Jürgen Kuczynski – Ein Jahrhundertleben

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine schöne Reminiszenz über den Wuppertaler in der jungen Welt, der mich nochmal dazu ermuntert hat, das Buch: „Gespräche mit meinem Urenkel“ in die Hand zu nehmen:
https://www.jungewelt.de/artikel/431948.ddr-%C3%B6konom-ein-jahrhundertleben.html
Auszüge:

Am 6. August 1997 starb Jürgen Kuczynski. Noch leben Schülerinnen und Schüler von ihm. Immer wieder, wenn sie sich treffen, tauschen sie sich über ihn aus. Es ist zu hoffen, dass sie es nicht dabei belassen, sondern Erinnerungen an ihn aufschreiben.
Ich selbst halte mich an diese meine Aufforderung und berichte im Folgenden u. a. auch von lehrreichen Begegnungen aus den 17 Jahren zwischen 1980 und 1997, in denen ich – wie viele andere ja auch – die Freude hatte, ihn persönlich zu kennen.
Wichtiger aber ist wohl, Tatsachen wieder hervorzuheben, die zwar früh bekannt waren, aber in der öffentlichen Wahrnehmung vergessen oder als nicht so wichtig wahrgenommen, ja verworfen wurden.

Das theoretische Fundament

Hierher gehört das theoretische Fundament von Jürgen Kuczynskis riesigem Werk »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«. 1926 bis 1929 arbeitete er in den USA für die Gewerkschaft American Federation of Labor (AFL). Auf der Überfahrt dorthin stellte der 22jährige Überlegungen zum Relativlohn an. Was war das?

Den Begriff des relativen Lohns hatte Karl Marx 1849 einmal im Vorübergehen erwähnt, sich aber dann nicht weiter damit befasst. Das ist kein Wunder, denn sein Hauptwerk heißt ja »Das Kapital« und nicht »Das Proletariat«. Letzteres spielt die zentrale Rolle in Marx’ politischen Schriften, aber nicht in seinen ökonomischen.
Das Proletariat ist Produkt des Kapitals, auch wenn es dieses durch seine Arbeit aus sich hervorbringt, ein klarer Fall von Dialektik.
Im Buch »Das Kapital« muss sich Marx den Kopf der Kapitalisten zerbrechen, und was diese, die Unternehmer, zu interessieren hat, ist die Rendite = der Profit. Als dessen Kern identifiziert Marx den Mehrwert, also den Teil des Werts der Ware, der nicht den Lohn- oder Gehaltsabhängigen, sondern den Kapitalisten zufließt. Teilt man ihn durch den Lohn, ergibt sich die Mehrwertrate.

Auf die sind die Unternehmer(innen) scharf. Was aber interessiert die Arbeiter(innen)? Antwort: der Reallohn, das, was sie sich für ihren Lohn kaufen können.
Der junge Jürgen Kuczynski fragte darüber hinaus noch nach etwas anderem: eben nach dem Relativlohn und seiner Rate. Die ergibt sich, wenn wir den Lohn über den Bruchstrich, in den Zähler, setzen, und darunter, in den Nenner, den Gewinn. Dann wird wieder dividiert. Heraus kommt das Umgekehrte der Mehrwertrate, eine Lohnrate, die er anders nannte, nämlich den Relativlohn.

Jürgen Kuczynski stellte also gleichsam das Kapital und dessen Analyse, das Buch »Das Kapital« von Karl Marx, vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf, wie man will, jedenfalls vom Mehrwert auf den Relativlohn.
Die uns geläufigere Lohnquote ist etwas anderes: Sie ist der Anteil von Löhnen und Gehältern am gesamten Volkseinkommen.

Vorstehendes kennen wir aus den »Kapital«-Lesekreisen, sozusagen der Klippschule. Es wird hier wiederholt, weil es heute wohl nicht mehr so häufig gelernt wird.
Dann muss auf Altbekanntes neu geblickt werden – wie jetzt auch wieder auf die Erkenntnisse des Jürgen Kuczynski in Zeiten wachsender Ungleichheit, in denen die Verbraucher(innen), in der Mehrheit Lohn- und Gehaltsabhängige, die Profite von Erdgas- und -ölimporteuren per Umlage stützen müssen und gleichzeitig die Gewinne der Energieunternehmen durch die Decke gehen.

Mit seinen Überlegungen zum Relativlohn hatte Jürgen Kuczynski das Thema seines wissenschaftlichen Lebens gefunden: »Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«, und zwar im Verhältnis zum Reichtum der Kapitalistenklasse. Dies war ein gewaltiges Programm, das ihn in den nächsten viereinhalb Jahrzehnten beschäftigen sollte. Am Ende standen die 40 Bände seines Werks über die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus.

Politik

Sofort nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1930 wurde er Redakteur der Roten Fahne, ihres Zentralorgans.
Ab 1933 war er im Widerstand, und zwar mit den Mitteln eines Statistikers und Sozialwissenschaftlers. Er sammelte Daten über die Lage der breiten Volksmassen im Reich, und seine Berichte fanden den Weg zu einem TASS-Korrespondenten, zur sowjetischen Botschaft oder zur Handelsvertretung der UdSSR.

In der Emigration (seit 1936) gründete Jürgen Kuczynski 1943 den »Initiativausschuss für die Einheit der deutschen Emigration«. Er war in der Leitung der KPD im britischen Exil und arbeitete für den Deutschen Freiheitssender 29,8.
Im Krieg war er in US-amerikanischer Uniform als Statistiker bei der Auswertung der Folgen der Bombenangriffe beschäftigt.

Das ist seit langem bekannt. Undeutlicher blieb in der Überlieferung eine Aktivität, mit der Jürgen Kuczynski nachgerade an der ganz großen Politik beteiligt war:
Er brachte seine Schwester Ursula, die für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete, mit dem Physiker Klaus Fuchs zusammen. Dieser war im US-amerikanischen Manhattan Project an der Entwicklung der US-amerikanischen Atombombe beteiligt. Sie wurde dessen Führungsoffizierin.
Ihr übergab Fuchs seine Informationen über die US-amerikanische Atombombe, wodurch das Kernwaffenmonopol der Vereinigten Staaten gebrochen wurde.
Näheres findet sich in einem 2020 erschienenen Buch, dessen deutsche Übersetzung für Oktober 2022 angekündigt ist¹ und das in diesem Punkt über ihre eigene Darstellung mit dem Titel »Sonjas Rapport«, die sie 1977 unter ihrem Schriftstellerinnennamen Ruth Werner veröffentlichte, hinausgeht.

Nachdem Jürgen Kuczynski als Oberstleutnant der US-Armee 1945 nach Deutschland zurückgekehrt und im selben Jahr in die sowjetische Besatzungszone hinübergewechselt war, bekleidete er dort bzw. in der 1949 gegründeten DDR höhere politische Funktionen. Nach der Vereinigung von KPD und SPD im Osten zur SED 1946 gehörte er dieser an.
Noch 1945 war er Präsident der Zentralverwaltung für Finanzen geworden. Das endete im gleichen Jahr mit seiner Berufung zum Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.
Ab Juni 1947 stand er an der Spitze der »Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion«, aus der später die »Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft« hervorging. 1950 verlor er dieses Amt als Fernwirkung einer antisemitischen Welle in der UdSSR.
Aber im selben Jahr wurde er in die Volkskammer gewählt.

Einen Knick erfuhr sowohl seine Hochschul- als auch seine politische Laufbahn 1956/1957. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU hatte Jürgen Kuczynski versucht, Irrtümer zu korrigieren und auch in der Geschichtswissenschaft eingefahrene Ansichten zu lockern. Eine seiner Publikationen hatte mit seinem Spezialgebiet, den Volksmassen, zu tun. Er äußerte die Ansicht, dass die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag am 4. August 1914, als sie den Kriegskrediten zustimmte, sich nicht im Widerspruch zur Mehrheit der Mitglieder befand, diese seien vielmehr selbst vom nationalistischen Taumel ebenso gepackt gewesen wie die Bürger und Kleinbürger. Er billigte dies nicht.
Denn er war mittlerweile nicht nur Marxist, sondern auch Leninist und der Ansicht, Aufgabe der Leitung einer Partei sei nicht, hinter ihrer Basis herzulaufen, sondern sie zu führen und rechtzeitig zu erziehen, damit so etwas nicht passieren könne. Zugleich musste er doch konstatieren, dass es anders war, als es die parteioffizielle These vom Verrat an der Basis bisher propagiert hatte.

Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn 1956 war es mit dem Tauwetter vorbei, und Jürgen Kuczynski wurde Ziel einer Kampagne, an der sich auch Historiker der jüngeren Generation beteiligten. Er sollte aus der Liste der Mitglieder der SED gestrichen werden. Das wäre für ihn schlimmer gewesen als ein Ausschluss, denn er wäre dann so behandelt worden, als sei er nie Mitglied gewesen.

Eine Zeitzeugin berichtete Jahrzehnte später mündlich folgendes aus einer Sitzung einer Parteigruppe: Ein Angriff nach dem anderen sei dort gegen ihn vorgetragen worden. Er wurde zu Stellungnahme und Selbstkritik aufgefordert. Schließlich erhob er sich von seinem Platz und ging nach vorn, in der Hand ein Blatt Papier. Es war ein Brief aus dem Kieler Weltwirtschaftsinstitut und enthielt das Angebot an ihn, dorthin überzuwechseln. Man kenne seine Arbeiten und würde sich freuen, wenn er sie im Westen fortsetzen werde. Jürgen Kuczynski las das vor, teilte mit, dass er dieser Einladung nicht folgen würde, ging an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.

Letztlich hatte er in der Krise von 1956/1957 Glück im Unglück. Aus der Mitgliederliste der SED wurde er nicht gestrichen. Es kam zu einem Arrangement, wonach er keine Vorlesungen mehr hielt und sich darauf konzentrierte, seine Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, von der es ja schon umfangreiche Einzelbände als Vorstudien gab, niederzuschreiben.
Er vermutete, man habe ihn damit nicht nur frei-, sondern auch stillstellen wollen, denn man habe angenommen, mit dieser Arbeit werde er zu seinen Lebzeiten nicht fertig werden. Was seine Kontrahenten nicht wussten, war: Er hatte seine Stoffsammlungen schon so weit vorangetrieben, dass er die 40 Bände bis 1972 abschließen konnte. Allerdings bedauerte er, dass er keinen unmittelbaren Kontakt zur heranwachsenden Generation der Studierenden mehr haben konnte.

Wirkungen im Westen

In der Öffentlichkeit blieb Jürgen Kuczynski dennoch präsent, und zwar in Ost und West. Internationales Ansehen hatten das von ihm geleitete Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und dessen Jahrbuch.
1964 trat er im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Gutachter der Nebenklage auf und belegte die Zusammenarbeit zwischen IG Farben und der SS. Er erhielt Einladungen zu Vorträgen und Gedankenaustausch in der Bundesrepublik sowie in anderen Ländern und konnte diesen folgen, insbesondere nach seiner Emeritierung.
In den Bibliotheken der BRD und insbesondere in deren historischen Seminaren beobachteten die Studierenden, wie die Regale, in denen seine »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« stand, sich im Laufe der Jahre Band um Band füllten.
Sehr populär wurden die fünf, dann sechs Bände der »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« *)

Ergebnisse seiner überbordenden Produktivität drangen schon vor 1989 auch in das Kapillarsystem des intellektuellen Alltags in der Bundesrepublik ein.
Hierfür ein Beispiel: 1974 berichtete der Spiegel amüsiert, wie die CDU Wahlkampf zu machen versuchte, indem sie ihn als Gottseibeiuns präsentierte.
Springers Welt hatte kurz vorher enthüllt, dass in Materialien für den Sozialkundeunterricht, die das Hessische Kultusministerium den Lehrerinnen und Lehrern an die Hand gab, auch Quellen enthalten waren, die Jürgen Kuczynski in seiner »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« erstmals veröffentlicht hatte. Es handelte sich um Originaltexte zur Situation von Kindern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Allerdings hatten die Beamten des Kultusministeriums verschwiegen, wo sie zuvor gedruckt worden waren. Deshalb angegriffen, verteidigten sie sich so: »Es sollte verhindert werden, dass die Diffamierung des Fundorts der Quellen von vornherein die Diskussion um ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit blockiert.«²
Die hessische CDU, die sich im Landtagswahlkampf 1974 befand, machte daraus einen Fall von kommunistischer Unterwanderung und verlor.

Verwunderungen über J. K.

1976 lud das Institut für wissenschaftliche Politik in Marburg Jürgen Kuczynski zu einem Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstags von Wolfgang Abendroth ein.
Da war er verhindert.
1979 gab es einen Riesenkrach unter den Historikern der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik. Sein Gegenstand war ein Buch »Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung«, verfasst von Lehrenden und Lernenden an der Marburger Universität.³
Man warf uns, den Herausgebern, Einseitigkeit der Kritik am Verhalten von SPD und Gewerkschaften zu Beginn des Ersten Weltkriegs und am Ende der Weimarer Republik vor. Fast die gesamte einschlägige Historikerzunft stand gegen uns. Wir suchten Verbündete und wandten uns an Jürgen Kuczynski mit der Bitte um eine Stellungnahme.
Er lehnte ab und begründete dies so: Wenn ausgerechnet ein Historiker der DDR uns verteidige, gerieten wir letztlich noch mehr unter Beschuss.

Dass unsere Bitte ungeschickt, ja sogar taktlos war, hätten wir bei etwas mehr Sachkenntnis selber merken müssen: 1956/57 hatte Jürgen Kuczynski ja seinerseits Schwierigkeiten bekommen, weil er die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 anders erklärt hatte als die offizielle Geschichtsschreibung der DDR.
Wenn er sich uns nun angeschlossen hätte, konnte es sein, dass man seine Arbeit von damals gegen uns und ihn selbst in Stellung brachte.

Immerhin waren wir nun in Kontakt und luden ihn zu einem Vortrag nach Marburg ein. Dieser erste Besuch im Juni 1980 war für mich voller Überraschungen.
Mit großer Schärfe urteilte er über die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Nein, hier werde Parteilichkeit über die Wahrheit gestellt, und das gehe überhaupt nicht.

Nach seinem Vortrag in einem überfüllten Hörsaal über die »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« sprach sich herum, dass zur gleichen Stunde im selben Gebäude der Universität der Dichter Erich Fried eine Lesung hatte. Für Jürgen Kuczynski gab es kein Halten mehr. Er eilte durchs Haus, bis er ihn gefunden hatte. Die beiden begrüßten sich sehr herzlich. Sie kannten sich aus der britischen Emigration.
1977 war Rudolf Bahro verhaftet und 1978 in der DDR zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Erich Fried hatte sich an einer Solidaritätsbewegung für ihn beteiligt und sich scharf von der DDR distanziert. Die Bahro- und die Biermann-Frage waren damals Themen einer unerbittlichen Fraktionierung zwischen Kommunisten, Nichtkommunisten und Antikommunisten in der westdeutschen Linken. Dass man danach wieder unbefangen miteinander reden könne, schien ausgeschlossen. Jetzt aber große Freundlichkeit.

Ich lernte an diesem Abend bei Jürgen Kuczynski eine imponierende Art von Souveränität kennen. Er wusste, wohin er gehörte und wem seine Solidarität galt, auch in den vielfältigen Fraktionskämpfen der damaligen Zeit. Zugleich war er Mitglied einer wissenschaftlichen und zivilisierten Ökumene, einer Linken im darüberhinausgehenden Sinn, für die das tagespolitische Hin und Her nur eine Abfolge von Episoden war. Nach diesem ersten Besuch in Marburg 1980 kam Jürgen Kuczynski immer wieder nach Marburg, zuletzt 1992.

Aus seinen Äußerungen bei diesen Besuchen ließen sich Wandlungen in der DDR und in seiner Haltung zu ihnen erfahren. 1983 führten wir in seinem Haus in Berlin-Weißensee ein Interview mit ihm, das ein Jahr später als Buch erschien.⁴
Gleich zu Anfang sagte er, in seiner Jugend sei er sicher gewesen, dass der Sozialismus zwangsläufig kommen werde. Heute wisse er, dass dies lediglich ein Glaube gewesen sei. An dessen Stelle sei nun lediglich Hoffnung getreten, aber keine wissenschaftlich errechenbare Unvermeidlichkeit mehr.
Wörtlich sagte er, dass er »bis zum Zweiten Weltkrieg, bis ich begriff, was ein Nuklearkrieg bedeutet, nicht optimistisch war, sondern sicher war, dass der Sozialismus siegen wird. Kein Mensch ist optimistisch in bezug darauf, ob sich das Fallgesetz durchsetzt, und ebensowenig war ich optimistisch in bezug darauf, dass der Sozialismus, trotz großer Schwierigkeiten und gelegentlich auch Niederlagen, siegen wird und für die Menschheit ein, wie es der Dichter Erich Weinert einmal ausdrückte, zweites Kapitel der Weltgeschichte beginnen wird (…) Heute habe ich nun Optimismus, d. h. nicht mehr die Gewissheit, dass ein Gesetz sich durchsetzt, sondern die ganz starke Hoffnung, dass die Menschheit in Frieden überleben und sich weiterentwickeln wird.«

gorbatschow

Gorbatschow

Ab 1985 setzte er große Erwartungen in die Politik Michail Gorbatschows. Wenn er in dieser Zeit an die Lahn kam, konnte es geschehen, dass er vorab darum bat, die deutsche Ausgabe einer so­wjetischen Zeitschrift zu besorgen, die wieder einmal nicht in der DDR ausgeliefert worden war.
Im Juni 1989 stellte er in Marburg sein Buch »Das Jahr 1903« vor – über das letzte Jahr vor seiner Geburt also, vor 1904. Das war originell und ließ schließen, dass er nebenbei zeigen wollte, wie ein Lebenskreis sich schloss. Ebenfalls 1989, gleichsam zu seinem 85. Geburtstag, veröffentlichte er das Buch »Alte Gelehrte« – eine Lobpreisung des Alters. Alles sah nach einem goldenen Lebensabend aus.

Es kam anders. Während er in Marburg war, Anfang Juni 1989, wurden die Proteste am Tiananmen-Platz in Beijing niedergeschlagen. Jürgen Kuczynski war kaum vom Radio wegzubekommen. In der Universität hielt er auch einen Vortrag über die wirtschaftliche Lage in der DDR. Ich sehe ihn noch auf dem Podium im Hörsaal sitzen und höre ihn sagen: »So kann es nicht weitergehen.«
Verblüfft stellte er fest, dass ihm nach Abschluss seines Buchs über das Jahr 1903 kein Thema für ein neues mehr einfiel. Das war ihm noch nie passiert. Der Stoff schien ihm ausgegangen. Das änderte sich innerhalb weniger Monate. Mit dem Ende der DDR hatte er mehr zu analysieren und zu schreiben, als ihm lieb war.

Nach 1989

Kuczynski_UrenkelIn seinem 1977 geschriebenen, aber erst 1983 veröffentlichten Buch »Dialog mit meinem Urenkel« hatte Jürgen Kuczynski 1977 zu wissen gemeint, was die DDR war: eine im Ganzen gute Sache mit 1.000 Fehlern. 1996, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte er einen Nachfolgeband. Sein Titel: »Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel«. Hier kam er zu dem Ergebnis, die DDR sei ein missglückter Staat mit 1.000 großen Leistungen im kleinen gewesen. Sich selbst warf er Blindheit vor.
In seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist er, so scheint es, nicht mehr fertig geworden. Man könnte auch sagen: Das war ja nicht sein wissenschaftliches Spezialgebiet, sondern der Kapitalismus, und dieses Thema beherrschte er. Hier hatte er einen Vorteil vor denjenigen seiner Kolleginnen und Kollegen, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren waren, irgendwann nach 1945 gleichsam in den Sozialismus der DDR hineingewachsen waren, nichts anderes kannten und denen alternativlos eine Welt zusammenbrach.
41 Jahre, von 1904 bis 1945, hatte er im Kapitalismus gelebt, 44 Jahre, von 1945 bis 1989, erst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR. Es folgten knapp acht Jahre, von 1989 bis 1997 in einem Landstrich, der in den Kapitalismus zurückgekehrt war. Da kannte er sich aus wie vor 1945, und er nahm eine Arbeit wieder auf, die er ja auch in der DDR nie aufgegeben hatte.
Im Institut für Wirtschaftsgeschichte hatte er den Kapitalismus bearbeitet, für die sozialistische Wirtschaft waren andere zuständig gewesen und hatten gute Arbeit geleistet, vor allem sein 36 Jahre jüngerer Kollege Jörg Roesler. Jürgen Kuczynski aber wurde wieder, was er am Anfang der 30er Jahre gewesen war: ein scharf analysierender Zeitgenosse des aktuellen Kapitalismus und ein politischer Journalist.
Er war sich nicht zu fein, auch für kleinste sozialistische Blätter, wie sie teils – arg geschrumpft – weiter bestanden, teils neu gegründet wurden, zu schreiben. Das kannte er von seiner Zeit bei der Roten Fahne.

Nur wenige Jahre hatte sein Publikum sich von ihm abgewandt. War man ihm bis 1989 für seine Kritik an Fehlentwicklungen in der DDR dankbar gewesen, so warfen ihm diejenigen, die sich bis dahin an ihm aufgerichtet oder auch nur hinter ihm versteckt hatten, nun vor, nicht unverblümt genug gewesen zu sein und in seiner Eigenschaft als – wie es hieß – »linientreuer Dissident« sogar auf diesem Umweg Loyalität erzeugt zu haben.
Das ging auch anderen so, Volker Braun, Stephan Hermlin und Christa Wolf.

Nach einiger Zeit legte sich das. Auf Jürgen Kuczynski wurde wieder gehört, weil er seinen zunächst so euphorischen ostdeutschen Landsleuten in der früheren DDR zeigen konnte, was das für eine Gesellschaft war, in die sie nun hineingekommen waren. Und auch im Westen steckte er vielen ein Licht auf.
Thema seines letzten Vortrags in Marburg 1992 war die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland. Für einige besonders groteske Beispiele von Deindustrialisierung und Abwicklung hatte er einen Ausruf parat, der in jenen Jahren bei ihm häufig wurde: »sagenhaft«.
Nach dem Vortrag sagte er zu mir: »Das ist eine interessante Zeit. Viel zu aufregend zum Sterben.«

Als er fünf Jahre später dann doch starb, lagen auf seinem Schreibtisch drei fertig geschriebene Artikel, von drei verschiedenen sozialistischen Blättern bestellt und ihnen zugesagt, einer davon für die junge Welt. Sie mussten nur noch in Umschläge gesteckt und versandt werden, und sie erschienen in den nächsten Tagen und Wochen.

Marguerite Kuczynski starb am 15. Januar 1998. Sie und Jürgen Kuczynski hatten den René-Kuczynski-Preis für hervorragende Arbeiten auf dem Gebiet der internationalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte gestiftet.
Seit 1996 wird er wieder verliehen. Über das eigene Leben des Namensgebers und der Stiftenden hinaus soll so dazu beigetragen werden, dass ihr Werk fortgesetzt wird. Am 2. September 2015 wurde in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung in Weißensee ein Jürgen-Kuczynski-Park eingeweiht.

Es tut sich also etwas. Einiges wird wohl noch hinzukommen. Seine Korrespondenz und sein Nachlass sind bislang unerschlossen.

Anmerkungen

1 Ben Macintyre: Agent Sonya. The True Story of WW2’s Most Extraordinary Spy. Penguin Books, Dublin 2020

2 https://www.spiegel.de/politik/thema-familie-a-0bf46de6-0002-0001-0000-000041784630

3 Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Köln 1977

4 Ein Gespräch mit Jürgen Kuczynski über Arbeiterklasse, Alltag, Geschichte, Kultur und vor allem über Krieg und Frieden. Marburg 1984

*: Das Werk habe ich, es steht interessantes zum 30jährigen Krieg und der Umgebung von Nördlingen drin.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Kritischer Konsum als ERSATZHANDLUNG für Klassenkämpfe

Eine Mahnung, nicht das Wesentliche für die Emanzipation zu vergessen
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1074234.kapitalismuskritik-klassenkampf-statt-konsumkritik.html
Auszüge:

Für Hubertus Zdebel stabilisiert auch ein kritisches Einkaufsverhalten den Kapitalismus. Überwunden wird er durch diese »rein private Veranstaltung« nicht.

Zum üblichen Weihnachtsritual gehören nicht nur die Heerscharen von Menschen, die mit prall gefüllten Einkaufstüten die Fußgängerzonen bevölkern, sondern ebenso die Kritik an diesem »Konsumrausch«.
Gegen das blinde Konsumieren führen nicht nur die Kirchen Werte wie Familie, Freundschaft, Gemeinsinn, Besinnlichkeit und Demut ins Feld. Auch Teile des linken Spektrums können beim Lukas-Evangelium 22, 35 mitnicken: »So oft ich euch ausgesandt habe ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr auch je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals.« Der Mangel wird in eine moralisch überlegene Position umgedeutet und Verzicht gepredigt.
Damit verwischen die Klassenunterschiede zugunsten einer angeblich allgemeinen »Kultur der Maßlosigkeit« in westlichen Gesellschaften.
Eine solche Kritik maßt sich an, für alle anderen das »gesunde Maß« festlegen zu können.

Exemplarisch für diese Verzichtsideologie steht der Ökonom Niko Paech, der völlig undifferenziert von einer »wattierten Nonstop-Rundumversorgung« spricht, an der die Gesellschaft kranke. Der Großteil der Bevölkerung kann damit nicht gemeint sein, denn viele sparen ein ganzes Jahr dafür, um sich an Weihnachten Geschenke leisten zu können.
Paech spricht von der sogenannten Bequemokratie, einem »ungebremst wuchernden Wohlstandsmodell« und sogar von einer »Konsum-Diktatur«. Damit rückt er in die Nähe von religiösen Moralaposteln, die den Menschen ihre Sündhaftigkeit einreden wollen.
Zu Paechs Verteidigung kann gesagt werden, dass er sich explizit an eine sogenannte Postwachstums-Avantgarde richtet, also jene Teile des Mittelstands, die sich nach Sinn und Erfüllung sehnen.
Für die Arbeiterklasse kann seine Argumentation kaum Teil der eigenen Lebensrealität sein.

Sie verkennt, dass die gesellschaftliche Anerkennung im Kapitalismus über Waren und Konsum vermittelt ist. Die Menschen sind im Kapitalismus nicht als Menschen anerkannt, sondern als Warenbesitzer. Eine Konsumkritik, die undifferenziert Verzicht fordert, greift die Menschen in ihren schwächsten Momenten an: in ihrer Bedürfnisstruktur, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben, sondern die ein Produkt gesellschaftlicher Prägung ist.
Sie fällt außerdem deutlich hinter Karl Marx zurück; nicht Ausbeutung und Mehrwertaneignung sind das Problem, sondern der private Konsum. Marx kritisiert das Privateigentum an Produktionsmitteln, durch das diejenigen, die nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft, gezwungen sind, diese als Ware zu verkaufen.
Entfremdung bedeutet bei Marx nicht »Konsumwahn«. Sie ergibt sich für ihn aus dem Verhältnis von Lohnarbeit zu Kapital, das die gesamte Gesellschaft durchdringt und dem Einzelnen nicht persönlich anzulasten ist.

Im Kapitalismus fungiert kritischer Konsum als Ersatzhandlung für systemsprengende Klassenkämpfe und wirkt stabilisierend. Für kritisches Konsumverhalten muss sich niemand in Gewerkschaften oder Parteien organisieren.
Es ist eine im Grunde rein private Veranstaltung, die Handlungsmacht in Phasen schwacher Klassenkämpfe suggeriert. Als Linke haben wir die Aufgabe, der Privatisierung des Protests entgegenzuwirken, Arbeitskämpfe zu unterstützen und für gesamtgesellschaftliche Verbesserungen zu streiten.
Zum Jutebeutel statt zur Plastiktüte zu greifen, ist klimatechnisch sicher nicht verkehrt. Der individuelle Verzicht darf jedoch nicht das Ziel der kollektiven Aneignung ersetzen.
Damit wäre der Status quo – ein Großteil der Menschheit ist vom Genuss des gesellschaftlichen Reichtums ausgeschlossen – nur bestätigt.
Konsumkritik wird selbst zum antiemanzipatorischen Problem, wenn sie die Rückkehr in die Dorfgemeinschaft predigt und die grundsätzliche Kapitalismuskritik aufgibt.
In diesem Sinne lässt sich an Weihnachten viel über den Kapitalismus, aber auch seine verkürzte Kritik lernen.

Hubertus Zdebel ist Mitglied der Linksfraktion im Bundestag.

Während der Weihnachtstage werde ich mich auf diesem Blog etwas zurückhalten.
Jochen

Frank-Walter Steinmeier: Wie der „Bock zum Gärtner“ wurde

vakanz13blog

Karl Marx, der geniale Vordenker der revolutionären Arbeiterbewegung, begeht am 5. Mai 2018 seinen 200. Geburtstag.
Am 30. August 2017 teilte die „Karl Marx 2018 – Ausstellungsgesellschaft mbH“ in Trier mit:

„Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Schirmherrschaft für die große Landesausstellung KARL MARX 1818 – 1883. LEBEN. WERK. ZEIT. übernommen, wie das Bundespräsidialamt mitteilte. …“ [1]

Herr Frank-Walter Steinmeier ist als Bundespräsident der Spitzenrepräsentant des bürgerlichen kapitalistischen Staates BRD. Frank-Walter Steinmeier ist gleichzeitig Mitglied der SPD und einer der führender Köpfe dieser Partei. Nun stellt sich nicht nur dem Marxisten die Frage, welches nennenswerte Interesse haben der kapitalistische deutsche Staat und die SPD an Karl Marx?

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Quellen des Reichtums – die Familie Albrecht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://diefreiheitsliebe.de/wirtschaft/quellen-des-reichtums-die-familie-albrecht/
Auszüge:

ALDI_logoAls die beiden „Springquellen des Reichtums“ bezeichneten Karl Marx und Friedrich Engels die menschliche Arbeit und die Natur. Und tatsächlich ist im modernen Kapitalismus die weltweite Ausbeutung der lebendigen Arbeitskraft und der Boden- und Naturschätze die Grundlage für den Reichtum unserer Gesellschaft.
Aber der Reichtum ist keineswegs gleich verteilt. Die Länder des globalen Südens sind bitterarm, obwohl dort die reichsten Naturschätze gehoben werden und dort die Menschen am härtesten arbeiten müssen. Doch die Erträge fließen in die reichen Länder des Nordens, in die USA und nach Europa. Wo ist also der Reichtum zu finden?

pexels-photo-259027.jpegHeute konzentriert sich der Reichtum dieser Welt in den Händen einer kleinen Gruppe von Menschen. Es sind die Oligarchen, die Multimilliardäre, bei denen alles Geld zusammenfließt und immer mehr anwächst. In Deutschland befindet sich der Reichtum zu einem großen Teil im Besitz von Familiendynastien, zum Beispiel den Familien Quandt, Oetker und Albrecht.

In Essen ist der Name Albrecht ein Begriff. Wo die „Hauptstadt“ zwar nicht politisch, aber landschaftlich tatsächlich grün ist, im beschaulichen Stadtteil Schuir, ist die Familie Albrecht zu Hause. Aber die Albrechts sind keine normale Durchschnittsfamilie, sie zählen zu den reichsten Menschen der ganzen Welt! Die Familie Theo Albrecht jr. („Aldi Nord“) besitzt mehr als 17 Milliarden Euro.
Wie kam die Familie Albrecht zu ihrem Reichtum? Durch harte Arbeit! So sagen sie es selbst – und so stimmt es auch. Allerdings nicht durch die eigene Arbeit, sondern durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft, wuchs und wächst das Vermögen des Clans.
Im Kapitalismus gilt nun mal das Gesetz: Je größer die Ausbeutung, umso größer der Profit.

Reichtum verpflichtet

coins-currency-investment-insurance-128867.jpegIn den Aldi-Märkten herrscht für die Mitarbeiter ein brutaler Leistungsdruck. Das Management sorgt dafür, dass die Angestellten die höchstmögliche Leistung zum geringstmöglichen Gehalt erbringen. Wehren sich die Menschen und gründen gar einen Betriebsrat, werden sie durch die Geschäftsleitung massiv bekämpft.
In der globalen Lieferkette sind die Discounter das, was die Haie in der Nahrungskette sind. Vor allem die Erzeuger, die Speditionen und Zwischenhändler sind einem extrem hohen Arbeitsdruck ausgesetzt, um die Bedingungen der Supermärkte zu erfüllen. Tariflöhne, Gewerkschaften und Betriebsräte sind hier nur Störfaktoren!
Diese Arbeitsbedingungen machen viele Menschen krank – und der Reichtum der Milliardenerben wächst und wächst. In anderen Ländern sorgt der gigantische Reichtum der Familie Albrecht für menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und die Zerstörung der Umwelt.
Warum sind die Waren im Discount-Laden so billig? Im System Aldi bestimmt der Einkäufer den Preis, und um die Preise zu drücken, werden die Rechte der Arbeitenden und der Schutz der Umwelt ignoriert.
In den Sweat-Shops von Bangladesch und China zum Beispiel, in denen die Textilien, Spielzeugartikel und Mobiltelefone für die Aldi-Märkte produziert werden, herrscht extreme Ausbeutung. Die jungen Frauen in diesen Fabriken müssen durch diese Arbeitsbedingungen ihre Gesundheit ruinieren, denn für Umwelt- und Arbeitsschutz oder Menschenrechte gibt es da keinen Platz.
Der Reichtum der Familie Albrecht aus dem romantischen Essener Süden wird mit jedem Tag größer, doch das Leiden derjenigen, die ihn schaffen, der Lohnsklavinnen in Bangladesch und China, wird dadurch immer unerträglicher! Reichtum verpflichtet!

So steht es schon im Grundgesetz. Nämlich zu noch mehr Reichtum! Aus Geld muss immer mehr Geld werden. Das ist die goldene Regel des Kapitalismus.
Deshalb legen die Superreichen ihr Geld auch nicht unters Kopfkissen oder auf ihr Konto bei der örtlichen Sparkasse. Um sicherzugehen, dass ihr Reichtum immer weiter anwächst, wird das Geld gewinnbringend investiert.

Die Essener Familie Theo Albrecht jr. investiert gerne in Immobilien. Also eine Eigentumswohnung? Aber die haben doch viele.
Nun, nicht wirklich eine Eigentumswohnung. Die Reichen streuen ihr Geld bei so genannten „institutionellen Investoren“, also großen Investmentfonds und Versicherungsunternehmen. Wo genau ihr Geld überall ist, das wissen sie wohl selbst nicht so genau.
Zum Beispiel sind über 72 Prozent der Aktien von Vonovia, Deutschlands führendem Immobilienunternehmen mit400.000 Wohnungen in ganz Deutschland und über 12.000 Wohnungen in Essen, im so genannten „Streubesitz“. Das heißt im Börsianerdeutsch: Die Aktien sind breit „gestreut“ und ihre Inhaber nicht im Einzelnen bekannt.
Gut möglich, dass Sie in einer dieser Wohnungen leben. Und gut möglich, dass Sie den Reichtum der Albrechts durch ihre monatliche Miete mehren.

Auch international sind diese „Investoren“ aktiv. Das amerikanische Finanzunternehmen BlackRock hält mehr als acht Prozent der Aktien der Wohnungsgesellschaft Vonovia. Damit übt der größte Finanzkonzern der Welt enormen Einfluss auf die Entwicklung des Wohnungsmarkts und damit auch der Mieten in Essen aus. Ziel des Konzerns ist natürlich, das Geld seiner Anleger zu vermehren. Sozialer Wohnungsbau kann hier nur stören!
Unternehmen wie BlackRock verwalten das Geld der Reichen und Superreichen. In der Sprache der Vermögensverwalter heißen solche Leute „High Net Worth Individuals“ beziehungsweise „Ultra High Net Worth Individuals“. Die letzteren sind Personen mit einem Nettovermögen von mindestens 30 Millionen US-Dollar.
In der Stadt Essen soll es nach Angaben von „Wealth Insight“ um die 200 dieser Spezies geben. Sie sind also mitten unter uns!

Aber ist die Stadt Essen nicht mit 3,6 Milliarden Euro verschuldet? Fragt sich nur: bei wem? Lars-Martin Klieve, der letzte Kämmerer der Stadt, sagte dazu in einem Interview mit dem Bund der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen e.V: „Bildlich gesprochen gehört die Stadt Essen nicht mehr ihren Bürgerinnen und Bürgern, sondern den Banken.“
Aber wem gehören die Banken? Ist es im Grunde nicht so, dass die Stadt Essen sich bei den Millionären und Milliardären Geld ausleiht und dafür die Bürgerinnen und Bürger in Haftung nimmt? Denn wir alle zahlen diese Kredite ab, sei es durch höhere Ticketpreise bei der EVAG oder durch den Abbau von sozialen Dienstleistungen wie dem Schließen von Bürgerämtern und Bibliotheken.
Wäre es nicht sinnvoller, den vorhandenen Reichtum, wie den der Essener Familie Albrecht, an den Aufgaben des Gemeinwesens zu beteiligen?

Essen – Stadt der Konzerne

Die Stadt Essen ist auch die Stadt der Konzerne, bezeichnet sich sogar selbst als „Konzern“. Die beiden Energiegiganten E.ON und RWE haben hier ihren Hauptsitz und der Rüstungskonzern Thyssen-Krupp seinen Prachtbunker. Auch unsere lieben Nachbarn, die Albrechts aus dem Süden, unterhalten in Essen ihre Konzernzentrale.
Alle vier Konzerne zusammen brachten es im Jahre 2015 auf einen Jahresumsatz von 237,5 Milliarden Euro. Wo ist eigentlich das ganze Geld geblieben?
Artikel eins des kapitalistischen Grundgesetzes lautet: Das Eigentum des Kapitalisten ist unantastbar. Es zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Tatsachlich ist das Eigentum das höchste Rechtsgut unserer Gesellschaft. Gemessen wird das Eigentum in Geld.
Wer sind also die Eigentümer der vier Essener Konzerne? Die nette Familie Albrecht haben wir bereits kennengelernt. Wie sind die Eigentumsverhältnisse beim Energiekonzern E.ON? 75 Prozent der Aktien des Energieriesen sind in der Hand von Investoren, und die Finanzhaie von BlackRock sind dabei mit fünf Prozent Aktienanteil der größte Anteilseigner!
Hier schließt sich der Kreis: Die Verwalter der großen Privatvermögen beteiligen sich am Eigentum der Konzerne und vermehren auf diesem Wege das Vermögen der Geldkaste. Durch künstlich hochgetriebene Energiekosten muss jeder Haushalt in Essen die Rendite der Energiekonzerne garantieren!

Auch bei RWE waren Ende 2015 rund 86 Prozent der Aktien im Eigentum institutioneller Investoren. BlackRock hält einen Aktienanteil von mehr als drei Prozent.
Beim neugegründeten RWE-Sprössling Innogy beteiligt sich BlackRock sogar mit knapp fünf Prozent am Eigentum des Unternehmens.
Ganz im Gegensatz zur Kommune Essen gehen freilich die Kunden von BlackRock nicht leer aus. Wo die Stadt in die Röhre schaut, klingeln bei den Investoren die Kassen. Durch Entlassungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird die Arbeitsintensität erhöht und somit eine hohe Profitrate gewährleistet. Die mafiösen Kartellstrukturen in der Energiewirtschaft erlauben den Monopolkonzernen, die Strompreise künstlich hochzutreiben. Und wieder zahlen die Essener Bürgerinnen und Bürger die Zeche! ThyssenKrupp ist heute im Grunde kein Stahlkonzern mehr, sondern ein Finanzkonzern. Über die Hälfte der Anteile am Konzern ist in den Händen von institutionellen Anlegern. Auch unsere Freunde von BlackRock sind mit über drei Prozent am Unternehmen beteiligt.
Mit mehr als 15 Prozent Aktienanteil übt der in Schweden gegründete Hedgefonds Cevian Capital massiven Einfluss auf die Geschäftspolitik aus. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als „aktivistischer Investor“ und verfügt über ein Investitionsvolumen von 14 Milliarden Euro. Ziel der schwedischen Heuschrecke ist es, ThyssenKrupp „wettbewerbsfähiger“ zu machen, um auf diesem Wege den Wert der Aktie zu steigern. Um dieses Ziel zu erreichen, werden zunächst die Kosten gesenkt.
So hat der Konzern im Geschäftsjahr 2015/16 rund eine Milliarde Euro eingespart. Kosten senkt man freilich zuerst durch die Entlassung von Menschen in die Arbeitslosigkeit und durch höheren Leistungsdruck auf die eingeschüchterte Restbelegschaft. Die hohe Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet hängt zusammen mit der Strategie des ehemaligen Essener Familienkonzerns, den obszönen Reichtum der Superreichen noch weiter in die Höhe zu treiben.

Und die Politik?

Aber warum berichtet die größte Essener Zeitung, die WAZ, nicht kritisch über die skandalösen Vermögensverhältnisse in der Stadt? So könnte doch die Bevölkerung über die Zustände aufgeklärt werden. Vielleicht hängt dieses Verschweigen damit zusammen, dass die WAZ zum Funke-Zeitungskonzern gehört. Und der ist zu zwei Dritteln im Besitz der Grotkamps, einer steinreichen Essener Milliardärsfamilie.
Petra Grotkamp, die Mehrheitseignerin des Konzerns, kam allerdings selbst in die Schlagzeilen, als Kritik an Massenentlassungen und Redaktionszusammenlegungen laut wurde.

Die „politische Dienstklasse“ im Rat der Stadt Essen hat sich offenbar mit den Verhältnissen abgefunden. Die wahren Ursachen der Verschuldung der Kommune oder gar die Verursacher werden nicht benannt.
Stattdessen spielt die große Koalition aus SPD und CDU lieber Flüchtlinge gegen Langzeiterwerbslose aus. Damit lenken die demokratisch gewählten Mandatsträgerinnen und Mandatsträger zwar von den wahren Gründen für die gesellschaftlichen Missverhältnisse ab, aber sie fördern auch eine feindliche Stimmung gegen hilfebedürftige Menschen. Freilich sind die etablierten Parteien schon lange derart verwoben mit dem System der Reichtumsvermehrung für ihre Auftraggeber aus der Finanzindustrie, dass man durch politische Entscheidungen aus dieser Richtung keine Veränderung erwarten kann. Aber was bleibt dann noch übrig?

Wenn die Eigentumsverhältnisse so sind, dass immer weniger Reiche fast alles besitzen und immer mehr Menschen fast gar nichts, und das nicht nur in Essen, sondern weltweit, dann sind diese Verhältnisse falsch und müssen verändert werden!

Mit welchem Recht hat die Essener Familie Albrecht 17 Milliarden Euro Vermögen, während gleichzeitig viele Kinder in Essen in Armut leben müssen?
Die Partei DIE LINKE stellt dieses Unrecht in Frage und führt ihren politischen Kampf mit dem Ziel, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu ermöglichen.
Eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht für den Wert einer Aktie arbeiten, sondern um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Eine Gesellschaft, in der nicht das Eigentum des Kapitalisten, sondern die Würde des Menschen unantastbar ist.

Ein Artikel von Patrick München, zuerst erschienen in der Zeitung E:MO

Dazu auch sehr informativ: https://www.forbes.com/profile/beate-heister-karl-albrecht-jr/?list=billionaires
und https://www.forbes.com/profile/theo-albrecht-jr/?list=billionaires

Jochen

Griechenlandkrise: Gefangen in der Eurozone

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Mal ausnahmsweise ein nicht tendenziöser Artikel auf SPIEGEL Online von Wolfgang Streeck:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-gefangen-in-der-eurozone-a-1042521.html
Auszüge:

Es gibt noch Fortschritt in Europa. Als der damalige griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou 2011 ein Referendum über die Austeritätswünsche seiner europäischen Kollegen abhalten wollte, wurde er von diesen kurzerhand abgesetzt.Als Nachfolger entsandten Brüssel und Berlin einen gewissen Loukas Papademos, Vertrauensmann der internationalen Finanzindustrie, der Anfang der 2000er Jahre als griechischer Zentralbankchef mithalf, sein Land mit Hilfe von Goldman Sachs Euro-würdig zu rechnen.
So etwas ging diesmal nicht – dank eben jener Restbestände nationaler Demokratie, die die deutschen Europhilen zugunsten einer zukünftigen „europäischen Demokratie“ suspendieren wollen.

Niemand kann sagen, wie es nach dem überwältigenden „Nein“ des griechischen Volkes im Einzelnen weitergehen wird. Dazu ist die Lage zu turbulent: Zu vieles ist gleichzeitig in Bewegung, die Kausalzusammenhänge sind aufgeweicht und unerprobt, Vorhersagen sind nur noch Ratespiele.
Was man immerhin weiß ist, dass die ganze unsägliche Einschüchterungskampagne nichts genutzt hat, nicht einmal der laufend erteilte gute Ja-Rat der deutschen Einheitspresse, die so viel besser wusste und weiß, was gut ist für Griechenland, als die gewählte griechische Regierung.
Und gezeigt hat sich auch, dass man in Südeuropa mit Merkel– und Schäuble-Plakaten nicht nur Wahlen gewinnen kann, sondern auch Volksabstimmungen.

Die selbsternannten „Europäer“ im sicheren Norden haben die Verzweiflung der Griechen nach dem Scheitern des frivolen Experiments ihrer Auf- und Übernahme in die Währungsunion ebenso unterschätzt wie ihre Wut darüber, im eigenen Land zu Objekten von Brüsseler Geheimverhandlungen gemacht zu werden.
Ob freilich die Brüsseler Profis aus ihrer Niederlage gegen die Athener Amateure etwas lernen werden, darf man bezweifeln. Eher werden sie versuchen, die versäumte vorbeugende Absetzung der griechischen Regierung doch noch nachzuholen.

Es wird richtig teuer

Auf kurze Sicht allerdings hat sich die Hoffnung in den vereinigten Hauptstädten zerschlagen, nach dem Referendum mit den langjährig bewährten griechischen Repräsentanten der „europäischen Idee“, wie Samaras, Venizelos, Papandreou III, Karamanlis II und Konsorten, wieder business as usual betreiben zu können.
Das heißt auf Deutsch: Es wird richtig teuer. Was den an den innereuropäischen Goldstandard gefesselten Griechen fünf Jahre lang geboten wurde, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel – und dass der Weg zur Erhaltung oder gar Erhöhung ihres Wohlstands über seinen auf unabsehbare Zeit weitergehenden Abbau führen soll, wollten die neoklassisch uneingeweihten Griechen partout nicht kapieren.

Da der deutschen Presse zufolge Leuten wie Tsipras alles zuzutrauen ist, einschließlich eines finanziellen Selbstmordattentats in Gestalt einer einseitig erklärten Insolvenz, werden Kröten im Akkord zu schlucken und Schulden ohne Ende zu erlassen sein – vielleicht als Zahlungsaufschub ad calendas graecas.
Und im Vergleich zu dem Wachstums- und Stabilitätsprogramm, das nach der Niederlage im Nervenkrieg gegen Syriza als Reparation fällig werden wird, könnten sich die wenigen, ohnehin fiktiven Juncker-Milliarden sehr schnell als peanuts erweisen.

Syriza, noch immer die einzige nicht von der landesüblichen politischen Korruption befallene griechische Partei, wird nun mehr wollen und wollen müssen als den zum Zusammenhalt einer Brüssel-hörigen Klientelismus-Pyramide erforderlichen, von Halbjahr zu Halbjahr neu zu verhandelnden Minimalzuschuss.
Man muss hoffen, dass sie sich davon nicht abbringen lässt und damit das Gerede von der Währungsunion als Ausgeburt einer „europäischen Idee“ mitsamt „europäischer Solidarität“ als das erkennbar macht, was es ist: Gerede.
Bleibt Syriza bei ihren Forderungen, dann könnte auf beiden Seiten ein fruchtbarer Lernprozess beginnen: in „Europa“, insbesondere in Deutschland, könnte die Einsicht wachsen, dass eine Hartwährungsunion mit demokratisch organisierten Weichwährungsgesellschaften nur als eben jene auf Dauer gestellte Transferunion möglich ist, vor der uns die neoliberalen Euro-Gegner immer gewarnt haben; und in Griechenland würde klar werden, dass das, was in Brüssel und Berlin zu holen ist, auf Jahrzehnte – und das heißt praktisch: für immer – weit hinter dem zurückbleiben wird, was auch nur für die Restaurierung des Wohlstandsniveaus von vor der Krise gebraucht würde.

„Griechische Tragödie“

Überhaupt stehen der durch das Referendum im Amt gefestigten Syriza-Regierung schmerzliche Erfahrungen bevor. Die Brüsseler Profimannschaft wird wissen, wie sie sicherstellt, dass jeder, der wie Syriza in der EWU bleiben will, nach den dort geltenden neokapitalistischen Regeln zu spielen hat. Die werden nicht zuletzt von Regierungen bestimmt, die Angst vor ihren Wählern haben, vor allem vor denen, die sich zurzeit überall hinter aufsteigenden rechten Souveränitätsparteien neu organisieren.
„Solidarität“ über nationale Grenzen hinweg von Gesellschaften zu erwarten, die sich immer schwerer damit tun, Solidarität innerhalb ihrer Grenzen zu praktizieren – von fiskalisch konsolidierenden Hochleistungsgesellschaften, geprägt von einem sich ständig verschärfenden Rattenrennen um Geld und „Karriere“ und mit wachsenden, vom Dauerwettbewerb aussortierten Unterschichten – ist, mit Talleyrand, schlimmer als eine Sünde: es ist ein Fehler.
Und dasselbe gilt für die Vorstellung, so es diese denn tatsächlich gibt, dass Sozialismus in Griechenland auf eine umverteilende Zuteilung des Wohlstands der westeuropäischen Mittelschicht mittels nicht rückzahlbarer kapitalistischer Kredite gegründet werden könnte – zumal dieser Wohlstand dort, wo er einmal zuhause war, zusehends abbröckelt.

Auch für Deutschland und seine Regierung wird es eng. Wenn die Griechen ihre neu gemischten Karten klug spielen, werden sich die Kosten der Währungsunion für die deutschen Steuerzahler endgültig nicht mehr verstecken lassen. Dass diese weiterhin bereit sein werden, die Marktzugangsgebühren für die deutsche Exportindustrie im Euroland und den Preis für den aberwitzig niedrigen Außenwert der in Deutschland geltenden Währung zu entrichten, ist alles andere als sicher; nicht jeder arbeitet schließlich beim Daimler.
Zufälligerweise erschien am Tag des griechischen Referendums erstmals eine potenziell konkurrenzfähige rechtspopulistische Partei am deutschen innenpolitischen Horizont. Der Zeitpunkt, an dem die Koalition ihr und den Bürgern wird vorrechnen müssen, was ihre „europäische Idee“ bisher gekostet hat und weiter kosten wird, könnte zur Sternstunde einer Partei werden, die die CDU/CSU auf das Stimmenniveau der SPD reduzieren könnte. „Populismus“ als politische Perspektive, die die Welt in selbstbezügliche Eliten und von ihnen hinter das Licht geführte Massen einteilt, hat in der Europäischen Union beste Aussichten, den Wählern als plausibel zu erscheinen.

In der deutschen Innenpolitik haben in den letzten Monaten Linke und Grüne Merkel und Rechte Tsipras beschuldigt, es an „europäischem Geist“ fehlen zu lassen. Dabei ist wohl nicht zufällig aus dem Blick geraten, dass das eigentliche Problem die Konstruktion der Währungsunion ist und bleiben wird, die nach dem Vorbild des Goldstandards Griechenland – und den Ländern des Mittelmeerraums insgesamt – die Möglichkeit einer flankierenden Unterstützung wirtschaftlicher Anpassung mittels Abwertung ihrer Währung verwehrt.
Vor dem als Währungsunion errichteten „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) und den in ihm konstituierten Interessenlagen muss sich jede „Idee“ immer wieder „blamieren“ (Karl Marx). Auch Gabriel oder Steinmeier hätten als Bundeskanzler nicht anders gehandelt und handeln können als Merkel oder Schäuble, so sehr sie sich bis kurz vor dem griechischen Referendum aus Rücksicht auf eine von Habermas’scher Euro-Rhetorik wirtschaftsfern konfirmierte grün-rote Partialklientel mit entsprechenden öffentlichen Bekenntnissen zurückgehalten haben.
Ähnliches gilt, bei aller Exzentrik, für Tsipras und Varoufakis, die ja (noch?) nicht zum traditionellen von „Europa“ ausgehaltenen klientelistischen Establishment ihres Landes gehören. Insoweit ist es durchaus kein Zeichen mangelnder literarischer Bildung, wenn ständig von einer „griechischen Tragödie“ die Rede ist.

Tiefe, dauerhafte Spaltung Europas

Dass Syriza die Abstimmung gewonnen hat, sorgt vielleicht dafür, dass die strukturellen Probleme der Währungsunion nicht erneut durch „europäische“ Rhetorik verkleistert werden. Solange es die Währungsunion gibt, wird selbst die Erhaltung des gegenwärtigen Abstands zwischen den reichen und armen Mitgliedstaaten, von der erhofften wirtschaftlichen Konvergenz zu schweigen, nur durch wie immer deklarierte Ausgleichs-, Unterstützungs-, Hilfs- und sonstige Zahlungen überhaupt vorstellbar sein.
Gewährt werden derartige Mittel in der realen Welt aber nur gegen Kontrolle, also verbunden mit tiefen Eingriffen von oben, in die staatliche Souveränität der Empfängerländer.
Dabei ist abzusehen, dass diese die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel als unzulänglich und das im Gegenzug verlangte „Durchregieren“ des Nordens in ihre inneren Angelegenheiten als exzessiv empfinden und die Geberländer umgekehrt sich zugleich materiell überfordert und politisch übervorteilt fühlen werden.
Entlang dieser Linie wird sich die Innenpolitik der Währungsunion stabil nationalistisch polarisieren, unabhängig davon, ob und wie die griechischen Schulden in den nächsten Wochen gestrichen oder umverteilt werden – nicht nur, weil dann unvermeidlich auch die italienischen und spanischen Schulden zur Diskussion stehen werden (in Spanien nach einem dann sicheren Wahlsieg von Podemos), sondern vor allem angesichts der zu erwartenden weiteren Polarisierung der Einkommensverteilung innerhalb der Währungsunion.*)

Welche Ereignisse immer sich in den kommenden Wochen unvorhersehbar überschlagen werden, unter der turbulenten tagespolitischen Oberfläche lässt sich nach anderthalb Jahrzehnten Währungsunion schon jetzt ein ausgedehntes Trümmerfeld besichtigen, dessen Ausmaße es mit den Ruinen des mythischen Atlantis ohne weiteres aufnehmen können.

Was man dort sieht ist, erstens, eine tiefe und dauerhafte Spaltung Europas, außenpolitisch zwischen Nord und Süd und Mitgliedern und Nichtmitgliedern von Währungsunion und EU, und nach innen zwischen den staatstragenden, von ihren Wählern zunehmend verlassenen Altparteien und den neuen, rechten wie linken, aber meist rechten „Populisten“.

Zweitens, eine auf Jahrzehnte felsenfeste Blockade des vielbeschworenen Weges zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“: keine europäische Regierung wird es auf absehbare Zeit wagen, ihren Wählern eine weitere Abtretung von Souveränität an die Herren Juncker und Schulz zu empfehlen.

Und drittens zu besichtigen ist ein Scherbenhaufen der deutschen Nachkriegspolitik, die ja bekanntlich darin bestand, jeden Anschein zu vermeiden, dass Deutschland auch nur im Traum daran dächte, eine Hegemonialstellung in Europa zu beanspruchen.
Deutschland, das die Währungsunion nicht gewollt hat, gilt als deren Folge heute als Zwingherr und Zuchtmeister der europäischen Völker.
Die nicht zuletzt aus den USA herüberkommende Moralisierung der Makroökonomie – gerne aufgegriffen in den Kanzlerbezichtigungen der deutschen Linken – hat die öffentliche Meinung in allen europäischen Ländern, auf die es ankommt, davon überzeugt, dass die Krise in Griechenland und anderswo nicht Teil der globalen Krise des ablaufenden Finanzkapitalismus ist, sondern auf den Unverstand oder den Sadismus, die schwäbische Hausfrauenmentalität oder den imperialistischen Herrschaftsanspruch der deutschen und ihrer Regierung, und am besten auf alles auf einmal, zurückgeht.
So weit hat es die deutsche Politik mit ihrer Sakralisierung der Währungsunion als Emanation der „europäischen Idee“ gebracht.

Vielleicht ist ja die Krise um Griechenland und Europa tatsächlich eine, für die es keine Lösung gibt – nicht einmal mehr in Form eines Rückbaus der unseligen Währungsunion.
Vielleicht ist das, was wir heute erleben, nichts anderes als die europäische Vorschau auf eine bevorstehende globale Schulden- und Wachstumskrise – von Detroit über Puerto Rico, wo unter der Aufsicht der Vereinigten Staaten gerade „Austerität“ durchgesetzt wird, über Brasilien und Russland bis hin zu China mit seinem gigantischen, durch eine tiefe Rezession weiter vergrößerten Schuldenberg.
Schulden überall, und möglicherweise längst jenseits des noch verbliebenen, schrumpfenden Wachstumspotentials.
Vielleicht ist Griechenland nur einer der immer zahlreicher werdenden Plätze am Rande des Imperiums, wo das Kartenhaus der leeren, in immer neuen „Finanzinnovationen“ verbrieften Versprechungen, auf das unser Wohlstand gebaut ist, zusammenzubrechen beginnt?

Wolfgang Streeck, geboren 1946, ist Soziologe und emeritierter Direktor des Max-Plank-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. 2013 erschien bei Suhrkamp sein Buch „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“.

Dazu auch nochmals der Hinweis auf Gysis Rede von 1998: https://youtu.be/x1ef0BBtuYA
*) Anzumerken ist, dass sich das ganze durch Einführung von TTIP und TISA noch weiter beschleunigen wird.

Jochen

So schottet sich die deutsche Justiz gegen Norbert Blüms öffentliche Kritik ab und errichtet eine Mauer des Schweigens

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auch wenn ich nicht unbedingt ein Freund von N.Blüm bin, so denke ich, braucht er auch ein Forum, um sich gegen Diffamierungen seitens eines Bundesrichters zu wehren. Albrecht Müller macht hier darauf aufmerksam: http://www.nachdenkseiten.de/?p=25956
Auszüge:

So schottet sich die „Justiz“ gegen öffentliche Kritik ab und errichtet mit Hilfe von Medien eine Mauer des Schweigens

Verantwortlich: Albrecht Müller

N_Bluem_kDavon berichtet Norbert Blüm, Bundesminister a. D. und Autor des im Westend Verlag erschienenen Buches über die aus seiner Sicht herrschende Willkür an deutschen Gerichten. Was ist geschehen: 1. Sein Buch „Einspruch – Wider die Willkür an deutschen Gerichten“ wurde vom Bundesrichter Professor Dr. Thomas Fischer in der „Zeit“ vehement rezensiert.
2. Norbert Blüm bot der „Zeit“ eine Entgegnung an. Diese wurde nicht aufgenommen.
3. Blüm bot dem Bundesrichter einen öffentlichen Disput an. Dieses Angebot wurde zunächst angenommen und dann verweigert.
4. Daraufhin versuchte Norbert Blüm, seine Entgegnung beim Berliner Tagesspiegel, bei der Frankfurter Zeitung am Sonntag (FAS) und bei der TAZ unterzubringen. Auch diese lehnten ab. Das ist angesichts der Dringlichkeit des Themas höchst erstaunlich. Normalerweise suchen Blätter interessante Texte.
Wir dokumentieren die Entgegnung Norbert Blüms.

Nachspiel

Bemerkungen zu „Einspruch: Wider die Willkür an deutschen Gerichten“ von Norbert Blüm

Noch nie habe ich so viele Briefe erhalten wie nach dem Erscheinen meines Buches „Einspruch: Wider die Willkür an deutschen Gerichten“. Es sind viele hunderte von Briefen. Ich habe sie nicht gezählt, aber alle gelesen. Die meisten Briefe sind verzweifelte Notschreie oder letzte Hilferufe. Wenn nur ein Fünftel der Klagen, die mich erreichen stimmt, dann ist „Land unter“ im Rechtsstaat Deutschland.

Ich fühle mich so hilflos wie die Briefeschreiber. So muss es in einem Rettungsboot zugehen, das überfüllt ist und keine weiteren Schiffbrüchigen aufnehmen kann.

Wer es mit dem „System“ verdorben hat, vom Pech betroffen, einen Rechtsanwalt an seiner Seite hat, der nichts kann oder nichts will, oder es gar mit einem Richter zu tun bekommt, der seine Ressentiments nicht zu bändigen vermag und zudem auch noch faul ist, der kann alle Hoffnung fahren lassen.

Justiz: die Prinzessin auf der Erbse

Von keinem Zweifel an sich selbst erfasst, verbarrikadiert sich das Justizsystem hinter seiner Unabhängigkeit. Gott weiß alles. Mancher Richter weiß alles besser.

„Das Buch strotzt voller Unwahrheiten“ schreit einer in dem Saal, in dem ich gerade aus dem Buch vorgelesen habe. Er ist jedoch nicht in der Lage, kulanterweise wenigstens zwei oder drei Fälle aus der angeblich strotzenden Menge der Unwahrheiten zu nennen.
Ein anderer behauptet kühn, das Buch sei ohne jede Recherche geschrieben. Woher weiß er das? Urteil ohne Beweisaufnahme. Viele Jahre habe ich an dem Buch gearbeitet. Behauptung ist schon Begründung. Wer kümmert sich schon um Wahrheit?

„Die Wahrheit interessiert mich nicht“ hatte ein Richter behauptet, den das Verfassungsgericht rügte, allerdings erst nachdem zwei Instanzen ihn zuvor ungeschoren davonkommen ließen. Was würde passieren, wenn ein Arzt feststellte: „Die Diagnose interessiert mich nicht“? Wahrscheinlich würde er die Approbation verlieren. Können Richter sich alles leisten?

An drei Orten verließen Richter mit beträchtlichem akustischen Aufwand den Saal, in dem ich das Buch vorgestellt hatte, bereits bevor die Diskussion begonnen hatte. Zweifel an ihrer Amtsführung sind offenbar nicht zumutbar. Die hohen Herren sind das nicht gewohnt.

Über alles kann in der offenen Gesellschaft diskutiert werden, nur Richter und ihre Urteile sind gleichsam tabu. Richterschelte ist sogar gefährlich. Das Strafrecht winkt.
Die Prinzessin auf der Erbse war ein Dickhäuter im Vergleich zur richterlichen Empfindlichkeit.

Ich soll mich doch in Afrika, Asien, Lateinamerika oder sonstwo in der Dritten Welt umsehen, um zu erkennen, wie gut der deutsche Rechtsstaat sei. Das bekomme ich oft entgegengehalten. Da werden Erinnerungen wieder wach an alte Zeiten des Kalten Krieges, in denen Kritikern empfohlen wurde: „Geht doch rüber, wenn es euch hier nicht gefällt!“.

Es beruhigt mich auch der Trost nicht, unser Recht sei „in Ordnung“, wenn seine Anwender unordentlich sind. Die Praxis entscheidet schließlich über den Zustand der Gerechtigkeit. Es ist auch keine Beruhigung für mich, wenn manche Richter und Anwälte mir nach der Veranstaltung streng vertraulich zuflüstern: Sie haben Recht, es ist etwas faul im Rechtsstaat Deutschland.

Warum aber meldet sich keiner zu Wort?

Was mich allerdings überrascht (und bestätigt), ist die ungehemmte Aggression, mit der Spitzenrepräsentanten der Justiz auf das Buch reagieren.
„Der Fisch stinkt vom Kopf“ behauptet der Volksmund, aus dem bekanntlich generationenerprobte Weisheit spricht.

Richter Fischer: von Gottes Gnaden?

Professor Dr. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, schreibt in der ZEIT, deren Starjurist er offensichtlich ist, eine fulminante Kritik meines Buches.
Man muss es zu schätzen wissen, dass ein so vielbeschäftigter Mann wie Richter Fischer, der mit 600 Revisionen im Jahr – wie er voll Selbstmitleid klagte – so überlastet ist, dass er „weder Zeit noch Lust hat auch noch in den Landgerichten nachzuschauen, ob dort vielleicht eine Spur übersehen wurde“, dennoch Zeit findet, Blüm in der ZEIT seine Zeilen zu gönnen, um nebenbei seinen Sachverstand glänzen zu lassen.

Aber ausgerechnet „Zur Sache“ bietet Richter Fischer zwischen wenig und nichts. Ad personam ist offensichtlich sein Hobby. Er konzentriert sich auf Personalfeststellungen. Im Fischerschen Panoptikum bin ich „eine liebenswerte Märchenfigur“ und mit der Fähigkeit ausgestattet, „frühkindliche Ahnungslosigkeit zu simulieren“.
Es gelingt Blüm nach Fischer, „den Geruch von Altöl und Waschpaste aus den Werkshallen seiner Jugend zu verbreiten“. Als „Robin Blüm von Locksley“ verteidigt er „der Oma ihr klein Häuschen, als habe er es mit eigenen Händen errichtet“ stellt Fischer fest.

Nach dieser habituellen, olfaktorischen und historischen Einordnung wendet sich Richter Fischer spekulativ meinen Einkommensverhältnissen zu und behauptet kühn, „vom Wert des Blümschen Einkommens können fünf Rechtspfleger und drei Sozialrichter leben“. Er fügt einfühlsam hinzu „das Richtergehalt sei die Belohnung dafür, dass sie Jahrzehnte lang versucht haben, des Ministers Eingebungen halbwegs verlässlich in Rechtspraxis umzusetzen.“

Des Richters Kenntnis der Gewaltenteilung scheint verbesserungsfähig. Jedenfalls entspricht sie nicht dem letzten Stand der Entwicklung, nach der des Ministers Eingebungen noch lange nicht Gesetz sind.

Hoppla: im Zitat vergriffen!

Die Verlässlichkeit der Fischerschen Beweisführung lässt im übrigen zu wünschen übrig. Sie ist mangelhaft, um nicht zu sagen schludrig.
Das Zitat „Vom Recht versteht er zwischen Nichts und Wenig“ ordnet Fischer als „radikales Bekenntnis“ dem Vorwort meines inkriminierten Buches zu.

„Sorry Euer Ehren“ – das Zitat befindet sich weder im Vor- noch im Nachwort noch sonstwo in dem Buch. Es ist peinlich für Fischer und auch für die ZEIT, dass aus dem falschen Zitat sogar ungeprüft die Überschrift für die Buchbesprechung gemacht wurde.
Blinder Eifer und devote Verehrung eines Autors vernebelt offenbar auch die liberale Sichtweise einer angesehenen Wochenzeitung.

Richtig heißt es in dem Buch: „Von Justiz verstehe ich wenig bis nichts“.

Zwischen „Recht“ und „Justiz“ klafft eine spezifische Differenz, die der Rezensent leichtfertig übersah.

Oder ist der Vorsitzende Richter, Prof. Dr. Thomas Fischer, in der Hast seiner Verfolgungsjagd gar zum Opfer einer Freudschen Fehlleistung geworden, indem er sich selbst und seine juristische Funktion mit „Recht“ verwechselt? Der Richter als Verkörperung des Rechts ist jedoch ein Missverständnis.

Wenn Herr Richter Fischer so leichtfertig argumentiert und so schlampig vor Gericht agiert wie in seiner Besprechung, dann Gnade Gott dem armen Kerl, der vor Gericht in seine Hände fällt.

Fischers Stärke ist nicht die Beweisführung, seine Begabung liegt mehr in der Diffamierung.

Feige ist er außerdem. Die Einladung zu einem öffentlichen Disput nimmt er an, um sie Stunden später wieder mit einer armseligen Ausflucht zurückzunehmen, ich hätte die Einladung seiner Chefin, der Präsidentin des Bundesgerichtshofes, „zugeleitet“. Er fügt der falschen Behauptung noch die Vermutung hinzu, damit eine „Einschüchterung“ zu verbinden, um „meine Machtposition zu demonstrieren“. Wie kann man mit einer höflichen Einladung Machtpositionen verbinden?

Wie kommt man mit solchen Kindereien auf höchste Richterstühle? Richter Fischer teilt die paradoxe Fähigkeit, stark im Austeilen, aber schwach im Nehmen zu sein, mit der Kondition vieler Meisterboxer, deren Schlagkraft enorm, aber ihr Kinn empfindsam ist. Versteckt sich hinter diesen Konstellationen vielleicht eine professionelle Deformation, die man als richterliche Berufskrankheit bezeichnen könnte?

Berufskrankheiten

Berufskrankheiten markieren Anfälligkeiten von Schwachstellen eines Berufes. Bergleute sind z.B. durch die Staublunge gefährdet. Politiker, die um Mehrheiten kämpfen, stehen in der Versuchung, dem Volk nach dem Maul zu reden.

Die Krankheitsgefahren für Richter lauern an anderen Stellen. Die Unabhängigkeit der Richter verleitet offenbar manche Amtsinhaber, sich für „unantastbar“ zu halten.
So schnell passiert einem Richter als Konsequenz aus Fehlleistungen auch nichts. Vor wem sollte er sich auch in Acht nehmen müssen?
Eher wird ein Mensch vom Blitzschlag erwischt als ein Richter von Entlassung bedroht, stellt Felix Merth fest, der es wissen muss. Er ist selber Richter am Oberlandesgericht Schleswig und dort fürs Personal zuständig.

Die justiziable Trinität: unabhängig, unantastbar, überheblich?

Richter sind unabhängig. Unabhängigkeit schlägt leicht in Überheblichkeit um, wenn sie sich als Unangreifbarkeit versteht. David Jungblut, ein junger resignierter Richter, nennt diese Gefahr „amtsanmaßende Ignoranz“.
Ein erfahrener und international renommierter Rechtsanwalt schreibt mir: „Was ich in meiner Berufszeit bei Richtern an Selbstdarstellung, fachlicher Überforderung, eklatanter Indisponiertheit, fallbezogener Unfähigkeit und offener Bequemlichkeit erlebt habe, trägt kabarettreife Züge…“ „Jeder Richter richtet im Schutze seiner weitgehend instrumentalisierten Unantastbarkeit die eigene berufliche Charakterdarbietung selbstbezüglich ein“.

Fehlende Selbsterkenntnis versperrt den Weg zur Besserung

Nicht die Fehlurteile „Mollath, Wörz, Gill, Arnold, Rupp, Uhlac“ sind die eigentlichen Skandale, sondern die Unwilligkeit des Systems, Fehler aufzuspüren und die Bockigkeit, sie zu korrigieren. Selbst wenn die Fehler offenkundig geworden sind, Zeugen ihre Lügen zugeben, Gutachter sich bis auf die Knochen blamiert haben, ganze Aufklärungsgebäude zusammenkrachen, dauert es oft Jahre, bis der Verurteilte rehabilitiert ist.
Fehler zugeben gehört nicht zu den Tugenden, die Richter und Staatsanwälte üben. Acht Jahre musste Wörz auf Gerechtigkeit warten, nachdem ein Zivilgericht den gleichen Sachverhalt anders beurteilt hatte als drei Jahre zuvor das Strafgericht. Gill harrte fünf Jahre seiner Rehabilitation, nachdem seine Tochter zugegeben hatte, dass die Verurteilung ihres Vaters auf ihrer Lüge beruhte. Arnold erreichte die Entschädigung gar nicht mehr, er starb als Hartz-IV-Empfänger. Das Gericht hatte sich zuviel Zeit für die Wiedergutmachung des Schadens genommen, den es angerichtet hatte.

Es fehlt im Justizsystem eine Kultur, welche das Eingeständnis von Fehlern nicht wie eine Schande behandelt.

Richter ohne Gewissensbisse

Wenn Ralf Eschenbach, Richter am Bundesgerichtshof, annimmt, dass jedes vierte Strafurteil nicht stimmt, und wenn die Fernuniversität Hagen nach einer ausführlichen Untersuchung jedes zweite Urteil an Familiengerichten für fehlerhaft hält, dann steht das in schreiendem Kontrast zur Selbstzufriedenheit der Richter.
Dass dreiviertel von fünfhundert befragten Strafrichtern nie oder selten Zweifel an ihren Urteilen haben, bereitet mir Angst.
Richter, denen die Sensibilität für Gewissensbisse abhanden gekommen ist, gefährden unser System. Als Holzfäller oder Steinbrucharbeiter wären sie ungefährlich. Gerichtsurteile aber werden auf der dünnen Haut von Menschen geschrieben.

Bräsig-dumpf stellte einst Bundesrichter Armin Nack fest: „Auch im Straßenverkehr gibt es Unfälle, und nicht alle sind vermeidbar.“ Wenn eine Fluggesellschaft mit einem solchen Vergleich Flugzeugabstürze kommentieren würde, gingen ihr die Fluggäste laufen. „Ohne Fehlurteile müsste man alle Angeklagten freisprechen“ räsonierte dieser Richter Nack. Ohne Abstürze funktioniert der Flugbetrieb nur, wenn keine Flugzeuge starten, wäre ein analoger fliegerischer Zynismus.

Im Unterschied zur Justiz wird im Flugverkehr akribische Fehleranalyse betrieben. Keine Kosten und Mühen werden gescheut, dem Fehler auf die Spur zu kommen.
Wenn es sein muss, wird der Flugschreiber noch 6000 Meter unter der Meeresoberfläche gesucht.
Auch anderswo pflegt man die Ursachenanalyse und zieht daraus Konsequenzen. Die Bundesärztekammer zählt jeden Fehleingriff. Die Verkehrswacht ermittelt Jahr für Jahr die Zahl der Verkehrstoten und Verletzten, um daraus Schlüsse für die Unfallverhütung herzuleiten.
Vergleichbares Interesse der Justiz ist unbekannt. Die fatale Selbstgewissheit der Justiz gefährdet das Vertrauen in die Rechtspflege.

Recht und Ethik

Vielleicht ist die Quelle der Verlotterung von Rechtssitten der Verfall des ethischen Rechtsbewusstseins.
„Erlaubt ist, was nicht verboten ist“ erklärte der Vorsitzende der Ethikkommission der Bundesrechtsanwaltskammer Dr. Michael Krenzler.

Es gibt jedoch Sachen, die macht man nicht, auch wenn sie nicht verboten sind. Und es gibt Pflichten, die man einhält, auch wenn die Verstöße gegen sie nicht bestraft werden. Wenn alles, was richtig ist, erzwungen würde, schwände Freiheit aus der Sittlichkeit und aus unserer Gesellschaft.
Wir sollen das Gute tun, auch wenn wir es nicht tun müssen.

Das Recht ist auf Ethik auch deshalb angewiesen, weil das Leben mehr Fälle kennt, als das Recht Gesetze.

Ein Rechtsstaat ohne Moral geht vor die Hunde, und Richter ohne moralische Autorität verlieren die Achtung. Auf Achtung vor Richtern und Rechtsanwälten aber ist die Anerkennung des Rechtsstaates angewiesen.

Ein Hoffnungsschimmer erreichte mich: Der Vorsitzende des Richterbundes Frank und der Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer Dr. Krenzler stellten sich der Diskussion. Ist das der Beginn einer aufklärerischen Morgendämmerung?

Ich gebe nicht auf!

Mein Kommentar: Über Gründe für den den Verfall ethischer Normensysteme, wie z.Zt. auch in der Medizin, haben Karl Marx und Friedrich Engels schon recht viel gesagt. Um damit etwas anzufangen, braucht man nicht nur das Herz Jesu, sondern auch das Hirn Einsteins und die Ungeduld Bertold Brechts.

Jochen