Der Krieg in Syrien und die blinden Flecken des Westens (M.Lüders)

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/maerz/der-krieg-in-syrien-und-die-blinden-flecken-des-westens

Foto: Der russische Präsident Wladimir Putin trifft den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad (21.10.2015) kremlin.ru (CC BY 4.0)

von Michael Lüders

Luesers-wer_den_wind_saetKriege werden erzählt, nicht anders als Geschichten. Die jeweiligen Erzählungen bestimmen das Bild in unseren Köpfen, unsere Sicht auf Konflikte. Wir wissen, oder wir glauben zu wissen, wer schuldig ist und wer nicht, wer die Guten sind und wer die Bösen.
Im Falle Syriens ist die vorherrschende Sichtweise in etwa diese: Das verbrecherische Assad-Regime führt Krieg gegen das eigene Volk, unterstützt von den nicht minder skrupellosen Machthabern in Moskau und Teheran.
Die syrische Opposition, gerne als „gemäßigt“ bezeichnet oder als „das“ syrische Volk schlechthin wahrgenommen, befindet sich in einem verzweifelten Freiheitskampf, dem sich der Westen nicht verschließen kann. Andernfalls stünde seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel, würde er seine „Werte“ aufgeben, ja verraten.
Längst hätten wenigstens die USA militärisch intervenieren sollen, im Namen der Freiheit!

Leider greift diese Rahmenerzählung, das Narrativ hiesiger Politik wie auch der Medien, viel zu kurz. Die Verbrechen Assads sind offenkundig, die Enthüllungen von Amnesty International über massenhafte Hinrichtungen in den Foltergefängnissen von Saydnaya sind dafür nur der jüngste Beleg.[1]
Doch ersetzt die moralische Anklage nicht die politische Analyse. Die Berichterstattung über Syrien erschöpft sich vielfach in der Darstellung menschlichen Leids als Ergebnis der Kriegsführung Assads und seines russischen Verbündeten. Deren Verantwortung für Tod und Zerstörung ist aber nur ein Teil der Geschichte. Die übrigen, die fehlenden Teile werden meist gar nicht erst erzählt.

Zum Beispiel Omran. Das Foto des kleinen Jungen wurde im August 2016 zur Ikone der Schlacht um Aleppo, genauer gesagt der Angriffe von Regierungstruppen auf Stellungen der „Opposition“ im Ostteil der Stadt. Es zeigt das staubbedeckte, apathische Kind, auf einem Stuhl sitzend, das Gesicht blutverschmiert. Ein furchtbares Schicksal, jeder möchte Omran in den Arm nehmen und trösten. Kaum eine Zeitung, die das Bild nicht veröffentlicht hat.

Das ist der eine Teil der Geschichte, dessen emotionale Wucht kaum zu überbieten ist. Der andere Teil wird selten beleuchtet, wenn überhaupt. Der Fotograf heißt Mahmud Raslan. Er hatte kurz vor seiner Aufnahme Omrans ein Selfie gepostet, das ihn grinsend mit Angehörigen der Dschihadistenmiliz „Harakat Nur ad-Din as-Sanki“ zeigte. Darunter die beiden Männer, die zweifelsfrei vier Wochen zuvor den zwölfjährigen Abdallah Isa für ein Propagandavideo geköpft hatten.[2]
Raslan arbeitete für das „Aleppo Media Center“, das westlichen Medien in den monatelang andauernden Kämpfen um Aleppo als wichtige Informationsquelle diente.
Offiziell handelt es sich dabei um ein „unabhängiges Netzwerk“ von „Bürgerjournalisten“, mit einer allerdings klar regimefeindlichen Haltung, gut vernetzt mit Dschihadisten. Finanziert wird es maßgeblich vom französischen Außenministerium, auch aus Washington, London und Brüssel erhält das „Center“ Geld.[3]

Dass die militärisch relevanten Gegner Assads fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, ist zumindest in politischen Kreisen durchaus bekannt, stellt aber offenbar kein Problem dar. Es hat auch keine Auswirkungen auf die westliche Rahmenerzählung der Ereignisse in Syrien.
Die Unterteilung der Akteure in „gut“ und „böse“ bleibt erhalten, ebenso die hiesige Selbstwahrnehmung, in diesem Konflikt auf der „richtigen“ Seite zu stehen, der des syrischen Volkes. Die naheliegende Frage, ob demzufolge gewaltbereite Islamisten als „Volksvertreter“ anzusehen sind, stellt sich offenbar nicht.
Bei aller Empathie für das Leid der Menschen in Syrien – der Krieg reicht weit über Assad hinaus.

In Syrien geht es nicht um „Werte“, sondern um Interessen. Geopolitik ist dabei das Schlüsselwort. Sie erklärt, warum aus dem Aufstand eines Teils der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in kürzester Zeit ein Stellvertreterkrieg werden konnte.
Auf syrischem Boden kämpfen die USA und Russland, aber auch der Iran und Saudi-Arabien und nicht zuletzt die Türkei um Macht und Einfluss. Die Hauptakteure allerdings sind seit 2012 Washington und Moskau. Ohne die massive Einmischung von außen hätte dieser Krieg niemals die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung des indischen Subkontinents ausgelöst.
Mindestens zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht, rund eine Million haben in Europa Aufnahme gefunden, die meisten davon in Deutschland. Obwohl die Flüchtlingszahlen in der Türkei und den arabischen Nachbarländern Syriens deutlich höher liegen, haben sie doch den hiesigen Rechtspopulismus erheblich gestärkt und die gesellschaftliche Polarisierung vorangetrieben.

Zum ersten Mal finden sich die Europäer, allen voran die Deutschen, inmitten eines Sturms wieder, für den sie mitverantwortlich sind – weil sich ihre Politiker die Sicht Washingtons zu eigen gemacht haben: Assad muss weg. Über die Folgen mochte niemand konsequent nachdenken. Dieser Opportunismus fällt uns allen nunmehr auf die Füße. In Syrien haben die USA ihre Politik des regime change fortgesetzt, die in den letzten Jahren auch im Irak, in Libyen und, verdeckt, im Jemen betrieben wurde und wird. Nicht zu vergessen Afghanistan, wo nach den Attentaten vom 11. September 2001 der „Startschuss“ fiel. Das nachfolgende Chaos blieb allerdings weitgehend auf die Region selbst beschränkt. Das hat sich mit Syrien unwiderruflich geändert.

Obwohl diese Politik Washingtons eine Katastrophe nach der anderen hervorruft, namentlich Staatszerfall, das Erstarken von dschihadistischen Milizen wie dem „Islamischen Staat“ und die Odyssee von Millionen Syrern, Irakern, Afghanen, hält sich die Kritik in Brüssel oder Berlin in engen Grenzen. Überspitzt gesagt kehren die Europäer mit der Flüchtlingskrise die Scherben einer verfehlten US-Interventionspolitik auf, bezahlen sie gutwillig den Preis für die Machtansprüche anderer.
Anstatt selbstbewusst eigene Positionen zu vertreten, ziehen es hiesige Entscheidungsträger viel zu oft vor, amerikanischen Vorstellungen zu folgen. Das zeigte sich nicht zuletzt Ende 2016 bei der Schlacht um Aleppo.

Die Schlacht um Aleppo als Exempel

Im Verlauf des Jahres 2016 gelang Assads Armee, unterstützt von der russischen Luftwaffe und schiitischen Milizen aus dem Libanon, Irak und Iran, nach und nach die Rückeroberung der meisten strategisch wichtigen Landesteile. Die befinden sich überwiegend diesseits der Nord-Süd-Verkehrsachse von der türkischen bis an die jordanische Grenze, einschließlich der Mittelmeerküste.
Die Schlacht um Aleppo, die zweitgrößte Stadt Syriens und Wirtschaftsmetropole, markiert dabei einen Höhepunkt: Im Dezember 2016 gelang es den Regimekräften, den von Aufständischen kontrollierten Ostteil der Stadt nach monatelangen Kämpfen vollständig zurückzuerobern. Damit ist der Krieg zwar beileibe nicht beendet, doch für Washington war dieser symbolisch wichtige Sieg gleichbedeutend mit einer Niederlage. Das Projekt regime change hatte sich damit erkennbar erledigt.
Zu allem Überfluss hatte die laut dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama „Regionalmacht Russland“ Washington geopolitisch in die Schranken verwiesen.

Da nicht sein kann, was nicht sein darf, suchten die USA und ihre Verbündeten den Preis für Assad und Putin so hoch wie möglich zu treiben. Kaum war der Kampf um Aleppo im August 2016 voll entbrannt, wies die Berichterstattung, von Ausnahmen abgesehen,[4] in nur eine Richtung: Apocalypse Now, unterfüttert von erschütternden Bildern. Darunter auch jenes eines apathischen kleinen Jungen, Omran. Das Gesicht blutverschmiert und eingestaubt, auf einem Stuhl sitzend. Eine Ikone.

John_KerryEntsprechend empört zeigten sich westliche Politiker bis hinauf zum damaligen UN-Generalsekretär und betrieben klare Schuldzuweisung. In den Worten etwa des seinerzeitigen US-Außenministers John Kerry: „Russland und die syrische Führung haben in Aleppo offenbar die Diplomatie aufgegeben, um einen Sieg über zerfetzte Körper, ausgebombte Krankenhäuser und traumatisierte Kinder hinweg zu erreichen.“ Es dauerte nicht lange, bis Forderungen nach weiteren Sanktionen gegenüber Russland und Syrien erhoben wurden.

Gemeinsame Sache mit Al Qaida?

Was aber ist in Aleppo genau geschehen, jenseits des unbestreitbaren Leids der Zivilbevölkerung? Aleppo war seit 2012 zweigeteilt. Der Westteil blieb unter Kontrolle des Assad-Regimes, während der Ostteil von dschihadistischen Milizen erobert worden war.
Im Zuge dieser und nachfolgender Kampfhandlungen wurden weite Teile der Stadt zerstört, darunter die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählende Altstadt.
Dennoch ging das Leben im Westteil mit seinen rund 800 000 verbliebenen Einwohnern mehr oder weniger „normal“ weiter, unter erschwerten Bedingungen wie Wasser- oder Stromausfall. Und natürlich war der Krieg immer präsent, in den Monaten vor der August-Offensive vor allem in Form von Autobomben, Anschlägen oder den aus dem Ostteil abgefeuerten Hellfire-Raketen. Dabei handelt es sich um Boden-Boden-Raketen, die mit Schrott gefüllt werden und beim Einschlag in Tausende Einzelteile zerspringen – wer von ihnen getroffen wird, ist mindestens schwer verletzt. Diese Raketen funktionieren nach demselben Prinzip wie die Fassbomben, die das Regime aus Hubschraubern oder Flugzeugen auf Stellungen der Regimegegner abwirft, ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung.
Der Unterschied ist, dass die Fassbomben in der medialen Darstellung sehr präsent sind, weil sie die Unmenschlichkeit des Regimes dokumentieren. Die Hellfire-Raketen hingegen sind einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt.

Die Angaben zur Einwohnerzahl im Ostteil Aleppos vor der Rückeroberung schwanken beträchtlich und reichen von einigen Zehntausend bis zu 300 000. Wer ein Interesse daran hatte, das Leid der Zivilbevölkerung zu unterstreichen, setzte die Zahl möglichst hoch an. Jedenfalls lebten die Bewohner Ost-Aleppos unter der Herrschaft von Dschihadisten, deren Gruppen teilweise Phantasienamen trugen wie „Aleppo-Eroberung“ oder „Armee der Eroberer“. Von Zeit zu Zeit formierten sie sich neu, unter anderer Bezeichnung. Teils aus Gründen der Tarnung, teils infolge von Rivalitäten.
Militärisch und politisch tonangebend war die Nusra-Front, der syrische Ableger von Al Qaida. Bei der Schlacht um Aleppo ging es im Kern um die Rückeroberung des Ostteils aus den Händen der Dschihadisten. Das war das erklärte Ziel der russischen und syrischen Angriffe. Auf diesen Zusammenhang hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil in der medialen Darstellung im Westen der Eindruck entstand, die ganze Stadt erlebe ihren Untergang wie einst Dresden.
Indem die Berichterstattung das gesamte Aleppo im Inferno versinken sah, obwohl im Westteil über Wochen hinweg kaum gekämpft wurde, ersetzte der Fokus „menschliche Tragödie“ die politische Analyse. Andernfalls stünde für jeden denkenden Menschen die Frage im Raum: Wie kann es eigentlich sein, dass die USA mit Al Qaida gemeinsame Sache machen und kein Leitartikler, kein Minister steht auf und sagt: Nicht mit uns, Freunde? Das Apocalypse-Now-Szenario half, kritische Fragen zu vermeiden und das offizielle Narrativ, hier die „Guten“, dort die „Bösen“, aufrechtzuerhalten.

Für die Bevölkerung im Ostteil stellte sich die Lage dramatisch dar. Russische und syrische Flugzeuge haben wochenlang Stellungen der Dschihadisten bombardiert, wobei Krankenhäuser und Schulen zerstört und Zivilisten in unbekannter Zahl, sicherlich Tausende, unter Trümmern verschüttet wurden. Flüchten konnten die Bewohner kaum, weil sie den Dschihadisten als lebende Schutzschilde dienten. Wer es trotzdem versuchte, riskierte erschossen zu werden. Gleichzeitig hatten Regimetruppen den Ostteil eingekesselt, um jeden Waffennachschub zu unterbinden. Dadurch gelangten aber auch kaum noch Lebensmittel dorthin.

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, wandte sich Anfang Oktober 2016 mit einem dramatischen und für einen UN-Diplomaten höchst ungewöhnlichen Vorschlag an die Öffentlichkeit. Er warf den Nusra-Kämpfern vor, Ost-Aleppo in Geiselhaft genommen zu haben und forderte sie auf, die Stadt zu verlassen: „Es kann nicht sein, dass 1000 von euch über das Schicksal von 275 000 Zivilisten bestimmen.“
Gleichzeitig ersuchte er Moskau und Damaskus, die Blockade des Ostteils zu beenden. Er werde selbst dorthin reisen und die Nusra-Kämpfer persönlich aus der Stadt geleiten.

Eine ebenso rührende wie hilflose Geste, nachdem ein weiteres Waffenstillstandsabkommen für Syrien, ausgehandelt zwischen Washington und Moskau, im September gescheitert war. Dieses Abkommen wäre sehr weitreichend gewesen, weil es beide Seiten verpflichtet hätte, beim Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat künftig eng zu kooperieren, auch militärisch.

Das Pentagon allerdings lehnte eine solche Zusammenarbeit strikt ab. Am 17. September griffen US-Kampfflugzeuge zum ersten Mal überhaupt eine syrische Militärbasis an, im Osten des Landes. Der Angriff erfolgte in mehreren Wellen und dauerte etwa vier Stunden. Am Ende waren 62 Soldaten tot und mehr als 100 verletzt. Nach offiziellen Angaben aus Washington handelte es sich dabei um ein „Versehen“. Die Botschaft in Richtung Moskau und Damaskus hätte gleichwohl deutlicher kaum ausfallen können. Wenige Tage später wurde ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen und des Roten Halbmonds auf dem Weg nach Aleppo angegriffen, mehr als 20 Menschen starben. Moskau und Washington beschuldigten sich gegenseitig, für den Angriff verantwortlich zu sein.

Wie sehr Kriege medial inszeniert werden, zeigt der weitere Verlauf der Ereignisse. Im Oktober verlagerte sich die Berichterstattung von Aleppo in Richtung Mossul, in den Norden Iraks. Das Timing war kein Zufall und verdankte sich nicht zuletzt der US-Präsidentschaftswahl. Eine Erfolgsgeschichte konnte es für die USA in Aleppo nicht mehr geben. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis die syrische Armee den Osten der Stadt zurückerobern würde.
Angeblich hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin darauf verständigt, den militärischen Nachschub für die Nusra-Front in Aleppo deutlich zu reduzieren. Im Gegenzug erhielt er seitens Russlands freie Hand, gegen die sowohl mit Moskau wie auch mit Washington verbündeten Kurden im Norden Syriens gewaltsam vorzugehen. Die Komplexität und Schnelllebigkeit der politischen und militärischen Allianzen erklärt, warum es ein baldiges Ende des Syrienkrieges nicht geben kann. Viel zu viele Interessen von viel zu vielen Akteuren stehen hier auf dem Spiel.

Im Dezember 2016 gelang der syrischen Armee und ihren Verbündeten die vollständige Rückeroberung von Ost-Aleppo. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, erlaubte Damaskus Tausenden Dschihadisten und Regimegegnern, unbehelligt aus den umkämpften Stadtvierteln abzuziehen. Dennoch erstreckte sich die Evakuierung über mehrere Tage.
Zum einen weigerten sich die „Rebellen“ zunächst, die Belagerung zweier schiitischer Dörfer unweit Aleppos, die auf Seiten des Assad-Regimes stehen, zu beenden – obwohl dies Teil des Abzugdeals gewesen war.
Zum anderen beschossen die Assad-Gegner wiederholt Busse oder setzten sie in Brand, die für den Abtransport „der Kämpfer und ihrer Familien“ gedacht waren, so die beinahe fürsorgliche Wortwahl von Nachrichtensprechern der BBC am 13. Dezember.

Ihrem Narrativ blieben westliche und deutsche Medien weitgehend treu. „Spiegel Online“ etwa bezeichnete die Evakuierung der Assad-Gegner als „ethnische Säuberung“.
Das entspricht weder der Faktenlage noch der Logik. Der Abzug einiger tausend sunnitischer Extremisten aus einer überwiegend von Sunniten bewohnten Stadt kann per se keine „ethnische Säuberung“ darstellen, ganz unabhängig von der politischen Einordnung. Hätte es diesen Abzug nicht gegeben, wären die Kämpfe fortgesetzt worden, hätte derselbe Autor vermutlich den Vorwurf des „Genozids“ erhoben.

Dennoch zeigte der mediale Diskurs erste Risse. Dass nicht allein das Regime, sondern auch die „Rebellen“ Dörfer belagern und auszuhungern versuchen, war vielen neu. Auch die Bilder brennender Busse verfehlten ihre Wirkung nicht. Selbst der Berliner „Tagesspiegel“, gemeinhin eine feste Burg transatlantischer Werteorientierung, titelte am 8. Januar 2017: „Die Eroberung Aleppos ist auch eine Befreiung.“ Der Kommentator gelangte zu der Einsicht: „Im syrischen Bürgerkrieg fällt es schwer, […] die Guten von den Bösen sauber zu trennen.“
Weise Worte, wenngleich der Krieg in Syrien mitnichten allein ein Bürgerkrieg ist.

Unmittelbar nach der Rückeroberung haben die Medien ihr Interesse an Aleppo fast vollständig verloren. Ebenfalls von der Bildfläche verschwunden ist das „Aleppo Media Center“ im Ostteil der Stadt, vom Westen finanziert und hochgelobt als Forum „unabhängiger Bürgerjournalisten“.

In Aleppo das Inferno, in Mossul der Freiheitskampf?

Doch zurück zu Mossul, seit Oktober 2016 der neue Schwerpunkt nahöstlicher Berichterstattung, in Nachfolge Aleppos.
Warum Mossul? Die zweitgrößte Stadt Iraks und wird seit Sommer 2014 vom „Islamischen Staat“ beherrscht. Auf Dauer kann der IS die Millionenmetropole nicht halten, weil er sowohl in Syrien wie auch im Irak große Teile des von ihm ausgerufenen „Kalifats“ an eine internationale Militärkoalition unter Führung der USA verloren hat.
Wenn es gelingt, Mossul vom IS zu befreien, wirkt sich das, im Gegensatz zur Aleppo-Episode, positiv auf das Image des Westens aus.

Ein ernstzunehmendes Problem aber bleibt. Der Kampf um Mossul dürfte Monate dauern, und die Stadt muss Straße um Straße, Viertel um Viertel erobert werden. Mit anderen Worten: Es wird viele Tote geben, und am Ende könnte Mossul größtenteils zerstört sein. Die unterschiedliche Intonierung der Berichterstattung ist kaum zu übersehen. *)
In Aleppo das Inferno, in Mossul der Freiheitskampf. Zwar geht es hier wie dort um Dschihadisten, aber die einen kooperieren mit den USA, zumindest indirekt, die anderen nicht. Zivilisten sterben in beiden Städten – in Aleppo dient ihr Tod der Anklage, in Mossul wird er „eingepreist“ als notwendiges Übel.
Entsprechend sehen wir jubelnde Menschen aus den vom IS befreiten Dörfern rund um Mossul, siegreich vorrückende irakische Soldaten, tanzende Christen, die in ihre Häuser zurückgekehrt sind.

In den ersten zwei bis drei Wochen der Offensive hat die „Koalition“ fast 2500 Bomben, Raketen, Granaten und Fernlenkgeschosse in Richtung Mossul abgefeuert. Der Chef des Zentralkommandos der US-Streitkräfte (Centcom), General Joseph Votel, schätzt die Zahl der dabei getöteten IS-Kämpfer auf bis zu 900.[5]
Zivile Opfer hat es offenbar keine gegeben, jedenfalls machte er dazu keine Angaben. In Wirklichkeit leiden erneut in erster Linie Zivilisten, wie in allen Kriegen. Genaue Zahlen liegen nicht vor, doch allein im Oktober 2016 sollen „hunderte Zivilisten“ in Mossul ums Leben gekommen sein. Deutsche Reporter, die im November 2016 die Außenbezirke Mossuls aufgesucht haben, zitierten einen irakischen Arzt mit den Worten, in seinem Lazarett liege das Verhältnis zwischen verwundeten Zivilisten und Soldaten bei neun zu eins.[6]
Laut Amnesty International sollen irakische Soldaten bei ihrem Vormarsch Ende Oktober 2016 sechs Zivilisten gefoltert und erschossen haben, weil sie angeblich Kontakte zum IS unterhielten.[7]

Man könnte böswillig sagen: Was sind sechs Tote, angesichts von weit über einer Million Opfer im Irak und in Syrien seit 2003? Doch zeigt dieses Beispiel, wie wenig die westliche Einteilung der Kriegsparteien in „gut“ und „böse“ besagt. Alle Akteure haben Blut an ihren Händen, kaum einer nimmt Rücksicht auf zivile Opfer.
Arabische Gesellschaften, die stark von Clan- und Stammesstrukturen geprägt sind, folgen ihrerseits häufig einem klaren Freund/Feind-Schema. Man ist entweder Blutsbruder – oder aber Todfeind, wobei sich die jeweilige Zuordnung jederzeit unvermittelt ändern kann. Entsprechend gibt es für die jeweiligen Milizen nur Sieg oder Niederlage – Kompromisse oder Humanität gegenüber der anderen Seite gelten als Zeichen der Schwäche. Aus Sicht des Assad-Regimes sind Gebiete, die von Aufständischen kontrolliert werden, Feindesland. Zwischen Kämpfern und Einwohnern wird vielfach kaum unterschieden. Jeder Tote ist ein potentieller Gegner weniger. Derselben Logik folgen aber auch alle anderen Kriegsparteien, so dass Massaker, unterlegt von Rachegelüsten, wie selbstverständlich in die Kriegsführung einfließen. Am sichtbarsten ist dies bei den Dschihadisten. Ihnen reicht es häufig nicht, ihre Opfer lediglich umzubringen, sie legen Wert auf Inszenierung. Deswegen köpfen sie Menschen vor laufender Kamera und stellen die Bilder anschließend ins Internet. Die grausame Tat soll Macht demonstrieren und den „Stamm“ des Getöteten verhöhnen: die betreffende religiöse oder ethnische Gruppe oder auch, bei Ausländern, deren Heimatregierungen.

Um es noch einmal klar und deutlich zu sagen: Ja, das Assad-Regime ist verbrecherisch. Die Vorstellung aber, auf Seiten der „Rebellen“, die außerhalb der kurdischen Gebiete fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, wären Menschenfreunde am Werk, die nur töten, um sich gegen das Regime zu verteidigen, hat mit der Realität nichts zu tun. Jeder Syrienbericht etwa von Amnesty International oder Human Rights Watch straft solche Überzeugungen Lügen. Dass deutlich mehr Tote auf das Konto des Regimes gehen als auf jenes der „Rebellen“, widerspricht dem nicht. Eine Gruppierung, die vielleicht nur 1000 und nicht etwa 10 000 Menschen umgebracht hat, ist deswegen nicht „humaner“. Und wie würde eine aus Sicht des Westens „legitime“ Kriegsführung Assads aussehen?
Immerhin verteidigt sich sein Regime gegen eine internationale Allianz, die völkerrechtswidrig seinen Sturz betreibt. Wer Assad auf der Anklagebank sehen will, kann das glaubwürdig nur tun, wenn gleichzeitig auch Anklage gegen die Kriegstreiber von außen erhoben wird. Und wer Assad gestürzt sehen will, sollte für sich die Frage beantwortet haben, ob er etwa die Nusra-Front lieber an der Macht sähe. Moralische Empörung reicht nicht aus, um demokratische Verhältnisse herbeizuführen.
Das Denken in Stammesstrukturen zu überwinden, braucht Zeit, sehr viel Zeit. Durch Dritte kann ein solcher „mentaler Aufbruch“ nicht erzwungen werden.

Sobald es zum Endkampf um Mossul kommt, werden schiitische und kurdische Milizen auf die sunnitische Stadt vorrücken, auch die türkische Armee hält sich bereit.
Der Sieg über den IS könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, denn um die künftige politische Ordnung und die Verteilung der Erdöleinkünfte im Norden Iraks dürfte ein Hauen und Stechen der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen einsetzen.
Human Rights Watch berichtete im November 2016, dass die Peschmerga, die nordirakische Kurdenmiliz, in gemischten Siedlungsgebieten von Kurden und Arabern in den Regierungsbezirken Kirkuk und Niniveh systematisch Araber vertrieben und deren Häuser zerstört haben. Ein Ende der Gewalt ist somit auch hier nicht in Sicht.
Beide Kriegsschauplätze, Syrien und Irak, sind eng miteinander verbunden. Der „Islamische Staat“ hat seine Wurzeln im Irak und nutzte den Staatszerfall in Syrien, um auch dort Fuß zu fassen. Beiderseits der Grenze herrscht Anarchie, Milizen haben in weiten Landesteilen die Kontrolle übernommen – auch das erschwert die Befriedung der Region.

Kriege wie die in Syrien oder im Irak enden nicht, sie klingen nicht aus, sie kennen kein Happy End. Sie transformieren sich, durchlaufen Metamorphosen, nehmen immer wieder eine neue Gestalt an.
Den „Islamischen Staat“ ein für alle Mal zu besiegen, hat übrigens in letzter Konsequenz niemand ein wirkliches Interesse. Er liefert den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Interventionsmächte, ist er doch der Hauptfeind, nach außen hin – und damit der willkommene Anlass für alle Mächte, um vor Ort weiter Präsenz zu zeigen und ihre Interessen zu vertreten.

Der Beitrag basiert auf „Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Verlag C.H. Beck erschienen ist.

[1] Syria: Human slaughterhouse: Mass hangings and extermination at Saydnaya Prison, Syria; www.amnesty.org/en/documents/mde24/5415/2017/en, 7.2.2016.

[2] Vgl. Der Mann, der den kleinen Omran fotografiert hat, gerät in den Fokus, www.sueddeutsche.de, 19.8.2016.

[3] Vgl. etwa www.cfi.fr, die Homepage von Canal France International. Amerikanischer Hauptsponsor ist, so scheint es, die „Syrian Expatriates Organisation“ (SEO) mit Sitz in Washington (www.syrian-expatriates.org), die seit 2012 jährlich Spenden in Höhe von 400 000 bis 500 000 Dollar akquiriert. Aus welchen Quellen gibt sie nicht bekannt, darunter wahrscheinlich Regierungsorganisationen wie USAID. Vgl. dazu Inside the Shadowy PR Firm That’s Lobbying for Regime Change in Syria, www.alternet.org, 3.10.2016.

[4] Sehr lesenswert ist der Artikel von Robert Fisk, What it’s really like to be in the middle of the battle for Aleppo, in: „The Independent“, 30.10.2016. Darin widerspricht er ausdrücklich der westlichen Darstellung eines syrisch-russischen „Stahlgewitters“ auf Aleppo. Nicht um die Lage zu beschönigen, sondern um sie als das darzustellen, was sie ist: ein schmutziger Krieg zwischen Dschihadisten und Regimesoldaten. Fisk verweist darauf, dass die dortigen Dschihadisten ihre Waffen vornehmlich aus der Türkei bezögen. Bemerkenswert auch der Artikel Syrian Rebels Launch Offensive to Break Siege of Aleppo, in: „New York Times“, 28.10.2016. Normalerweise spiegelt die NYT in ihrer Syrien-Berichterstattung die Regierungslinie weitestgehend wider. In diesem Beitrag nun setzt sie sich ungewohnt kritisch mit der Bewaffnung syrischer Dschihadisten durch die CIA auseinander – obwohl diese eindeutig mit Al Qaida liiert seien.

[5] Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 29.10.2016.

[6] Vgl. www.airways.org/tag/civilian-casualties, 10.1.2017, sowie Unterwegs mit einer Eliteeinheit, in: „Süddeutsche Zeitung“, 29.11.2016.

[7] Vgl. etwa www.zeit.de, 10.11.2016.

(aus: »Blätter« 3/2017, Seite 45-53)

*) Zur Doppelzüngigkeit westlicher Medien insbesondere Daniela Dahn, siehe hier:

daniela dahn

https://josopon.wordpress.com/2016/12/14/die-guten-und-die-boesen-aleppo-und-mossul-ein-essay-von-daniela-dahn/

Vergleiche dazu die Auftritte Lüders bei Markus Lanz: https://www.youtube.com/watch?v=AxZwSgr1tLE und Anne Will:https://www.youtube.com/watch?v=QwP65GR61W0, wo vier „Systemjournalisten“ einschließlich der Moderatorin ihm dauernd ins Wort fielen und ihn als „Verschwörungstheoretiker“ verleumdeten.

Über die innenpolitischen Sachzwänge für Trump hier Glenn Greenwald: https://theintercept.com/2017/04/07/the-spoils-of-war-trump-lavished-with-media-and-bipartisan-praise-for-bombing-syria/

Bereits 2015 hatte der Wissenschaftler Lüders in der Tele-Akademie des SWR ausführlich referiert: https://www.youtube.com/watch?v=syygOaRlwNE&t=723s

Jochen

Der endlose Krieg im Irak

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ausführlicher Artikel in der jungen Welt hier:
https://www.jungewelt.de/2014/12-16/067.php
Auszüge:

Bewaffnete Auseinandersetzungen im Irak: Die dschihadistische Terrormiliz »Islamischer Staat« rückte erst in diesem Jahr in die Schlagzeilen.

Dabei entstand ihre Vorläuferorganisation in dem besetzten Land bereits 2003

Von Joachim Guilliard

Seit dem 8. August greifen US-amerikanische Kampfjets nach zweieinhalbjähriger Pause wieder Ziele im Irak an. Innerhalb kurzer Zeit operierten bereits wieder über 3.000 US-Soldaten offen in dem Land, das sie Ende 2011 verlassen mussten.
Im Bündnis mit anderen NATO-Staaten und den arabischen Golfmonarchien weiteten sie die Angriffe im Rahmen ihres Kampfes gegen den »Islamischen Staat« auf syrisches Territorium aus.
Syrien wurde so nach Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia, Libyen und Irak zum siebten Land der islamischen Welt, das US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Barack Obama im Rahmen seiner bislang sechsjährigen Amtszeit bombardieren lässt.

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Kaum einer stellte die Frage, wie es dem ISIL so problemlos gelingen konnte, Mossul einzunehmen. Das war nur wegen eines Aufstands der Einwohner gegen die Regierung in Bagdad möglich (ISIL-Kämpfer am 11. Juni 2014 in Mossul)

Im Unterschied zu seinem Vorgänger, George W. Bush, erhält Obama für seine neuen Kriegseinsätze breite Unterstützung bis hinein in die Linke.
Dramatische Berichte über die Greueltaten der brutalen Miliz »Islamischer Staat«, die im Norden Iraks bis fast an die Grenzen des kurdischen Autonomiegebietes vorgerückt ist, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sogar von »Völkermord« war schon wieder die Rede.

Nun waren die, in der Region meist noch mit der bisherigen Abkürzung ISIL (oder arabisch Daish) für »Islamischer Staat im Irak und der Levante« bezeichneten, Al-Qaida nahen Dschihadisten keine neue Erscheinung.
Doch solange sie ihre Blutspur allein in Syrien zogen, hat man sie nur verbal verurteilt, faktisch aber weiterhin ‒ als Teil der gegen die Assad-Regierung gerichteten Allianz ‒ unterstützt. Zur zu bekämpfenden Bestie wurde der ISIL erst, als seine Vorstöße die nordirakische Öl- und Gasfelder bedrohten.

Mit der direkten militärischen Intervention und der erneuten Stationierung eigener Truppen im Irak will die Obama-Regierung nicht nur das Regime in Bagdad stabilisieren und die aus dem Ruder gelaufene Miliz bändigen, sondern auch den geschwundenen Einfluss im Land wieder stärken.
Die irakisch-kurdischen Parteien nutzen die Gelegenheit, um die faktische Unabhängigkeit der von ihnen kontrollierten Gebiete weiter voranzutreiben.
Indem das ganze Geschehen, wie schon während der US-Besatzung, auf die Auseinandersetzung mit islamistischen Terrortruppen reduziert wird, wird erneut der Kampf breiter Bevölkerungsschichten gegen das von der Besatzung geschaffene Regime ausgeblendet, wie auch die brutale Gewalt irakischer Regierungskräfte und der Milizen, die der des ISIL kaum nachsteht und bisher wesentlich mehr Todesopfer forderte.
Durch die Fokussierung auf den zur Inkarnation des Bösen hochstilisierten ISIL konnte auch die öffentliche Zustimmung für ein direktes militärisches Eingreifen in Syrien gewonnen werden, das ein Jahr zuvor noch aufgrund der breiten Opposition abgeblasen werden musste.

In Syrien bombardieren die Staaten, die hauptsächlich für die Gewalteskalation dort verantwortlich sind – also eine »Koalition der Schuldigen« ‒ nun in erheblichem Maß auch die dortige Infrastruktur, während sie gleichzeitig weiterhin die islamistischen Milizen, die gegen die Assad-Regierung kämpfen, unterstützen.
Dabei hält das NATO-Mitglied Türkei die Grenzen auch für ISIL-Kämpfer und deren Nachschub sowie deren umfangreichen Schmuggel mit syrischem Öl offen.

Auch die Bundesregierung ist diesmal mit dabei. CDU und SPD nutzten die Stimmung, um eilig 600 Tonnen Kriegsgerät an die irakisch-kurdische Partei KDP zu liefern, die das kurdische Autonomiegebiet regiert.
Mit dieser Waffenlieferung an einen nichtstaatlichen Akteur in ein Krisengebiet, mittels derer die BRD am Parlament vorbei in einen bewaffneten Konflikt interveniert, fegten die Regierungsparteien gleich drei bisherige militärische Selbstbeschränkungen deutscher Politik zur Seite.

Ein Produkt des Westens

Der Vorläufer des ISIL entstand ab 2003 im besetzten Irak, als sunnitische Extremisten aus diversen Kampfgebieten der Welt ins Land strömten, das bis dahin keinerlei Basis für dschihadistische Gruppen bot.
Prominent wurde die Gruppe um den Jordanier Abu Mussab Al-Sarqawi, die aufgrund seiner Beziehungen zu Al-Qaida von westlichen Beobachtern als »Al-Qaeda im Irak« (AQI) bezeichnet wurde. Diese schloss sich bald mit ähnlich gesinnten Gruppen zum »Schura-Rat der Mudschaheddin im Irak« zusammen, der 2006 die Errichtung eines »islamischen Emirats« bzw. »Staates« im Irak (ISI) ausrief.
Finanziert und ausgerüstet wurden die Gruppierungen schon damals vor allem von Sponsoren aus den Golfmonarchien.

Obwohl ihre Ideologie mit dem traditionellen Religionsverständnis irakischer Sunniten nichts gemein hat, wurden sie zunächst als kompromisslose, kampferprobte und gut bewaffnete Kämpfer gegen die Besatzer begrüßt. Für viele unter Kriegs- und Embargobedingungen aufgewachsene junge Männer waren deren Radikalität und auch die Soldzahlungen durchaus attraktiv.
Vor allem arbeitete dem ISI die sektiererische Teile-und-herrsche-Strategie der Besatzer zu, die schiitisch-islamistische Kräfte an die Spitze des neuen Regimes stellten und sunnitische Nationalisten mit aller Gewalt zu neutralisieren suchten.

Bald stellten die Besatzungsgegner jedoch fest, dass die sunnitischen Extremisten den irakischen Kriegsschauplatz nur für ihr universelles Ziel des Aufbaus eines islamischen Gottesstaates nutzten und zu Mitteln griffen, die absolut inakzeptabel waren und dem Widerstand erheblich schadeten.
Als die ISI-Milizen der Bevölkerung mit Gewalt ihre mittelalterlichen Regeln aufzuzwingen suchten, kam es zum offenen Konflikt.

Die wichtigsten Widerstandsgruppen schlossen 2006 schließlich ein Bündnis gegen den ISI. Parallel dazu entstand die sogenannte »Al-Sahwa«- oder »Erwachen«-Bewegung: sunnitische Bürgerwehren, bestehend aus ehemaligen Guerillakämpfern und Stammeskriegern, die von den Besatzern Sold und Ausrüstung für den Kampf gegen die dschihadistischen Gruppen erhielten.
Mit vereinten Kräften wurden diese schließlich weitgehend zerschlagen. Ende 2010 war die Stärke des ISI auf maximal 1.000 Kämpfer geschrumpft.

Der NATO-Krieg gegen Libyen und der von außen angefeuerte bewaffnete Aufstand in Syrien schufen jedoch bald die Basis für die Wiederbelebung der Organisation, die sich nun als ISIL nach Syrien ausdehnte.
Die USA hatten schon 2006 begonnen, zusammen mit den Golfmonarchien Gruppen sunnitischer Extremisten aufzubauen, um den »schiitischen Bogen« vom Iran über Syrien bis zur libanesischen Hisbollah zu schwächen.
Im Krieg zur Unterwerfung Libyens waren 2011 dann Zehntausende Islamisten von den USA, England und Frankreich ausgerüstet und teils auch ausgebildet worden, denen mit dem Zusammenbruch des Staates erhebliche Mengen an Waffen in die Hände fielen.
Ein großer Teil davon gelangte über Jordanien und die Türkei nach Syrien. Auf demselben Weg strömten auch Tausende Kämpfer aus Libyen, Afghanistan, Irak, Tschetschenien und vielen anderen Ländern nach Syrien, um zusammen mit einheimischen Islamisten das verhasste, weitgehend säkulare Regime zu stürzen. Geld, Waffen und Material flossen zudem auch aus den USA und den Golfstaaten an diese Gruppen. Offiziell waren sie für die »moderaten Aufständischen« bestimmt, vor Ort gab es jedoch keine klare Trennung zwischen »moderaten« und radikalen Islamisten. Der größte Teil ging, wie auch ein erheblicher Teil der Kämpfer, zu den Einheiten über, die sich als am schlagkräftigsten und finanzstärksten erwiesen ‒ und dies waren die Al-Nusra-Front und der ISIL.

Zurück ins Mittelalter

Das Ziel des ISIL ist die Wiederherstellung des Kalifats, d. h. die Auflösung des durch die Kolonialstaaten nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen und Mittleren Osten geschaffenen Staatensystems und der Wiederaufbau eines einheitlichen islamischen Reiches unter Führung eines Kalifen.
Die Proklamation eines Kalifats knüpft an Bestrebungen an, die in den letzten Jahrhunderten immer wieder auflebten, gespeist von dem Wunsch, die Vorherrschaft des Westens über die islamische Welt zu brechen, damit diese zu einstiger Größe zurückkehren könne. Mit den Verbrechen westlicher Staaten an den muslimisch geprägten arabischen Ländern in den letzten Jahrzehnten wuchs die Attraktivität solcher Pläne ganz erheblich.

Der ISIL strebt nicht den schnellen Sturz der aktuellen Regierungen an, sondern die sukzessive Ausdehnung des unter seiner Herrschaft stehenden Territoriums. Ziel ist in erster Linie die Unterwerfung der Bevölkerung in den eroberten Gebieten, inklusive der Minderheiten, und nicht deren Vernichtung oder Vertreibung. Wer jedoch Widerstand leistet oder sich der angestrebten mittelalterlichen Ordnung widersetzt, wird grausam bestraft, oft exemplarisch massakriert.

Joachim Guilliard arbeitet im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg. Er betreibt den Blog »Nachgetragen«: jghd.twoday.net

Gedungene Mörder

https://www.jungewelt.de/artikel/253394.gedungene-m%C3%B6rder.html

Bewaffnete Auseinandersetzungen im Irak: Nicht nur der »Islamische Staat« handelt erbarmungslos. Schiitische Milizen gehen gegen die sunnitische Bevölkerung nicht minder brutal vor. Die Regierung in Bagdad lässt sie gewähren

Von Joachim Guilliard

Der Großteil der Aufmerksamkeit der Welt richte sich auf die Terrormiliz »Islamischer Staat«, so Erin Evers, die Irak-Beauftragte von Human Rights Watch, Ende September, »doch dessen aufsehenerregende Tötungen und Entführungen sind nur ein Teil der Geschichte von abscheulichen Misshandlungen.« Dazu gehören auch jene, »die irakische Zivilisten durch Regierungstruppen und schiitische Milizen erleiden«. Evers hatte in den Tagen zuvor u. a. Zeugen zur Belagerung von Latifiya angehört, einer mehrheitlich sunnitischen Stadt im sogenannten »Bagdad-Gürtel«, deren Bevölkerungszahl infolge der Angriffe der berüchtigten 17. Division und der Milizen, die unter der Kontrolle des Expremiers Nuri Al-Maliki stehen, in den Wochen bis September von 200.000 auf 50.000 schrumpfte. Dutzende Bürger der Stadt waren entführt und ermordet worden. Anwohner berichten von Exekutionen auf offener Straße, nur wenige Meter von Polizeiposten entfernt. Am 11. Juni verschleppten Milizionäre 137 Männer von einem Markt der Stadt. Die Leichen von 30 der Entführten wurden gefunden, von den übrigen fehlt jede Spur.
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) dokumentiert in ihrem im Oktober vorgestellten 28seitigen Report »Absolute impunity – Militia rule in Iraq« (Völlige Straffreiheit – Die Rolle der Milizen im Irak) Dutzende Fälle von Verschleppungen und Exekutionen durch schiitische Milizen in Bagdad, Samarra, Kirkuk und vielen anderen Städten im ganzen Land. Allein in Samarra wurden dem Report zufolge seit Anfang Juni 170 junge sunnitische Männer entführt. Dutzende von ihnen wurden später tot aufgefunden, auch hier werden die anderen nach wie vor vermisst. Zum Teil wurden sie wegen des Verdachts der Unterstützung oder der heimlichen Sympathie für den ISIL ermordet, teils als Vergeltung für ISIL-Angriffe.

Die Macht der schiitischen Milizen, die z. T. auch vom Iran militärisch unterstützt werden, wuchs ab Juni dieses Jahres massiv, nachdem sich die regulären Streitkräfte als wenig schlagkräftig erwiesen hatten. Sie werden, so Amnesty, »oft von der irakischen Regierung bewaffnet und unterstützt« und arbeiten bei ihren Aktionen in »unterschiedlichem Maß mit Regierungskräften« zusammen. Sie tragen Uniform, operieren aber völlig außerhalb des Gesetzes. Infolge der Förderung dieser Milizen durch die Regierung hat sich, so die Organisation, die Spirale konfessioneller Gewalt, ausgeübt von sunnitischen und schiitischen Extremisten, auf ein Niveau geschraubt, wie es seit den schlimmsten Tagen zwischen 2006 bis 2007 nicht mehr registriert wurde. »Indem sie den Milizen ihren Segen gibt, die routinemäßig solche fürchterlichen Gewaltakte begehen, unterstützt die Regierung Kriegsverbrechen und setzt einen gefährlichen Prozess religiös motivierter Gewalt in Gang, der das Land zerreißt«, erklärte Donatella Rovera, Krisenbeauftragte von Amnesty International, bei der Vorstellung des Berichts.

Mehrere schiitische Milizen, darunter die berüchtigten Badr-Brigaden¹ kämpfen auch gemeinsam mit kurdischen Peschmerga im Nordosten des Landes gegen den ISIL. Dabei kommt es nicht nur, wie die UNO berichtet, häufig zu Racheakten an Sunniten. »Marodierende regierungsnahe Milizen nutzen den Kampf gegen den ›Islamischen Staat‹ als Vorwand, um sunnitische Gemeinden quer durchs Land zu zerstören«, schreibt das renommierte US-Magazin Foreign Policy Anfang November. Sie hindern sunnitische Familien, in ihre zeitweilig vom ISIL besetzten Städte und Dörfer zurückzukehren. Häufig kommt es auch zu Brandschatzungen, z. T. werden ganze Dörfer niedergebrannt. Ein Video zeigt, wie schiitische Kämpfer einen Mann köpfen, der der Kollaboration mit dem ISIL beschuldigt wurde.

Die Badr-Brigaden, die seit 2005 Teil der Regierungskoalition sind und auch unter dem neuen Regierungschef den Innenminister stellen, machen sich nicht die Mühe, ihr Vorgehen zu verschleiern. »Die schiitischen Gotteskrieger haben das Recht, das Leben und das Eigentum der sunnitischen Araber zu nehmen, die an der Seite des ISIL kämpften«, so der Kommandeur einer Badr-Einheit, die in der Nähe von Kirkuk operiert. Als Mitkämpfer gilt dabei jeder, der nicht vor dem »Islamischn Staat« floh. »Wir glauben, dass alle, die unter ISIL-Kommando lebten, ISIL-Mitglieder sind. Es gibt keine Unparteiischen unter der Autorität von ISIL«, zitiert ihn das kurdische Narichtenportal Rudaw Anfang Oktober.

Die Kurden im Aufwind

ypg-flaggeHauptnutznießer der Entwicklung sind die nach Unabhängigkeit strebenden irakischen Kurden, allen voran der Barsani-Clan und seine Demokratische Partei Kurdistans (KDP). Insbesondere die offene, an der Zentralregierung vorbei erfolgte militärische Aufrüstung ihrer Peschmerga-Verbände, die sie seit vielen Jahren vergeblich gefordert hatten, bedeutet einen weiteren großen Schritt in Richtung faktische staatliche Unabhängigkeit.

Auch das Zurückweichen der irakischen Armee vor dem ISIL und den aufständischen Gruppen kam den Kurdenparteien sehr gelegen. Die Peschmerga rückten sofort nach und besetzen nun weitere große Teile des bis zu 100 Kilometer breiten Landstreifens, den sie jenseits der Grenze der Autonomen Region Kurdistan beanspruchen. Unter kurdische Hoheit gerieten dabei auch die Hauptstadt der Nachbarprovinz, Kirkuk, und ihre Umgebung, wo die größten nordirakischen Ölfelder liegen.

Ein großer Teil dieser »umstrittenen Gebiete« stand bereits seit 2003 unter ihrer Kontrolle, als sie zusammen mit den US-amerikanischen Invasionstruppen einmarschierten. Die kurdische Regionalregierung hat auch schon für Ölfelder, die in diesem Gebiet liegen, Konzessionen an ausländische Konzerne, darunter Total und die US-Multis Exxon-Mobile und Chevron, vergeben und damit die Spannungen mit der Zentralregierung extrem zugespitzt. Irakische Armee und Peschmerga standen sich jahrelang schussbereit an der Demarkationslinie gegenüber, mehrfach mussten die Besatzer dazwischengehen. Mit dem Abschluss der für Exxon, Chevron und Total überaus lukrativen Geschäfte schufen die Kurden jedoch in den beanspruchten Gebieten harte Fakten und konnten darauf vertrauen, dass die Multis ihre erheblichen Investitionen schützen werden.

Dennoch hatten sich die Bemühungen der Kurden um größere Unabhängigkeit festgefahren. Sie hatten in den letzten Jahren zwar die Ölförderung auf ihrem Territorium mittels eigenmächtiger Abkommen mit ausländischen Konzernen deutlich ausgebaut und im Mai auch eine eigene in die Türkei führende Pipeline in Betrieb genommen, konnten das Öl aber aufgrund des Widerstands der Zentralregierung nur schwer verkaufen. Washington, bemüht, das Auseinanderbrechen des Iraks zu vermeiden, unterstützte bisher Bagdads Sicht, dass solche eigenmächtigen Verkäufe illegal sind ‒ trotz des Drucks der involvierten Ölkonzerne und der türkischen Regierung. Mit dem Vorrücken des ISIS im Irak und dem Kollaps der Regierungstruppen avancierten die irakischen Kurden jedoch plötzlich zur einzigen verlässlichen Kraft. Dies machte nicht nur den Weg frei für direkte Waffenlieferungen an Barsanis KDP und den Einsatz der US-Luftwaffe zur Unterstützung von deren Kämpfern in Gefechten um die »umstrittenen Gebiete«, sondern scheint auch die Tür für den Export kurdischen Öls zu öffnen. Ende August verwarf ein US-Gerichtshof das Urteil eines Distriktgerichtes, den vor der texanischen Küste liegenden Tanker »United Kalavryta«, mit einer Million Barrel kurdischen Rohöls im Wert von knapp 100 Millionen US-Dollar an Bord, zu beschlagnahmen. US-Experten erwarten nun bald auch die Erlaubnis, das Öl in einem texanischen Hafen entladen zu dürfen.

Kämpfer von Barsanis KDP hatten im Juni auch die Förderanlagen des Kirkuk- und des Bai-Hassan-Ölfeldes übernommen und die dort arbeitenden Angestellten der staatlichen »Northern Oil Company« vertrieben. Diese Ölfelder haben zusammen eine Förderleistung von rund 500.000 Barrel pro Tag (bpd), das ist rund ein Fünftel der gesamten irakischen Kapazität. Mitte Oktober begannen die Kurden, daraus 200.000 Barrel täglich zu den Raffinerien zu pumpen, die unter ihrer Kontrolle stehen und damit Öl aus eigenen Ölfeldern für den Export freizumachen. Sie haben ihre Ausfuhr im Sommer von 180.000 auf 240.000 bpd gesteigert und wollen sie bis Ende des Jahres auf 400.000 bpd ausbauen. Wohin die illegalen Exporte gehen, bleibt im Nebel. Ein Teil floss im Sommer offenbar nach Ungarn, aber auch Österreich und Deutschland scheinen davon etwas erhalten zu haben.

Massud Al-Barsani, KDP-Chef und Präsident der Autonomen Region Kurdistan, kündigte auch unmittelbar nach der Übernahme von Kirkuk ein baldiges Referendum über die Unabhängigkeit der von KDP und der Patriotischen Union Kurdistan kontrollierten Gebiete an. Sukzessive werden die eroberten Regionen in die politischen Strukturen des kurdischen Autonomiegebietes eingebunden. 24.000 Peschmerga kontrollieren nun Kirkuk, und das kurdische Regionalparlament eröffnete Mitte Oktober bereits eine Repräsentanz in der Stadt, um deren »kurdische Identität zu unterstreichen«.

Kirkuk ist jedoch keineswegs überwiegend kurdisch geprägt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie mehrheitlich turkmenisch, 1977 stellten schon Araber die größte Bevölkerungsgruppe. In der gesamten Provinz betrug deren Anteil 1997 rund 70 Prozent. Dies hat sich zwar infolge von Vertreibungsmaßnahmen von seiten der Kurdenparteien seit 2003 zugunsten der Kurden verschoben, eine Mehrheit stellen sie jedoch noch immer nicht. Die neue irakische Verfassung sieht im Artikel 140 vor, dass der Status von Kirkuk per Referendum geklärt werden soll. Da dessen Durchführung die Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen mit Sicherheit eskalieren ließe, wurde es auf unbestimmte Zeit verschoben.

Artikel 140 sei nun endlich umgesetzt, wenn auch durch besondere Umstände, erklärte Barsani im Juni auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem damaligen britischen Außenminister William Hague. Jegliche weitere Diskussion über diesen Artikel sei damit überflüssig. Der Widerstand gegen die Annexion ist jedoch keineswegs überwunden, auch wenn Bagdad aktuell wegen des Vormarschs des ISIL und wegen der Aufständischen die Hände gebunden sind. Die übrige Bevölkerung wird sich nicht mit der kurdischen Herrschaft abfinden, und keine arabische Organisation wird die kurdische Kontrolle über die annektierten Ölfelder akzeptieren.

Krieg gegen den Wiederaufbau

Amnesty International appelliert an den neuen irakischen Regierungschef, Haider Al-Abadi, den Verbrechen der Regierungstruppen und verbündeter Milizen ein Ende zu machen. Human Rights Watch (HRW) forderte Washington unlängst auf, die schweren Vergehen der Regierung in Bagdad und ihrer Milizen nicht länger zu unterstützen. »Das ganze letzte Jahr über haben die USA ununterbrochen militärisches Material an Bagdad geliefert«, so HRW, trotz vieler dokumentierter »entsetzlicher Verbrechen durch Regierungskräfte«, wie »willkürliche Luftangriffe, die in sunnitischen Gebieten Tausende Zivilisten töteten, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen« sowie »ein Justizsystem, das wesentlich häufiger missbräuchlich als gerecht erscheint«. Die Eingliederung schiitischer Milizen in die Sicherheitskräfte habe ein Ausmaß erreicht, das sie nun faktisch ununterscheidbar mache.

Da es offensichtlich ist, dass die repressive, die Sunniten schwer benachteiligende Politik Malikis den Aufstand in den sunnitischen Provinzen provozierte und damit auch den Boden für das Vordringen des ISIL bereitete, hofft man nun im Westen, Al-Abadi werde die Interessen von Sunniten und anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen etwas besser berücksichtigen. Da den meisten Strategen in Washington bewusst ist, dass der ISIL nur im Bündnis mit sunnitischen Kräften zu besiegen ist, ist der Druck auf die neue Regierung groß, zu einem Ausgleich mit »moderaten« sunnitischen Führern zu kommen. Der neue irakische Regierungschef versprach denn auch bei seinem Amtsantritt am 8. September, die Bombardierung sunnitischer Städte einzustellen und die Forderungen der sunnitischen Opposition zu prüfen. Faktisch ist er bisher jedoch keinen Schritt auf die Aufständischen zugegangen. Sowohl die Luftwaffe als auch die Artillerie feuern weiterhin in Falludscha und anderen sunnitischen Städten auf zivile Ziele. Das Zentralkrankenhaus von Falludscha wurde direkt am Tag nach der Ankündigung Al-Abadis erneut getroffen.

Eine grundsätzliche Änderung der Politik Bagdads war von Malikis Nachfolger auch nicht ernsthaft zu erwarten. Wenn nach dem rasanten Aufstieg des ISIL die »Unfähigkeit« Malikis und der irakischen Politiker in der »Grünen Zone« Bagdads allgemein gegeißelt wurde, so wurde geflissentlich übersehen, dass die Praxis, die den Irak immer weiter in den Abgrund treibt, bereits unter US-Besatzung begonnen wurde. Vor 2003 gab es im Irak weder konfessionellen Proporz noch dschihadistische Gruppen. Die Besatzer setzten jedoch von Anfang an auf konfessionelle Spaltung. Sie installierten ein schiitisch-islamistisches Regime, förderten eine einseitig gegen Sunniten betriebene »Entbaathifizierung« und entfesselten schließlich zur Schwächung des Widerstands im Land einen schmutzigen Krieg gegen Sunniten und die unabhängige Intelligenz. Maliki führte diese Politik nur fort, ab 2009 mit Unterstützung Obamas.

Das Regime, das vor acht Jahren mit Maliki an der Spitze installiert wurde, beruht auf einem Kompromiss zwischen Washington und Teheran. Deren zentrales gemeinsames Ziel besteht in der dauerhaften Verhinderung jeglicher Wiederbelebung eines souveränen, arabisch-nationalistisch orientierten irakischen Staates. Die Inthronisierung Al-Abadis, der der gleichen Partei wie Maliki angehört, beruht auf demselben Kompromiss.

Ein solches gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gerichtetes Ziel lässt sich jedoch nur mit Gewalt durchsetzen, gestützt auf die Betonung religiöser Identitäten und die Mobilisierung ethnischer und konfessioneller Feindseligkeiten. Damit werden die bewaffneten Auseinandersetzungen anhalten, der ISIL und andere radikale Milizen weiterhin Rückenwind erhalten und das Land immer stärker zerfallen.

Das militärische Eingreifen der USA auf seiten der Regierungstruppen, schiitischer Milizen und kurdischer Peschmerga verschärft die Entwicklung weiter. Denn es richtet sich offensichtlich nicht allein gegen den »Islamischen Staat«, sondern gegen die gesamte Aufstandsbewegung. Andernfalls hätte man beim Vorgehen eine klare Trennung zwischen dieser und den Dschihadisten vornehmen müssen, wie es u. a. die International Crisis Group seit Monaten fordert. Statt die Opposition in den sunnitischen Gebieten gleichfalls zu »Terroristen« zu stempeln, sollten die UNO und die USA anerkennen, dass sie legitime bzw. verhandelbare politische Anliegen verfolgt und der durch die brutale Niederschlagung friedlicher Proteste eskalierte Konflikt daher durchaus politisch lösbar wäre.

Die erneute mediale Fokussierung auf dschihadistische Kräfte, wie während des raschen Anwachsens des irakischen Widerstands ab 2004, dient aber dazu, das alte, schiitisch-sektiererische Regime von Besatzers Gnaden in Bagdad wieder zu stabilisieren. Durch das direkte militärische Eingreifen und den Wiederaufbau einer starken Präsenz von US-Truppen will Washington den eigenen Einfluss auf dieses Regime auch wieder erweitern, nachdem es sich in den vergangen Jahren immer mehr an den Iran angelehnt hatte. Nach der für November angekündigten Entsendung weiterer Einheiten steigt die Stärke der regulären US-Truppen im Irak schon auf über 3.000 Soldaten. Auch wenn Obama versichert, die neuen Truppen hätten keinen Kampfauftrag, so sind ihre Einsatzorte doch direkt an der Front. Mit dem Hauptquartier der 1. Infanteriedivision wurde zudem bereits ein Stab für 10.000 Mann in den Irak verlegt, ein deutliches Indiz für weitreichendere Pläne.

Parallel dazu verstärken die USA auch die militärische Präsenz im irakischen Kurdistan. So plant das Pentagon drei neue Basen, darunter einen Militärflughafen in Erbil. Auch der bereits im Juli begonnene Ausbau der CIA-Zentrale in Erbil deutet auf eine Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit hin. Der Ausweg aus Chaos und Gewalt im Irak scheint wesentlich schwieriger als in Syrien. Dort wäre der wichtigste Schritt zum Frieden, dass die NATO-Staaten und ihre Verbündeten ihre Einmischung, insbesondere die Ausrüstung regierungsfeindlicher Milizen, beenden. Unterstützung der Gegenwehr gegen dschihadistische Gruppen wäre nicht nur in Kobani und anderen kurdischen Enklaven geboten, sondern in ganz Syrien. Im Irak wäre ebenfalls ein Ende der zerstörerischen Einmischung von außen nötig, sowohl von seiten der USA und ihrer Verbündeten als auch von seiten des Irans. Erst dann würde die Bildung einer Regierung möglich, die tatsächlich alle relevante Kräfte vertritt, ihre Politik an nationalen Interessen orientiert und eine effektive Verwaltung ohne Religionsproporz aufbauen kann, sowie den Provinzen mehr Autonomie gewährt und eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sicherstellt.

Ein erster Schritt wäre, die ausschließliche Fokussierung auf den »Islamischen Staat« zu durchbrechen, einer breiten Öffentlichkeit klarzumachen, dass nicht allein der ISIL für brutale Verbrechen verantwortlich ist, Städte angreift und ganze Bevölkerungsgruppen bedroht, sondern auch Regierungstruppen und Milizen der vom Westen unterstützte Regierung in Bagdad.

Anmerkung

1 Die Badr-Brigaden waren im Iran als Miliz des Obersten Rats der Islamischen Revolution aufgebaut worden, kämpften im Iran-Irak-Krieg auf seiten Irans und verübten später Anschläge im Irak. Ab 2003 wurden sie zu einer der gefürchtetsten Milizen, die für Folter und Mord an Zigtausenden Sunniten und anderen Gegnern verantwortlich gemacht wird. Auch heute noch unterhält sie engste Beziehungen zum Iran. Bilder zeigen den Badr-Chef Hadi Al-Amiri zusammen mit Kassim Soleimani, dem Kommandeur der iranischen Eliteeinheit Al-Quds, im aktuellen Kampfgebiet