Kinderarmut in Deutschland: „Sie mussten früh erwachsen werden“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute ein Interview mit Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in den NachDenkSeiten:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=59417

ISS - Gemeinnütziger e.V.Auszüge:

„Als Person, die nicht in Deutschland aufgewachsen ist, ist es für mich kaum zu fassen, dass es junge Menschen in einem der reichsten Länder der Welt gibt, die wie in einer Parallelgesellschaft in erbärmlichen Bedingungen aufgewachsen sind und bis heute Tag für Tag kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen.“
Das sagt Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS). Im Interview mit den NachDenkSeiten geht sie auf die von ISS und Arbeiterwohlfahrt (AWO) durchgeführte Langzeitstudie „Wenn Kinderarmut erwachsen wird“ ein. In der hochinteressanten Studie wurden Kindern aus armen Familien seit 1999 in verschiedenen Stadien ihres Lebens wissenschaftlich beobachtet.
Die Ergebnisse sind teils überraschend, teils alarmierend und erschütternd. Von Marcus Klöckner.

Frau Volf, wenn es um die Auswirkungen von Kinderarmut geht, ist es gar nicht so einfach, belastbare wissenschaftliche Daten zu erhalten, oder?

Richtig, und zwar aus vielen unterschiedlichen Gründen. Kinderarmut ist kein einfaches Thema, sowohl politisch als auch forschungstechnisch.
Zum einen braucht man eine gewisse Zahl an armen Familien mit Kindern, die überhaupt bereit wären, lange Fragebögen auszufüllen und über ihre Lage zu sprechen.
Zum anderen bedarf es eines fundierten Konzepts, um dieses gesellschaftliche Phänomen mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen.
Das Ganze über mehrere Jahre und mit denselben Personen umzusetzen, ist eine Mammutaufgabe.

Eine Studie der Arbeiterwohlfahrt und des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik hat über einen langen Zeitraum untersucht, wie sich Kinderarmut auf die betreffenden Kinder auswirkt.
Wie lange ist die Studie gelaufen? Und: Warum haben Sie die Studie über einen so langen Zeitraum durchgeführt?

Die AWO-ISS-Studie zur Kinderarmut geht auf das Jahr 1997 zurück. Die Arbeiterwohlfahrt hat das Thema Kinderarmut in den 1990er Jahren verstärkt in den Fokus genommen, als die Sozialleistungsbezugsquoten unter Familien mit Kindern stiegen und die Folgen auch in ihren sozialen Einrichtungen sichtbar wurden.
So hat der Bundesverband in einem ersten Schritt 2.700 AWO-Kinder-, Jugend- und Familieneinrichtungen befragt und untersucht, wie Armut in der Praxis von den AWO-Fachkräften wahrgenommen wird.
Im Ergebnis wurde unter anderem erkannt, dass die AWO-Einrichtungen zwar viele sozial benachteiligte Gruppen erreichen.
Welche konkrete Bedeutung Armut als eine Lebensbedingung für die Entwicklung der Kinder hat und was der Verband für armutsbetroffene Kinder machen kann, erforderte jedoch eine weitere systematische Untersuchung und zwar aus der Kindesperspektive. Damals waren die Folgen familiärer Armut auf Kinder kaum erforscht.
Diese Lücke wollte der Bundesverband zügig schließen und gab ein Forschungsprojekt beim ISS in Auftrag. Bereits die erste Phase der AWO-ISS-Studie war so aufschlussreich, dass das Interesse an der weiteren Entwicklung der Kinder nie nachgelassen hat.
Mit der Zeit spitzte sich die Problematik der Kinderarmut in der Bundesrepublik weiterhin zu. Aktuell betrifft Armut jedes fünfte Kind in Deutschland. Bis heute bleibt die AWO-ISS-Studie in ihrer Konzeption allerdings einmalig.

Wie haben Sie Armut bei den Kindern Ihrer Studie überhaupt erfasst? Anders gefragt: Woran konnten Sie festmachen, dass ein Kind in Armut lebt?

Zunächst muss man etwas klar sagen: Es gibt keine armen Kinder ohne arme Eltern. Es handelt sich also um Kinder, die in einkommensarmen Familien aufwachsen.

Wenn über Kinderarmut gesprochen wird, wird genau diese Tatsache oft ignoriert. Kinder sind deshalb arm, weil die Eltern arm sind.

Eben.

Wann ist aus der Sicht Ihrer Studie nun eine Familie bzw. ein Kind arm?

Als einkommensarm bezeichnen wir Familien, die staatliche Transferleistungen wie zum Beispiel Hartz IV, Kinderzuschlag, Wohngeld beziehen und/oder – gemäß der gängigen Armutsdefinition – monatlich weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland haben.
Einkommensarmut ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Viel wichtiger ist die Frage, was bei den Kindern in armen und nicht armen Familien tatsächlich ankommt.

Wie meinen Sie das?

Wir wissen aus der Forschung, dass einige Kinder trotz knapper finanzieller Ressourcen der Eltern im Wohlergehen aufwachsen.
Im Alter von sechs Jahren war es immerhin jedes vierte Kind aus den armen Familien, bei denen – statistisch gesehen – keine Armutsfolgen nachgezeichnet werden konnten. Viel häufiger tritt allerdings ein anderes Szenario ein.

Nämlich?

Jedes dritte Kind aus armen Familien wächst in multipler Deprivation auf, d. h. diese Kinder sind mehrfachen gravierenden Einschränkungen und Benachteiligungen in (fast) allen Lebensbereichen ausgesetzt.
Vergleicht man die Lebenslagen der Kinder aus armen und nicht armen Familien, dann wird es deutlich: Unter den Armutsbedingungen sind die Chancen der Kinder, im Wohlergehen aufzuwachsen, halb so groß und die Risiken auf ein Leben mit mehrfachen Einschränkungen dreimal höher als bei den Kindern aus finanziell besser gestellten Familien.

Bevor wir die Studie genauer beleuchten, vorab die Frage: Was können die Folgen von Armut bei Kindern sein?

Es hängt davon ab, von welchem Alter wir sprechen. Kinder haben in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, aber auch verschiedene Entwicklungsaufgaben.
Wenn sich ein Kind altersgemäß entwickelt, an sozialen und kulturellen Angeboten wie Bildung, Sport, Freizeitaktivitäten teilhat und keine Einschränkungen aufgrund der finanziellen Lage der Eltern wie zum Beispiel bei Essen, Kleidung, Wohnraum oder bei gemeinsamen familiären Aktivitäten erlebt, dann gehen wir davon aus, dass es dem Kind gut geht. Diese gute Lebenslage bezeichnen wir als „Wohlergehen“.
Sobald wir bei einem Kind auffällig viele Einschränkungen feststellen, die im Zusammenhang mit der finanziellen Lage der Familie stehen, sprechen wir von Armutsfolgen und unterscheiden dann die Lebenslagen – je nach Ausprägungen der Einschränkungen – zwischen „Benachteiligung“ oder gar „multipler Deprivation“.
Die Unterschiede zwischen den armutsbetroffenen Kindern und ihren Altersgenossen aus finanziell besser gestellten Familien lassen sich bereits im Kita-Alter feststellen: Sie weisen häufiger Spiel- und Sprachauffälligkeiten auf, ihre Grob- und Feinmotorik ist schlechter entwickelt, sie sind häufiger entweder sehr zurückhaltend oder umgekehrt aggressiv.
Mit zehn Jahren erleben die Kinder aus armen Familien zudem häufiger Benachteiligung in sozialen und kulturellen Bereichen. Selten können sie ihre Freunde nach Hause einladen, den eigenen Geburtstag feiern oder zu anderen Kindern zum Geburtstag kommen, weil das Geld für ein Geschenk fehlt.

Würden Sie kurz schildern, wie Ihre Studie aufgebaut ist? Wie viele Kinder hat Ihre Studie umfasst?

Im Jahr 1999 erfolgte die erste Datenerhebung in 60 AWO-Kindertageseinrichtungen. Die Erzieherinnen und Erzieher füllten die Fragebögen auf Grundlage ihrer Beobachtungen für insgesamt 893 Sechsjährige aus.
Als die Kinder zehn und 16/17 Jahre alt waren, wurden jeweils bis zu 500 Familien wiedererreicht und direkt befragt. Dabei wurden die Lebenslagen sowohl aus der Sicht der Kinder als auch aus der Sicht der Eltern untersucht.
Im Jahr 2018 waren die Studienteilnehmenden bereits junge Erwachsene, die teilweise schon selbst Kinder hatten.
Zum Glück sind 205 Personen unserer Einladung gefolgt und haben an der Befragung zu (Langzeit-)Folgen der Kinderarmut bis zum jungen Erwachsenenalter teilgenommen.
Zusätzlich zu den quantitativen Daten wurden in jeder Studienphase zahlreiche Interviews mit Kindern und Eltern geführt. Somit ist es im Rahmen der Studie möglich, die Lebensverläufe der armen und nicht armen Sechsjährigen bis zum 25. Lebensjahr nicht nur quantitativ, sondern für einzelne Personen auch qualitativ zu rekonstruieren.

Damit ist die Studie allerdings nicht repräsentativ, oder?

Richtig, dies war aber auch nie ein Ziel. Für die Studie wurden 60 Kitas bundesweit ausgewählt, die in benachteiligten Quartieren verortet waren. Damit war angestrebt, möglichst viele Kinder aus armen Familien zu erreichen.
Das Ziel war auch erreicht. Während damals in der Bundesrepublik die Armutsquote bei den fünf- und sechsjährigen Kindern bei 11 Prozent lag, lag der Anteil der Kinder aus armen Familien der AWO-ISS-Studie bei 26 Prozent.
Aus diesen methodischen Gründen gilt diese Studie als nicht repräsentativ.

Worin liegt dennoch ihr Wert?

Die Lebensverläufe der Kinder zu erforschen – und zwar einerseits differenziert nach Armutserfahrungen in ihren Biographien und andererseits nach Kumulation von Benachteiligungen im zeitlichen Verlauf – ist eine methodische Herausforderung und in der Praxis eine anspruchsvolle Aufgabe. Vielleicht deswegen gibt es bislang in Deutschland keine weitere vergleichbare Studie, die so viele Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Muster beleuchtet.
Wie haben sich die Kinder in armen und nicht armen Familien im Kindergarten- und Grundschulalter entwickelt? Wie gelang ihnen der Übergang in die Grundschule?
Mit welchen Schwierigkeiten wurden sie beim Übergang in die weiterführende Schule konfrontiert? Welche Rolle hatte dabei die familiäre Armut?
Haben sie als Jugendliche einschneidende Lebensereignisse erlebt? Konnten sie diese bewältigen? Wie ging es ihnen gesundheitlich? Mussten sie schon früh jobben?
Was passierte nach dem Schulabschluss? Haben sie einen beruflichen Abschluss erreicht und einen guten Job gefunden?
Und, die spannendste Frage natürlich: Gelang es den ehemals armen sechsjährigen Kindern, der familiären Armut beim Erwachsenwerden zu entkommen?
Aus all den zahlreichen Studienerkenntnissen wurden ganz konkrete Empfehlungen für die praktische Arbeit der Sozialen Dienste mit Kindern und Jugendlichen entwickelt und sozialpolitische Schlussfolgerungen formuliert.

Wie sieht nun die Lebenswelt der ehemals armen Kinder heute aus? Welche Einblicke konnten Sie gewinnen?

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie aus der Langzeitperspektive ist, dass es keinen Automatismus zwischen „einmal arm – immer arm“ gibt. Dies haben wir auch in der letzten Studienphase bestätigt.
Dennoch blieb die Mehrheit der nicht armen Sechsjährigen – und hier meine ich rund 80 Prozent – bis zur Jugendzeit nicht arm und die Mehrheit der armen Sechsjährigen – rund 60 Prozent – arm.
Was wir beim Übergang ins junge Erwachsenenalter beobachten können, ist, dass es zwei Dritteln der ehemals armen sechsjährigen Kinder tatsächlich gelang, einen Sprung aus familiärer Armut zu machen. Ökonomische Verselbstständigung spielte dabei die entscheidende Rolle.
Ein Drittel lebt allerdings weiterhin in Armut. Betrachten wir die Langzeitfolgen von Kinderarmut, so stellen wir fest, dass Armutserfahrungen in Kindheit und/oder Jugend noch deutliche Spuren auch nach vielen Jahren hinterlassen haben. Armutsbetroffene junge Menschen verfügen zu Beginn des Erwachsenenlebens über weniger Ressourcen, sowohl materieller, sozialer als auch kultureller Art. Sie sind mit 25 Jahren deutlich häufiger als ihre Altersgenossen ohne Armutserfahrung mit gesundheitlichen – vor allem psychischen – Problemen konfrontiert. Ihr Gesundheitsverhalten ist riskanter.
Da sie auch ein niedrigeres Bildungs- und Qualifikationsniveau erreichen, sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht besonders erfolgsversprechend.
Lebt ein Kind sein ganzes Leben in Armut, so ist das Risiko für „multiple Deprivation“ im jungen Erwachsenenalter hoch und liegt in unserer Studie bei 25 Prozent.

Gab es auch überraschende Befunde?

Ich persönlich habe im Rahmen der Studie sehr viele Aha-Erlebnisse gehabt, da ich sowohl viele Daten berechnet als auch einen Teil der Interviews mit den Studienteilnehmenden durchgeführt habe.
Es gab einige Hypothesen, die wir im Rahmen unserer Studie nicht bestätigen können, wie zum Beispiel, dass es Migrantenkindern – die als Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko gilt – schlechter geht als Studienteilnehmenden ohne Migrationserfahrungen oder dass auch mittlere Bildung vor Armut schützt. Nein, dies tut sie nicht mehr.
Gleichzeitig können wir belegen, was auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheint, und zwar, dass es der Mehrheit der ehemals armen Kinder dennoch gelungen ist, die familiäre Armut im jungen Erwachsenenalter hinter sich zu lassen. Besonders überrascht hat uns der quantitative Befund bezogen auf die Suche nach Faktoren, die klare Hinweise darauf geben können, ob ein Kind im jungen Erwachsenenalter von Armut betroffen wird oder nicht.
Armut in Kindheit und Jugend erhöht das Armutsrisiko im jungen Erwachsenenalter. Auch Bildungsniveau und Erwerbstatus spielen eine große Rolle.
Aber: Wenn die Armutsfolgen bei Kindern bis zur Jugendzeit vermieden werden können, dann verliert die Einkommensarmut der Familie an prognostischer Kraft, ob die Kinder selbst im jungen Erwachsenenalter arm werden.
Mit anderen Worten: Wenn die Kinder im Wohlergehen trotz Armut aufwachsen, haben sie gute Chancen auf ein gutes Leben als Erwachsene.
Über die qualitativen Befunde, die mich überrascht haben, bräuchten wir wahrscheinlich ein zweites Interview. Als Person, die nicht in Deutschland aufgewachsen ist, ist es für mich kaum zu fassen, dass es junge Menschen in einem der reichsten Länder der Welt gibt, die wie in einer Parallelgesellschaft in erbärmlichen Bedingungen aufgewachsen sind und bis heute Tag für Tag kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen.

Sie sprechen in Ihrer Studie davon, dass bei armen Kindern oftmals „soziale Unterstützernetzwerke“ fehlen. Wie meinen Sie das?

Der Frage nach sozialen Unterstützungsnetzwerken sind wir sowohl quantitativ als auch qualitativ nachgegangen.
Zum einen stellten wir fest, dass sich die armutsbetroffenen Studienteilnehmenden rückblickend deutlich seltener von ihren Familien oder Freunden unterstützt gefühlt haben. Väter standen zum Beispiel jeder fünften Person mit Armutserfahrung im ganzen Leben nicht als unterstützende Ressource zur Verfügung. 42 Prozent der armen jungen Erwachsenen hätten in ihrem privaten Umfeld keine einzige Person, die ihnen 1.000 Euro in einer schwierigen Situation leihen würde.
Zum anderen haben wir im Rahmen der Interviews die jungen Menschen gefragt, wie sie sich für ihre Ausbildungs- und Studiengänge entschieden und wie sie einen ersten Job gefunden haben.
Im Ergebnis war es klar, dass die armen Jugendlichen bei solchen Fragen deutlich seltener Unterstützung aus dem privaten Umfeld bekommen haben. Die jungen Erwachsenen aus finanziell stabilen Familien sowie die jungen Menschen, die einen sozialen Aufstieg geschafft haben, berichteten in der Regel von der einen oder anderen Person aus der Familie oder ihrem Bekanntenkreis, die ihnen bei solchen Fragen mit Rat und Unterstützung zur Verfügung stand.

Sie haben bei armen Kindern auch eine „Orientierungslosigkeit“ bei Eintritt in die Berufsphase festgestellt. Woran liegt das?

Zum einen liegt es daran, dass die Jugendlichen aus armen Familien seltener Vorbilder in ihren Familien haben, die ihnen bei der Berufsorientierung helfen können.
Zum anderen berichteten die jungen Menschen aus nicht armen Familien, dass ihr Lebensverlauf von ihren Eltern praktisch vorgegeben wurde. Für manche von ihnen stand es gar nicht zur Diskussion, dass sie nach dem Schulabschluss studieren würden. Sie sind mit dieser Orientierung aufgewachsen. Das ist für sie etwas Selbstverständliches gewesen, was sie auch als Jugendliche nie in Frage gestellt haben.
Die Kinder aus armen Familien berichteten im Gegenteil davon, dass sie mit der Einstellung aufgewachsen sind, dass Unis nur für reiche Menschen da wären.
Nun kommen wir wieder auf den Punkt, was uns im Rahmen der Studie überrascht hat. Diesen Befund kann ich immer noch nicht verdauen.

Damit meinen Sie…?

Bildung ist zwar ein hohes Gut, aber auch ein Menschenrecht. Dieses Recht soll für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und finanzieller Möglichkeiten der Eltern gelten. Soll.
In der Praxis sieht es aber anders aus. Wenn Kinder in armen Familien mit der Einstellung oder sogar dem Wissen aufwachsen, dass sie es nie bis zur Uni schaffen werden, dann gibt es für die Zukunft wenig Hoffnung.
Und wenn sie erwachsen werden, dann werden sie in der Gesellschaft noch als „bildungsfern“ bezeichnet. Durch diese Zuschreibung wird ein gesellschaftspolitisches Problem – Armut entsteht in Folge politischer Entscheidungen – individualisiert. Die Schuld wird auf die Menschen geschoben, wobei die Ursachen im System liegen.
Kinder aus armen Familien haben keine gleichen Startchancen und durch die Selektionsmechanismen des Bildungssystems werden sie von der Bildung noch weiter entfernt.

Wie schätzen arme Kinder ihre eigene Lage ein?

Interessant finde ich die Ergebnisse bezogen auf die rückblickende Einschätzung der jungen Erwachsenen, ob sie als Kinder in Armut gelebt haben oder nicht. Da spielt der Lebenslagenansatz der Studie die zentrale Rolle.
Denn die Kinder, die trotz familiärer Armut im Wohlergehen aufgewachsen sind, können später gar nicht so richtig beurteilen, ob ihre Familie arm war. Die Einschränkungen, die sie vielleicht immer mal wieder erlebt haben, deuten sie eher als positive Erziehungswerte der Eltern um.
Die Kinder, die in Armut und dabei mit vielen gravierenden Einschränkungen aufgewachsen sind, können ihre schwierige Lebenslage als Kinder sehr genau rekonstruieren. Sie betonen, dass sie auch nur Kinder sein wollten.
Aber es kam in ihrem Leben doch anders: Sie mussten früh erwachsen werden.

Welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, auf die Demokratie hat es, wenn Kinder in Armut aufwachsen?

An dieser Stelle würde ich gerne einen weiteren Befund der Studie aufgreifen, der auf alarmierende Zustände hindeutet.
Zum einen glaubt rund jede vierte armutsbetroffene Person – und dies ist doppelt so viel wie ihre nicht armen Altersgenossen – dass sie eher wenig über Politik wissen. Und fast die Hälfte der Armutsbetroffenen glaubt zudem, dass die Politikerinnen und Politiker sich nicht viel darum kümmern, was Leute wie sie denken.
Armut hinterlässt also nicht nur deutliche Spuren im Leben der Menschen und raubt ihnen die Chancen auf Wohlergehen, sondern trägt auch dazu bei, dass Menschen sich nicht als Teil einer lebendigen, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft fühlen.
Das heißt, dass deren Interessen deutlich weniger sichtbar werden und damit auch in politischen Entscheidungsprozessen weniger beachtet werden können als die Interessen derjenigen ohne Armutserfahrung.

Was bedeuten denn Ihre Erkenntnisse für die Politik? Was muss unternommen werden, um armen Kindern zu helfen?

Diese Frage hat sich die Arbeiterwohlfahrt als Auftraggeber, der die Studie nun seit mehr als 23 Jahren finanziert, in jeder Studienphase gestellt und auch dieses Mal auf den Ebenen des Bundesverbandes, der Landesverbände und der Kreisverbände diskutiert. Im Ergebnis dieses Prozesses hat die AWO fünf zentrale Forderungen an die Politik formuliert, die ich gern punktuell aufgreifen würde.
An erster Stelle gilt es, Einkommens- und Familienarmut wirkungsvoll zu bekämpfen, indem die Rahmenbedingungen für gute und existenzsichernde Arbeit weiter verbessert werden.
Durch eine Reform der kinder- und familienpolitischen Leistungen soll das soziokulturelle Existenzminimum aller Kinder verlässlich abgebildet und bereitgestellt werden.
Hierzu ist die Einführung einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung erforderlich.
Auch die soziale Infrastruktur zu stärken, zu verzahnen und präventiv auszurichten, ist wichtig, da diese für alle Menschen vor Ort in allen Lebenslagen als verlässliche Unterstützung zur Verfügung stehen sollte.
In Bildung sollte verstärkt investiert werden, damit eine nachhaltige Integration aller jungen Erwachsenen in Ausbildung und Arbeit erfolgen kann.
Alle junge Menschen sollen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben im Wohlergehen haben und zwar unabhängig davon, ob ihre Eltern ihnen dies ermöglichen konnten oder nicht.
Es ist schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Lesetipp: Volf, Irina/Laubstein, Claudia/Sthamer, Evelyn: Wenn Kinderarmut erwachsen wird. Kurzfassung. Frankfurt a.M. 2019.

Volf, Irina/Laubstein, Claudia/Sthamer, Evelyn/Bernard, Christiane/Holz, Gerda. (2019) Wenn Kinderarmut erwachsen wird. AWO-ISS-Langzeitstudie zu (Langzeit-)Folgen von Armut im Lebensverlauf. Frankfurt a. M.

Vergleiche dazu meinen Beitrag vom Vorjahr:
https://josopon.wordpress.com/2019/11/08/armut-ist-nicht-programmiert-klebt-aber-wie-kot-am-leib/

AWO-Studie gibt Aufschluss darüber, wie Teufelskreise durchbrochen werden können

 

Jochen

Armut ist nicht programmiert, klebt aber wie Kot am Leib

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

pexels-photo-3536259.jpegDie skandalöse Feststellung kommt erst in der Mitte des Artikels https://www.neues-deutschland.de/artikel/1128260.kinderarmut-armut-ist-nicht-programmiert.html
Die Studie wurde auch in den Nachrichten des BR erwähnt, aber unter Betonung des Nebensatzes, dass sie ja nicht repräsentativ ist. Wieso werden keine staatlichen Forschungsmittel für eine aufwändige Langzeitstudie über 20 jahre zur Verfügung gestellt, die dann repräsentativ wäre ?
Auszüge:

AWO-Studie gibt Aufschluss darüber, wie Teufelskreise durchbrochen werden können

  • Von Stefan Otto

Als Ali Agir in den Kindergarten ging, sprach er kaum Deutsch. Seine Eltern kommen aus der Türkei, die Mutter war Hausfrau, der Vater Gerüstbauer.
Zusammen mit vier Geschwistern lebte er 1999 in einem Mietshaus einer westdeutschen Großstadt. Zu Hause gab es viel Streit, der Vater trank und war spielsüchtig. Zeitweilig trennten sich die Eltern.
Vor allem seine Mutter kümmerte sich um die Kinder, unterstützt wurde sie dabei von Verwandten und ihren Eltern.
Ali Agir wuchs in einer überschaubaren Umfeld auf, ging regelmäßig zur Schule und machte den Realschulabschluss.

Der heute 25-Jährige ist Teilnehmer einer Langzeitstudie über Armut im Lebenslauf, die das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) seit nunmehr 22 Jahren im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) erstellt. Am Mittwoch präsentierten die AWO und das ISS die Ergebnisse der fünften Erhebungsphase.
Die Untersuchung gibt Einblicke in Langzeitwirkungen von Armut bis ins junge Erwachsenenalter, zeigt aber auch auf, dass ärmliche Verhältnisse in der Kindheit kein Schicksal für das ganze Leben sein müssen.
»Es gibt keinen Automatismus, der aus armen Kindern zwingend arme Erwachsene werden lässt«, erklärte die Studienleiterin Irina Volf vom ISS, schränkte aber ein: »Viele junge Erwachsene mit Armutserfahrung entkommen der Armut nicht.«
Gut ein Viertel der Befragten (27 Prozent) lebten weiterhin in ärmlichen Verhältnissen.

Zu ihnen zählt die heute 25-jährige Jeanette Lupur. Auch in ihrer Familie kriselte es. Ihr Vater war gewalttätig, ihre Mutter trank und nahm Medikamente.
Die Eltern trennten sich, ihr Vater blieb in der gleichen Großstadt wohnen, gründete aber in einem anderen Stadtteil eine neue Familie. Ihre Mutter war fortan alleinerziehend und damit überfordert.
Jeanette Lupur und ihr älterer Bruder wurden vernachlässigt. Sie ging ohne Abschluss von der Schule ab, absolvierte keine Ausbildung und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Diese beiden Fallbeispiele zeigen, wie unterschiedlich die Lebenswege von Kindern verlaufen können, die in ganz ähnlichen Ausgangssituationen aufwachsen.
Die Untersuchung macht mehrere Faktoren aus, die Einfluss auf eine Entwicklung nehmen können: Wenn es etwa ein intaktes Familienumfeld gibt und die Eltern die Entwicklung ihrer Kinder aktiv begleiten, dann wirkt sich das förderlich aus. Ali Agir wurde beispielsweise von seiner bildungsaffinen Mutter darin bestärkt, den Realschulabschluss und anschließend eine Berufsausbildung zu machen.
Auch ein funktionierendes Hilfesystem kann Unterstützung leisten und die unterschiedlichen Ressourcen der Kinder gezielt fördern.

Von besonderer Bedeutung sind in der Entwicklung der Heranwachsenden jene Phasen, in denen sie die Weichen für ihren Lebensweg stellen, wie den Übergang von der Schule in den Beruf, den Auszug aus dem Elternhaus oder die Gründung einer Familie.
»Wenn es in diesen sensiblen Übergangsphasen passende soziale Dienstleistungen und ein funktionierendes soziales Netz gibt, dann steigen die Chancen der Betroffenen, der Armut zu entkommen«, erläuterte der Bundesvorsitzende der AWO, Wolfgang Stadler.
Was es brauche, sei eine noch präventivere Ausrichtung der sozialen Arbeit – »einen Paradigmenwechsel, der Armut im Vorhinein verhindert, statt ausschließlich an individuellen Armutssymptomen herumzudoktern«.

Darin sieht Stadler einen gesellschaftlichen Auftrag. Wenn nämlich »in jedem fünften Kinderzimmer die Armut eine Rolle mitspielt«, sei das unbefriedigend.
»Damit verwehren wir jedem fünften Kind legitime Ansprüche auf Wohlergehen, Anerkennung und Zukunftschancen.«
Seine politischen Forderungen formuliert er ganz konkret: eine Kindergrundsicherung, den weiteren Ausbau der sozialen Infrastruktur, Investitionen in Bildung sowie die gezielte Förderung junger Menschen beim Übergang in Ausbildung und Arbeit.

Auch Ali Agir befindet sich derzeit in einer Übergangsphase. Er arbeitet in einem Chemieunternehmen und hat mit seinem Lohn lange die Familie unterstützt. Jetzt überlegt er, eine Ausbildung zum Meister zu machen. Er sagt, dass er endlich sein eigenes Leben beginnen könne. Jeanette Lupur dagegen ist gerade Mutter geworden. Sie wird das Kind alleine aufziehen und nimmt sich vor, ihm eine schöne Kindheit zu bereiten.

Beide, Jeanette Lupur und Ali Agir, sind optimistisch, was durchaus repräsentativ ist: Rund drei Viertel der in Armut Aufgewachsenen blicken positiv in die Zukunft.

Mein Kommentar: Ja und können wir uns leisten, das restliche Viertel der Verelendung zu überlassen ?

Dazu auch https://josopon.wordpress.com/2017/04/11/von-kindesbeinen-an-im-teufelskreis-der-armut/

Nur die Reichen können sich einen armen Staat mit schwarzer Null leisten !
Für die von Stadler benannten Forderungen wäre genug Geld da, aber wir müssen ja sparen, um mit unserem teuren AKK-Militärapparat andere Länder überfallen zu drohen.

2021 aktuell dazu: https://de.rt.com/inland/115644-kinderarmut-jeder-dritte-hartz-iv-empfaenger-ist-ein-kind/

Jochen

Sahra Wagenknecht: Warum wir eine neue Sammlungsbewegung brauchen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ausnahmsweise in der WELT bekommt sie Gelegenheit, sich zu erklären:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article178121522/Gastbeitrag-Warum-wir-eine-neue-Sammlungsbewegung-brauchen.html

Dazu auch noch ein Interview in der Rhein-Neckar-Zeitung, in dem sie ausführlicher auf die geplante Bewegung eingeht:

https://www.rnz.de/politik/hintergrund_artikel,-sahra-wagenknecht-im-rnz-interview-kein-grund-meine-position-zu-veraendern-_arid,364713.htm

Auszüge:

Die liberale Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise. Äußeres Zeichen sind die Wahlsiege rechtsnationaler, offen illiberaler Kräfte – von Donald Trump über Victor Orbán bis zu Matteo Salvini.
Auch in Deutschland taumeln die ehemaligen Volksparteien von einer Wahlniederlage zur nächsten und erreichen gemeinsam gerade noch ein gutes Drittel aller Wahlberechtigten.

Die Ursache solcher Verschiebungen in der politischen Tektonik liegt auf der Hand: Es ist die Enttäuschung, Verärgerung, ja aufgestaute Wut erheblicher Teile der Bevölkerung über politische Entscheidungsträger, die seit vielen Jahren nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können, im Auftrag oder auch nur im Interesse der Mehrheit zu handeln.

Die Diskrepanz zwischen Wählerwille und Regierungsbildung wurde in Deutschland nach der Wahl im September 2017 augenfällig. Obwohl Union und SPD vom Wahlvolk mit desaströsen Ergebnissen abgestraft wurden, merkelten sie genau da weiter, wo sie vor der Wahl aufgehört hatten. Aber auch Jamaika hätte – wie die Sondierungsergebnisse zeigen – nichts Wesentliches anders gemacht. So wie vorher schon Schwarz-Gelb und noch früher Rot-Grün unter Gerhard Schröder.

Wahlen sind nur noch eine Farce

Die einstigen Volksparteien, einschließlich ihrer liberalen und grünen Partner, sind mittlerweile so ununterscheidbar geworden, dass Wahlen zur Farce und demokratische Rechte substanzlos werden.
Alle genannten Parteien stehen für eine Globalisierung nach dem Gusto transnationaler Großunternehmen – als wäre das die einzige Möglichkeit, internationalen Austausch im Zeitalter der Digitalisierung und moderner Transportwege zu organisieren.

Sie alle predigen die vermeintliche Unfähigkeit des Nationalstaats, seine Bürger vor Dumpingkonkurrenz und dem Renditedruck internationaler Finanzinvestoren zu schützen.
Sie alle vertreten somit einen Wirtschaftsliberalismus, der die Warnungen der Freiburger Schule vor der Konzentration von Wirtschaftsmacht in den Wind geschrieben hat und deren fatale Folgen nicht nur für Innovation und Kundenorientierung, sondern auch für die Demokratie ignoriert.

Und sie alle haben diesem Uralt-Liberalismus, der aus der Zeit vor der Entstehung moderner Sozialstaaten stammt, die glitzernde Hülle linksliberaler Werte übergestreift, um ihm ein Image von Modernität, ja moralischer Integrität zu geben. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.

Und es widerspricht sich ja nicht: Ehe für alle und sozialer Aufstieg für wenige, Frauenquote in Aufsichtsräten und Niedriglöhne dort, wo vor allem Frauen arbeiten, staatlich bezahlte Antidiskriminierungsbeauftragte und staatlich verursachte Zunahme von Kinderarmut in Einwandererfamilien.

Im Ergebnis dieses Policy Mix wurden einerseits die Rechte vormals ausgegrenzter und diskriminierter Minderheiten real gestärkt, andererseits wächst die Ungleichheit und schmilzt der Wohlstand der Mitte.
Das gilt nicht nur für Länder mit großen ökonomischen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit.

Auch in Deutschland haben die unteren 40 Prozent der Bevölkerung laut DIW heute weniger Kaufkraft als Ende der Neunzigerjahre. Der von der Agenda 2010 geschaffene Niedriglohnsektor und die Kürzung sozialer Leistungen, etwa bei Rente und Arbeitslosengeld, schlagen sich in dieser Zahl nieder.

Die Vermögensungleichheit ist wieder so hoch wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Die Unsicherheit wächst.
Und die Aufnahme Hunderttausender Zuwanderer, vor allen in den Jahren 2015 und 2016, hat akute Probleme wie den Mangel an Sozialwohnungen und Kita-Plätzen oder die hoffnungslose Überforderung von Schulen in sozialen Brennpunkten weiter verschärft.

Große Unternehmen regieren das Land

Auch wenn der Chef des Dax-Konzerns Daimler, Dieter Zetsche, damals jubelte, „genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land“, lässt sich kaum behaupten, dass diese Politik den Rückhalt gesellschaftlicher Mehrheiten besaß.

Vor einiger Zeit wurden von einem WDR-Filmteam Bürgerinnen und Bürger gefragt, wer ihrer Meinung nach in Deutschland die Macht hat.
Die wenigsten glaubten, dass die Macht bei den Politikern liegt oder gar bei den Wählern. Nahezu alle gingen davon aus, dass die Wirtschaft, insbesondere die großen Unternehmen, unser Land regieren.

Ob die großzügige Bankenrettung oder die Rückgratlosigkeit der Politik im Umgang mit den Abgasbetrügern (selbstverständlich wäre es möglich, Unternehmen per Gesetz zur Nachrüstung der Hardware zu verpflichten), ob der fahrlässige Verzicht auf den Schutz unserer Privatsphäre vor Facebook, Google und Co. (die EU-Datenschutzgrundverordnung quält Mittelständler und ficht die Datenkraken nicht an) oder die politische Untätigkeit angesichts des dreisten Steuerdumpings der Konzerne (das sich durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen auch ohne „europäische Lösung“ beenden ließe) – es gibt unzählige Beispiele, die die Befragten in ihrer Einschätzung bestätigen dürften.

Demokratie verlangt Wahlfreiheit, also die Möglichkeit, sich zwischen Regierungen mit grundsätzlich unterschiedlichen Programmen entscheiden zu können.
Wo die globalisierte Wirtschaft regiert und die Politik sich für machtlos erklärt, gibt es keine demokratische Gestaltung und folglich auch keine Alternativen mehr.

Dass sich gerade Ärmere und Abstiegsgefährdete von einer Fassadendemokratie abwenden, die ihnen täglich demonstriert, dass ihre Bedürfnisse kein Gewicht mehr haben, ist wenig erstaunlich.

Auch die Aggressivität, mit der progressive liberale Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht.

Leistungsgerechte Verteilung

Für sie sind Minderheitenrechte und Antidiskriminierungspolitik heuchlerische Facetten eines politischen Programms, das sich als edel, hilfreich, solidarisch und gut inszeniert, obschon seine Protagonisten ihrem Wunsch nach einem Leben in bescheidenem, halbwegs gesichertem Wohlstand seit jeher mit völliger Gleichgültigkeit, ja Verachtung begegnen.

Genau deshalb ist die Liaison von Linksliberalismus und Goldman-Sachs-Kapitalismus so gefährlich. Sie untergräbt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Zustimmung zu liberalen Grundwerten.
Es ist dringend an der Zeit, dass der Unmut wieder eine progressive Stimme und letztlich auch die Macht bekommt, die Politik in unserem Land zu verändern.

Wir brauchen eine neue Sammlungsbewegung: zur Wiedergewinnung der Demokratie, für Fairness im Umgang untereinander, für eine leistungsgerechte Verteilung und für eine Politik der guten Nachbarschaft im Verhältnis zu anderen Ländern.

„Kein Grund, meine Position zu verändern“

Linken-Fraktionschefin sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden

Von Andreas Herholz, RNZ Berlin

Leipzig. Sahra Wagenknecht (48) ist Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die gebürtige Ostdeutsche lebt im Saarland zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine.

Frau Wagenknecht, monatelang hat die Linke vor allem über den Kurs in der Flüchtlingspolitik gestritten. Auf dem Leipziger Parteitag gab es darüber offene Auseinandersetzungen. Kein bisschen Frieden in der Partei?

Viele an der Parteibasis haben die Grabenkämpfe satt. Inhaltliche Debatten dürfen nicht mit Diffamierungen verbunden werden. Wir brauchen eine sachliche Debatte über die Flüchtlingspolitik. Wenn mir und anderen aber Nähe zur AfD oder Rassismus vorgeworfen wird, ist das keine sachliche Diskussion. Das ist einfach unanständig.

Ist der Machtkampf jetzt entschieden, oder werden die innerparteilichen Auseinandersetzungen weitergehen?

Ich hoffe, dass jeder sich von jetzt an auf seine Aufgaben konzentriert. Die Fraktionsspitze ist ebenso gewählt wie die Parteispitze. Ich wünsche mir, dass man das gegenseitig akzeptiert. Die persönlichen Angriffe müssen beendet werden. Etwa, wenn der Eindruck erweckt wird, wer die Forderung „Offene Grenzen für alle“ nicht unterstützt, dem wäre Elend und Not auf der Welt gleichgültig. Da wird mit verletzenden Unterstellungen gearbeitet. Unter diese Art der Debatte muss ein Schlussstrich gezogen werden.

Parteichefin Katja Kipping fordert, dass das Votum des Parteitags für offene Grenzen jetzt akzeptiert und respektiert wird …

Ich sehe keinen Grund, wegen der Annahme des Leitantrages meine Position zu verändern. Die Forderung „Offene Grenzen für alle“ – also jeder, der will, kann nach Deutschland kommen – findet sich im Leitantrag nicht. Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen und Hilfe für Menschen, die vor Krieg und Not fliehen. Auch brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Das stellt niemand in der Partei in Frage.

Wir stehen zum Asylrecht und verteidigen es. Für Menschen, die verfolgt werden, muss es offene Grenzen geben. Aber offene Grenzen für alle sind weltfremd.

Der Kontrollverlust, den es im Herbst 2015 gab, hat dieses Land verändert, und zwar nicht zum Besseren. Das darf sich nicht wiederholen.

Aber der Parteitag hat sich mit der Zustimmung zum Leitantrag gegen eine striktere Begrenzung der Zuwanderung und für offene Grenzen ausgesprochen …

Nein. Es gibt unterschiedliche Meinungen über den Kurs in der Flüchtlingspolitik in der Partei. Aber damit kann man umgehen. Niemand sollte versuchen, die eigene Position allen anderen aufzuzwingen. Meine Position ist: Mehr Zuwanderung heißt immer auch mehr Konkurrenz um Jobs, vor allem im Niedriglohnsektor. Und natürlich auch eine stärkere Belastung der sozialen Infrastruktur.

Wir können Integration immer nur in einem bestimmten Rahmen bewältigen. Wir machen die Welt außerdem nicht gerechter, indem wir Migration fördern, im Gegenteil, das macht die armen Länder noch ärmer. Denn es ist immer die Mittelschicht, die abwandert, die Ärmsten sind dazu gar nicht in der Lage. Deshalb müssen wir vor Ort helfen.

Sie sprechen von einer großen Sehnsucht vieler Menschen nach mehr Schutz durch den Staat. Was meinen Sie konkret?

Die Politik hat die Menschen in Deutschland seit Jahren ihrer sozialen Sicherheit beraubt. Viele Menschen haben Angst vor sozialem Abstieg. Sie haben Angst vor Betriebsverlagerungen und Dumpingkonkurrenz. Aber Globalisierung ist kein Naturgesetz. Die Staaten können ihre Bürger vor einem entfesselten globalen Finanzkapitalismus schützen. Das Steuerdumping der Konzerne kann auch durch nationale Gesetze verhindert werden, etwa durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen erheben. Die Regierung kann dafür sorgen, dass es im Niedriglohnsektor nicht noch mehr Konkurrenz gibt.

Gute Löhne und soziale Sicherheit sind unverändert möglich, wenn die Politik die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, statt die Wünsche der Konzernchefs umzusetzen.

Sie werfen der Parteispitze vor, die Linke zu schwächen und kritisieren, dass die Partei nicht dir richtigen Milieus anspricht. Was läuft aus Ihrer Sicht falsch?

Die Linke ist gegründet worden, um denen eine Stimme zu geben, die unter sozialen Kürzungen und rücksichtslosem Renditedruck zu leiden haben. Das sind nicht nur die Ärmeren, das ist auch die Mittelschicht, die bei den anderen Parteien schon lange keine Lobby mehr hat. Wir haben zwar bei der letzten Bundestagswahl eine halbe Million Stimmen dazugewonnen. Aber gerade in ärmeren Stadtteilen im Westen wie im Osten haben wir teilweise massiv verloren. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Wenn Arbeitslose und Geringverdiener das Gefühl bekommen, die Linke ist nicht mehr für sie da, treiben wir sie in die Arme der AfD. Dann sind wir mitverantwortlich für das Erstarken der Rechten. Das wäre grob fahrlässig. Diejenigen, die jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen, müssen spüren, dass wir an ihrer Seite stehen.

Gemeinsam mit Ihrem Mann Oskar Lafontaine und prominenten Unterstützern wollen Sie eine neue linke Sammlungsbewegung gründen. Parteifreunde werfen ihnen vor, die Linkspartei zu spalten. Was ist das Ziel des neuen Projektes?

Es geht doch nicht darum, die Linke zu spalten oder zu schwächen. Es geht nicht um eine Alternative zur Linken, sondern um ein breiteres Bündnis. Die Linke liegt stabil bei 10 bis 11 Prozent. Damit sind wir aber weit davon entfernt, die Politik in diesem Land verändern zu können, weil wir keine Partner haben. Es ist der Linken leider nur begrenzt gelungen, die Millionen Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, die sich von der SPD in den letzten Jahren abgewandt haben.

Die Sammlungsbewegung ist ein überparteiliches Projekt, mit dem wir diese Menschen wieder erreichen wollen. Wir brauchen einen neuen Aufbruch, wenn wir die Politik in unserem Land verändern wollen. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, gibt es Beispiele dafür, dass ein solches Vorhaben erfolgreich sein kann. Und ich freue mich, dass unsere Idee schon jetzt, obwohl sie offiziell noch gar nicht gestartet wurde, unglaublich viel Resonanz erfährt.

Aus der Sammlungsbewegung soll am Ende keine Partei werden?

Nein. Wir sind sehr froh, dass auch linke SPD-Mitglieder zu den Initiatoren unserer Bewegung gehören. Sie würden sich definitiv nicht beteiligen, wenn es auf eine konkurrierende Partei hinausliefe. Ich bin auch überzeugt: Viele Menschen finden sich in Parteien nicht mehr wieder. Es ist die Zeit der Bewegungen. Eine starke Bewegung kann und wird auch die Parteien verändern.

Der G7-Gipfel endet mit einem historischen Debakel ohne gemeinsame Erklärung. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Treffens?

Es ist offenkundig, was Trump für eine Agenda hat. Er vertritt kompromisslos die Interessen der amerikanischen Wirtschaft und ist dafür auch bereit, immer wieder Absprachen zu brechen. Darüber kann man lamentieren, besser wäre es, wenn die europäischen Länder endlich beginnen, souverän und selbstbewusst die Interessen der in Europa lebenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und dabei möglichst geeint auftreten.

Der Ruf wird lauter, Russland wieder an den Verhandlungstisch zu holen. Ist es dafür nicht noch zu früh?

Worauf wollen wir noch warten? Eine Verbesserung des Verhältnisses zu Russland ist im ureigenen Interesse Europas. Als Signal sollten die unsinnigen Sanktionen aufgehoben werden. Sie schaden nicht nur der russischen Wirtschaft, sondern auch der europäischen, vor allem deutschen Unternehmen. Ja, der Bruch des Völkerrechts ist kein Kavaliersdelikt.

Aber man sollte nicht einäugig sein. Nicht nur der Anschluss der Krim an Russland widersprach dem Völkerrecht. Der Irakkrieg oder die Aufrüstung islamistischer Terrorgruppen in Syrien waren ungleich gravierendere Völkerrechtsbrüche. Wenn wir die Probleme der Welt lösen wollen, brauchen wir Russland mit am Tisch.

Wie lässt sich ein Handelskrieg mit den USA noch abwenden?

Die Sprache, die Trump versteht, ist die Drohung harter Gegenmaßnahmen. Wenn Trump ernsthaft mit Gegenmaßnahmen rechnen muss, die die US-Wirtschaft hart treffen würden, wird er sich überlegen, ob er diesen Weg weitergehen will.

Anmerkung: Dass dieser wichtige Beitrag ausgerechnet den Untertitel sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden“ trägt, auf den im weiteren Text kaum eingegangen wird bzw. der den Sinn von Sahras Aussage entstellt, ist wieder eine Meisterleistung, an der Goebbels seine Freude hätte. Wieder geht es vor allem darum, Differenzen in der Linken zu beleuchten, um vom emanzipatorischen Impuls abzulenken.

Jochen

Inge Hannemanns Kommentar zur Regierungserklärung Arbeit- und Sozialpolitik Hubertus Heil

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

iokaiobebefjbidm

Gestern eine lesenswerter Kommentar:
http://inge-hannemann.de/kommentar-zur-regierungserklaerung-arbeit-und-sozialpolitik-hubertus-heil/
Auszüge:

Mit Spannung hörte ich der heutigen Regierungserklärung unseres neuen Arbeits- und Sozialministers Hubertus Heil (SPD) zu.
Insbesondere unter der derzeitigen Debatte und medialen Inszenierung des Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) und seinen realitätsfernen Aussagen zu Hartz IV.
Kurze Erinnerung zu Spahn:

„Die gesetzliche Grundsicherung ist mit großem Aufwand genau bemessen und wird regelmäßig angepasst. Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Diese Grundsicherung ist aktive Armutsbekämpfung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer besser, aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.“

Aber dazu hatte ich mich bereits in einem anderen Artikel geäußert.

Zurück zu Heil. Heil ist als Verfechter der Agenda 2010 bekannt und zum linken, sozialpolitischen Flügel seiner Partei zähle ich ihn nicht.
Beim zehnjährigen „Jubiläum“ der Agenda 2010 wollte er in seiner Bundestagsrede am liebsten die Schrödersche Arbeitsmarktreform ganz in der Versenkung verschwinden lassen:

„Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit genutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nach vorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nicht mehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage, wie es in Deutschland weitergeht.“

Und dabei irrte er. Die Agenda 2010 und deren Folgen werden ihn linear genauso begleiten wie sein Amt.
Die vergangene Arbeits- und Sozialpolitik seiner Vorgängerinnen von der Leyen und Nahles haben weder Fehler aufgearbeitet noch eine Entspannung in den nachhaltigen Arbeitsmarkt gebracht.
Stattdessen wurden Gesetze verschärft, der Druck auf die Erwerbslosen erhöht und die Zahl der Langzeiterwerbslosen stagniert. Aber bekanntlich macht der Mai alles neu.
Und vielleicht liegt es am Monat März, dass keine neuen Erkenntnisse oder gezielte Planungen in der heutigen Regierungserklärung nur schwer erkennbar waren.

Heil fokussiert seine Rede auf Punkte, die er in der laufenden Legislaturperiode „behandeln“ möchte. Diese wäre zum einen das Erreichen einer Vollbeschäftigung.
Die Vollbeschäftigung wird unterschiedlich definiert und am Beschäftigungsgrad gemessen. Der ideale Messwert wird häufig definiert, dass alle Arbeitssuchenden (arbeitswilligen) Arbeitnehmer auch eine zumutbare Arbeit finden.
Die Arbeitslosenquote wird in dem Fall von bis zu 2 Prozent angegeben. Wenn ich, wie Heil es vorzieht, ignoriere dass es arbeitswillige Menschen gibt, die aus gesundheitlichen Gründen, aus Gründes ihres Alters, ihrer Behinderung, des Stigmas Hartz IV oder weil sie Angehörige pflegen gar keine Chance auf eine (gute) Arbeit mehr erhalten, kann natürlich von Vollbeschäftigung bzw. deren Wunsch fabuliert werden.
Mal abgesehen davon, dass auch Großunternehmen (Siemens) ad hoc Arbeitsplätze aus Profitgier mal so einfach abbauen. Gute Arbeit setzt Heil mit einer guten Lohnentwicklung (ohne näher konkret zu werden, insbesondere auf den Mindestlohn) und einer guten Tarifentwicklung gleich.
In den ersten 100 Tagen ist sein Ziel dass ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit per Gesetz durchgesetzt wird, um auch damit die Armutsrente zu verhindern. Hierbei bezieht er sich insbesondere auf die Beschäftigung von Frauen.

Weitere Punkte waren die Stabilität des Rentenniveaus und der damit einhergehenden Veränderung der Rentenformel. Die Grundrente ist für Heil eine Anerkennung, dass arbeitende Menschen mehr haben, als Menschen die nicht arbeiten.
Auch hierzu hatte ich mich bereits in einer Kurzanalyse geäußert. Seine Aussagen zur Erwerbsunfähigkeitsrente wurde durch eine (sinnvolle) Zwischenfrage von Matthias Birkwald (DIE LINKE) nicht mehr aufgenommen, so dass hier seine Vorstellungen nicht zum Ende kamen. Die Kinderarmut möchte Heil mit einem erhöhten Kinderzuschlag bekämpfen. Hier erwähnte er insbesondere die Menschen, die arbeiten, um dann nicht weiter in der Grundsicherung stecken zu bleiben (sic!). Sein letzter Punkt war die Digitalisierung und deren Ausbau.

Gleich zu Beginn seiner Rede stellte Heil klar, dass er nicht Erwerbslosigkeit finanzieren möchte, sondern die Arbeit und deren Vermittlung. Aus diesem Grund diskutiert er auch nicht über die Höhe der Regelsätze bei Hartz IV bzw. bei den Sozialleistungen.
Arbeit bringe ein selbstbestimmtes Leben, so Heil weiter. Tja, das war’s dann auch schon. Langzeiterwerbslosigkeit und deren Förderung war kein Punkt. Ebenso wenig wie das Thema Menschen mit Behinderung. Hartz IV gibt es auch nicht.

Fazit: Auch Heil hat kein Patentrezept, um die derzeitige desolate Arbeitsmarktpolitik in positive Bahnen zu lenken.
Er bleibt orientierungslos, planlos und ignorant; klebt an der Agenda-2010-Politik wie ein Fliegenschiss und in diesem Fall in trauter Einigkeit mit der CDU / CSU.
Eine wirkliche Arbeitsmarktreform kann sich nur entwickeln, wenn vom Bürokratiemonster Hartz IV Abstand genommen wird.
Dazu gehört zunächst die Abschaffung der Sanktionen beim Arbeitslosengeld II, das Erkennen der Realität von Drangsalierungen, Entrechtungen und Stigmatisierungen durch die Jobcenter und deren legitimiertes Sozialgesetzbuch II sowie die Regulierung der Regelsätze an die Wirklichkeit.
„Fordern und Fördern“ bleibt, wie auch der Koalitionsvertrag verspricht, in seinem aktuellem Skelett bestehen und wird ein wenig scheinbar mit Pflastern verarztet. Heilung ausgeschlossen.
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Hubertus Heil.

Jochen

Aktionstag „Reichtum umverteilen“: Zivilgesellschaft fordert stärkere Besteuerung von Reichtum

Siehe hier:
https://www.reichtum-umverteilen.de/presse/pressemitteilungen/detailansicht/ak/aktionstag-reichtum-umverteilen-zivilgesellschaft-fordert-staerkere-besteuerung-von-reichtum/

Gemeinsame Pressemitteilung des Bündnisses „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!“

Von: Gwendolyn Stilling

Reichtum_umverteilen_2017-09-15

Auszüge:

Mit einer kreativen Protestaktion und dem klaren Appell an alle Parteien, sich nach der Wahl für den Abbau sozialer Ungleichheit und eine gerechtere Vermögensverteilung in Deutschland einzusetzen, wendet sich das Bündnis „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!“ eine Woche vor der Bundestagswahl an Politik und Öffentlichkeit.

Der Zusammenschluss von über 30 bundesweit aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen, Sozialverbänden und Gewerkschaften fordert einen rigorosen steuer- und finanzpolitischen Kurswechsel. Zur Bekämpfung von Armut und der Finanzierung notwendiger Renten- und Sozialreformen sowie dringend benötigter Investitionen in das Gemeinwesen seien die stärkere Besteuerung sehr hoher Einkommen, Vermögen und Erbschaften sowie der konsequente Kampf gegen Steuerbetrug und Steuerschlupflöcher alternativlos.

Drei Viertel der Bevölkerung finden die Vermögensverteilung ungerecht

„Eine gerechte und solidarische Steuerpolitik ist aus unserer Sicht die Nagelprobe, ist der Glaubwürdigkeitstest für alle, die eine bessere Bildungs-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik oder gar ein gerechteres Deutschland versprechen“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
Nach einer aktuellen Umfrage bewerten drei Viertel der Bevölkerung die aktuelle Vermögensverteilung als ungerecht und sprechen sich für eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen aus, um öffentliche Aufgaben besser zu finanzieren.
„Die Menschen in diesem Land wollen in ganz großer, parteiübergreifender Mehrheit eine solidarische Steuerpolitik, die Reiche stärker zur Verantwortung für dieses Gemeinwesen heranzieht und den Staat wieder in die Lage versetzt, in das Soziale zu investieren. Alle Parteien stehen, ganz unabhängig vom Wahlausgang, in der Pflicht, diesem überwältigenden Mehrheitswillen Rechnung zu tragen.“

Neben einer Erhöhung der Einkommensteuer, der Einführung einer Vermögenssteuer und einer reformierten Erbschaftssteuer will das Bündnis auch finanzstarke Unternehmen stärker als bisher in die Verantwortung nehmen.
„Die aktuelle Ungleichheitskrise ist keine Naturkatastrophe, sondern von Menschen gemacht und zwar im Interesse einer Minderheit von Großkonzernen und Superreichen. Schuld an der wachsenden Ungleichheit hat auch eine Politik, die annimmt, der Markt brauche möglichst wenig Regulierung. In der Folge können sich internationale Konzerne auf vielfältige Art davor drücken, ihren fairen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Das muss ein Ende haben: Wir brauchen endlich echte Steuertransparenz, Steueroasen müssen auf eine Schwarze Liste gesetzt und mit Sanktionen belegt werden“, so Jörn Kalinski, Leiter Lobby- und Kampagnenarbeit bei Oxfam Deutschland.

Öffentliche Investitionen gefordert

Das Bündnis fordert u.a. mehr öffentliche Investitionen und mehr Personal für soziale und kulturelle Einrichtungen und Dienste, für die Bereitstellung und Bau von ausreichend bezahlbaren Wohnungen und im Kampf gegen Armut.
Insbesondere die wachsende Altersarmut sowie die extrem hohe Kinderarmut in Deutschland ist für viele Partner Anlass für ihr Bündnisengagement.
„Immer mehr Familien und ihre Kinder sind von der Entwicklung unseres Wohlstandes abgekoppelt. Arbeitslosigkeit oder ein geringes Einkommen der Eltern, Trennung, aber auch bereits die Entscheidung, mehr als zwei Kinder zu bekommen, erhöhen das Risiko, in Armut zu leben. Die derzeitige Familienförderung bekämpft die Armut nicht, denn Familien mit hohem Einkommen werden deutlich mehr steuerlich entlastet als Familien ohne oder mit nur geringem Einkommen gefördert werden. Das darf nicht sein! Wir treten dafür ein, diese Schieflage zu beseitigen, die Förderung umzuverteilen und das System durch eine Kindergrundsicherung vom Kopf auf die Füße stellen“, Christiane Reckmann, Vorsitzende Zukunftsforum Familie e.V..

Aktion vor dem Reichstag

Im Rahmen einer Aktion vor dem Berliner Reichstag verteilten am Freitag als Superhelden verkleidete Aktivistinnen und Aktivisten des Bündnisses symbolisch das in Deutschland vorhandene Geld dahin um, wo es dringend benötigt wird – in Kitas, Krankenhäuser, Jugendeinrichtungen, Schulen und bezahlbaren Wohnraum.  Weitere dezentrale Aktionen und Veranstaltungen fanden am Samstag statt.

Dem parteipolitisch unabhängigen Bündnis „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!“ gehören auf Bundesebene 33 Organisationen an: Von Gewerkschaften wie Ver.di und GEW, über den Deutschen Mieterbund und Sozialverbände wie Arbeiterwohlfahrt (AWO), Paritätischer Wohlfahrtsverband und Volkssolidarität, bis zu Attac und Oxfam Deutschland, der Katholische Arbeitnehmerbewegung, Migrantenverbänden, Jugend- und Studierendenorganisationen, den Naturfreunden Deutschlands und dem BUND.

 

Weitere Zitate aus dem Bündnis: https://www.reichtum-umverteilen.de/fileadmin/files/Dokumente/RU_Dokumente/Pressemitteilung_Zitate.pdf

Also geht wählen! Es gibt nur eine Partei, die ehrlich die Interessen von Arbeitslosen, Rentnern, Sozial Schwachen vertritt und die Chance hat, zur stärksten Oppositionspartei im Bundestag zu werden.

Nebenbei tritt nur diese Partei für kosequente Abrüstung, Beendigung der Auslandskriegseinsätze, Verbot von Rüstungsexporten und die Ächtung und Abschaffung aller Atomwafffen ein.

Jochen

 

Von Kindesbeinen an: Im Teufelskreis der Armut

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, einer sehr seriösen linken Zeitung, vom Februar: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/februar/von-kindesbeinen-an-im-teufelskreis-der-armut
von Annett Mängel
Er nimmt auf den inzwischen in zensierter Form vom Nahles-Ministerium veöffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht bezug.

In wenigen Wochen wird Arbeitsministerin Andrea Nahles den „Fünften Armuts- und Reichtumsbericht“ vorstellen. Die SPD könnte, ja sie sollte dies zum Anlass nehmen, einen Kontrapunkt zur derzeit alles dominierenden Debatte um die innere Sicherheit zu setzen. Dafür müsste sie deutlich machen, dass sie die wachsende soziale Ungleichheit endlich wieder ernst nimmt.

Immerhin gehen die jüngsten Fraktionsbeschlüsse zum Thema „Gerechtigkeit“ in eben diese Richtung: Die SPD fordert Ganztagsbetreuung in der Kita für alle Kinder, die Entlastung von Alleinerziehenden und einen Familientarif im Steuerrecht, unabhängig von der Art des Zusammenlebens der Eltern. Auf diese Weise will sie Ungleichheit abbauen und setzt dabei zu Recht vor allem auf eine stärkere Unterstützung von Familien.
Das Nachsehen haben allerdings all jene, die in der Armutsfalle Hartz IV festhängen – während Gutverdiener und Wohlhabende keine Einschnitte zu befürchten haben. Ohne eine gesellschaftliche Umverteilung aber wird man das wachsende Armutsproblem hierzulande nicht bekämpfen können.

Doch während sich die SPD-Bundestagsfraktion das Thema Gerechtigkeit immerhin auf die Fahnen geschrieben hat, streichen CDU und CSU ihnen missfallende Passagen munter aus dem „Armuts- und Reichtumsbericht“.
So war in der ersten Fassung noch explizit von einer „Krise der Repräsentation“ die Rede:Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Es gebe sogar „eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“[1]
Dieser dramatische Befund fehlt in der zweiten Fassung – vermutlich auf Veranlassung des Bundeskanzleramts *). Und obwohl ursprünglich besonders der Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersucht werden sollte, verschwand auch hier die entscheidende Passage, nämlich zum Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungen.

Die Analyse der bestehenden Verhältnisse wich so „der Apologie des Regierungshandelns“[2], wie der Paritätische Gesamtverband zu Recht moniert. Erheblich relativiert wurde auch die Aussage, dass sich die Ungleichheit negativ auf das wirtschaftliche Wachstum auswirkt: Dieses hätte „fast sechs Prozentpunkte höher ausfallen können“, hätte die Ungleichheit in den vergangenen Jahren nicht in so hohem Maße zugenommen, wie der „Paritätische“ mit Verweis auf die OECD betont.

Die derart geschönte Analyse ist umso fahrlässiger, weil das Problem noch gravierender geworden ist: Die soziale Mobilität nimmt ab[3] und die Armutsquote der Bundesrepublik liegt inzwischen bei 15,7 Prozent.
Damit hat jeder Siebte weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung: Im Jahr 2015 lag die so ermittelte Armutsschwelle für alleinlebende Personen bei 942 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1978 Euro.[4]
Zugleich sind mehr als eine halbe Million Rentnerinnen und Rentner von Grundsicherung im Alter abhängig, mehr als je zuvor und mit steigender Tendenz. Besonders von Armut betroffen sind Alleinerziehende und deren Kinder.[5] Die Folgen von Armut sind dramatisch: Frauen im untersten Fünftel der Gesellschaft haben eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als Frauen im obersten Fünftel, bei Männern liegt die Differenz sogar bei elf Jahren.[6]

Der Hauptgrund für Armut ist – neben Arbeitslosigkeit – das niedrige Einkommen infolge prekärer Arbeitsverhältnisse. Deshalb müssen auf dem Arbeitsmarkt endlich Standards durchgesetzt werden, die es den Menschen ermöglichen, von ihrer Arbeit auch zu leben.
Bei der jüngsten Erhöhung des Mindestlohns auf 8,84 Euro pro Stunde kann davon nicht die Rede sein. Damit eine Familie zu ernähren, ist völlig ausgeschlossen, von der Hoffnung auf eine auskömmliche Rente ganz zu schweigen. Will der Staat nicht dauerhaft – und noch dazu unzureichend – schlechte Arbeitsbedingungen subventionieren, durch aufstockende Hartz-IV-Leistungen, Wohngeld und Kinderzuschläge, dann muss er sich für „gute Arbeit“ stark machen. Wird der fatale Trend zu immer mehr prekärer Beschäftigung – von der Paketbotin bis zum Altenpfleger – dagegen nicht endlich umgekehrt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt noch weiter erodieren.

Die große Kluft zwischen Kindern

Besonders gravierend wirkt sich Armut auf das Leben von Kindern aus. Bei ihnen beginnt ein wahrer Teufelskreis: Kinderarmut erhöht das Risiko von Einkommensarmut und damit auch von Altersarmut. Deshalb ist es besonders dringend geboten, hier wirksam gegenzusteuern.
Inzwischen lebt fast jedes fünfte Kind in einkommensarmen Haushalten, jedes siebte Kind sogar von Hartz IV. Für Letztere stehen nach den jüngsten Erhöhungen zum Januar 2017 lediglich zwischen 237 und 311 Euro pro Monat zur Verfügung: für Essen, Bildung und Freizeit. Eine ausgewogene Ernährung und eine auch nur minimale gesellschaftliche Teilhabe sind davon kaum möglich. Die Posten für Schreibwaren, Zeichenmaterial und Hobbykurse sind bei der Berechnung sogar gestrichen worden – unter Verweis auf das Bundesteilhabegesetz.
Doch weil dessen Angebot nicht ausreichend kommuniziert und vor allem der bürokratische Aufwand zu hoch ist, machen viel zu wenige tatsächlich Gebrauch davon.

Der Paritätische Gesamtverband moniert deshalb zu Recht, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder „wissenschaftlich nicht belastbar und realitätsfern“ sind, und fordert eine Anhebung um 29 Prozent sowie eine nachvollziehbare Neuberechnung.[7]
Darüber hinaus macht er sich gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden, den Grünen und der Linkspartei für eine allgemeine Kindergrundsicherung stark.

Tatsächlich beeinflusst das Aufwachsen in Armut die Lebensrealität und die Zukunftschancen von Kindern ganz massiv.

Sie wohnen oft unter beengten Verhältnissen und damit ohne einen ruhigen Platz, um Hausaufgaben zu erledigen.
Ein Viertel der armen Kinder bekommt teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesundes Essen. Der permanente Mangel verschlechtert das Familienklima. Und auch die sozialen Netzwerke sind kleiner, denn die Kinder nehmen weniger Freizeitangebote – ob Musikschulen oder Fußballvereine – wahr.
Viele arme Kinder entwickeln daher ein geringeres Selbstwertgefühl, nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung. So starten sie mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule und werden dort selbst bei gleichen Leistungen schlechter bewertet als Kinder aus wohlhabenden Haushalten.[8]

Jede neue Bildungsstudie attestiert Deutschland eine im Vergleich zu anderen Ländern besondere Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft – und dennoch hat sich daran noch immer nichts geändert. Vielmehr verfestigen sich die Unterschiede zwischen armen und nichtarmen Kindern schon früh.
Vielerorts ist die Möglichkeit, eine Kita zu besuchen, an eine sogenannte Bedarfsprüfung gekoppelt – das will nach der Linkspartei nun auch die SPD endlich ändern. Bislang nämlich können nur jene Kinder den ganzen Tag in die Kita gehen, deren Eltern auch Vollzeit arbeiten. Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen oder deren Eltern eine Teilzeitstelle haben, können dagegen nur einen halben Tag in der Kita verbringen. Diese absurde Regelung ist besonders für jene Kinder von Nachteil, die von Spiel und Sport mit anderen, vom Basteln und Vorlesen besonders profitieren würden, weil ihnen zu Hause zu wenig Angebote gemacht werden.

Auch die grassierende Wohnungsnot in vielen Großstädten und die damit verbundene Verdrängung von Haushalten mit geringem Einkommen aus den Innenstädten spielt hier eine fatale Rolle. Denn die zunehmende Segregation **) in einkommenshomogene Wohnviertel verschärft die Kluft zwischen den Bildungschancen. Vor allem Kinder mit nichtdeutscher Herkunft profitieren von sprachlich durchmischten Kitagruppen, da sie so schon in jungen Jahren die deutsche Sprache erlernen.

Zudem benötigen die Kitas ausreichend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, von denen es derzeit viel zu wenige gibt. Der „Erziehermarkt“ ist leergefegt – und in den kommenden Jahren stehen viele Renteneintritte an. Um dem gesetzlich zugesicherten Anspruch auf einen Kitaplatz ab einem Jahr wirklich gerecht zu werden, muss daher in den kommenden Jahren massiv investiert werden: Mehr Erzieherinnen und Erzieher müssen ausgebildet, sinnvolle Strategien für die Weiterbildung von Quereinsteigern erarbeitet und diese so in die Kitas eingebunden werden, dass sie auch tatsächlich eine Hilfe und keine Belastung für die dortigen Erzieherinnen und Erzieher sind.[9]

Umverteilung ist nötig

Dafür aber wird eine Menge Geld benötigt. Doch eines steht fest: Eine gute Bildung unserer Kinder ist die beste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Solange dies nicht durch die dringend gebotene stärkere steuerliche Belastung von hohen Einkommen und Vermögen geschieht, sollten – angesichts des enormen Bedarfs an Kitaplätzen und Erziehern – allerdings auch nicht die Kitagebühren gänzlich für alle abgeschafft werden, wie es jüngst die SPD gefordert und für Berlin schon beschlossen hat.[10]
Wer tatsächlich „die Zugangshürden“ für Kinder von Geringverdienern und Hartz-IV-Beziehern abbauen will, sollte sich vielmehr für bundesweit gleiche Regelungen und sinnvoll gestaffelte Gebühren einsetzen, um auf diese Weise die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Denn derzeit fallen Kitagebühren bundesweit höchst unterschiedlich aus: So gibt es Gemeinden, in denen ein Kitaplatz einkommensunabhängig mehr als 600 Euro im Monat kostet – die Trennung von armen und reichen Kindern ist hier vorprogrammiert.

Für die einen ist die Kita unerschwinglich. Die anderen hingegen, die in der Lage sind, solche Summen zu begleichen, können einen Großteil davon vom zu versteuernden Einkommen abziehen lassen. Zugleich erfahren sie über den Kinderfreibetrag bereits eine höhere Zuwendung vom Staat als Durchschnitts- und Geringverdiener. Denn bei gutverdienenden Eltern lässt der sogenannte Kinderfreibetrag wegen der progressiv steigenden Steuersätze die Steuerlast in einem höheren Maße sinken, als weniger gut verdienende Eltern Kindergeld erhalten.[11]
Kurzum: Für Kinder, deren Eltern sowieso viel Geld für Bildung ausgeben können, gibt der Staat noch extra was obendrauf.

Dabei müssen einkommensschwache Haushalte ohnehin einen viel größeren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Bildungsausgaben aufwenden. Die Konsequenz: Während in den untersten Einkommensgruppen nur knapp 30 Prozent der Familien für sogenannte nonformale Bildung jenseits von Kita und Schule Geld ausgeben – also für Musikschulen oder Sportvereine – sind es in den obersten Einkommensgruppen 80 Prozent.[12]

Um die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Kindern zu verkleinern, sind deshalb vor allem drei Dinge erforderlich: Erstens müssen die derzeitigen Haushaltsüberschüsse von Bund und Ländern dringend in gute Kitas, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen investiert werden – notfalls auch der vergötzten schwarzen Null zum Trotz.

Zweitens müssen Familien zielgenauer unterstützt werden – vor allem jene, die Hartz IV beziehen. Die SPD-Idee, das Kindergeld je nach Einkommen zu staffeln und den Kinderzuschlag für Geringverdiener gleich mit auszuzahlen, entbehrt zudem nicht eines gewissen Charmes. Sichergestellt werden muss dann jedoch, dass es nicht die Durchschnittsverdiener sind, die dabei verlieren.

Drittens muss deshalb endlich eine Steuerreform angepackt werden. Den Anfang machen sollte dabei die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf den Stand zu Helmut Kohls Zeiten, also von jetzt 42 auf 53 Prozent – damit hohe Einkommen und Vermögen endlich wieder einen höheren Beitrag für mehr Chancengleichheit unserer Kinder leisten können.
Nur so kann der wachsenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wirksam begegnet werden.

[1] Erste Fassung des Fünften Armuts- und Reichtumsbericht, S. 172.

[2] Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, 4.1.2017.

[3] Dorothee Spannagel, Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016, WSI-Report 31, 10/2016.

[4] Das sogenannte Medianeinkommen steht genau in der Mitte aller nach Größe sortierten Einkommen: Bei drei betrachteten Einkommen von 500, 2000 und 10000 Euro läge das Medianeinkommen bei 2000 Euro, das Durchschnittseinkommen hingegen bei 4166 Euro.

[5] Anne Lenze und Antje Funke (Bertelsmann-Stiftung), Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf, Gütersloh 2016.

[6] Fred-Jürgen Beier, Armut kann tödlich sein, in: „der Freitag“, 10.10.2016.

[7] Vgl. Der Paritätische Gesamtverband, Expertise: Regelsätze 2017. Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze durch das Bundesministerium Arbeit und Soziales und Alternativberechnungen der Paritätischen Forschungsstelle, Berlin 2016, S. 19.

[8] Vgl. Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig (Bertelsmann-Stiftung), Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016, insbesondere S. 13 und S. 56.

[9] Anfang Januar gaben die Berliner und die Bremer Bildungssenatorinnen, Sandra Scheeres und Claudia Bogedan, bekannt, den Erzieherberuf zum Mangelberuf erklären zu lassen. Dann wären Fördermaßnahmen besser finanzierbar und die Einstellung ausländischer Fachkräfte würde erleichtert. Die GEW unterstützt den Vorstoß.

[10] Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Gute Zeiten für Familien, 13.1.2017, www.spdfraktion.de.

[11] Weil das „Existenzminimum“ steuerfrei sein muss, werden pro Kind 7356 Euro jährlich vom zu versteuernden Einkommen abgezogen. Das Finanzamt prüft automatisch, ob für die Steuerzahler der Freibetrag oder das Kindergeld günstiger ist. Bis zu einem Haushaltseinkommen in Höhe von 46 000 Euro ist die Kindergeldsumme bei einem Kind höher, als es die Steuerersparnis wäre. Bei einem Haushaltseinkommen in Höhe von 100 000 Euro liegt die Steuerersparnis schon knapp 1000 Euro darüber, bei zwei Kindern beträgt sie sogar 1879 Euro mehr, als wenn es Kindergeld gäbe. (Eigene Berechnung nach aktueller Splittingtabelle.)

[12] Vgl. Carsten Schröder, C. Katharina Spieß und Johanna Storck, Private Bildungsausgaben für Kinder. Einkommensschwache Familien sind relativ stärker belastet, „DIW-Wochenbericht“, 8/2015, S. 166.

(aus: »Blätter« 2/2017, Seite 9-12)

* Anmerkung: Das Bundeskanzleramt leitet zufällig derselbe Altmaier, der jetzt auch das Wahlprogramm für die CDU schreiben soll. Der Mann hat noch nie Armut am eigenen Leib gespürt.
** Segregation := Einsortierung – die Reichen kriegens aus dem Töpfchen, die Armen aus dem Kröpfchen

Jochen

Die Rente wird Wahlkampfthema…

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die voraussehbare massive Altersarmut hat zu der zynischen Empfehlung geführt, die Geringverdiener sollten halt lieber heute hungern und frieren und in private oder betriebliche Abzockerfirmen einzahlen, damit der Staat für sie im Rentenalter das Auszahlen der Sozialhilfe ersparen kann.
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – zu deren „Botschaftern“ ausgerechnet der Profiteur und Maschmeyer-Kumpel Rürup und andere Absahnerchefs zählen – macht in der Süddeutschen eine Kampagne auf, um Junge gegen Alte aufzuhetzen.
http://www.nachdenkseiten.de/?p=35597

Darin wird vorausschauend die Kapitalassistentin und Weisswäscherin Nahles unter Druck gesetzt
– ausgerechnet mit dem Slogan „Rente muss gerecht bleiben“.
Eine kritische Stimme erhebt Matthias Birkwald von der Linken:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1030397.die-rente-wird-wahlkampfthema.html

Damit der Slogan „Rente muss gerecht bleiben“ nicht von der INSM fürs Internet vereinnahmt wird, hat Sahra Wagenknecht schnell diesen als Web-Adresse eingetragen:

www.rentemussgerechtbleiben.de

LINKE-Sozialpolitiker Matthias W. Birkwald im Interview über notwendige Reformen, die Zukunft der Riester-Verträge und betriebliche Vorsorge

Was ist aus Ihrer Sicht heute das größere Problem – die Demografie oder der hohe Anteil an armen Alleineinziehenden?
Ich warne davor, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. 40 Prozent der alleinerziehenden Mütter beziehen Leistungen nach Hartz IV, das stimmt.
Aber in keiner gesellschaftlichen Gruppe nimmt die Armut so rasant zu wie bei denen, die ihren 65. Geburtstag hinter sich haben.
Deshalb muss man sowohl etwas für die Alleinerziehenden und gegen die Kinderarmut tun als auch gegen die auf uns zu kommende große Welle neuer Altersarmut.
Das Rentenniveau könnte bis 2045 auf bis zu 41,6 Prozent sinken, wie es die Bundesarbeitsministerin jetzt prognostiziert hat. Das darf auf keinen Fall passieren.

Wird die Rente ein Wahlkampfthema? Die Koalitionsparteien eiern bei der Frage herum.
Ja.

Zufrieden mit dem Konzept der IG Metall?
Mit sehr vielem kann die LINKE zufrieden sein. Beispielsweise damit, die Rente nach Mindestentgeltpunkten wieder einzuführen. Das würde Menschen, die lange Jahre zu geringen Verdiensten beschäftigt waren, eine höhere Rente bringen. 88 Prozent derer, die davon profitieren würden, sind Frauen.
Mir persönlich geht das Konzept an anderer Stelle aber nicht weit genug. Wir brauchen dringend eine verbindliche Zahl, auf die das Rentenniveau wieder angehoben werden soll. Die fehlt leider.

Und wie hoch wäre das?
Das Rentenniveau muss zunächst stabilisiert und danach wieder auf lebensstandardsichernde 53 Prozent angehoben werden.

Ich höre es schon: Viel zu teuer …
Das würde durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit 3022 Euro brutto 33 Euro mehr im Monat kosten. Die Zahlung von vier Prozent vom Brutto in einen Riester-Vertrag könnte dann wegfallen – durchschnittlich 108 Euro plus steuerliche Zulagen. Macht unterm Strich 75 Euro mehr im Monat.
Auf der anderen Seite kämen 130 Euro mehr Rente im Monat für diejenigen raus, die 45 Jahre zum Durchschnittsverdienst gearbeitet haben.

Und wie soll das gehen? Es gibt sehr viele Riester-Verträge, die noch lange laufen.
Unser Vorschlag ist, dass Menschen ihr Geld für einen kleinen Beitrag von den Versicherungsunternehmen zurückbekommen und dann kostenfrei auf ihr persönliches Rentenkonto bei der gesetzlichen Rentenversicherung einzahlen können.

Die IG Metall will auch die Betriebsrenten stärken.
Wir haben nichts gegen Betriebsrenten, die zu 100 Prozent vom Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin finanziert werden. Das ist betriebliche Altersversorgung. Auch 50 Prozent kann man noch akzeptieren.
Aber heute wird den Beschäftigten doch oft gesagt: Wandele einen Teil deines Entgeltes um, zahl in die Betriebsrente ein, und wir legen das für dich bei einer Versicherungsgesellschaft an. Dann sprechen wir aber von einer betrieblichen Altersvorsorge. Bei Auszahlung muss dann der doppelte Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag bezahlt werden und das aus eigenem Geld Ersparte muss auch noch versteuert werden.
Die Menschen haben im Ergebnis weniger in der Tasche, senken ihre eigene gesetzliche Rente und die von allen anderen.

Also: Vorsicht bei der Verbreiterung der Betriebsrenten.

Zur Person

Matthias W. Birkwald ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN aus Köln und rentenpolitischer Sprecher der Fraktion. Mit nd-Redakteur Jörg Meyer sprach er am Rande der Sozialstaatskongresses der IG Metall in Berlin über betriebliche Altersvorsorge und die rentenpolitischen Vorstellungen der Linkspartei

Jochen

Soziales Bündnis spricht sich gegen Kinderarmut aus – Ministerin Schwesig (SPD) will davon nichts wissen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Näheres in der jungen Welt:
https://www.jungewelt.de/2016/10-18/024.php
Auszüge:

Organisationen kritisieren mangelnden Einsatz der Regierung. Ministerin will davon nichts wissen

Rund 40 Organisationen haben in Berlin am Montag einen gemeinsamen Aufruf gegen Kinderarmut in der Bundesrepublik veröffentlicht. Neben dem Deutschen Kinderhilfswerk haben unter anderem auch der Bundesverband Deutsche Tafel, die Diakonie Deutschland, die Arbeiterwohlfahrt und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft das Schreiben unterzeichnet.
Zentrales Anliegen des Bündnisses ist es, dass das Existenzminimum von Kindern künftig realistisch ermittelt wird. Die Veröffentlichung erfolgte anlässlich des Internationalen Tags für die Beseitigung der Armut.

»Jedes fünfte Kind in Deutschland erlebt Armut täglich und unmittelbar«, erklärte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks, Holger Hofer, in einer Mitteilung des Verbands. Nachwuchs, der in armen Verhältnissen groß werde, sei sozial häufiger isoliert.
Für ihn würden die von der UN-Kinderrechtskonvention jedem Kind zugesicherten Rechte auf soziale Sicherheit und angemessene Lebensbedingungen nicht eingehalten, so Hofer weiter.

Um die Situation der jungen Armen zu verbessern, werden im Aufruf drei Punkte angeführt. Zunächst müsse eine »realistische Bedarfsermittlung« stattfinden. Derzeit würden bei der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze nötige Ausgaben für Kinder in viel zu geringer Höhe berücksichtigt.
»Regelsätze, die nur aus den Ausgabenpositionen der ärmsten Haushalte errechnet werden, führen zu einem Armutskreislauf. Sie spiegeln nicht wider, was wirklich gebraucht wird«, heißt es dazu. Es müsse neu bestimmt werden, welche Kosten für Ernährung, Kleidung, Schulbedarf, Mobilität und Teilhabe – etwa für den Besuch von Museen oder Kinos – realistisch seien.

 

Notwendig sei zweitens eine »sozial gerechtere Familienförderung«. Aktuell würden Kinder gutverdienender Eltern durch Kinderfreibeträge stärker unterstützt als die von Erwerbslosen. Zudem werde das Kindergeld beim Bezug anderer Leistungen mit dem Sozialgeld vollständig verrechnet. »Daher gehen Kindergelderhöhungen an in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen vorbei.«

Drittens müsse die Beantragung von Leistungen einfacher werden. Viele der sozial- oder familienpolitischen Leistungen seien bislang bei unterschiedlichen Behörden oder Ämtern zu beantragen, heißt es im Aufruf. Zudem machten unterschiedliche Antragsregelungen die Vorgänge für viele Eltern undurchsichtig.

Auch Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), verwies am Montag auf die anhaltend hohen Zahlen von Kindern in Armut. Er erklärte, die Bundesregierung habe »nichts getan, um Kinderarmut wirksam zu verringern«. Die Neuberechnung der Hartz-IV-Kinderregelsätze sei »vermurkst« worden, und das Kindergeld reiche trotz Erhöhung bei weitem nicht aus.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) wies die Kritik zurück. »Kinder sind arm, wenn ihre Eltern arm sind. Dagegen hilft vor allem eine auskömmliche Arbeit.«
Die Regierung müsse lediglich schauen, dass Unterstützungsleistungen »zielgenauer« bei den Kindern ankommen.

Bereits am vergangenen Mittwoch hatte hingegen die Partei Die Linke darauf hingewiesen, dass bei einer anstehenden Erhöhung des Kindergeldes die Ärmsten nicht profitieren werden. Grund dafür sei die auch im Aufruf bemängelte Verrechnung des Kindergelds mit Sozialleistungen. (dpa/jW)

 

Jochen

Langfristige Armut macht das Hirn langsam – empirisch belegt, und die Armut in Deutschland hat 2015 ein trauriges Rekordhoch erreicht !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

http://www.harmbengen.de/

Endlich haben wir es wissenschaftlich erwiesen, was ich in meiner Praxis über jahrzehnte erfahren habe:

Armut macht das Hirn langsam

Immer wieder zu wenig Geld haben – das schlägt sich auch im Gehirn nieder. Und zwar langfristig, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt.

von Lars Fischer

Wer über längere Zeit arm war, schneidet bei einigen geistigen Aufgaben schlechter ab als Menschen, die nie finanzielle Härten erfahren haben.
Zu diesem Ergebnis kommt ein Team um Adina Zeki Al Hazzouri von der University of Miami nach einer Untersuchung an knapp 3400 Erwachsenen aus den USA, die seit den 1980er Jahren an einer Langzeitstudie über Herzkrankheiten teilnehmen.
Al Hazzouri verwendete die Resultate kognitiver Tests aus dem Jahr 2010 und verglich sie mit Daten über die finanziellen Verhältnisse der Teilnehmer – gemessen nicht nur anhand ökonomischer Faktoren, sondern zusätzlich anhand deren eigener Einschätzung. Dabei zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen langfristiger Armut und der Geschwindigkeit beim Lösen bestimmter Aufgaben sowie eine schwächere Beziehung zu geringerer kognitiver Kontrolle.

Gegenüber früheren Studien hat die neue Untersuchung den Vorteil, dass nicht allein das Einkommen zum Untersuchungszeitpunkt in die Analyse einfließt, sondern die wechselnde wirtschaftliche Situation über drei Jahrzehnte. Entsprechend bilde die Studie auch den kumulativen Effekt von wiederholter Armut ab, so die Neurowissenschaftlerin.
Zusätzlich fand Al Hazzouris Gruppe den Effekt auch bei einer Untergruppe von Menschen mit hoher Bildung und akademischer Ausbildung, so dass sie eine umgekehrte Kausalität – dass einfach schlechtere Testergebnisse zu mehr Armut führen – als unwahrscheinlich betrachtet.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass wiederholte oder lange Armut besonders bei jungen Erwachsenen negative Folgen für die geistige Gesundheit im gesamten Erwachsenenalter hat.

© Spektrum.de

Dazu auch schon 2015:

Die Armut in Deutschland hat ein trauriges Rekordhoch erreicht

https://netzfrauen.org/2015/02/19/die-armut-in-deutschland-hat-ein-trauriges-rekordhoch-erreicht/

Deutschland ist ein reiches Land – im Schnitt werden hier über 30 000 Euro pro Jahr und Einwohner erwirtschaftet. Doch acht Prozent der Bevölkerung sind völlig abgehängt und zwischen 16 und 20 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze.
Gleichzeitig werden die Reichen laut den offiziellen Statistiken immer reicher. Die obersten zehn Prozent verfügen über rund 53 Prozent des Vermögens. Manche Berechnungen gingen von mehr als 60 Prozent aus.
Die Armut in Deutschland nimmt kontinuierlich zu und betrifft immer mehr Gruppen in der Gesellschaft.

Armut in Deutschland hat einen historischen Höchststand erreicht. Zu diesem Ergebnis gelangt der Paritätische Gesamtverband in einem Bericht zur regionalen Armutsentwicklung. Danach waren 2013 mehr als zwölf Millionen Menschen von Armut bedroht. Die Armutsquote stieg gegenüber dem Vorjahr von 15 auf 15,5 Prozent.
Zugleich ist die Kluft zwischen wohlhabenden und wirtschaftsschwachen Regionen weiter gewachsen. Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider spricht von einer „armutspolitisch tief zerklüfteten Republik“. Nie zuvor sei die Armut so hoch, nie die regionale Zerrissenheit so tief gewesen wie heute.

Die zerklüftete Republik

Der Armutsbericht erscheint in diesem Jahr verspätet, doch dies aus gutem Grund. Durch die Umstellung und Revision der Daten des Statistischen Bundesamtes auf der Basis des Zensus 2011 war eine Veröffentlichung wie gewohnt im Dezember nicht möglich (siehe: Methodische Anmerkungen).

Gleichwohl tut diese Verzögerung der Brisanz der Erkenntnisse keinen Abbruch. Die Armut in Deutschland hat nicht nur ein neuerliches trauriges Rekordhoch erreicht, auch ist Deutschland dabei, regional regelrecht auseinander zu fallen. Zwischen dem Bodensee und Bremerhaven, zwischen dem Ruhrgebiet und dem Schwarzwald ist Deutschland, was seinen Wohlstand und seine Armut anbelangt, mittlerweile ein tief zerklüftetes Land.

Hier zum Armutsbericht

Die wichtigsten Befunde im Überblick:

1: Die Armut in Deutschland hat mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht und umfasst rund 12,5 Millionen Menschen.
2: Der Anstieg der Armut ist fast flächendeckend. In 13 der 16 Bundesländer hat die Armut zugenommen. Lediglich Sachsen-Anhalt verzeichnet einen ganz leichten und Brandenburg einen deutlicheren Rückgang. In Sachsen ist die Armutsquote gleich geblieben.
3: Die Länder und Regionen, die bereits in den drei vergangenen Berichten die bedenklichsten Trends zeigten – das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – setzen sich ein weiteres Mal negativ ab, indem sie erneut überproportionalen Zuwachs aufweisen.
4: Die regionale Zerrissenheit in Deutschland hat sich im Vergleich der letzten Jahre verschärft. Betrug der Abstand zwischen der am wenigsten und der am meisten von Armut betroffenen Region 2006 noch 17,8 Prozentpunkte, sind es 2013 bereits 24,8 Prozentpunkte.
5: Als neue Problemregion könnte sich neben dem Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen auch der Großraum Köln/Düsseldorf entpuppen, in dem mehr als fünf Millionen Menschen leben, und in dem die Armut seit 2006 um 31 Prozent auf mittlerweile deutlich überdurchschnittliche 16,8 Prozent zugenommen hat.
6: Erwerbslose und Alleinerziehende sind die hervorstechenden Risikogruppen, wenn es um Armut geht. Über 40 Prozent der Alleinerziehenden und fast 60 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland sind arm. Und zwar mit einer seit 2006 ansteigenden Tendenz.
7: Die Kinderarmut bleibt in Deutschland weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die Armutsquote der Minderjährigen ist von 2012 auf 2013 gleich um 0,7 Prozentpunkte auf 19,2 Prozent gestiegen und bekleidet damit den höchsten Wert seit 2006. Die Hartz-IV-Quote der bis 15-Jährigen ist nach einem stetigem Rückgang seit 2007 in 2014 ebenfalls erstmalig wieder angestiegen und liegt mit 15,5 Prozent nun nach wie vor über dem Wert von 2005, dem Jahr, in dem Hartz IV eingeführt wurde.
8: Bedrohlich zugenommen hat in den letzten Jahren die Altersarmut, insbesondere unter Rentnerinnen und Rentnern. Deren Armutsquote ist mit 15,2 Prozent zwar noch unter dem Durchschnitt, ist jedoch seit 2006 überproportional und zwar viermal so stark gewachsen. Keine andere Bevölkerungsgruppe zeigt eine rasantere Armutsentwicklung.

Armut in Deutschland ist ein Thema, das viele nicht wahrhaben wollen. Aber auch bei uns klafft die Schere zwischen denen, die viel Geld besitzen und denen, die gar keines haben, immer weiter auseinander.

Gerade Frauen sind immer öfter von Armut betroffen. Sie versorgen den Haushalt, kümmern sich um Kinder, Kranke und Alte und bekommen dafür kein Geld. Sie haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und wenn sie eine Stelle bekommen, verdienen sie trotz gleicher Qualifikation immer noch weniger als Männer.

Armut ist weiblich

Einige Beispiele:
  • Weiblich, jung, alleinerziehend mit kleinem Kind, das ist die Armutsfalle, in der viele Frauen sitzen. Woher sollen diese Frauen noch Geld für eine so-genannte Altersvorsorge nehmen, wenn das Geld nicht einmal für die alltäglichen Belange reicht?!
  • Frauen, die nach einer langjährigen Ehe geschieden werden, kämpfen mit großen finanziellen Problemen. Den Job haben sie für die Familie aufgegeben, allenfalls später einen Teilzeitjob angenommen. In die Rentenkasse haben sie deshalb kaum eingezahlt. Während der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen 23 Prozent beträgt, ist die Einkommensdifferenz zwischen Rentnerinnen und Rentnern noch größer: Frauen haben im Alter im Durchschnitt 59,6 Prozent weniger als Männer.
  • Wenn der Hauptverdiener plötzlich stirbt, erhalten die Frauen nur noch 55 Prozent der Versichertenrente, auf die der verstorbene Ehepartner Anspruch gehabt hätte. Die Ausgaben bleiben die gleichen, viele Frauen stehen plötzlich mit ihren Kindern vor dem Nichts und geraten so unverschuldet in die Armut. Ausgaben müssen dann überdacht, gestrafft und gestrichen werden. Die durchschnittlichen Witwen-Renten liegen bei 547 Euro (West) und 572 Euro (Ost).
  • Lesen Sie dazu unseren Beitrag: Frauenarmut – Wir träumten vom Leben, aber nicht in Armut

Glückwunsch! Deutschland ist Weltmeister! … im Lohndumping!

„Wir müssen Strukturreformen durchsetzen, auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt, um wettbewerbsfähig zu bleiben“. (Wolfgang Schäuble)

Wie diese Reformen aussehen, geht klar aus dieser Grafik hervor. Deutschland, das Niedrig-Lohn-Land, Deutschland – Weltmeister im Lohndumping.
Ist das die so-genannte „deutsche Perfektion“, die im Ausland so sehr geschätzt wird?

Es geht noch billiger

Die Regeln der Leiharbeit sind strenger geworden. Unternehmen aus dem Handel und der Industrie wissen sie jedoch zu umgehen.

Am 09. 09. 2011 fand eine Tagung des ZAAR (Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht) mit dem Titel „Freie Industriedienstleistung als Alternative zur regulierten Zeitarbeit” statt. Dabei wurde dann gemeinsam festgestellt: „Es gibt die Chance, den strengen arbeitsrechtlichen Regelungen der Zeitarbeit zu entfliehen”.

Siemens, BASF, die Deutsche Bahn, Porsche, BMW, Robert Bosch und die Metro AG, sie alle hatten sich für diese Tagung angemeldet, ebenso wie die Vertreter der Leiharbeitsunternehmen Randstad und Manpower und die Anwälte von Großkanzleien wie der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft.
Der Andrang im Holiday Inn ist so groß, dass sich jene, die zu spät kommen, umständlich in die letzte Stuhlreihe zwängen müssen.

Viele Unternehmen drücken die Löhne jetzt mithilfe von Werkverträgen. Dabei übertragen Unternehmen zentrale Aufgaben an Subunternehmen. Diese Subunternehmen werden pro so-genanntes Werk bezahlt.

Gleiche Arbeit – weniger Geld

Früher nannte man diese Firmen SEELENVERKÄUFER – sie vermieteten Arbeiter an andere Firmen, meist in anderen großen Städten.
Wahlweise wurden diese meist kleinen Unternehmen auch Seelenvermieter genannt.
SEELENVERKÄUFER, ein uralter Begriff, die Bezeichnung für ein nicht mehr ganz fahrtüchtiges, unsicheres Schiff.
Diese Form der modernen Sklaverei ist mittlerweile salonfähig geworden und wird von der Regierung unterstützt.

Lesen Sie dazu: Glückwunsch: Deutschland – Weltmeister im Lohndumping

Die Familie als „Matratze“, die den Sturz abfedert

In Dortmund, als dystopischer Alptraum in Szene gesetzt, lebt sogar jedes vierte Kind in Armut. Drei dieser Kinder kommen zur Sprache und erzählen davon, wie sich das auswirkt. Erzählen von Mobbing in der Schule, weil die richtigen Kleider schon auf dem Schulhof Leute machen – oder eben nicht. Zur sozialen Ausgrenzung gesellt sich die Tatsache, von Reisen oder kultureller Teilhabe ausgeschlossen zu sein. Es ist einfach kein Geld da. Wenn man sieht, wie sehr die bürokratische Pedanterie von Hartz IV die Bedürftigen in Anspruch nimmt, dämmert, wieso immer mehr Kinder „Hartz IV“ für eine Art Beruf halten.
In den Blick kommt auch die Klippe, über die diese Kinder eines Tages stürzen werden: Weil die kleine Michelle auf der Gesamtschule bis zur achten Klasse nicht sitzenbleiben kann, bezahlt „das Amt“ keine Nachhilfe.

Viele Familien sind spätestens am Monatsende auf „die Tafel“ angewiesen, Suppenküchen an der Schnittstelle von Überfluss und Armut. Hier verklappt das System seine ausgemusterte Ware, und hier „jobben“ die Betroffenen auf Ein-Euro-Basis.
Die Agenda 2010 hat die Zahl dieser Tafeln verdreifachen lassen, inzwischen gibt es in Deutschland 2000 Ausgabestellen für eine Millionen Menschen.
Neben den Schicksalen und den Zahlen tauchen immer wieder Soziologen und Politikwissenschaftler auf wie Michael Hartmann oder Christoph Butterwegge, die erklären, woher diese Armut rührt. Hartz IV, Deregulierung des Arbeitsmarkts, Liberalisierung des Finanzmarkts.
Der Druck auf „die da unten“ wurde erhöht, der Spielraum für „die da oben“ erweitert. Der Spitzensteuersatz wurde gesenkt, desgleichen die Unternehmensteuer, die Abgeltungsteuer wurde eingeführt und die Erbschaftsteuer für Firmenerben „faktisch abgeschafft“, damit der Reichtum sich vererbe und nicht verteile.
Die wenigsten Menschen seien durch eigene Schuld in Not geraten, so Butterwegge, sondern durch soziale Verwerfungen, auf die sie keinen Einfluss hätten.

In der youtube- Dokumentation „Gemachte Armut“ wird auch die europaweite Verbreitung des Problems thematisiert.
Etwa in Spanien, das nie einen Wohlfahrtsstaat nach dem Vorbild der Bundesrepublik oder der skandinavischen Länder kannte und seit der Immobilienkrise zusehends verelendet. Pro Jahr wurden hier mehr Häuser gebaut als in der übrigen EU zusammen, und als die Blase platzte, wurden die Banken gerettet – mit Geld, das aus den gestoppten Sozialprogrammen abgezweigt wurde. Die Familie gilt hier als „Matratze“, die den Absturz abfedert. Fast 400 000 Familien leben von den Renten der Großeltern – so war der „Generationenvertrag“ eigentlich nicht gedacht. Die Kinderarmut ist – schon wieder! – nur in Bulgarien und Rumänien größer als in Spanien.

Lourdes Picareta beschreibt und analysiert in ihrem Film die Situation in Spanien, Deutschland und Frankreich und lässt darin unter anderem Sozialforscher und Politikwissenschaftler zu Wort kommen, die von der „gemachten Armut“ sprechen, von einer Entwicklung, die keineswegs natürlich entstanden ist und vermeidbar gewesen wäre.

Wetten auf Rettung, ein Spiel, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt, nur sind die Gewinner nicht die Griechen selbst, sondern die Banken oder eben diese Hedgefonds. Ich kenne noch Zeiten, da wussten wir nicht mal, wer hinter diesen Fonds steckt, heute sind sie allesamt öffentlich bekannt. Aber trotzdem unternimmt keiner etwas.
Dabei gibt es bei diesem Spiel genug Opfer. Schauen wir nach Griechenland, bitte lesen Sie dazu unseren Beitrag:Die neue Armut in Griechenland hat ein weibliches Gesicht“.

Jugendarbeitslosigkeit – besonders schlimm sieht es in südeuropäischen Ländern wie Spanien und Griechenland aus, wo die Quote bei 56 beziehungsweise sogar knapp 63 Prozent liegt. [Siehe: „Wenn eine ganze Generation
ihren Mut verliert – Europas Jugend braucht eine Perspektive –
nicht morgen, sondern heute!
“]

„Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren Geldbeutel hat“
Lech Walesa 

Netzfrau Doro Schreier

Zu ergänzen wäre der letzte Satz mit „…und im Kapitalismus lebt“.
Es gibt Gesellschaften, wo man unter stabilen sozialen Bedingungen über 40 000 Jahre keinen Geldbeutel brauchte, um zu leben, z.B: die australischen Aborigines.
Die könnten uns noch was beibringen.

Jochen

Berlin: Clanherrschaft, Baumafia und linkes Potential

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

berlin_logoHier werden Namen genannt. Notwendige Anmerkungen in der jungen Welt:
https://www.jungewelt.de/2016/09-19/073.php
Auszüge:

Abgeordnetenhauswahlen in Berlin: »Große Koalition« abgewählt.

Zugewinne für Linke, AfD und FDP. Diese Stadt ist einfach nicht normal

Von Arnold Schölzel

Berlin ist bei Wahlen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik – ähnlich wie es London jüngst beim »Brexit«-Referendum nicht für Großbritannien war. Die Gründe dafür sind vor allem sozialer Natur. Die Hauptstadt ist die Armutsmetropole der Republik. Die mit bösartigen Methoden betriebene Entindustrialisierung Ostberlins nach dem DDR-Anschluss hat Folgen bis heute, ebenso der Wegfall der »Zitterprämie«, der Steuervergünstigungen für Betriebsansiedlungen im Westberlin des Kalten Krieges.

Berlin bedeutet weit überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, ein konstanter Rekordanteil bei Hartz-IV-Beziehern – 16,4 Prozent der Bevölkerung im Juni 2016 gegenüber 9,4 Prozent in den östlichen und 6,4 Prozent in den westlichen Flächenländer –, eine Altersarmut, die in manchen Stadtteilen 14 Prozent der Bevölkerung zu Beziehern von »Hilfe zum Lebensunterhalt« macht, und eine Armut unter Kindern (32 Prozent), die nur von Bremerhaven oder Ruhrgebietsstädten knapp übertroffen wird.
Die Stadt ist einmalig zerrissen. Lagen in den 90er Jahren die durchschnittlichen Familieneinkommen in Marzahn noch gleichauf mit denen in Zehlendorf, klaffen heute Welten zwischen dem Südwesten und dem Nordosten der Stadt. Vor 20 Jahren wohnten dort DDR-Arbeiter und -Intellektuelle, heute hat sich dieses Milieu weitgehend aufgelöst und wurde durch einen soziologischen Flickenteppich ersetzt. Oft handelt es sich um ghettoähnliche Verhältnisse – für Alte, für Russlanddeutsche, für Langzeitarbeitslose.

Es bleibt dabei: Kein nennenswerter Konzern siedelt seine Zentrale in der deutschen Hauptstadt an. Fertigungsstätten sind eine Art Almosen. Der Medienrummel um sogenannte Kreative, die am wie am Fließband »Start Ups« gründen ist ein Hype, mehr nicht.

Die kulturelle und politische Spaltung der Stadt hat sich erhalten, auch wenn die abgewickelten Wissenschaftler, Künstler und Journalisten der DDR-Hauptstadt mehrheitlich nicht mehr im Erwerbsalter sind. Die in Ostberlin erscheinenden Regionalzeitungen haben wenige Leser im Westteil, die dort herausgegebenen werden im Osten ignoriert und alle zusammen verlieren Jahr für Jahr meist zweistellig an verkaufter Auflage.

Die Nazis vertrieben jede Menge Nobelpreisträger in Mathematik, Physik und Medizin aus Berlin, die Bundesrepublik veranstaltete bei Bibliotheken, Kunst und Medien, an Hochschulen und Akademien Ostberlins einen personellen Kahlschlag, der in Bezug auf seinen Umfang weltgeschichtlich seinesgleichen sucht.
Ähnliches gab es in keinem ehemals sozialistischen Land, in dieser Dimension auch in keinem anderen ostdeutschen Bundesland. Wenn sich Berlin auf Wunsch der Kanzlerin eine Sanierung der Staatsoper leistet, deren Kostensteigerung prozentual mit der Elbphilharmonie in Hamburg oder dem Flughafen BER mithalten kann, wird das im Berliner Lokalwahlkampf kein Thema.

Die beiden »großen« Parteien CDU und SPD sind seit jeher in Berlin mehr eine Einheitspartei als anderswo, allein schon deswegen, weil beide zusammen eine Art politischer Arm der Westberliner Baumafia sind. Eine Lokalspezialität. In Westberlin kostete zu Frontstadtzeiten und mit fetten Subventionen aus Bonn ein Kilometer neue U-Bahn einfach doppelt soviel wie in München oder Düsseldorf.
Die Berliner S-Bahn ist 25 Jahre nach dem Anschluss Schrott. Das hatten die deutschen Faschisten und ihr Weltkrieg nicht geschafft. Berlin ist zweifellos ein Korruptionszentrum der Bundesrepublik, allerdings wegen seiner vergleichsweise niedrigen Wirtschaftskraft auf provinziellem Niveau.

Merkwürdige Parteien wie die Republikaner, die Piraten oder die FDP gelangen immer mal wieder ins Stadtparlament. Das Kommen und Gehen ändert allerdings nichts an dem, was bleibt.

Was Hannover am Schröder-Maschmeyer-Hells Angels-Biotop hat, besitzt Berlin gleich mehrfach. Die »Freitagsrunde« der Immobilienwirtschaft mit einem früheren SPD-Fraktionsgeschäftsführer als Lenker nimmt einen vorderen Platz ein. Da sorgt der frühere SPD-Bausenator Peter Strieder offenkundig dafür, dass im Stadtzentrum gesetzliche Auflagen für Wohnungsanteile bei Neubauten elegant umgangen werden. Und wenn das kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen herauskommt, interessiert es die sogenannte Opposition einen feuchten Kehricht.
Da fungiert ein ehemaliger Regierender Bürgermeister, Walter Momper (SPD), als Türöffner für Spekulanten, na und? Das war in Berlin seit den Gründerjahren Anno 1870ff. nie anders.
Die Grünen haben einen Landesschatzmeister und Kandidaten namens Marc Urbatsch, über den der Newsletter Tagesspiegel-Checkpoint am Freitag vor der Wahl schreibt: »Er tritt an ›für den Erhalt der sozialen Infrastruktur‹ und sagt zum ›Sturm der Veränderung‹ in Moabit: ›Bläst er einem ins Gesicht, spürt man steigende Mieten, die Angst sich den Kiez bald nicht mehr leisten zu können.‹ In Halle kaufte Marc Urbatsch als Geschäftsführer der Firma Operatio in großem Stil Mietshäuser auf.«

Die Netzwerke, genauer gesagt: die Clans einer Parallelgesellschaft, halten wie Beton. Wer in den Senat will, hat sich den Paten anzudienen. Denen ist egal, wer unter ihnen die Stadt regiert.
Politische Folkloregruppen sind für die Stadtreklame gern gesehen, von den Machtzirkeln werden sie sorgfältig ferngehalten. Die Berliner CDU und SPD haben außer beim Mörteln noch eine tragende Gemeinsamkeit, eine Ideologie mit sakralem Status: Die Vergangenheit als Frontstadtparteien, die Tradition von Antikommunismus und der Hätschelei von Nazis und Neonazis. Auch da sind von jedem Regierungspartner Bekenntnisse verlangt, wie demnächst wieder zu sehen sein wird.

Wie in jeder Großstadt gibt es aber in Berlin eine linke, in großen Teilen antikapitalistische, außerparlamentarische Bewegung, die zahlenmäßig größte in der Bundesrepublik. Die Demonstration gegen TTIP und CETA am Sonnabend stellte das erneut unter Beweis. Ihr Potential für mögliche Veränderungen auch in der Bundespolitik wird von den zuständigen Behörden und von regierenden Parteien genau beobachtet und bearbeitet.
Mag sein, dass diese Strömung zum beachtlichen Zuwachs der Linkspartei beigetragen hat. Diese hat allerdings das Ergebnis, das sie vor ihrer zehnjährigen freiwilligen Gefangenschaft in einer der korruptesten bundesdeutschen Landesregierungen 2001 mit 22,6 Prozent hatte, bei weitem nicht wieder erreicht. Sie kann der AfD dankbar sein, dass nun alles auf eine weitere Regierungszeit hinausläuft.
Die Linke selbst hat dafür in einer Weise geworben, als ob sie an Wohnungsnot, der Katastrophe im öffentlichen Dienst oder Vernachlässigung der Infrastruktur unschuldig sei.
Der Regierungsmalus verblasste offenbar vor dem Willen vieler Wähler, den Bürgerblock mit seinen in Berlin Kreide fressenden Rechtsauslegern von der Stadtregierung fernzuhalten.

Jochen