Der Kapitalismus gehört nicht abgeschafft – er gehört reguliert!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Bedenkenswerte Erinnerung an die Wirklichkeit auf Makroskop_
https://makroskop.eu/2018/02/kapitalismus-gehoert-nicht-abgeschafft-er-gehoert-reguliert/
Auszüge:

Die Linke sollte sich vom Antikapitalismus verabschieden. Wenn man schon von den Lehren des letzten Weltkrieges spricht, dann sollte man auch die der Nachkriegszeit nicht vergessen: kapitalistische Dynamiken können von einem starken Staat gemeinwohlfördernd genutzt werden.

Wo unter Linken über Gesellschaft diskutiert wird, ist nach kurzem Geplänkel meist eine Analyse nicht weit: Das liege alles am Kapitalismus. Der hole das Schlechte aus Mensch und Gesellschaft hervor.
Ihn zu überwinden, das sei der eigentliche Antrieb linker Motivation. So haben wir es schließlich von Marx.
So brillant dessen Analyse der kapitalistischen Ökonomie auch war: Gewartet auf die Überführung des Kapitalismus in den Sozialismus hat auch er umsonst.
Die Zwangsläufigkeit dieses Wechsels der Systeme vereitelte seine Ergebnisoffenheit, er konnte sich Kapitalismus auch nur so vorstellen, wie er ihn zeitgenössisch erlebt hatte. Obgleich er von dessen Anpassbarkeit schrieb, schien ein Wunsch der Vater eines Gedankens zu sein: Die Überwindung des Kapitalismus ist unausweichlich und unumgänglich.

Wie einst Marx sind viele Linke immer noch in der Ansicht, dass die kapitalistische Produktionsweise überwunden werden muss. Sie ignorieren dabei, dass es eben jene Produktionsweise war, die in den letzten 200 Jahren einen massiven Gewinn an Lebensqualität verursacht hat. Trotz aller Verwerfungen und Ausbeutungen, die man natürlich nicht unter den Teppich kehren kann.
Dabei wäre für Linke – mit einem Blick auf die direkte Nachkriegszeit – ein Aspekt besonders interessant: Arbeit gegen Rechtsruck, traditionell ja Antifaschismus genannt, muss nicht antikapitalistisch sein, wie man das in orthodoxen linken Kreisen täglich hört.
Die Eltern des Grundgesetzes hatten ein Anliegen: Ein neuerlicher Nationalsozialismus sollte durch Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in einem kapitalistisch regulierten Wirtschaftssystem vereitelt werden. Das war eine antifaschistische Verpflichtung*).

Antifaschismus: Nicht zwangsläufig antikapitalistisch

Für die Nachkriegslinke war eines klar: Den Anfängen sollte man wehren. Nie wieder Faschismus! Dagegen müsse man anarbeiten. Und das war ja auch eine richtige Erkenntnis.
Im Laufe der Jahre hat sich in einem breiten Segment der Linken hierzu ein Ausweg manifestiert: Wenn der Kapitalismus verschwindet – lassen wir mal offen, wohin auch immer er dann geht -, dann könne sich der Faschismus nicht mehr durchsetzen, dann wäre seinem Aufstieg das Wasser abgegraben. Antifaschismus und Antikapitalismus seien demnach nicht voneinander zu trennen.

Diese Synthese ist gar nicht mal so stringent. Die alte Bundesrepublik manifestierte sich ja auf Basis eines Grundgesetzes, dass für sich – und für den neu entstandenen deutschen Rumpfstaat – einen Mittelweg zwischen den beiden Blöcken in Anspruch nahm. Machtpolitisch schlug man sich dann zwar ins westliche Lager, aber wirtschaftspolitisch hielt man durchaus den angloamerikanischen Kapitalismus auf Distanz. Der Rheinische Kapitalismus organisierte sich nicht durch pures Laissez-Faire bei gleichzeitiger Unterdrückung der Arbeiterbewegung**) – er verstand sich als Korporatismus und Regulativ.
Der französische Ökonom Michel Albert hat 1991 die Unterschiede beider Formen herausgearbeitet und »Kapitalismus contra Kapitalismus« verglichen. Fazit: Für Albert war die rheinische Variante wirtschaftlich überlegen. Sie hätte besser als der angloamerikanische Ansatz begriffen, dass Gesellschaft und Wirtschaft keine trennbaren Einheiten seien.

Ohne jetzt so tun zu wollen, als sei in diesem Kapitalismusmodell ein Schlaraffenland ausgebrochen, als habe es dort keine Ungerechtigkeiten gegeben – und Albert tut das auch nicht, er analysierte zum Beispiel, dass im Rheinischen Kapitalismus die Integration von ausländischen Arbeitern sehr zu wünschen übrig lasse, während die Herkunft in den USA keine sehr große Rolle spiele.
Aber der Ausgleichskapitalismus aus Mitteleuropa: Er war der Erfahrung geschuldet, die man mit dem Aufstieg faschistischer Bewegungen gemacht hatte. Eine reine Marktwirtschaft ohne ausreichende Absicherung und Teilhabe würde auf Dauer erneut zu Systemablehnung und Illoyalität führen.
Ein moderner Staat konnte daher nicht mehr darauf setzen, die Bevölkerung sich selbst zu überlassen. Er musste etwas bieten, Sicherheit garantieren und zur Stabilisierung soziale Schwankungen abfedern. Das Sozialstaatsgebot meint genau dies. Der Kapitalismus musste Regularien erhalten, dann wäre auch er eine antifaschistische Maßnahme.

Mit Smartphone zur Antikapitalismus-Demo: Verarmung im Wohlstand

Natürlich hatte das alles einen schönen Nebeneffekt für die Atlantiker: Ein derart gebändigter Kapitalismus, den konnte man auch als hübsches Beispiel für die Systemüberlegenheit dem globalen Osten, der kommunistischen Welt unter die Nase reiben.
Dieses Schaufenster des Westens: Es war rheinisch und nicht etwa angloamerikanisch. Was die europäische Spielart sicherstellte, war das Zusammenspiel von Wohlstandsmehrung und individueller Sicherheit.
Bislang kannte man den Kapitalismus meist noch als Manchester-Typus, als brutalen Wettbewerb, in dem der Markt alles und jeden regelte – wobei »regeln« hier ein Euphemismus ist. Es war das Chaos – auf humanistischer Basis ohnehin. Zwar gelang es dem jungen Kapitalismus schnell den Wohlstand zu mehren, die Situation der englischen Arbeiter verbesserte sich nach Friedrichs Engels Bericht Stück für Stück, aber ein Zustand von Entspannung durch Wohlfahrt war da noch lange nicht erreicht.

Trotzdem war es selbst für Karl Marx nicht zu leugnen: Der Kapitalismus war die Organisation zur Wertschöpfung schlechthin. Sozialismus oder Kommunismus konnte auch erst eintreten, nachdem die Gesellschaft durch den kapitalistischen Betrieb gegangen war. Er legte den Grundstein zur Wertverteilung und zur Sozialisierung. Mit dem Kapitalismus und der Industrialisierung kam der Wohlstand in die Welt.
Agrargesellschaften waren nicht darauf ausgerichtet, ein sozialistisches System zu entwickeln, denn in ihnen gäbe es ja nichts zu verteilen – außer Mangel und Entbehrung.
Der Treppenwitz der Geschichte war nun folgender: Der real existierende Sozialismus nahm dann seinen Ausgang ausgerechnet im nachzaristischen Russland, in einem agrarischen Land also, in dem es so gut wie keine Industrie gab.
Das war sein Grundproblem. Stalin industrialisierte dann in einem mörderischen Tempo nach – wobei das wörtlich gemeint war.

Er pervertierte so natürlich den nachvollziehbar schönen Grundgedanken sozialistischer Frühromantik. Die Menschheit stolperte in ihr nächstes Dilemma. Dorthin wollte die junge Bundesrepublik nicht.
Ein regulativer Kapitalismus als Mittelweg: Dahin sollte die Reise gehen.
Die Neue Linke lehnte den Kapitalismus als Konsumismus jedoch schon anderthalb Jahrzehnte nach der Gründung der BRD ab. Die neue Konsumgesellschaft ersticke nur die Sünden der Väter, so lulle man sich ein, suche man Ersatzbefriedigung und stelle sich nicht der historischen Verantwortung.
Von dieser richtigen Einschätzung des gesellschaftlichen Klimas im Adenauer-Deutschland nahm diese Neue Linke eine antikapitalistische Attitüde an, kleidete sie als antifaschistische Haltung ein und tat dabei so, als sei eine prokapitalistische Position auch dann protofaschistisch, wenn diese sich auf Grundlage des rheinischen, d.h. als regulativen und emanzipatorischen Kapitalismus begriff.

So wurde es unter Linken über Jahrzehnte Usus, seine Gesellschaftskritik antikapitalistisch zu halten. Sicher kämpft man immer noch gegen Armut an, aber die ist mittlerweile mitten im Reichtum angesiedelt – und das ist, bei aller berechtigten Kritik, schon nochmal ein Unterschied.
Paradiesische Armut gibt es freilich nicht – auch relative Armut schmerzt. Aber relative Armut lässt sich eben leichter beseitigen als absolute. Innerhalb eines Kapitalismus, der Werte und Produkte erzeugt, reichen einige regulative Maßnahmen, um Armut zu kanalisieren****). Das geht bei absoluter Armut eher nicht.
Wenn bei antikapitalistischen Demonstrationen mit Smartphones Selfies geknipst werden, dann gibt man ungewollt eines zu: Eigentlich sind die Güter, die dieses System herstellt, nun auch nicht so schlecht.

Es rettet uns kein höh‘res Wesen: Menschengemacht und regulierbar

Einen regulierten, an die Zügel genommenen Kapitalismus könne es überhaupt nicht geben – so hört man oft. Dieses System unterliege so wuchtiger Dynamiken, wie wolle man die so handhaben, dass am Ende Fairness herauskommt?
Aber was ist die Alternative? Einen Sozialismus ruft man ja nicht einfach auf dem Balkon aus.
Und nach welchen Maßgaben ruft man denn so einen Systemchange aus? Reicht es zu verlautbaren: Seid netter zueinander und gebt was von euren Profiten ab – seid endlich ein neuer Typus Mensch?
Wer Geschichte in einem so statischen Kontext auffasst, den sollte man bitte nochmals in den Geschichtsunterricht schicken. Denn es gibt immer Übergänge und Grauzonen.
Und dieser entfesselte Finanzkapitalismus, den der Neoliberalismus lehrt, dieses ganze elitäre Gehabe nach Vorlage von Ayn Rand (»Atlas wirft die Welt ab«): Das ist doch kein Naturgesetz.
Links zu sein hieß zuversichtlich und progressiv zu sein, man glaubte daran, dass kein höh’res Wesen aus dem Elend erlösen würde, dass man das schon selber tun müsse, wie es in der Internationalen angestimmt wurde.
Aber ausgerechnet der Kapitalismus, letztlich auch nur ein System von Menschenhand geschaffen, soll nicht durch ebendiese Menschenhand in den Griff zu bekommen sein?

Wie das gehen kann, hat Sahra Wagenknecht 2012 in ihrem Buch »Freiheit statt Kapitalismus« beschrieben. Dort formuliert sie einen »kreativen Sozialismus« und gibt erstaunlicherweise zu Protokoll, dass »Erhard reloaded« dringend notwendig sei. Denn die Reaktivierung des rheinischen Modells, die Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft, sei die Grundlage für neue kreative Wege der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation.
Man müsse das Rad nicht neu erfinden, mit dem Rheinischen Kapitalismus habe man ja mal ein Instrument gehabt, das zur Wohlstandverteilung bestens geeignet war – man müsse es nur reaktivieren, daher auch der Untertitel ihres Buches »Über vergessene Ideale …«, und zudem durch Reformen weiter verbessern.

Wagenknecht, die in der öffentlichen Wahrnehmung als Vertreterin der kommunistischen Plattform der Linkspartei wahrgenommen wird, sprach sich in diesem Buch doch tatsächlich für den regulierten Kapitalismus aus. Und das, während die Linken im Lande mehr denn je das Ende des Kapitalismus herbeisehnen.
Eine Reform dieses Systems kommt ihnen nicht in den Sinn – oder sie trauen es sich nicht zu. Letzteres spricht nicht für sie, denn die Linke, das sind doch die Leute, die sich stets was zugetraut haben, die progressiv tickten und nicht ihr Heil in alten Ideen suchten oder sich ostalgisch zurückträumten.

Antikapitalismus ist verlorene Liebesmüh‘, gar kein Plan für eine progressive Zukunft. Die Regulierung von Marktmechanismen braucht keinen Systemwechsel, sondern systemische Neuausrichtungen.
Wenn die Linken weiterhin auf die Schwammigkeit bauen, sich eine antikapitalistische Zukunft zu ersehnen, von der nichts sonst außer eben dieses Antikapitalistische bekannt ist, dann verpulvern sie Energien, die woanders viel nötiger gebraucht würden. Und sie disqualifizieren sich für eine realpolitische Alternative innerhalb eines Systems, dass man systematisch verbessern und kontrollieren kann.

In seinem Buch befasst sich der Autor unter anderem mit weiteren Lebenslügen der Linken.

Roberto J. De Lapuente: „Rechts gewinnt, weil Links versagt. Schlammschlachten, Selbstzerfleischung und rechte Propaganda“, 224 Seiten, 18 Euro, Westend Verlag, 1. März 2018

Mein Kommentar:

*) Der Autor vernachlässigt völlig, dass bereits unter Adenauer die ehemaligen Nazis in großer Zahl Positionen in der Verwaltung, dem Rechtswesen und den Universitäten sowie in den wichtigsten Zeitungen übernahmen. Der Fisch begann damals schon vom Kopf an zu stinken.
Diese Agenten sorgten in fleißiger Zusammenarbeit mit den USA-Geheimdiensten für eine antikommunistische Steuerung der Kultur genau so wie für die Aufrüstung zu Stay-Behind-Operationen nach dem Vorbild der südamerikanischen Todesschwadronen – letzter Auswuchs der NSU. Antifaschistische Fundamente im Denken der Menschen einzurichten war so gar nicht möglich. Vergl. hier:

https://josopon.wordpress.com/2015/02/23/terrorismus-der-westlichen-welt-kriege-kriegsverbrechen-und-propaganda/
https://josopon.wordpress.com/2015/08/10/der-terrorismus-der-westlichen-welt-teil-2-staatsterrorismus-tyrannei-und-folter/
https://josopon.wordpress.com/2015/07/29/der-terrorismus-der-westlichen-welt-teil-3-hybride-kriegsfuhrung-verdeckte-operationen-und-geheime-kriege/

Ernstzunehmende sozialistische Umgestaltungsversuche wie z.B. in Italien waren damit von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Dazu trug auch die Korrumpierung der Sozialdemokratie bei.

**) Der Autor hat hier völlig das KPD-Verbot vergessen, ebenso das Verbot der FDJ und anderer Arbeiterorganisationen.

***) Armut zu kanalisieren, statt sie abzuschaffen, das ist krudes sozialdemokratisches Funktionärsdenken !

****) Sahra Wagenknecht ist sicher so klug einzusehen, dass die Wiedereroberung des Sozialstaates natürlich eine der wichtigen Voraussetzungen ist, um die Arbeiterklasse überhaupt wieder handlungsfähig zu machen. Der von ihr propagierte sozial regulierte Kapitalismus ist genau das schon von Marx vorausgesehene notwendige Durchgangsstadium, in dem die Produktionsmittel ihre höchste Entwicklung erfahren – allerdings mit dem Auffressen sämtlicher natürlicher Ressourcen, des Exportes von Ausbeutung, Mangelwirtschaft und Krieg in die Entwicklungsländer und der Vergiftung der Umwelt verbunden.

Ich weiss nicht, ob der Autor in seinem Buch dazu schon Stellung genommen hat. Wenn nicht, würde ich auf die zweite Auflage desselben warten.

Jochen

Unter Geiern – deutsche Vorhaben für den Umbau von Wirtschaft und Verwaltung des griechischen Staates – Die griechische Machtprobe

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Hinweise auf die hiesigen privat-öffentlichen Verflechtungen, die dazu angelegt sind, das Land weiter auszuplündern, nachdem schon deutsche, französische und britische Privatbanken von den Griechen saniert wurden.
Weiter unten noch ein Kommemtar dazu von Michael R. Krätke.
Übrigens: die milliardenschweren Rüstungslieferungen – deutsche U-Boote und französicsche Fregatten – abzubestellen, diesen Vorschlag habe ich seitens der Troika noch nicht vernommen.
Auszüge:

Anhaltende Abwehr der Athener Regierung bringt zahlreiche deutsche Vorhaben für den Umbau von Wirtschaft und Verwaltung des griechischen Staates in Gefahr. Federführend sind das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ).
Kurzfristiges Ziel ist die Schließung deutscher Produktionsengpässe durch beschäftigungslose griechische Zulieferer und durch griechische Arbeitslose. Zum mittelfristigen Aktionsprogramm gehört die finanzielle Abschöpfung griechischer Kommunen und die Bereitstellung billiger griechischer Hilfskräfte für das deutsche Gesundheitswesen („Pflege-Urlaub auf Rhodos“).
Um zukünftig auch für höhere Anforderungen kompatibel zu sein, wird von Athen ein „Innovationssystem“ verlangt, das „Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung“ zugunsten „unternehmerfreundlicher Strukturen“ vernetzt. Als Koordinatorin der Maßnahmen firmiert eine „Deutsch-Griechische Versammlung“ (DGV), die „im Geiste der Graswurzelbewegung“ tätig sein soll.
Die DGV verfügt über keinerlei Rechtsfunktion. Ihre Berliner Anschrift ist eine Adresse der Bundesregierung. Die als zivilgesellschaftlich verkleidete Organisation, die unter anderem dem AA und dessen „Deutsch-Griechischem Jugendwerk“ zuarbeitet, setzte das Bundeskanzleramt auf dem ersten Höhepunkt der sogenannten Schuldenkrise ein. Die Berliner DGV-Adresse führt zum Parlamentarischen Staatssekretär im BMZ Hans-Joachim Fuchtel, einem CDU-Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg. Fuchtel ist seit 2011 „Beauftragter für die Deutsch-Griechische Versammlung“ [1] und ist auf die kommunale griechische Wirtschaft angesetzt.
Um deutschen Unternehmen lukrative Aufträge zu verschaffen, werden Repräsentanten griechischer Städte und Gemeinen zu „Workshops“ interessierter deutscher Betriebe eingeflogen. Sie sind Lieferanten hochpreisiger Exportprodukte. Entsprechende Anreisen zwecks Auftragsakquise fanden im Januar 2015 unter anderem in Backnang, Bamberg und Schwäbisch Hall statt und werden von der Bundesregierung bezahlt.
Bei den potenziellen Abnehmern aus griechischen Kommunen handele es sich um „parteilose oder konservative Politiker – darunter aber keine Syriza-Leute“, berichtet die Ulmer „Südwest Presse“.[2]

Exklusiver Zugriff

Als Nachweis für technische und logistische Kompetenz wurden den Griechen deutsche Erfahrungen mit „Komplettanlagen“ der Abfallwirtschaft präsentiert. Es handelt sich um millionenschwere Projektvolumen. Referenz ist die Lieferung an ein Bundeswehr-„Feldlager“ in Afghanistan.[3]
Ziel war es laut DGV, von den verarmten griechischen Gemeinden Aufträge für „zwei bis drei mobile Demonstrationsanlagen“ zu akquirieren – kofinanziert „durch Mittel der EU“. Auf diesem Umweg zapft das BMZ Brüsseler Regionaltöpfe an, die auch von EU-Drittländern finanziert werden, und leitet das Geld in deutsche Firmenkassen.
Gleichzeitig ist die Bundesregierung bemüht, EU-Konkurrenten auszusperren, und will sich exklusiven Zugriff auf das Griechenland-Geschäft sichern.

Deutsche Finanzaufsicht

Ein vom polnischen Finanzminister gefordertes EU-Investitionsprogramm in Höhe von 700 Milliarden Euro, das auch für nicht-deutsche Investoren in Griechenland interessant gewesen wäre, blockte Berlin ab. Stattdessen verlangen das BMZ und die von MdB Fuchtel geführte DGV eine auschließlich griechische „Förderbank“, da „jeder Nationalstaat seinen eigenen Weg mit eigenen Modellen gehen“ solle.[4]
Dieser „eigene Weg“ führt in Griechenland über die deutsche Finanzaufsicht: „Mit Hilfe der Kreditanstalt für Wiederaufbau hat Fuchtel in Griechenland die Einrichtung eines Förderinstituts vorangetrieben“ – leichte Beute für Berlin.

„Job of my Life“

frankreich 1942

frankreich 1942; die Tradition der Arbeitskräfteanwerbung im Ausland reicht bis ins Deutsche Kaiserreich zurück

Da nach Berechnungen der Agentur für Arbeit zwischen 2011 und 2012 rund 33.000 deutsche Ausbildungsplätze unbesetzt blieben, forcierte das BMZ bis vor kurzem den Arbeitskräftetransfer von Griechenland nach Deutschland. Die Anwerbemaßnahmen werden als „Mobilitätsinitiative“ für junge Europäer dargestellt und mit irrlichternden Namen belegt („MobiPro-EU“). Sie vernebeln das deutsche Interesse an einer europaweiten Steuerung des ausländischen Arbeitskräftepotentials, das auch spanische Jugendliche nach Deutschland lockt („Job of my Life“).
Die Anwerbekosten teilen sich Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und das Bundesarbeitsministerium – für ahnungslose griechische Arbeitslose paradiesische Verheißungen (german-foreign-policy dokumentiert griechische Dankesbekundungen hier).

Wirtschaftslenkung

Um griechische Jugendliche langfristig für den Einsatz nach deutschen Standards zu erziehen, hat Berlin mit dem Umbau des griechischen Berufsschulwesens begonnen – angeleitet von der Deutsch-Griechischen Handelskammer, der DEKRA-Holding (Stuttgart) und „führenden (deutschen) Reiseunternehmen“.[5]
Staatlicher Finanzier ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung. „Berufsschulen konnten bereits in Attika und in Heraklion aufgebaut werden“ und führen „nun fast 100 griechische Schülerinnen und Schüler im Alter von 18 bis 20 Jahren“ zu einem deutschen Diplom der Industrie- und Handelskammern (IHK).
Damit „verbessert sich die Arbeitssuche der Jugendlichen“, verklärt die Bundeszentrale für politische Bildung die deutsch zentrierte Wirtschaftslenkung. Das nach deutschen Normen ausgebildete griechische Arbeitskräftepotenzial soll unter anderem „die Bereiche Landwirtschaft, Transport, Logistik, Kfz und Mechanik“ abdecken.

Souveränitätsverlust

Um in Griechenland deutsche Verwaltungspraktiken einzuführen, ruft die Verwaltungsschule des deutschen Gemeindetags Mitarbeiter des griechischen Staates zur Teilnahme an deutschen „Fachseminaren“ auf; unter Beteiligung von MdB Fuchtel und dem BMZ wurden dafür in einem Pilotprojekt „zehn Plätze“ bereitgestellt, schreibt die „Stuttgarter Zeitung“.[6]
Allerdings stehen nach deutscher Ansicht „die griechischen Strukturen“ einem durchgreifenden Umbau im Wege: „Mentalität und Institutionen müssten sich ändern.“ Statt zentraler Kontrolle über das griechische Kommunalwesen solle Athen „Subsidiarität“ walten lassen – eine Umschreibung für den Verlust hoheitlicher Vorbehalte zugunster direkter Eingriffe in die untere und mittlere Ebene der Wirtschafts- und Finanzverwaltung durch Dritte, zum Beispiel durch die Bundesrepublik Deutschland. Ähnliche Forderungen erhebt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und hat dabei einen Gesamtumbau des griechischen Staates im Sinn.[7]
Die Forderungen zielen auf einen schleichenden Souveränitätsverlust von Staat und Gesellschaft.

Fachkräfte und Maschinen vorhanden

Solange diese Maßnamen noch nicht greifen oder auf Athener Widerstand stoßen, nutzt das Auswärtige Amt (AA) die kurzfristigen Vorteile des griechischen Wirtschaftsdesasters.
Nach Vorgesprächen im deutschen Generalkonsulat in Thessaloniki bietet eine Internetplattform mit dem sinnigen Namen ProGreece Unternehmen in der Bundesrepublik „Produktions- und Dienstleistungskapazitäten“ [8] notleidender griechischer Firmen an.
„Aufgrund der akuten Wirtschaftskrise“ sind zahlreiche Betriebe „nicht ausgelastet“, wirbt ProGreece: „Geschäftsmöglichkeiten für Ihr Unternehmen – Beseitigen Sie Ihre Produktionsengpässe, indem Sie griechische Überkapazitäten nutzen.“ Auch „Fachkräfte sind vielerorts ebenso vorhanden wie geeignete Maschinen“ – Griechenland als verlängerte deutsche Werkbank inklusive ortsansässigem „Humankapital“.

Schöner Schein

Zu den deutschen Maßnahmen unter Beteiligung des Auswärtigen Amtes gehört die politische Überhöhung der deutschen Wirtschaftslenkung durch Organisationen mit völkerverbindendem oder humanitärem Anspruch.
Insbesondere seit sich kritische Nachfragen aus der neuen Athener Regierung häufen, ist MdB Fuchtel „extrem wortkarg“ [9] und betont die altruistischen Motive seiner Griechenland-Mission. Sie soll „letztlich in ein Deutsch-Griechisches Jugendwerk einmünden“, ein AA-Projekt, „dessen Einrichtung die DGV aktiv unterstützt“.[10]
Für den schönen Schein des AA-Projekts ist auch Wolfgang Hoelscher-Obermeier unterwegs. Als früherer Generalkonsul in Thessaloniki hatte er sich bei ProGreece für die deutschen Geschäftsmöglichkeiten eingesetzt, mit denen das griechische Desaster ausgebeutet werden kann – jetzt bewirbt er das „Deutsch-Griechische Jugendwerk“ bei einer ahnungslosen deutschen Kirchengemeinde in Berlin und tritt als Kontakter zu der vom Bundeskanzleramt gesteuerten „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) auf.
Beide Organisationen hält das AA bereit, um Athener Forderungen nach Rückzahlung der deutschen Massakerschulden zu unterlaufen (german-foreign-policy berichtete [11]).

Bitte lesen Sie auch Auszüge aus Dankesbriefen griechischer Jugendlicher an die „Deutsch-Griechische Versammlung“.

Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Griechenland-Politik finden Sie hier: Die Folgen des Spardiktats, Ausgehöhlte Demokratie, Wie im Protektorat, Nach dem Modell der Treuhand, Verelendung made in Germany, Vom Stellenwert der Demokratie, Auspressen und verdrängen, Austerität tötet, Die Strategie der Spannung, Millionen für Milliarden, Erbe ohne Zukunft, Todesursache: Euro-Krise, Kein Licht am Ende des Tunnels, Plan B für Griechenland, Domino-Effekt, Europas Seele, Teutonische Arroganz und Die Bilanz des Spardiktats.

[1] Sechster Fortschrittsbericht der deutsch-griechischen Versammlung. grde.eu Januar 2015.
[2] 35 Bürgermeister und Berater aus Griechenland holen sich Ideen in Schwäbisch Hall. www.swp.de 06.03.2015.
[3] Sechster Fortschrittsbericht der deutsch-griechischen Versammlung. grde.eu Januar 2015.
[4] Staatssekretär Fuchtel wirbt für Förderbanken in Krisenländern. www.welt.de 22.09.2014.
[5] Der Schatz der Kommunen. Eine deutsch-griechische Erfolgsstory. Bundeszentrale für politische Bildung, 24.06.2014.
[6] Der Austausch kommt voran. www.stuttgarter-zeitung.de 11.09.2014.
[7] Griechendland: Ohne den Aufbau eines Innovationssystems wird es nicht gehen. DIW Wochenbericht Nr.39/2014.
[8] Was ist ProGreece? ww.pro-greece.com/de/what-is-progreece.
[9] Hans-Joachim Fuchtel beim Thema Griechenland wortkarg. www.pz-news.de 22.02.2015.
[10] Der Schatz der Kommunen. Eine deutsch-griechische Erfolgsstory. Bundeszentrale für politische Bildung, 24.06.2014.
[11] S. dazu Politischer Steuerungsauftrag, Restitution und Ein trauriger Tag.

Kommentar: Die griechische Machtprobe

https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2015/april/die-griechische-machtprobe

Wer an die Macht kommt, muss sich im Machtspiel behaupten; wer gegen eine Phalanx der übrigen Machthaber die Regeln des Spiels ändern will, hat es schwer.
Darum geht es seit dem Amtsantritt der neuen Regierung in Athen.
Die griechische wie die europäische Linke halten die Austeritätspolitik für gescheitert, die heutigen Verwalter der Eurokrise wollen dagegen Recht behalten und die Austeritätspolitik unverändert weitertreiben, ohne Rücksicht auf Verluste.

Es geht also, viel mehr als ums Geld, ums Prinzip. Die Syriza-Regierung fordert die neoliberale Orthodoxie heraus, sie muss scheitern und abgestraft werden, selbst um den Preis eines Staatsbankrotts und eines ungewollten Grexits, der die Gläubiger, auch die deutschen, viel Geld kosten würde.
Denn sollte Syriza auch nur ein wenig Erfolg haben, könnten in Spanien, Portugal und anderswo noch mehr Wähler auf dumme Gedanken kommen.

Kluge Köpfe, aber ohne Erfahrung

Syrizas Wahlsieg war berauschend für die griechische wie für die europäische Linke: Wir können gegen die bisherige ökonomische Doxa der Austerität Wahlen gewinnen und an die Regierung kommen. Wir können den Kurs ändern, den Politikwechsel betreiben statt eines bloßen Austauschs des Regierungspersonals.
Allerdings besteht Griechenlands neue Regierung zwar aus klugen Köpfen, doch diese haben kaum Erfahrung auf dem internationalen politischen Parkett.
Die Minister spielen seit zwei Monaten unter hohem Druck gegen alle und machen dabei zahlreiche handwerkliche Fehler, die vermeidbar wären. Die Bluffs, die sich oft widersprechenden Parolen, die rasch abwechselnden und oft improvisierten Vorschläge – all das hat die neue Regierung eine Menge Sympathien gekostet.

Dass Tsipras, Varoufakis und Co. auf der europäischen Bühne Lärm schlagen und bluffen, ist nur zu verständlich. Schließlich fechten sie gegen eine Wand der Ablehnung, an der bisher all ihre konstruktiven Vorschläge abgeprallt sind: Europäische Schuldenkonferenznjet aus Berlin.
Dabei ist es ein sinnvoller Vorschlag, weil Merkel und Co. es durch die vertagte Griechenlandrettung 2010 geschafft haben, aus einem anfangs überschaubaren Randproblem eine Euro- und EU-Krise zu machen.
Die Kopplung des griechischen Schuldendienstes an das Wirtschaftswachstum? Abermals njet aus Berlin; obwohl den Vorschlag viele Ökonomen, auch in Deutschland, unterstützen, um Griechenland endlich wieder Luft zum Atmen zu verschaffen.
Das gilt auch für den Überbrückungskredit bis Mai 2015, um fällige Schulden bedienen zu können und derweil ein anderes Reformprogramm in die Wege zu leiten – doch auch dazu njet aus Berlin, wie natürlich auch zum Stopp des Ausverkaufs öffentlichen Eigentums und der Massenentlassungen im öffentlichen Sektor.
Daher steckt die neue Athener Regierung in der Zwickmühle – ökonomisch wie politisch.

Wirtschaftlich ist Griechenland auch nach zwei Umschuldungen pleite, vielleicht nur noch „pleiter“ als zuvor. Fest steht: Schulden in Höhe von gut 322 Mrd. Euro, was einer Schuldenquote von über 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht, kann ein Land wie Griechenland niemals zurückzahlen.
Schulden sind nun mal kein moralisches, sondern ein ökonomisches Problem, und die griechische Zentralbank wie die Athener Börse spielen nicht in der gleichen Liga wie die der USA oder auch Japans, das sich eine Schuldenquote von über 243 Prozent leisten kann.
Der Grund: Japan ist nach wie vor ein Schwergewicht in der Weltökonomie, dessen Finanzinstitutionen die Anleihen des eigenen Staates eisern im eigenen Portefeuille halten und damit der Finanzspekulation entziehen. Japan zahlt daher nur Minizinsen auf seine Staatsschulden.

Die griechische Volkswirtschaft ist dagegen nicht in der Lage, derart hohe Auslandsschulden zu tragen – und sie wird dies auch mittels noch so brutaler Gesundschrumpfungskuren nicht werden. Denn die Umschuldungen wurden stets mit neuen Staatsschulden finanziert, während gleichzeitig dank der unsinnigen Sparpolitik der Troika die gesamte Wirtschaftsleistung drastisch schrumpfte (um über 25 Prozent) und die Arbeitslosigkeit sich verfünffachte.
Erreicht wurde im Ergebnis bloß die Verschiebung der griechischen Staatsschulden. Die deutschen, französischen, britischen und sonstigen Banken und Fonds, die 2010 um ihre griechischen Staatsanleihen bangten, sind längst aus dem Schneider. Mittlerweile befinden sich über 80 Prozent der ausstehenden griechischen Staatsanleihen in den Händen öffentlicher Gläubiger.
Positiv daran ist: Diese Schuldner können, anders als private Banken, warten, sogar sehr lange. Sie brauchen mit ihren „Geldanlagen“ auch keine Geschäfte zu machen und sie brechen nicht zusammen, falls sie sie abschreiben müssten. Ein Vorschlag, der auf dieser schlichten Einsicht beruht, lautet daher, man soll die Schulden schlicht „vergraben“, sprich: vorläufig ruhen lassen. In jedem Falle spricht einiges dafür, die „Schuldenkrise“ in Rest-Europa etwas entspannter zu sehen als gemeinhin üblich.[1]

Was dagegen, da der ganze Schuldentransfer mit Krediten unterschiedlicher Laufzeiten finanziert wird, jetzt umso mehr drängt, ist eine Lösung für Griechenland, um aus dem skurrilen Umleitungsgeschäft auszubrechen: Die ersten Hilfskredite wurden gebraucht, um den Privatgläubigern ihre Griechen-Bonds abzukaufen, die jetzigen Hilfskredite werden dafür benutzt, um die älteren Hilfskredite des IWF und der Eurogruppe zu bedienen.
Und weil das Land nach wie vor von den internationalen Finanzmärkten ausgeschlossen ist, werden ständig weitere Kredite fließen müssen, um die anhaltenden Liquiditätsprobleme zu lösen.

Uneinlösbare Versprechen

Politisch hat Syriza ebenfalls große Probleme: Im Wahlkampf wurden Verprechen gemacht, die sich kaum halten lassen.
Auch wenn ein Zurückdrehen vieler Sparmaßnahmen angesichts der akuten Notlage eines Drittels der griechischen Bevölkerung richtig, notwendig und angemessen wäre, fehlt der neuen Regierung dafür schlicht das nötige Kleingeld – eben weil die Steuereinnahmen weggebrochen sind und weil sie die Hilfskredite von der Troika nicht nach Belieben verwenden kann.

Auf den anfangs geforderten Schuldenschnitt zu verzichten und ein weiteres Reformpaket vorzulegen – das waren schon erhebliche Zugeständnisse der Athener Regierung an ihre Gegenspieler in Brüssel und Berlin.
Aber mehr noch: Alle geplanten Notmaßnahmen gegen die humanitäre Krise im Lande wurden unter Finanzierungsvorbehalt gestellt.
Mit reiner Symbolpolitik allein – aus „Troika“ mach‘ die „Institutionen“ – wird sich das griechische Wahlvolk auf Dauer jedoch ebenso wenig abspeisen lassen wie der linke Parteiflügel.

Die notorisch schlechte Steuermoral zwackt die neue Regierung allerdings noch härter. Unter dem Troika-Regime haben sich die Griechen zudem angewöhnt, den alten Volkssport der Steuervermeidung und -hinterziehung als patriotischen Widerstand gegen die ausländischen „Besatzer“ zu begreifen.
Die griechischen Selbstständigen – immerhin ein Drittel der Erwerbstätigen, also doppelt so viel wie in der EU insgesamt – versteuern regelmäßig weniger als 50 Prozent ihrer tatsächlichen Einkommen.
Viele griechische Großunternehmen, darunter die Reedereien, der nach dem Tourismus wichtigste Wirtschaftszweig, zahlen faktisch keine Steuern, und auch die Mehrwertsteuer wird systematisch hinterzogen. Dazu kommen die unversteuerten und ins Ausland transferierten Oligarchen-Milliarden, die derzeit teils auf Schweizer Konten liegen oder in britischen Immobilien stecken.

Das Elend der Austerität

Die Regierung Tsipras bekam nach einigem Gefeilsche nur eine viermonatige Verlängerung des bisherigen Hilfsprogramms durch die Geldgeber (EZB, IWF, Europäische Kommission bzw. Eurogruppe, also die Euroländer), inklusive aller bisher erteilten Auflagen.
Im Gegenzug erhielt sie nur die Konzession, sich ihr eigenes Reformprogramm schneidern zu dürfen, das sie sich aber wiederum von den „Institutionen“ genehmigen lassen muss.

All das wird Griechenland nicht aus der Bredouille befreien. Die griechische Wirtschaft wächst wieder, trompeteten dagegen die Austerianer 2014: Nach sechsjährigem Schrumpfen verzeichnete Griechenland ein Wachstum um 0,6 Prozent, während im gleichen Jahr der Kapitalstock des Landes um weitere 18 Prozent (gemessen am BIP) abnahm. Doch für Schäuble und Co. war dieses „Wachstum“ der Beweis, dass die bittere Medizin der Austerität positive Wirkung zeigt.

Dabei sind alle relevanten ökonomischen Daten für Griechenland katastrophal: Das Land verarmt dramatisch, sein wirtschaftliches Potential schrumpft weiter, die Investitionen sind seit 2011 negativ.
Heute gibt es eine Million Erwerbstätige weniger als 2008, die jungen und gut ausgebildeten Griechinnen und Griechen wandern in Massen aus (über 50 000 pro Jahr laut einer Zählung der Europäischen Kommission). Es wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis die Schäden halbwegs wieder behoben sind, die die Austeritätspolitik der Troika angerichtet hat.

Tsipras und seine Truppe können derzeit nur auf die Einsicht ihrer Geldgeber hoffen. Doch bislang ist davon wenig zu spüren. Obwohl die Eurogruppe und einige Parlamente, auch der Bundestag, dem bewusst vage gehaltenen griechischen Reformplan Ende Februar zugestimmt haben, ist die Lage hoch verfahren.
Der eigentliche Grund dafür: Austerianer verstehen unter „Reform“ etwas ganz anderes als der Rest der Menschheit.
Die neue griechische Regierung hat dagegen umfassende Strukturreformen angekündigt: eine Steuerreform, eine Finanzreform, eine Reform der öffentlichen Verwaltung, eine Reform des Sozialstaats. Das sind Reformen im eigentlichen Sinne, die aber schwer zu machen sind und kurzfristig eher Geld kosten als Geld bringen.
Denn: Der griechische Staatsapparat ist traditionell schwach (man kennt nicht einmal die genaue Zahl und Verteilung der Beschäftigen im öffentlichen Dienst), die griechische Bürokratie ist notorisch un(ter)qualifiziert und technisch schlecht ausgestattet. Management und Kontrolle der öffentlichen Finanzen sind schlecht (es gibt mehr als 14 000 Haushaltsposten im griechischen Staatshaushalt), der unterbesetzten griechischen Steuerverwaltung entgeht so regelmäßig mehr als ein Drittel der eigentlich fälligen Steuern.
Die politische Kultur ist zudem tief von Korruption, Klientelismus und rent-seeking geprägt; der gesamte Staat ist mit den Apparaten der großen (Alt-)Parteien verfilzt. Griechenland verfügt zudem über einen schiefen Korporatismus: Die Gewerkschaften sind extrem stark im öffentlichen Sektor, aber extrem schwach im privaten. Der Sozialstaat ist in wesentlichen Teilen, etwa bei der Arbeitlosenversicherung, unzureichend ausgebaut; gleichzeitig gibt es einen rigiden Schutz für die Beschäftigten, vor allem im öffentlichen Sektor. Das Land hat ein vollausgebautes öffentliches Gesundheitssystem auf europäischem Niveau, gleichzeitig aber die höchsten privaten Gesundheitsausgaben in der ganzen EU (ebenso verhält es sich im Erziehungswesen).
Und schließlich verfügt Griechenland über einen großen (schwarzen oder grauen) informellen Sektor in der Wirtschaft.[2]

All das will die neue Regierung reformieren. Eine solche Lösung der griechischen Krise ist längst überfällig, sie wäre der Hebel, um die fatale und überflüssige „Eurokrise“ endlich zu beenden – zum Nutzen ganz Europas. 2010 wurden die Weichen dank Merkel und Co. falsch gestellt, seither steigen überall die Wogen des Nationalismus und der offenen Europafeindschaft. Eine andere Krisenpolitik, ein Ende der Spardiktate nach Einheitsmuster, ist daher dringend notwendig. Wer den Euro- bzw. EU-Feinden den Wind aus den Segeln nehmen will, muss den Kurs rasch ändern. Der Regierungswechsel in Athen bietet dazu die Chance, allen Pannen und Ungeschicklichkeiten der neuen Mannschaft zum Trotz.

Verbündete tun not

Nachgeben werden Merkel, Schäuble und Co. allerdings nur, wenn die griechische Linksregierung Verbündete in Europa sucht und findet.
Und zwar solche, die – anders als die zum Teil viel zu unkritischen Syriza-Bejubler innerhalb der deutschen Linken – über politische Macht verfügen. Solche aber gibt es durchaus: Jean-Claude Juncker und die EU-Kommission wollen keinen Grexit, ihnen kommt der Gegenwind für die Oberlehrer aus Deutschland durchaus gelegen.
Das EU-Parlament hat zwar wenig zu sagen (zumindest auf kurze Sicht), aber moralische Unterstützung kommt auch von dort. Der eigentliche, natürliche Verbündete wäre allerdings die europäische Sozialdemokratie, immerhin in etlichen Euroländern eine (mit)regierende Partei. Der SPD käme daher eine Schlüsselrolle zu.

Syriza und die heterodoxen Ökonomen, die mit der europäischen Linken sympathisieren, haben die große Chance, endlich eine Alternative zum bisherigen „Brüsseler Konsens“ der Austeritätspolitik vorzulegen, auf die viele so sehnsüchtig warten, nicht nur in den Krisenländern.
Zum erfolgreichen Kurswechsel braucht es allerdings eine klare wirtschaftspolitische Strategie. Hand und Fuß (und Kopf) muss diese haben, sonst ziehen die Sozialdemokraten nicht mit.
Allerdings haben sich – außer Schäuble – bisher nur wenige im EU-Politikbetrieb auf eine Totalblockade der demokratisch legitimierten Regierung Tsipras festgelegt. Die europäischen Sozialdemokraten sollten daher die Chance zum solidarischen Schulterschluss nutzen – auch zum eigenen strategischen Vorteil.
Denn die Halbstarken von links werden sie so schnell nicht wieder los. Besser daher, sich mit ihnen zu verbünden, um die europäische Karre endlich aus dem Dreck zu ziehen, als mit den verbohrten Austeritätsideologen immer weiter hineinzufahren.

[1] Vgl. dazu Jannis Milios, Verhandlungen über die Schuld, in: „Sozialistische Politik und Wirtschaft“ (SPW), 1/2015, S. 4-7.

[2] Vgl. Kevin Featherstone, The Greek Sovereign Debt Crisis and EMU: A Failing State in a Skewed Regime, in: „Journal of Common Market Studies”, 2/2011, S. 193-217; Michael Mitsopoulos und Theodore Pelagidis, Explaining the Greek Crisis: From Boom to Bust, Basingstoke 2010.

(aus: »Blätter« 4/2015, Seite 5-8)

Jochen