auf etwas, das dem ursprünglichen dritten Weg ähnelt.


Jochen

Der Schornsteinfeger und der Meister der Verschwörungstheorie

Habe gerade den sehr empfehlenswerten, gut recherchierten Krimi von Schorlau: Die schützende Hand zu diesem Thema  gelesen!

Dazu passt Wolf Wetzel: Und wenn man nicht esoterisch wird, sondern faktenorientiert bleibt, dann sind die Gründe nicht dort zu suchen, wo der Zufall sein Zuhause hat, sondern dort, wo institutionelle und politische Macht zusammenkommen, Ermittlungsgrundsätze außer Kraft zu setzen, damit man nicht auf Täter stößt, die man bis heute schützen will.

 

Eyes Wide Shut

Der Schornsteinfeger und der Meister der Verschwörungstheorie

Dreizehn Jahre lang wollen die bestens ausgerüsteten Geheimdienste (BfV/BND/MAD) von der Existenz eines neonazistischen Untergrundes namens ›NSU‹ nichts gewusst haben. Auch über 40 namentlich bekannte V-Leute im Nahbereich des ›NSU‹ sollen nach dem Willen der Geheimdienste nichts gewusst haben, selbst dann nicht, als der V-Mann des BfV Thomas Richter mit Deckname ›Corelli‹ im Jahr 2002 ein Grußwort an den NSU  veröffentlicht hatte: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter …«

All das wurde von den marktbeherrschenden Medien ohne einen Zweifel hingenommen, ohne kritische Nachfragen übernommen, bis hin zur rassistischen Klassifizierung der Mordserie als ›Dönermorde‹.

Maaßen-BfV-ab-2012

Es gab nicht viele, die dieser Version widersprochen hatten. Zu den wenigen zählte die AufruferInnen zur Demonstration 2006 in Kassel, nachdem der Internetbesitzer Halit Yozgat ermordet wurde. Auf ihren Banner schrieben sie: »Kein 10. Opfer«.
Man ignorierte, man verschwieg freiheitlich und…

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Rückkehr der »alten Schule« – Warum aufrechte Sozialdemokraten die herrschende Politik aufmischen können

Alban Werner zur Debatte um die Erneuerung der gesellschaftlichen Linken

Auszüge aus einem grundlegenden Artikel im Neuen Deutschland

http://www.neues-deutschland.de/artikel/990074.rueckkehr-der-alten-schule.html

.. . Der Eindruck vieler Leute in den industriekapitalistischen Ländern von professioneller Politik: Ein schmutziges, im Zweifel korruptes Geschäft, bei dem das Publikum schamlos angelogen wird von Eliten, die für ihren Wahl- und Wiederwahlerfolg noch ihre eigene Großmutter verkaufen würden. So machte sich Hoffnungslosigkeit und Zynismus breit insbesondere in denjenigen Bevölkerungsteilen, unter denen klassischerweise AnhängerInnen der politischen Linken im breiteren Sinne vermutet wurden: Lohnabhängige, vor allem ›Malocher‹ , Prekarisierte, Erwerbslose.

Man kann darüber streiten, ob Colin Crouchs Begriff der ›Postdemokratie‹ das beste Etikett ist, um diese Gegenwart zu charakterisieren. Aber man kommt nicht darum herum, dass die etablierte Politik im Vergleich zur Nachkriegszeit mit sehr viel dünnerer Unterstützungsgrundlage in der Bevölkerung operiert. Der französische Politologe Dominique Reynié argumentiert, dass es ein Kontinuum gibt zwischen Wahlenthaltung, der Abgabe ungültiger Stimmen und der Wahl von Parteien, die vom Mainstream als ›populistisch‹, ›extremistisch‹ oder aus anderen Gründen nicht politisch stubenrein angesehen werden. Bildet man die Summe dieser von Reynié ›wahlpolitischen Dissidenz‹ genannten Formen der Stimmabgabe, wird man feststellen, dass sie bei vielen Wahlgängen in der sog. westlichen Welt die gültigen Stimmen für die Regierungsparteien übertreffen!

Aus Erfahrung glaubwürdig: Die ›Old School‹ -Sozialdemokratie

Interessant ist nun, dass es seit einigen Jahren, verstärkt aber 2015 das Comeback eines Typus Politikers auf der Linken gibt, den man sich vor 10, 15 Jahren so kaum hätte vorstellen können: Die alters- und einstellungsmäßig ganz ›alte Schule‹ der Sozialdemokratie feiert derzeit eine triumphale Rückkehr auf der politischen Bühne, dies- und jenseits des Atlantiks. Dazu gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biographien wie der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio, der sozialistische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders aus Vermont, Bill Clintons ehemaliger Arbeitsminister Robert Reich, der neue Labour Party-Vorsitzende Jeremy Corbyn, aus der deutschen Sozialdemokratie die ›Nachdenkseiten‹-Gründer Albrecht Müller und Wolfgang Lieb, und vielleicht neuerdings die Politologin und ehemalige Bundespräsidentschafts-Bewerberin Gesine Schwan.

Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet diese nicht mehr ganz taufrischen Exemplare (Bill de Blasio ist mit Jahrgang 1961 das Küken unter den Genannten) eine politische Euphorie entfachen, obwohl sie nicht wie Barack Obama, der künftige kanadische Premierminister Justin Trudeau, Alexis Tspiras oder Pablo Iglesias einen Newcomer-Bonus in Anspruch nehmen können?

Es gibt, so meine These, bei allen Genannten doch einige gemeinsame Eigenschaften, die das Publikum an ihnen erkennt oder zu erkennen glaubt, durch die sie sich von den altbekannten Figuren des politischen Spiels abgrenzen, die bei South Park mit so unappetitlichen Metaphern bedacht werden. Sie haben damit erstaunlichen Erfolg, vor allem bei der jüngeren Generation, die viele bereits für Politik verloren gegeben hatten.

Bernie Sanders füllt in den Vereinigten Staaten große Stadien mit regelmäßig über 20.000 ZuhörerInnen. Er sammelt so viele Kleinspenden, dass er anders als Hillary Clinton auf die demokratiepolitisch ohnehin fragwürdige grenzenlose Werbemaschinerie eines sog. ›Super PAC›‹ verzichten kann.

Robert Reich feiert Erfolge mit seinem Dokumentarfilm ›Inequality for all‹ , in dem er u.a. gestützt auf Material von Thomas Piketty aufzeigte, wie die Ungleichheit in den westlichen Gesellschaften und vor allen in den USA massiv zugenommen hat. Bei Facebook findet er für seine täglichen Kommentare zum politischen Geschehen etliche junge LeserInnen, die während seiner Amtszeit unter Bill Clinton noch Kinder oder noch gar nicht geboren waren.

Jeremy Corbyn, der fleischgewordene Alptraum der ›Dritter Weg‹-SozialdemokratInnen wie Tony Blair oder Gerhard Schröder, hat nicht nur mit riesigem Abstand die Wahl zum Vorsitzenden gewonnen, sondern es auch geschafft, binnen kürzester Zeit die Mitgliedschaft der Labour Party zu verdoppeln. Derartiges hätten ParteienforscherInnen bis vor Kurzem noch als irre Phantasie abgetan.

»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«

Was also haben diese neuen, alten Leitfiguren gemeinsam?

Aufrichtigkeit: Gerade weil die Genannten nicht ›grün hinter den Ohren‹, sondern alte politische Schlachtrösser sind, zeigt ihre Renitenz, dass eine politische Laufbahn nicht unvermeidlich in die rückgratlose Anpassung führen muss, über die sich South Park so ätzend mokiert. Die aufrechten alten SozialdemokratInnen gestehen sogar Fehler ein und üben Selbstkritik – anders als z.B. Hillary Clinton, die erst nach endlos erscheinender Zeit zugab, ihre Zustimmung zum Irak-Krieg sei ein Fehler gewesen. Jeremy Corbyn hingegen kündigte unmittelbar nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden an, sich im Namen der Labour Party für den Irak-Krieg entschuldigen zu wollen, obwohl er Tony Blairs Waffengang selber nie zugestimmt hatte. Robert Reich schweigt nicht über Defizite ›seiner‹ damaligen Regierung oder über mangelnde Glaubwürdigkeit von Hillary. Der 2013 verstorbene Old School-Sozialdemokrat Ottmar Schreiner blieb zwar nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines 1999 noch als SPD-Bundesgeschäftsführer im Amt und versuchte bis zur Selbstverleugnung noch zu retten, was an Rot-Grün zu retten war. Aber als Gerhard Schröder ihn dennoch zum Dank aus dem Amt entfernte, wurde er zum schärfsten und unermüdlichsten Gegner der Agenda 2010-Politik, gleichgültig mit welchen wenig schmeichelhaften Adjektiven ihn die Pressekommentare bedachten. An der ›alten Schule‹ wird also symbolhaft deutlich, dass Kompromisse aufgrund der real existierenden Kräfteverhältnisse nicht gleichbedeutend sein müssen mit karrieristischem Opportunismus.

Gesinnungsethik: Max Webers berühmte Schrift ›Politik als Beruf‹ ist über weite Strecken ein Lob des ›Verantwortungsethikers‹ und eine scharfe Kritik des ›Gesinnungsethikers‹ . Weber hatte dabei vor allem Linksradikale seiner Zeit vor Augen, die ohne Gespür für die Folgen ihres Tuns vom politischen Heilszustand träumten. Aber dennoch erkannte der Soziologe einen tatsächlichen, bewundernswerten Gesinnungsethiker an, und nannte Martin Luther als Beispiel: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Die aufrechten SozialdemokratInnen der ›alten Schule‹ haben ihre Positionen vertreten, auch als sie von nahezu allen Seiten bekämpft oder belächelt wurden und sie dadurch karrieremäßig Nachteile befürchten konnten. Ottmar Schreiner war zwei Mal vergeblich Kandidat für den Bundesvorsitz der Jusos, und zwar für die damals als verbandsintern ›rechts‹ geltenden ReformsozialistInnen. Schreiners Position blieb weitgehend gleich, doch die Partei rückte immer weiter nach rechts. Bernie Sanders kann von sich behaupten, als einer von ganz wenigen 1996 gegen das Verbot der Homosexuellen-Ehe (DOMA, Defense of Marriage Act) gestimmt zu haben, das mit 342 gegen 67 Stimmen im Repräsentantenhaus verabschiedet und von Bill Clinton unterzeichnet wurde – lange bevor die Demokratische Partei, Barack Obama und Hillary Clinton sich offen zur ›Ehe für alle‹ bekannten.

Kohärenz: Die SozialdemokratInnen der ›alten Schule‹ stehen nicht nur zu ihren Überzeugungen, sie geben sich auch sichtbar Mühe, keinen ideologischen Gemischtwarenladen zu vertreten. Dabei nehmen sie auch in Kauf, bei Teilen der linken Klientel auf Ablehnung zu stoßen. Das unterscheidet sie von manchen LinkspopulistInnen wie PODEMOS, die sich aus Rücksicht auf mögliche Rückschläge vor möglicherweise strittigen Positionen drücken. Bernie Sanders wurde jüngst in der Satire-Sendung ›Daily Show‹ dafür kritisiert, dass er als Grund für seine Ablehnung weitgehender Grenzöffnung der USA mal die negativen Folgen für die Einheimischen, mal für die MigrantInnen nannte. Dabei ist dies gar kein Widerspruch: Werden die Neuankömmlinge vor allem in Niedriglohnsektoren ohne realistische Hoffnung auf sozialen Aufstieg eingesetzt, sitzen sie selber in der Sackgasse und werden, ob sie wollen oder nicht, gegen die einheimischen Arbeitskräfte als industrielle Reservearmee eingesetzt. Robert Reich lehnt den Sozialismus ab, wie sein jüngstes Buch »Saving Capitalism: For the Many, Not the Few« (Den Kapitalismus retten: Für die Vielen, nicht die Wenigen) bereits im Titel erkennen lässt.

Loyalität: Sehr oft kann im politischen Betrieb beobachtet werden, dass nicht nur Inhalte, sondern auch Verbindungen zu früheren Verbündeten gekappt werden, wenn es nicht mehr opportun erscheint. Nach dessen Rücktritt als Parteivorsitzender und Finanzminister wurde Oskar Lafontaine von fast allen SPD-Spitzen und auch der Parteilinken gemieden. Nicht so bei Ottmar Schreiner, der sich weiterhin zu seinem Saarländer Kampfgefährten bekannte. Albrecht Müller kam dem Andenken an Willy Brandt zuhilfe, als dessen Wahlkampfmanager er gedient hatte, als 30 Jahre nach dem Ereignis der TV-Film »Im Schatten der Macht« die Hintergründe von Willy Brandts Rücktritt aufgerollt wurden.

Anstand: Weil sie glaubwürdig ihre Positionen vertreten können, sind die altgedienten SozialdemokratInnen auch nicht in der Verlegenheit, sich durch Angriffe auf ihre KonkurrentInnen ober- oder unterhalb der politischen Gürtellinie profilieren zu müssen. Jeremy Corbyn hat seine MitbewerberInnen um den Parteivorsitz nie direkt angegriffen, obwohl er selbst ordentlich Schelte abbekam. Nach seiner Wahl fand er für jede und jeden von ihnen lobende Worte, sogar für die Tony-Blair-Anhängerin Liz Kendall. Wolfgang Lieb kündigte kürzlich an, nicht mehr für die ›Nachdenkseiten‹ schreiben zu wollen, die er selbst mitbegründet hatte. »In meinem Verständnis sollen die NachDenkSeiten – wie uns der verstorbene Frank Schirrmacher lobte – ›im besten Sinne alteuropäische Diskurse‹ anstoßen, nicht aber den jeweiligen Diskurspartner mit auf die Person bezogener Aggressivität abstoßen, ihn nicht mit moralisch aufgeladenen Begriffen, wie etwa ›unterste Schublade‹ ,›von Agitation und Dummheit geprägt‹ herabsetzen«, begründete er seinen Abschied.

Eine Stimme der Vielen?

Es gibt neben den ideologischen aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten für den Erfolg dieser SozialdemokratInnen ›alter Schule‹. Der wichtigste besteht darin, dass sie alle als Voraussetzung ihres Erfolgs ein Publikum überzeugen mussten, das nicht mit der mittleren und oberen Funktionärsebene des klassischen sozialdemokratischen oder linksliberalen Parteiapparats zusammenfällt.

Die ›Nachdenkseiten‹ starteten Ende 2003, als die SPD ganz in das ideologische Universum der Agenda 2010 eingebunden war. Wer als Sozialdemokratin, als Gewerkschafter, Globalisierungskritiker oder anderer Linker eine glaubwürdige Adresse für Gegenworte suchte, fand sie nicht mehr im offiziellen Parteiorgan ›Vorwärts‹, aber immer häufiger bei diesem schnell wachsenden Blog, der der SPD-Leitungsebene schon oft ein schmerzhafter Stachel im Fleisch gewesen sein muss.

Bill de Blasio und Bernie Sanders kam bzw. kommt zugute, dass sie sich dem Primaries genannten Urwahl-System stellen müssen, um als Kandidat aufgestellt zu werden. Sanders mobilisiert dort und in sozialen Netzwerken überzeugtere AnhängerInnen als Hillary Clinton, auch wenn es am Wahltag vermutlich weniger sein werden. Die Wahl Jeremy Corbyns zum Labour-Vorsitzenden wurde ironischerweise möglich, weil unter seinem Vorgänger Ed Miliband die Partei ihre Urwahl für SympathisantInnen öffnete, um den Einfluss der traditionell mit einem ›Blockwahlrecht‹ zugedachten Gewerkschaften zu schwächen.

Allerdings ist auch die direktdemokratische Nominierung noch keine Erfolgsgarantie für fortschrittliche Inhalte oder linke KandidatInnen. So wurde auf Betreiben von Tony Blair die legendäre ›Clause IV‹ im Status der Labour-Partei (die die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien vorsah) per Mitgliederbefragung durch eine unverbindliche Formulierung abgelöst.

Wie Oliver Nachtwey in seinem hervorragenden Buch zur › Marktsozialdemokratie‹ argumentiert, kalkulierte Blair damit, dass zu diesem Zeitpunkt der etablierte Funktionärskörper mehr Widerstand gegen den ›New Labour‹-Kurswechsel leisten würde als die Mehrheit der ›einfachen‹ Mitglieder. Auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot für die aktuelle Legislaturperiode stimmte die SPD-Basis bekanntlich per Urabstimmung mit 75,96% zu. François Hollande, der mit beinahe deutscher Präzision fast jedes seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Wahlversprechen von 2012 einkassierte, wurde in einer basisdemokratischen Vorwahl vor den TraditionssozialdemokratInnen Martine Aubry und Arnaud Montebourg bestätigt.

Eine basisdemokratische Inthronisierung, durch massenhaftes Anklicken (wie bei Albrecht Müller, Wolfgang Lieb, Robert Reich) oder Ja-Stimmen (wie bei Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn) ist also zwar notwendig, aber nicht hinreichend für den Erfolg der Old School-SozialdemokratInnen. In jedem Fall muss hinter ihnen eine breite gesellschaftliche Bewegung stehen, die im Grunde nur auf eine glaubwürdige Leitfigur als ihr Symbol wartet, um loszumarschieren. Das schien sowohl in den USA der Fall zu sein, wo es bereits vor Bernie Sanders Wahlkampagne weit verbreitete Empörung über die immense soziale Ungleichheit, die Privatverschuldung der Mittelschichten sowie Organisierung für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns gab. Auch in Großbritannien konnten anhand des spektakulären Erfolgs der linkssozialdemokratisch-grünen Scottish National Party (SNP) bei den Unterhauswahlen schon das Bedürfnis nach einer politischen Kraft abgelesen werden, die der Sparpolitik der Tories deutlicher entgegentritt.

In Deutschland und Frankreich ist die Lage schwieriger, weil hier wie dort die Sozialdemokratie (mit) an der Regierung ist. Mit Sigmar Gabriel und François Hollande stehen aber in beiden Fällen an der Spitze schlechthin die Geschöpfe eines Parteiapparates, der mehr als jeder andere ein Interesse daran hat, dass ein Pendant zu Corbyn oder Sanders in seinem Revier gerade nicht entsteht. Hollande und Gabriel sind was Aufrichtigkeit, Gesinnung, Kohärenz und Loyalität angeht nahezu das genaue Gegenstück zum Typus › alte Schule‹ der Sozialdemokratie. Sie gehören zum Typus › Platzhirsch‹ in den Parteien, der im Grunde weder Gesinnungs-, noch Verantwortungsethiker ist, sondern schlicht über gar keine soziale Existenz mehr außerhalb der politischen Elitenzirkel verfügt und im Zweifel völlig austauschbar politische Inhalte vertritt. Beide haben in Personalunion alle Häutungen ihrer Partei nicht nur mitgemacht, sondern aktiv betrieben. Es ist insofern nur konsequent, dass unter Sigmar Gabriel Jeremy Corbyn bislang noch nicht zum diesjährigen Parteitag der SPD eingeladen wurde. Gabriel weiß genau, dass ein Beifallssturm für Corbyn dort gleichbedeutend wäre mit einer dicken Watsche für ihn, gleichgültig wie hoch seine eigene Wiederwahl ausfällt.

Das Neue muss geboren werden

Der tiefere Grund für den Erfolg der ›alten Schule‹ von SozialdemokratInnen ist nämlich, dass sie für ihre AnhängerInnen die Möglichkeit politischer Alternativen symbolisiert. Ein Griff in die Werkzeugkiste marxistischer Gesellschaftstheorie verdeutlicht, welche Kluft sich aufgebaut hat zwischen den eingefleischten AkteurInnen des politischen Betriebs und der breiteren Massen, vor allem den jüngeren Kohorten. Bekanntlich vollzieht sich nach marxistischer Ansicht menschheitsgeschichtlicher Fortschritt im Spannungsfeld von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Produktivkräfte sind, wie jüngst Ralf Krämer im Anschluss an Marx formulierte, »das Arbeitsvermögen selbst, sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Qualifikationen der Menschen«. Im Kapitalismus unterliegen sie einem ständigen, oft unbemerkten Wandel. »Die Menschen verbessern ihre Werkzeuge, sie verfeinern die Arbeitsteilung und ihre Arbeitsfähigkeiten und geben diese verbesserte Technik und Qualifikationen an kommende Generationen weiter. Sie vergrößern den Umfang ihres Zusammenwirkens und effektivieren die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit«. Die Produktionsverhältnisse hingegen »umfassen Verhältnisse der Arbeitsteilung und Kooperation, der Planung und Leitung der Produktion, der Verteilung (Distribution) und des Austausches (Zirkulation) sowie beim Verbrauch (Konsumtion ) der Produkte. Wer übernimmt welche Arbeit oder ist davon freigestellt? An wen und wie werden die Produkte verteilt? (…) Arbeiten die Menschen im eigenen Haushalt, in kleineren oder in großen Betrieben? Sind die Arbeitenden selbständig, sind sie Sklaven oder Leibeigene oder lohnabhängig Beschäftigte? Sind sie spezialisiert ausgebildet und eingesetzt oder werden sie für wechselnde Tätigkeiten angelernt? Sind die Arbeitsbeziehungen hierarchisch oder eher von Eigenverantwortung oder von Mitbestimmung geprägt? (…)«.

Die Ironie unserer Gegenwart ist, dass sich Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte enorm verändert haben in den vergangenen Jahrzehnten, die Colin Crouch als Ausbrütungszeitraum der so genannten Postdemokratie charakterisiert. Die jüngeren Kohorten wachsen auf mit der Erfahrung, dass sie nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur Kommunikation im Format eines Mobiltelefons vorfinden, dass die kollektive Intelligenz des ›Schwarms‹ Probleme lösen und schon wenige kluge Köpfe Dinge in die Welt setzen können, die das Leben vieler Menschen merklich zum Besseren verändern.

Es wundert im Grunde kaum, wenn durch diese Brille betrachtet die real existierenden Politikbetriebe zu massiver Entfremdung führen, weil ihre sklerotische Selbstbezüglichkeit sich allzu gut gegen neue Möglichkeiten abschottet, die die heutigen Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte zutage gebracht haben. Selbst unter dem einstigen Hoffnungsträger Barack Obama wurden die hochmotivierten jungen AktivistInnen im Grunde nur bis zum Wahltag als kampagnenpolitisches Kanonenfutter gebraucht, wie ihm auch Michael Moore vorwarf. Als die Tea Party kurz nach Obamas erster Wahl erfolgreich begann, eine phänomenale rechte Gegenbewegung in Gang zu setzen, waren die jungen AnhängerInnen bereits nicht mehr gefragt.

Vielleicht noch mehr als die jüngeren LinkspopulistInnen von SYRIZA oder PODEMOS verkörpern die SozialdemokratInnen der › alten Schule‹ die Überwindung, oder zumindest tiefgreifende Reform des Politikbetriebs, weil sie als ›abtrünnige Insider‹ eben diesem Betrieb die symbolische Legitimation entziehen. Anders als bei Occupy Wall Street oder der Piraten-Partei müssen bei ihnen die schlummernden Möglichkeiten der gewandelten Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse für die solidarische Umgestaltung der Gesellschaft nicht an mangelnder Politikfähigkeit Schiffbruch erleiden. Die aufrechten SozialdemokratInnen diskreditieren das Veraltende zugleich mit ihrer altersweisen Glaubwürdigkeit und der Energie des Neuen, das sie in Gestalt junger AnhängerInnen mobilisieren.

 Wie weit diese Energie trägt, ist allerdings noch offen. Denn die HoffnungsträgerInnen füllen zwar eine große Lücke. Doch diese Lücke ist bislang nicht groß genug, als dass sie das politische Spiel insgesamt umwenden könnte. De Blasio, Sanders, Reich, Corbyn oder Müller haben bereits einige ›Mühen der Ebene‹ (Bertolt Brecht) schon hinter sich, vielen ihrer AnhängerInnen stehen sie allerdings noch bevor. Wie der US-amerikanische Linke Robert Kuttner betonte, konnte sich ein 67-jähriger wie Corbyn auch deswegen durchsetzen, weil nach zwei Jahrzehnten ›New Labour‹ eine ganze Generation linker Führungskader fehlte, der gründlichen Personalauslese von Blair & Co sei Dank. So habe es bei Labour nur die Wahl zwischen dem strammen Altlinken und den weniger glaubwürdigen oder rechtssozialdemokratischen Nachwuchskräften gegeben. In der SPD ist die Lage noch drückender, da die Sozialdemokratie zunächst etliche Landtagswahlen wegen der Agenda 2010-Politik verlor und sich dann jahrelang weigerte, mögliche rot-rot-grüne Mehrheiten zu realisieren, selbst wenn sie deswegen auf die Staatskanzlei und das Kanzleramt verzichten musste. So fehlen auf weiter Flur in Deutschland glaubwürdige und zugleich amtserfahrene linke SozialdemokratInnen, die Sigmar Gabriel mit einem linken Kurs ablösen könnten.Gut möglich, dass man in zwanzig Jahren, wenn die jetzige Führungsriege der SPD das Alter von Sanders, Reich, Corbyn & Co. erreicht hat, den Verzicht auf die rot-rot-grüne Option als den schwerwiegendsten Fehler der Sozialdemokratie bis in die künftige Gegenwart ansehen wird.