Höhere Löhne statt Nationalismus

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier setzte im Mai ein Experte noch Hoffnungen in die SPD. Seine wirtschaftspolitische Analyse kann ich teilen, es geht in die Richtung von Per Molander, „Die Anatomie der Ungleichheit“ *).

https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/hoehere-loehne-statt-nationalismus-3481/

Auszüge:

Wir brauchen nicht mehr nationale Identität, sondern eine Wirtschaftspolitik, die die Gesellschaft zusammenhält.

Nationalistische Anliegen haben in Deutschland wieder Konjunktur: Allenthalben heben linke Intellektuelle hervor, dass die Nation als Referenz für Solidarität besonderes Gewicht habe. Wenn liberale Eliten nicht mehr weiterwissen, werden sie patriotisch. Wie wäre es aber, wenn sie statt­dessen die Bekämpfung der wirtschaftlichen Missstände in Angriff nähmen, die hinter der Angst vor Zuwanderern stecken?
Stattdessen glauben sie zu wissen, dass die Beseitigung der Prekarität auf den Arbeitsmärkten nicht möglich ist.
Vollbeschäftigungspolitik durch Lohnsteigerung wird als populistisch abqualifiziert.
Und Keynesianismus kommt nur als Erhöhung von Staatsausgaben vor, die zu Schulden führt und damit zu Lasten zukünftiger Generationen geht.

Eine keynesianische Politik besteht aber nicht im Schuldenmachen. Schuldenfinanzierte Staats­ausgaben stehen nur dann auf der Tagesordnung, wenn neoliberale Wirtschaftspolitik das Wachs­tum durch Austeritätspolitik abgewürgt hat und eine Konsum-Krise bekämpft werden muss.

Wollen die Sozialdemokraten an Profil gewinnen, müssen sie über durchaus löbliche sozial­politische Forderungen hinaus ein Konzept vorlegen: eines, mit dem sie die Wirtschaft im Inter­esse der arbeitenden oder ins Prekariat gezwungenen Bevölkerung steuern können.
Allein die bisherige neoliberale Strategie zur Optimierung der Volkswirtschaft vermischt mit ein wenig Heilsarmee-Aktivität, um die Loyalität der eigenen Anhänger zu sichern, kann nicht überzeugen.

Zwei neoliberale Argumente dienen verlässlich als Speerspitze gegen eine andere Wirtschafts­politik.
Erstens: Profite sind notwendig, um Investitionen zu finanzieren, sonst fallen Arbeitsplätze weg.
Zweitens: Niedrige Löhne verbessern die internationale Wettbewerbsfähigkeit und schaffen damit Arbeitsplätze.

Dem widersprechen einige sehr einfache ökonomische Einsichten: In jeder Wirtschaftskrise gibt es hohe ungenutzte Kapazitäten und damit die Möglichkeit, Überschüsse zu produzieren, die inve­stiert werden könnten. Gleichwohl sinken in allen Krisen die Beschäftigung und die Investitionen.
Im Aufschwung dagegen steigen Investitionen sowie Profite und Beschäftigung – bis Vollbeschäf­tigung erreicht ist.
Empirisch spricht also nichts dafür, dass Investitionen vom Rückgang des Konsums abhängen.

Keynesianische Ökonomen haben dafür seit 70 Jahren eine überzeugende Begründung: Damit Unternehmen der Konsumgüterbranche überhaupt Profit machen und ihre Produkte zu höheren Preisen als ihren Kosten verkaufen können, muss es ausreichend Einkommen aus geleisteter Arbeit geben.
Der Arbeitslohn generiert zusätzliche Nachfrage und erlaubt die Entstehung von Profit.

Will man höhere staatliche Schulden vermeiden und zugleich auf permanente Exportüber­schüsse verzichten, weil sie Partnern die Möglichkeit zum Wachstum nehmen, dann müssten die Löhne in Deutschland kräftig steigen.

Denn die aus diesen höheren Löhnen generierte Nachfrage würde das Wachstum antreiben. Speziell die Produktion von neuen Investitionsgütern ist hier entscheidend.

Niemand kauft allerdings eine zusätzliche Maschine, wenn die Nachfrage nach den damit produ­zierten Konsumgütern nicht steigt.

Wenn die Löhne nicht ausreichend steigen, bleibt nur ein Aus­weg: Die zusätzlichen Güter müssen ins Ausland exportiert werden.
Die Exportüberschüsse ent­stehen also automatisch, wenn der Konsum im Inland zu gering ist.

Der neoklassische Mainstream glaubt, Kapitalismus sei ein Null-Summen-Spiel, bei dem man nur investieren kann, was man spart und daher nicht schon konsumiert hat. Deshalb lehnen sie stei­gende Löhne einfach ab.
Wenn Investitionen aber von steigender Nachfrage ausgelöst werden, bedeutet ein Befolgen dieser neoliberalen Rezepte wirtschaftliche Stagnation.

Es wird sogar noch schlimmer: Diese fehlgeleiteten Ökonomen fügen ihrer generellen Ablehnung von Lohnsteigerungen hinzu, dass diese zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt führen. Über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet aber vielmehr der Wechselkurs – denn die Lohnkosten werden international auf der Basis des Wechselkurses wirksam.
In der Zeit der nationalen Währungen im Euroraum wurde die D-Mark permanent aufgewertet, weil Deutsch­land so viel exportiert hat. Die Guthaben der Reicheren in dieser Republik nahmen aufgrund der Exporte zu.

Die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft wurde dadurch jedoch nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Aufwertung gefährdete die deutsche Wettbewerbsfähigkeit.
Das Beschäftigungs­wunder zu Anfang der rot-grünen Regierungszeit war Folge der Spekulation des internationalen Kapitals gegen den als krisengefährdet eingestuften Euro.
Der niedrige Eurokurs verbilligte die Preise deutscher Exportgüter auf dem Weltmarkt.

Forderungen nach einer Rückkehr zur nationalen Währungspolitik sind allerdings illusionär. Denn auch in der Zeit der freien und der regulierten Wechselkurse nach dem Zusammenbruch des Bret­ton-Woods-Systems hat die deutsche Regierung Aufwertungen so begrenzt, dass Deutschlands Wirtschaftspartner unter ihren Möglichkeiten blieben beziehungsweise stagnierten.

Innerhalb des Euro-Raumes ist die Lage anders, weil hier kein Wechselkurs ausgleichend wirken kann. Gerade hier hat die deutsche Lohnpolitik zu permanenten Exportüberschüssen des Landes geführt. Etwas höhere Löhne und höhere Investitionen und somit weniger deutsche Wettbe­werbs­fähigkeit aber würde den Partnern nützen und Deutschland nicht schaden, sofern die Binnen­nach­frage hierzulande ausreichend steigt.

Die Arbeiterschaft hat diese Politik des Exportüberschusses regelmäßig durch Lohnzurück­hal­tung unterstützt, weil sie glaubte, damit ihre eigenen Arbeitsplätze zu schützen.
Das hatte jedoch – ausgelöst durch die geringere Kaufneigung der Arbeiterschaft bei geringeren Löhnen – den Rück­gang der Beschäftigung in den binnenmarktorientierten Industrien zu Folge. Dessen ungeachtet loben einige der „neuen Nationalisten“ das als Überlegenheit eines deutschen Lohnfindungs­prozesses nach dem Motto: Sparen ist eine nationale Leistung.
Die deutschen Arbeitnehmer seien eben vernünftiger als die Arbeitnehmer in den Südländern der EU.

Wenn die Sozialdemokratie nicht dafür sorgen kann, dass durch steigende Löhne ein angemes­se­nes Nachfrageniveau in Deutschland entsteht, muss es anderswo entstehen: etwa durch Kreditauf­nahme im Süden der EU wie vor der Euro-Krise.
Die Krise hat aber gezeigt, dass eine solche Ver­schuldung der anderen Euro-Länder dauerhaft nicht möglich ist.
Es bleibt dann nur die Möglich­keit, den anderen EU-Partnern wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, um dort eine ausreichende Nachfrage zu erzeugen.

Auf europäischer Ebene können die Sozialdemokraten zwar auf kleine Kurskorrekturen hinwirken, zum Beispiel auf mehr Investitionen und eine Arbeitslosenversicherung. Diese Politik hat aber wegen des geringen Volumens solcher Programme eine begrenzte Wirkung.

Deutlich mehr können die Sozialdemokraten im nationalen Maßstab durch die Abkehr von ihren neoliberalen Trugbildern erreichen.

Dann sind die Stärkung der EU und die Erweiterung der Nachfrage in Deutschland nur zwei Seiten derselben Medaille.

Hartmut Elsenhans gilt als einer der führenden Theoretiker des globalen Keynesianismus.

Zuletzt lehrte und forschte er als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Politökonomie des Internationalen Systems sowie Entwicklungsstrategien und soziale Bewegungen im globalen Süden.

* Titel:gebrauchtes Buch – Molander, Per – Die Anatomie der Ungleichheit - Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Die Anatomie der Ungleichheit – Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Eine progressive Vision nationaler Souveränität für die Europäer ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein recht ausführlicher und ehrlicher Artikel von Thomas Fazi auf dem Makroskop:
https://makroskop.eu/2017/06/eine-progressive-vision-nationaler-souveraenitaet/
speziell in der Vorbereitung des Linken-Parteitags.
Dem Text fehlt aber noch viel konkretes „Fleisch“, das von alternativ denkenden Oekonomen erarbeitet werden müsste, ebenso die psychologische Begleitung mit der Zielsetzung, daraus auch eine Begeisterungsfähigkeit für diese Vision zu entwickeln, wie sie unter Willy Brandt noch spürbar war und auf deren Mangel u.a. A.Müller ständig hinweist.

Auch ich bin noch in einem inneren Diskussionsprozess, prinzipiell überzeugter Europäer und zerrissen bei der Frage, ob ich mir eine Regierungsbeteiligung der Linken wünschen soll oder lieber eine ausgedünnte Opposizion gegenüber einer neuen GroKo.
Hier Auszüge:

Eine progressive Vision nationaler Souveränität

Von Thomas Fazi

Die Meinung, dass nationale Souveränität mit rechtsgerichtetem Gedankengut einhergeht, hat bei vielen Linken den Status eines Dogmas und verhindert, das Thema als Antrieb für einen progressiven gesellschaftlichen Wandel zu nutzen.

In den letzten 12 Monaten hat eine Bewegung gegen das Establishment den Westen im Sturm erobert. Dazu zählt das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Wahl Donald Trumps in den USA, die Ablehnung Matteo Renzis konstitutioneller Reform in Italien, der wachsende Zuspruch für den Front National in Frankreich und anderer hauptsächlich rechter Parteien in ganz Europa. Auch wenn hinter diesen Phänomenen unterschiedliche Ideologien und Ziele stehen, sind sie alle als Ablehnung der (neo-)liberalen Ordnung zu interpretieren.

Obwohl die unmittelbaren Ursachen dieser Phänomene offensichtlich sind – sinkender Lebensstandard, wachsende soziale Ungleichheit, Angst vor Migranten usw. –, hat die derzeitige Krise viel tiefer gehende Wurzeln, die bis in die 70er Jahre zurückreichen; in die Zeit, als das fordistisch-keynesianische Modell der Nachkriegszeit – welches die Grundlage für ein 30-jähriges wirtschaftliches Wachstum bildete – in eine tiefe strukturelle Krise rutschte.
Damit wurde der Weg für ein grundlegend anderes Sozial- und Wirtschaftsmodell geebnet, das sich durch die folgenden Charakteristika auszeichnet: Handelsliberalisierung und Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Lohnzurückhaltung, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierung staatlicher Unternehmen und fiskalischer Einsparungen. In einem Wort: Neoliberalismus.

Diese „Gegenrevolution“ wurde durch die regierenden Eliten initiert, um die Macht ihrer Klasse wiederherzustellen, die aufgrund der wachsenden Forderungen organisierter Arbeitnehmer und radikaler sozialer Bewegungen extrem geschwächt wurde [1].
Der Erfolg dieser Gegenrevolution manifestierte sich in einem dramatischen Absinken des Anteils der Gehälter am Nationaleinkommen und somit der Kaufkraft der Arbeiterschaft [2].
Paradoxerweise droht dieser Erfolg das Ziel dieser Politik zunichte zu machen: Die Profitmaximierung. Denn Profite können nur erzielt werden, wenn ausreichend effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen besteht – und dabei spielt die Lohnhöhe eine entscheidende Rolle.

Finanzialisierung

Die Antwort des Kapitalismus auf die Widersprüche des neoliberalen Politikmodells war die Finanzialisierung und der schuldenbasierte Konsum. Haushalte, die mit stagnierenden Löhnen und sinkender Kaufkraft konfrontiert waren, wurden dazu ermutigt, immer mehr Geld zu leihen, um die Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben wettzumachen.
Das führte zu einem kolossalen Anstieg privater Schulden, speziell in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern.

Diese Form des „privatisierten Keynesianismus“ war zusätzlicher Treibstoff für die Entwicklung von Kreditblasen, die schließlich 2008 platzen. Sie erlaubte zudem einem winzigen Teil der Weltbevölkerung, immer mehr Vermögen anzuhäufen. Das alles geschah ohne nennenswerten Widerstand der „unteren Klassen“.
Diese waren durch wirkungsvolle neoliberale Diskurse eingeschläfert, die die liberalisierende Dynamik des „freien Marktes“ (vom Garagenerfinder à la Steve Jobs beispielhaft illustriert) gegen den verkrusteten und ineffizienten Staat (vom Papierschieber des Staates beispielhaft illustriert) in Stellung brachten.

Mit der Finanzialisierung war es möglich, die zur Stagnation beitragenden Effekte der neoliberalen Politik der Profitmaximierung vorübergehend hinaus zu schieben, führte aber dazu, dass dieses Akkumulationsregime 2007/2009 in Flammen aufging. Es lodert bis heute, da der Berg an Schulden, der in den vorhergehenden Jahrzehnten angehäuft wurde, krachend von der Decke ins Wohnzimmer fiel und die Weltwirtschaft einzuschmelzen drohte.

Zwar konnten die westlichen Regierungen einen GAU vermeiden und (für gewisse Zeit) die aus der Finanzkrise resultierenden negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen in Grenzen halten, indem sie – mit noch mehr Nachdruck – die Finanzialisierung erneut als Hauptmotor der Wirtschaft einsetzten.
Doch es half nicht, die wirtschaftliche Stagnation in vielen entwickelten Volkswirtschaften zu überwinden.

Der schuldenbasierte Konsum stand jetzt aufgrund der „Liquiditätsfalle“ und dem Schuldenabbau des Privatsektors nach der Krise nicht länger als Quelle autonomer Nachfrage zur Verfügung. Eine angemessene Gesamtnachfrage mittels lohnbasiertem Konsum lässt sich unter der derzeitigen Politik nicht aufrechterhalten – denn wie erwähnt sank die Kaufkraft der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten. In diesem Sinne sollte die derzeitige Stagnation als Folge der langen Krise gesehen werden, die bereits in den 70er Jahren ihren Anfang nahm.

Indes verschlimmert(e) sich die Situation nach der Krise weiter. Eine Reihe von westlichen Staaten sahen mit der Finanzkrise die Chance, einen noch radikaleren neoliberalen Kurs einzuschlagen.
Politische Maßnahmen wie die fiskalische Austeritätspolitik und Lohndeflation gereichten den Reichen und dem Finanzsektor zum Vorteil – und zum Nachteil aller anderen.

Kapitalisierung von Unzufriedenheit

Inmitten wachsender Unzufriedenheit, sozialer Unruhe und Massenarbeitslosigkeit (in verschiedenen europäischen Ländern), reagierten die politischen Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks mit business-as-usual-Politik und -Diskursen.
Als Folge ist das soziale Verhältnis zwischen Bürgern und Regierungen angespannter als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. In einigen Ländern wurde das Verhältnis bereits zerstört, wie eine Reihe von „Protestwahlen“ in diversen Ländern bezeugen. Der Protest richtete sich dabei, trotz der unterschiedlichen Umstände, unter denen diese Wahlen stattfanden, immer gegen den gleichen „Gegner“: Globalisierung, Neoliberalismus und das politische Establishment, welches die beiden Doktrinen befördert hat.

Viele sehen diese neonationalistische, gegen die Globalisierung und das Establishment gerichtete Revolte als Ankündigung des Endes der (neo-)liberalen Ära und das Einläuten einer neuen globalen Ordnung. Insbesondere Trump hat mit der Ankündigung und Implementierung „protektionistischer Maßnahmen“ Politiker und Kommentatoren weltweit in Alarmbereitschaft versetzt.

Doch ohne den symbolischen und ideologischen Wert dieser Entscheidungen kleinreden zu wollen, war die Globalisierung bereits weit vor der Wahl Trumps in Schwierigkeiten. Seit 2011 wuchs der Welthandel signifikant geringer als das globale BIP. Und mittlerweile sinkt er sogar, obwohl die Weltwirtschaft – wenn auch nur im Schneckentempo – wächst.
Die globalen Finanzströme haben seit dem Höchstwert kurz vor der Krise um 60% abgenommen.

In diesem Sinne sind der Wahlsieg Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer Parteien „nur Begleiterscheinungen bedeutsamer Verschiebungen in der globalen Volkswirtschaft und internationaler geopolitischer Anpassungen, die seit den 70er Jahren stattfinden“, wie Vassilis K. Fouskas und Bulent Gokay analysieren. Und zwar:

  • die Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells und der neoliberalen Ideologie, die nicht länger in der Lage ist, die immanenten stagnierenden und polarisierenden Tendenzen zu überwinden und gesellschaftlichen Konsens bzw. eine gesellschaftliche Vormachtstellung (in materiellem bzw. ideologischem Sinne) herbeizuführen. Darüber hinaus ziehen selbst die Unterstützer des Neoliberalismus immer weniger Nutzen aus ihm.
  • die Krise der Globalisierung, die nicht länger dem erbarmungslosen Druck der Überakkumulation und Überproduktion entrinnen kann, die vor allem der verstärkten Konkurrenz aus Ländern wie China geschuldet ist (die wiederum mit der eigenen Überakkumulation zu kämpfen hat);
  • die ökologische Krise, d.h. Grenzen hinsichtlich der Energieversorgung und Versorgung mit anderen biophysischen Ressourcen, die den wirtschaftlichen Prozess am Laufen halten und auf dessen Funktionalität Einfluss haben;
  • die Vorherrschaftskrise der USA, die nicht länger in der Lage sind, einseitig die globale neoliberale Ordnung durchzusetzen, weder durch weiche Macht (d.h. durch pro-westliche multilaterale Institutionen wie dem IWF und der Weltbank) wie während der 90er Jahre, noch durch harte Macht (d.h. mit reiner militärische Stärke) wie in den frühen 2000er Jahren – was sich vor allem durch den (bisher) fehlgeschlagenen Versuch des Westens, Assad in Syrien zu stürzen, zeigt. Trumps unnachgiebige Haltung bezüglich Chinas und anderer Überschussländer (wie Deutschland), die er der Währungsmanipulation bezichtigt, und seine Pläne zur „Wiederverstaatlichung“ der US-Wirtschaftspolitik sollten daher im Kontext mit dem sich abzeichnenden Kollaps der neoliberalen Ordnung verstanden werden.

Wovon wir Zeuge werden, ist nicht das Ende der Globalisierung. Sie wird weitergehen, auch wenn sie höchstwahrscheinlich durch verstärkte Spannungsfelder zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des internationalen Kapitals und einer Kombination aus Protektionismus und Internationalisierung gekennzeichnet sein wird. Was wir erleben, ist eher die Geburt einer post-neoliberalen Ordnung.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie diese Ordnung aussehen wird. Bisher liegt keine neue kohärente Ideologie oder kein neues Akkumulationsregime auf der Lauer, um den Neoliberalismus zu ersetzen.

Antonio Gramsci beschrieb organische Krisen, wie die, die wir gerade erleben, treffend als Situationen, in denen „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“. „In dieser herrscherlosen Phase“, so Gramsci, ist es nicht selten, dass „eine große Vielfalt an Krankheitssymptomen“ – so wie die, die ich oben geschildert habe – in Erscheinung treten.

Was diese „Krankheitssymptome“ als dominante Reaktion auf den Neoliberalismus und die Globalisierung hervorgerufen hat, ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass die Kräfte des rechten Lagers den Unmut der Massen, die aufgrund des vierzigjährigen neoliberalen Klassenkampfs von Oben entrechtet, an den Rand gedrängt, verarmt und enteignet wurden, viel effektiver als die linken bzw. progressiven Kräfte aufgegriffen haben.

Letztendlich waren sie die einzigen Kräfte, die eine (mehr oder weniger) schlüssige Antwort auf das weitverbreitete – und wachsende – Verlangen nach mehr territorialer und nationaler Souveränität liefern konnten. Denn dies wird zunehmend als der einzige Weg gesehen, um einen gewissen Grad an kollektiver Kontrolle über Politik und Gesellschaft – in Abwesenheit effektiver supranationaler Mechanismen der Repräsentativität – zurückzuerlangen.

Da der Neoliberalismus einen Krieg gegen die nationale Souveränität führt, sollte es nicht verwundern, dass „Souveränität das Grundgerüst zeitgenössischer Politik darstellt“, wie Paolo Gerbaudo anmerkt. Denn letzten Endes war das Aushöhlen der nationalen Souveränität und die Beschneidung gängiger demokratischer Mechanismen – was auch als Entpolitisierung definiert wurde – das essentielle Element des neoliberalen Projekts. Es zielte darauf, makroökonomische Politik von populären Streitfragen abzuschirmen und jegliche Hindernisse, die dem wirtschaftlichen Austausch und den Finanzströmen in den Weg gelegt wurden, zu beseitigen.

Laut Stephen Grills haben Neoliberalismus und Globalisierung somit nicht dazu geführt, dass – wie viele linke Studien behaupten – sich der Staat gegenüber dem Markt zurückgezogen hat. Eher hat er sich umgestaltet, um die Befehlsgewalt über die Wirtschaftspolitik „in die Hände des Kapitals und primär die der finanziellen Interessen“ zu legen.
Aufgrund der schädlichen Effekte der Entpolitisierung ist es nur normal, dass der Aufstand gegen den Neoliberalismus zuallererst in Form von Forderungen nach einer Repolitisierung des nationalen Willensbildungsprozesses erfolgen muss.

Rückgewinnung von nationaler Souveränität

Dass die Vision von nationaler Souveränität, welche im Zentrum der Kampagnen um Trump und den Brexit stand und derzeit den öffentlichen Diskurs dominiert, als reaktionär und quasi-faschistisch bezeichnet werden kann,[3] sollte kein Argument gegen das Konzept der nationalen Souveränität sein.
Die Geschichte zeigt, dass nationale Souveränität und Selbstbestimmung keine reaktionären oder chauvinistischen Konzepte sind. Tatsache ist, dass diese Konzepte den Kämpfen unzähliger Sozialisten und linker Freiheitsbewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts Ziele vorgaben.

Selbst wenn wir unsere Analyse auf die Kernländer des Kapitalismus beschränken, ist es offensichtlich, dass nahezu alle großen sozialen, ökonomischen und politische Fortschritte der letzten Jahrhunderte den Institutionen des demokratischen Nationalstaats zu verdanken sind und nicht den internationalen, multilateralen oder supranationalen Institutionen. In Wirklichkeit werden letztere in einer Vielzahl von Fällen genutzt, um gerade diese Fortschritte rückgängig zu machen.

Am besten lässt sich das im Kontext der Eurokrise beobachten. Supranationale Institutionen (die größtenteils niemandem Rechenschaft schuldig sind) wie die Europäische Kommission, die Eurogruppe und die EZB haben ihre Macht und Autorität genutzt, um einschneidende Austeritätsmaßnahmen gegen in Not geratene Länder zu verhängen. Das Problem, um es kurz zu sagen, ist nicht die nationale Souveränität, sondern der Umstand, dass das Konzept in den letzten Jahren größtenteils von den Rechten und Rechtsextremen für sich in Anspruch genommen wurde. Diese Gruppierungen sehen es als einen Weg, ihre ausländerfeindliche und identitäre Agenda durchzudrücken.

Warum also war es dem Mainstream der Linken nicht möglich, eine alternative, progressive Sicht auf die nationale Souveränität als Antwort auf die neoliberale Globalisierung zu entwickeln?

Die Antwort lautet, dass im Verlauf der letzten dreißig Jahre der Großteil der Linken das falsche Narrativ akzeptiert haben. Nämlich, dass Nationalstaaten im Wesentlichen durch den Neoliberalismus und/oder die Globalisierung überflüssig gemacht worden seien und daher bedeutsame Veränderungen nur auf internationaler/supranationaler Ebene herbeigeführt werden könnten. Übersehen wird, dass diese Entwicklungen hauptsächlich vom Staat selbst herbeigeführt wurden.

Hinzu kommt, dass die meisten Linken mittlerweile den makroökonomischen Mythen Glauben schenken, die das neoliberale Establishment nutzt, um den Staat davon abzuhalten von seiner fiskalischen Kapazität Gebrauch zu machen.
Beispielsweise wurde fraglos die sogenannten Haushaltsbudget-Analogie akzeptiert: Regierungen, die eine eigene Währung ausgeben, sind demnach genauso wie Haushalte in ihrem finanziellen Spielraum beschränkt; fiskalische Defizite führen zu Schulden, die die kommenden Generationen belasten.

Von dieser Analogie wird in der europäischen Debatte erfolgreich Gebrauch gemacht. Trotz der desaströsen Effekte der institutionellen Ausgestaltung der EU und der Währungsunion klammern sich die Mainstream-Linken weiterhin an diese Institutionen.
Sie glauben, dass diese in eine progressive Richtung reformiert werden können – ungeachtet der Faktenlage, die das Gegenteil beweist.
Zudem lehnen sie jegliche Diskussion über eine progressive Agenda auf Grundlage einer wiederhergestellten nationalen Souveränität ab.
Ein „Rückzug auf nationalistisches Terrain“ würde den Kontinent zwangsläufig mit einem Faschismus wie in den 30er Jahren überziehen, so die Überzeugung.

Damit überlässt man das weitläufige politische Schlachtfeld im Kampf gegen den Neoliberalismus dem rechten Lager bzw. den Rechtsextremen. Wenn progressiver Wandel nur auf globaler oder europäischer Ebene herbeigeführt werden könnte, bleibt den Wählern nur die Wahl zwischen reaktionärem Nationalismus und progressiver Globalisierung. Die Linke hätte den Kampf dann bereits verloren.

Das muss aber nicht so sein. Eine progressive, emanzipierte Vision von nationaler Souveränität, die eine ernsthafte Alternative zu den Rechten und den Neoliberalen darstellt, ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Sie basiert auf der Volkssouveränität, der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung von reich zu arm, Inklusion und gewissermaßen der sozioökologischen Transformation der Produktion und Gesellschaft.

Das alles muss auch nicht auf Kosten der europäischen Kooperation gehen. Ganz im Gegenteil: Die Fakten belegen, dass die schraubstockartige Umklammerung durch die Eurozone die nutzstiftenden Aspekte in Gefahr bringt, die mit der Gründung der Europäischen Union einhergegangen sind.
Demonstriert wurde das unlängst durch die Reaktion Europas auf die Flüchtlingskrise. Diese Umklammerung führt zu einer Verschärfung zwischeneuropäischer Divergenzen und zu weitreichender sozialer Verwüstung. Sie schürt nationale Ressentiments, wie man sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr gesehen hat.
Der wahre Wert des Europäischen Projekts besteht in seiner Fähigkeit, multilaterale Kooperationen hinsichtlich von Problemen wie der Immigration, dem Klimawandel, dem Menschenhandel, die einzelne Nationen alleine nicht lösen können, in Gang zu bringen und zu koordinieren.

Wenn man die monetären und fiskalischen Werkzeuge, die man zur Sicherstellung des Wohls der eigenen Bürger benötigt, den nationalen Regierungen wieder zurückgeben würde, wäre diese Art der Kooperation nicht untergraben.
Im Gegenteil: Es würde die Basis für ein erneuertes Europäisches Projekt – und im allgemeineren Sinne für eine neue international(istisch)e Weltordnung – legen, die auf der multilateralen Kooperation zwischen souveränen Staaten basiert.

Der Artikel erschien in englischer Sprache ursprünglich im Green European Journal und wird hier in leicht gekürzter und deutscher Fassung mit Zustimmung des Autors nachgedruckt.

Politisch gewollte Armut !

Werner_Seppmann

Werner Seppmann

Dieser Beitrag ist offensichtlich inzwischen umgezogen. Ich übernehme ihn daher aus „Tacheles Wuppertal“, das verweist auf https://www.heise.de/tp/features/Bettler-und-Obdachlose-wurden-wieder-zu-einem-gewohnten-Bild-in-den-staedtischen-Zentren-3362396.html

Auszüge:

„Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren“

Die Armut hat in Deutschland seit 2005 bedrohliche Formen angenommen: Laut offiziellen Angaben lebten 2013 in Deutschland 12 Millionen Menschen in Armut oder galten als armutsgefährdet. 2,5 Millionen Kinder befanden sich in Einkommensarmut. 8 Millionen verdienten sich ihren Lebensunterhalt im Billiglohnbereich. 25 Prozent der Beschäftigten lebten von sogenannten prekären Jobs. Dafür verfügten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens.
In den Medien wird zwar darüber gestritten, ob diese Zahlen der Realität entsprechen oder schöngefärbt sind – aber es wird selten thematisiert, mit welchen politischen Schritten diese Entwicklung zusammenhängt: Mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen des Arbeitsmarkts.
Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Werner Seppmann, der das Buch Ausgrenzung und Herrschaft verfasst hat.

Herr Seppmann, Sie schreiben, dass mittlerweile fast 20 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik in Armut lebt und weitere 20 Prozent mit der Gefahr konfrontiert sind, in die Armut abzurutschen. Wird dies zum Dauerzustand in Deutschland?
Werner Seppmann: Es ist zu befürchten. Soziale Rückbildungsprozesse (zum Beispiel einschneidende Veränderungen des Arbeits- und Sozialrechts) und in deren Folge die Ausdehnung von Unsicherheits- und Armutszonen können, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, in allen entwickelten Industrieländern beobachtet werden. Überall hat sich eine soziale Abwärtsspirale in Gang gesetzt, weiten sich die Zonen der Bedürftigkeit aus und verfestigen sich. Wer einmal in ihnen gelandet ist, findet immer seltener einen Weg aus ihnen hinaus. In der EU gibt es gegenwärtig 20 Millionen Arbeitslose und es leben 60 Millionen Menschen in Armut – so viele wie noch nie zuvor.
Aber noch immer ist Europa im Vergleich eine Wohlstandsregion
Werner Seppmann: Der Kreis der Menschen die an der Reichtumsproduktion partizipieren, wird trotzdem immer kleiner. Ein sozialer Sog nach unten drückt sich mittlerweile sogar in Widerspruchsformen aus, die teilweise an die Zustände in einer sogenannten 3. Welt erinnern.
Es ist gleichermaßen erstaunlich wie auch irritierend, mit welcher Geschwindigkeit ein elementarer sozialer Antagonismus zurückgekehrt ist und selbst unmittelbare Bedürftigkeit sich ausbreitet. Auch kritische Betrachter der Gesellschaftsentwicklung hätten sich vor zwei Jahrzehnten die Geschwindigkeit und die Intensität dieses Abwärtstrends kaum vorstellen können.
Die gesellschaftlichen Gegensätze verschärfen sich und haben zu einer soziokulturellen Spaltung in einer lange nicht mehr gekannten Intensität geführt. Krisenopfer und Krisengewinnler leben in höchst unterschiedlichen Welten mit differenten Orientierungsmustern und Entscheidungspräferenzen: Es präsentieren sich wieder klassengesellschaftliche Verhältnisse in einer offensichtlichen Form.
Licht am Ende des Tunnels ist nicht in Sicht, Indizien für eine Trendumkehr sind kaum zu erkennen. Immer deutlicher kristallisiert sich heraus, dass die Wohlstands- und Wirtschaftswunder-Phase der Nachkriegsjahrzehnte nur Ausdruck einer historischen Sonderentwicklung war, die für den Kapitalismus nicht als typisch angesehen werden kann. Schon seit 30 Jahren – erst schleichend, dann immer nachdrücklicher – machten sich verstärkt Widerspruchsformen bemerkbar, die schon als überwunden galten: Ausgrenzung, Armut und Bedürftigkeit breiteten sich mit großem Tempo aus. Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren.
Aber Armut und Bedürftigkeit auf der einen Seite und Wohlstand auf der anderen, das hat es doch immer schon gegeben …
Werner Seppmann: Sehr richtig! Jedoch haben die aktuellen Entwicklungen im Kontrast zur Vergangenheit einen besonderen Charakter. Ja, es gab in der Geschichte nicht nur des Kapitalismus fast immer Arme und gesellschaftliche Außenseiter. Es waren die Landlosen in den Dörfern und es waren entwurzelte Menschen, die in den Städten nicht Fuß fassen konnten. Sie waren besonders Benachteiligte in Gesellschaften, in denen jedoch nur ganz wenige im Wohlstand oder auch nur in gesicherten Verhältnissen lebten. Das ist heute allerdings anders. Noch immer sind die Metropolengesellschaften reiche Gesellschaften, wächst beständig das Sozialprodukt – aber der Kreis derer, die davon profitieren, wird zunehmend kleiner.
Und was kennzeichnet die Armut von heute?
Werner Seppmann: Zum besonderen Charakter der gegenwärtigen Situation gehört, dass unter den prekär Beschäftigten und den Hartz-IV-Empfängern viele Menschen sind, denen es vor gar nicht langer Zeit einmal besser ging und die zu einem nicht geringen Teil auch berufliche Qualifikationen vorweisen können. Die meisten von ihnen hätten es sich noch vor wenigen Jahren nicht träumen lassen, einmal in die sozialen Außenseiterzonen abzusinken und gezwungen zu sein, ungesicherte und extrem schlecht bezahlte Beschäftigungen annehmen zu müssen.
Vor dem Hintergrund einer neoliberalistischen Umverteilungspolitik und stagnierender Masseneinkommen geht die Schere zwischen Reichtum und Bedürftigkeit immer weiter auseinander. Gleichzeitig sind die Lebensverhältnisse in ihrer Gesamtheit von zunehmender Unsicherheit geprägt: Die Angst aus dem Gefüge der sozialen Sicherheit heraus zu fallen, ist zur Epochensignatur geworden.
Inwiefern haben sich die ökonomischen Parameter verschoben?
Werner Seppmann: Zu den Hintergrunderscheinungen dieser Entwicklungen gehört die Tatsache, dass in großen Teilen der Arbeitswelt sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit auf eine überwunden geglaubte Konfrontationsstufe zurückentwickelt hat: Umstrukturierungen finden in Permanenz und immer öfter in aggressiven Formen statt. Wer ausgesondert wird, findet nur selten noch eine gleichwertige Beschäftigung; sein sozialer Abstieg ist, vor allem wenn er schon älter ist, oft vorprogrammiert.
Wie in früheren Zeiten des Kapitalismus, reicht für eine große Gruppe auch ganztätige Erwerbsarbeit nicht mehr zum Lebensunterhalt. Das kapitalistische Regime der Kapitalverwertung und Profitmaximierung, das in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich nach Außen aggressiv agierte, artikuliert sich nun auch nach Innen konfliktbereit.
Die Umwälzungsopfer erleben ein Schicksal, das mittlerweile prinzipiell jeden treffen kann, der nur vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt. Das Leben von Vielen ist von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Nichts kann mehr als sicher gelten – und höchst unbestimmt ist, was die Zukunft bringen wird.
Wie wirkt sich diese Unsicherheit konkret aus?
Werner Seppmann: Das lässt sich beispielsweise am Schicksal eines Langzeitarbeitslosen ablesen, der nach zwei Jahren der Erwerbslosigkeit dazu gepresst wird, als Leiharbeiter in seinem alten Betrieb und an die gleiche Maschine zurückzukehren, an der er viele Jahre lang gearbeitet hat. Nur jetzt nicht mehr zu einem Stundenlohn von 18,90 Euro (die seine noch in dem Betrieb beschäftigten ehemaligen Kollegen erhalten) sondern für 11,50 Euro die Stunde. Soziale Rückstufung und Demütigung gehen in einem solchen Fall Hand in Hand.

„Die Ausdehnung von Bedürftigkeit hat strukturelle Gründe“

An welchen politischen Stellschrauben wurde gedreht, um dieser Entwicklung Vorschub zu leisten?
Werner Seppmann: In Deutschland sind solch biographischen Regressionen durch das Hartz-IV-Reglement und die Durchlöcherung des Arbeitsrechts möglich geworden. Wer erwerbslos wird, hat in der Regel noch eine einjährige Schonfrist und wird dann auf die schiefe Ebene des sozialen Abstiegs gesetzt, weil er nur noch eine Unterstützung an der Grenze zum Existenzminimum erhält und nun Arbeit zu jedem Preis annehmen muss.
Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel hat davon gesprochen, dass solche Rückschrittstendenzen elementar mit der Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus verbunden sind: Die Abwärtstendenz ist fest in seine soziale Mechanik eingebaut. Die Ausdehnung von Bedürftigkeit und Prekarität hat also strukturelle Gründe. Es existiert ein allgemeiner Sog nach unten, der nichts mit den konjunkturellen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen zu tun hat, sondern mit einer kapitalistischen Ökonomie, die mit ihrer Reichtumsproduktion gleichzeitig Armut schafft.
Hinter dieser scheinbar paradoxen Formulierung verbirgt sich die Tatsache, dass unter gegenwärtigen Bedingungen mit den steigenden Gewinnen (die bekanntlich in den letzten Jahren beträchtlich angewachsen sind) kaum – wie die neoliberalistischen Propagandisten es versprochen haben – neue Beschäftigung geschaffen wird, sondern bisher auskömmliche Arbeitsplätze abgebaut werden. Denn angesichts stagnierender Masseneinkommen und in deren Folge weitgehend stagnierender Märkte werden kaum Erweiterungsinvestitionen vorgenommen. Es wird vielmehr auf Kosten von Arbeitsplätzen rationalisiert und umstrukturiert.
Welche Dimensionen hat die Armut in Deutschland mittlerweile angenommen?
Werner Seppmann: Ich schätze es gibt mit den offiziell Armen in der Bundesrepublik 50 Prozent, die von der Hand in den Mund leben, die jederzeit mit dem sozialen Abstieg rechnen müssen. Für die Betroffenen ist es ein permanenter Kampf, wenn sie den Fall in die vollständige Bedürftigkeit vermeiden wollen. Auch wer statistisch jenseits der Armutsgrenze lebt, hat es nicht etwa geschafft, sondern bleibt ein Risikokandidat: Kleinere Anlässe genügen oft schon, um aus dem Tritt zu kommen, ein weiteres Kind etwa, eine längere Krankheit oder die Arbeitslosigkeit des Partners.
Wie nah große Gruppen an der Grenze zur manifesten Bedürftigkeit leben, wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass durch eine Erhöhung des Regelsatzes um nur 50 Euro monatlich, die Gruppe der Hartz-IV-Berechtigten um fast eine halbe Millionen Menschen anwachsen würde.
Alle Formen von Armut weisen zudem eine hohe Dunkelziffer auf. Es gibt deutlich mehr Arme und Bedürftige, als die Statistiken ausweisen. Das hat seinen Grund darin, dass sie ihre Ansprüche nicht anmelden, weil es ihnen peinlich ist, ihren Notsituation zu offenbaren, auf die Ämter zu gehen und Anträge zu stellen.

Schikanen der Job-Center

Warum?
Werner Seppmann: Die Opfer werden nicht selten wie Bittsteller behandelt. Immer wieder berichten die Betroffenen davon, wie sie von der Sozialverwaltung schikaniert werden. Jährlich werden mittlerweile in mehr als einer Millionen Fällen aus geringstem Anlass die Unterstützungszahlungen gekürzt. Die Demütigung hat System und kulminiert in dem Zwang, sich auf der Suche nach Beschäftigung begeben zu müssen, die es in nicht wenigen Segmenten der Arbeitswelt überhaupt nicht mehr gibt.
Die Arbeitsagenturen, die zwar bei der Vermittlung von auskömmlicher Beschäftigung meist wenig zu bieten haben, laufen zur Hochform auf, wenn es darum geht, Arbeitslosengeldempfänger in ruinös bezahlte Arbeitskontrakte zu pressen: Die Sozialbürokratie wird zur Organisationsinstanz des Wechselspiels von Integration und Ausgrenzung, Selektion und Repression.
Die erzwungene Bereitschaft Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung zu machen, lässt die Betroffenen in eine Abwärtsspirale geraten, die darin besteht, dass sie von Stufe zu Stufe schlechter bezahlt werden, zunehmend ungünstigere Arbeitsbedingungen und immer kürzere Beschäftigungsphasen in Kauf nehmen müssen. Denn selten sind die Beschäftigungsverhältnisse in den prekären Bereichen von Dauer. Folglich werden die Arbeitslosen immer wieder auf die Bahn geschickt – mit dem Ergebnis, dass sie von Runde zu Runde weiter zurückfallen und ihre Situation immer aussichtsloser wird.

„Es sind zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden“

Was sind die Folgen für die Menschen?
Werner Seppmann: Wer in den Armutszonen lebt, braucht in Deutschland (noch) nicht Hunger leiden. Jedenfalls nicht in den ersten beiden Dritteln des Monat, also so lange, wie die Hilfe zum Lebensunterhalt einigermaßen reicht. Man lebt wie es in einem geflügelten Wort der englischen Arbeiterklasse aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt, „halbsatt von Kartoffeln schlechtester Sorte für dreißig Wochen im Jahr“.
Aber gravierender als die materielle Enge ist, dass die Bedürftigkeit einen demütigenden Charakter und psychisch destabilisierende Folgen hat. Die Mensch fühlen sich sozial ausgeschlossen und gesellschaftlich nutzlos. Zufall ist es nicht, dass, wie aktuelle Untersuchungen zeigen, ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger unter psychischen Krankheiten leiden.
Bei den ausbeutungszentrierten Umgestaltungen, die mit neoliberalistischen Elan voran getrieben wurden sind auch zivilisatorische Rückbildungs- und Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden. Denn Armut und Bedürftigkeit – um nur einen Aspekt zu nennen – sind nicht selten mit Formen geistiger und emotionaler Verarmung verbunden.
Vor allem für die wachsende Zahl von Kindern, die – wie man es nennt – in „sozial schwachen Familien“ aufwachsen, hinterlässt die alltäglich erfahrene Resignation tiefe Spuren.

„Absterbende Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes

Wie wirkt sich denn Armut und Bedürftigkeit auf junge Menschen konkret aus?
Werner Seppmann: Man kann es mit einem Wort sagen: Desaströs. Sie bleiben in ihrer geistigen, emotionalen und körperlichen Entwicklung zurück. Fein- und Grobmotorik, Sprachfähigkeit und alltägliches Orientierungswissen weisen beträchtliche Defizite auf.
Durch die Lethargie ihres sozialen Umfelds negativ beeinflusst, ist der Wahrnehmungsraum der in bescheidenen Verhältnissen aufwachsenden Kinder und Jugendlicher auf die wenigen Straßen und Häuser der unmittelbaren Nachbarschaft beschränkt: Der Rückzug arbeitsloser Erwachsene auf ihre Wohnung als letzten Schutzraum findet bei den in Armut aufwachsenden jungen Menschen seine Entsprechung in geografischer Immobilität und einer absterbenden Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes.
Wer in seiner Kindheit Phasen der Armut erlebt hat, ist auch in seinen späteren Lebensjahren öfter und intensiver krank als Menschen, die in gesicherten Verhältnissen aufgewachsen sind. Ebenso fallen von familiärer Armut geprägte Kinder in der Schule durch Konzentrationsschwierigkeiten und Lernschwächen auf.
Die Konsequenzen der Kinderarmut sind nicht die einzigen Beispiele dafür, dass mit den sozialpolitischen Umgestaltungen auch zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in kauf genommen werden. Prinzipiell haben die neoliberalistischen Aktivitäten den Charakter eines Kulturkampfes angenommen: Die Stadtteilbibliotheken und wohngebietsnahen Schwimmbäder werden geschlossen, die Schulen für die breite Masse verfallen und für Migrantenkinder stehen keine qualifizierten Sprachlehrer zur Verfügung.
Selbst durch die Hilfssätze für die Kinder in den sozialen Notstandszonen wird dokumentiert, das für sie eine höhere Bildung und kulturelle Partizipation nicht vorgesehen ist: Ihnen wird deutlich zu verstehen gegeben, dass sie zu denen gehören, die auch später keine Chance haben werden. Die Daten über die sozialen Selektionswirkungen des bundesdeutschen Bildungssystem belegen das in einer unmissverständlichen Weise.
In Teil 2 des Interviews äußert sich Werner Seppmann zu den Auswirkungen von Hartz IV auf den Arbeitsmarkt, die ökonomischen Folgen die EU und die Steuererleichterungen für Unternehmen, Reiche und Banken