Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN
Treffende Kritik in der Jungen Welt https://www.jungewelt.de/artikel/317596.in-der-beliebigkeitsfalle.html
Auszüge:
In der Beliebigkeitsfalle
Grüne in der Existenzkrise: Wankelmut, Befürwortung von Kriegseinsätzen und Sozialabbau kennzeichnen einstige »Anti-Parteien-Partei«
Von Markus Bernhardt
Die Zeichen stehen schon lange nicht mehr auf Grün. Verfolgt man die letzten Umfrageergebnisse der Meinungsforschungsinstitute zur Bundestagswahl, steht es nicht gut um Bündnis 90/Die Grünen. Nur zwischen sechs und acht Prozent der Wähler würden aktuell für die ehemalige Öko- und Friedenspartei votieren.
Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2013 landeten die Grünen bereits bei nur 8,4 Prozent der Stimmen, obwohl ihnen zuvor teils zweistellige Ergebnisse prognostiziert worden waren.
Die Gründe für den zunehmend schweren Stand, den die Grünen in der Bevölkerung haben, sind vielfältig. Die Hauptursache für das abnehmende Vertrauen dürfte in der öffentlichen Wahrnehmung der Partei liegen. So wissen die Wähler nicht, was sie erwartet, wenn sie den Grünen ihre Stimme geben.
Vieles spricht dafür, dass große Teile der Partei auf eine Koalition mit der CDU/CSU nach der Bundestagswahl am 24. September schielen, etwa die Wahl der beiden Spitzenkandidaten. So gelten sowohl Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt als auch der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir als exponierte Vertreter des sogenannten Realo-Flügels der Partei.
Kurs verlassen
Auch mit ihren einstigen politischen Kernthemen können die Grünen nicht mehr punkten. Den Kurs als Friedenspartei haben sie bereits 1999 mit ihrer Zustimmung zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien endgültig verlassen – von ihrer offenen Kumpanei mit rechten und reaktionären Gruppen im Ukraine-Konflikt ganz zu schweigen.
Die Unterstützung der vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in der »rot-grünen« Bundesregierung betriebenen »Agenda-2010«-Politik und der damit einhergehenden gezielten Deklassierung Hunderttausender Menschen durch Hartz-IV-Gesetze und Leiharbeit dürfte vielen Menschen nachhaltig in Erinnerung geblieben sein. Selbst beim Thema Atomausstieg gelang es den Bündnisgrünen, ihre einstige Stammwählerschaft derart zu verärgern, dass die Partei vielen Antiatominitiativen nicht mehr als glaubwürdige Bündnispartnerin gilt.
Ihre einstigen politischen Schwerpunkte, das kommt hinzu, finden sich mittlerweile in den Programmen aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien, weshalb sich die Grünen faktisch selbst überflüssig gemacht haben. Linksalternative Positionen sucht man bei ihnen nahezu vergebens.
So inszeniert sich das Gros der Bündnisgrünen als staatsmännisch und steht mitunter fest an der Seite der Großindustrie, die sie einst bekämpfen wollten: Als verlässlichster Partner ausgerechnet der Automobilkonzerne gilt derzeit etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der das Ländle gemeinsam mit der CDU regiert.
Kretschmann, der sich von 1973 bis 1975 in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) engagierte, wird heutzutage als eine Art personifizierter Rechtsruck der einstigen »Anti-Parteien-Partei« wahrgenommen, deren geplanter »Marsch durch die Institutionen« faktisch im Allerwertesten der Herrschenden sein Ende fand.
Obwohl Kretschmann maßgeblich mit der Unterstützung der Gegner des Bahnprojekts »Stuttgart 21« ins Amt gewählt wurde, verhinderte seine Partei das scharf kritisierte Mammutvorhaben – den oberirdischen Kopfbahnhof zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof umzubauen – nicht.
Groß dürfte auch die Enttäuschung in den Reihen von Flüchtlingsunterstützern und Schwulen- und Lesbengruppen sein, die einmal als natürliche Verbündete der Grünen galten. Viele gehen mittlerweile offen auf Distanz zu der Partei, deren Bild in der Öffentlichkeit stark von den Ausfällen Kretschmanns und seines Parteifreunds, des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, geprägt ist. So veröffentlichte Palmer jüngst ein Buch, welches den vielsagenden Titel »Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit« trägt. Palmers anhaltende, gegen Flüchtlinge gerichtete Stimmungsmache brachte ihm schon vor wenigen Wochen den gutgemeinten Ratschlag der Grünen-Direktkandidatin Canan Bayram aus Berlin Friedrichshain-Kreuzberg ein, dass er »einfach mal die Fresse halten« solle.
Bereits zuvor hatte Palmer mit seinen bestenfalls kruden Ansichten zur Migrations- und Flüchtlingspolitik von sich reden gemacht. »Ist es bereits rassistisch, bestimmte negative Verhaltensweisen einer Gruppe zuzuordnen? Ich bestreite das«, schrieb er etwa auf seinem Facebook-Profil und erntete daraufhin einen Sturm der Empörung.
Selbst Abschiebungen nach Afghanistan hält der Politiker für vertretbar. »Was Afghanistan angeht, gibt es eine gefühlte Wahrnehmung von Unsicherheit, die vor allem durch Bilder von Anschlägen transportiert wird.« Doch habe dies nichts mit der statistischen Wahrscheinlichkeit zu tun, »dass jemandem tatsächlich etwas zustößt, der dorthin abgeschoben wird«, wusste Palmer kürzlich zu berichten. In der Debatte um eine rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben mit Heterosexuellen verstieg sich der Tübinger Oberbürgermeister zu der Äußerung, dass eine angeblich vorhandene »Homolobby« eine »überspannte Aggression gegenüber der Mehrheitsgesellschaft« ausübe. »Von der Rente angefangen, kämen einige Probleme auf uns zu, wenn es keine auf Dauer angelegten heterosexuellen Paarbeziehungen mehr gäbe«, lautete die schlichte Logik des Grünen-Rechtsaußen.
Angriff auf Grundrechte
Dass Bündnis 90/Die Grünen sogar ihren früheren Anspruch als Bürgerrechtspartei offenbar aufgegeben haben, wird unterdessen nicht nur daran deutlich, dass ausgerechnet Bundesländer wie Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind bzw. diese sogar anführen, das breite Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« in den von den jeweiligen Landesämtern für Verfassungsschutz (LfV) herausgegebenen Berichten über »extremistische Aktivitäten« im »Phänomenbereich Linksextremismus« listen.
In Hamburg, wo die Partei gemeinsam mit dem rechten Hardliner und Ersten Bürgermeister der Hansestadt, Olaf Scholz (SPD), regiert, unterscheidet sich die Koalition in Sachen Angriff auf die wenigen verbliebenen Grund- und Freiheitsrechte kaum mehr von der einstigen Koalition des CDU-Politikers Ole von Beust mit »Richter Gnadenlos« Ronald Barnabas Schill. Trotz der Vielzahl an bekanntgewordenen Polizeiübergriffen und Rechtsverstößen, die sich rund um den G-20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg gegen Hunderte Demonstranten und Globalisierungsgegner richteten, stemmen sich die Grünen vehement gegen einen von der Linksfraktion geforderten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Streit im Endspurt
Bei Bündnis 90/Die Grünen ist ein zünftiger Streit um einen Wahlkampfslogan entbrannt. »Die Häuser denen, die drin wohnen«, lautet die simple Botschaft, die die Partei im Wahlkreis 83, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, plakatieren ließ (jW berichtete). Dort kämpft die Kandidatin Canan Bayram darum, das Erbe Hans-Christian Stöbeles anzutreten. Letzterem war es mehrfach gelungen, ein Direktmandat zu gewinnen.
Die Reaktion des politischen Mainstreams auf das Poster ließ nicht lange auf sich warten. »Sind die irre? – Grüne liebäugeln mit Enteignungen in Berlin«, lautete etwa die Schlagzeile der Bild. Nachdem die Bundespartei flugs auf Distanz ging, das Plakat sei »kein Teil der Bundeskampagne« und zugleich »missverständlich«, erläuterten die Kreuzberger Bezirksgrünen am Wochenende ihr Vorgehen und wiesen die Anwürfe der Bundespartei zurück. »Unser Ziel ist es, explizit das Thema der Mieten- und Wohnungspolitik in den Vordergrund zu rücken, deshalb möchten wir gerne ausführen, wieso diese Forderung nicht missverständlich, sondern nur konsequent ist«, schreiben sie in einer auf ihrer Internetseite veröffentlichten Stellungnahme. Man setze sich schließlich für Mieter, »bezahlbaren Wohnraum und lebenswerte Kieze« ein. »Daher stehen wir fest zu unseren Inhalten und unserer Aussage: Die Häuser denen, die drin wohnen!«
Der Direktkandidatin Bayram dürfte die Distanzierung der Bundespartei nicht gänzlich ungelegen kommen. Ermöglicht ihr diese doch, sich in der Öffentlichkeit als entschlossene Linke darzustellen, die sowohl charakterlich als auch politisch würdig sei, in die Fußstapfen des Urgesteins Hans-Christian Ströbele zu treten.
Einen besonderen PR-Coup konnte unterdessen der Linke-Politiker Pascal Meiser landen, der sich ebenfalls um das Direktmandat in besagtem Wahlkreis bemüht. So konnte der Linke-Bezirksverband Friedrichshain-Kreuzberg den prominenten Künstler Gerhard Seyfried gewinnen, ein Wahlkampfplakat für die demokratischen Sozialisten zu zeichnen.
Seyfried hatte früher auch Wahlplakate für Ströbele produziert, war aber mit den Grünen über Kreuz geraten. Die Grünen passten ihm nicht mehr, sagte Seyfried dem Tagesspiegel (Sonntagausgabe). »Mittlerweile ist die Linke ja buchstäblich die einzige Partei, die sich gegen Kriegseinsätze einsetzt«. Darum unterstütze er sie, so der Künstler.
Gute Chancen auf das umkämpfte Direktmandat hat unterdessen auch die SPD-Kandidatin Cansel Kiziltepe. Sie war sieben Jahre persönliche Referentin des 2013 verstorbenen SPD-Sozialpolitikers und entschiedenen »Agenda 2010«-Gegners Ottmar Schreiner, den sie – eigenen Angaben zufolge – als ihren politischen Ziehvater betrachtet. (bern)
Jochen