Erinnerung – Willy Wimmer im Jahr 2014: «Die USA und die NATO tragen die Fackel des Krieges nach Russland»

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://globalbridge.ch/der-deutsche-politiker-willy-wimmer-im-jahr-2014-die-usa-und-die-nato-tragen-die-fackel-des-krieges-nach-russland
Auszüge:

Willy_WimmerIm Herbst 2014 kritisierte der frühere verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion und ehemalige Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Willy Wimmer, die Außen- und Sicherheitspolitik des Westens.
Insbesondere den USA warf er einen fortgesetzten Bruch des internationalen Völkerrechts vor.
Wenn man das damalige Interview, erschienen in der deutschen Vierteljahreszeitschrift «DIE GAZETTE», heute liest, kann man nur eines sagen:
Willy Wimmer war nachgerade ein Prophet. Wir recht er doch hatte!
Und warum hat man nicht auf ihn gehört? – Hier das Interview im Wortlaut.

Frage: Herr Wimmer, in Ihrem neuen Buch „Wiederkehr der Hasardeure“ warnen Sie, 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, vor Schattenstrategen, Kriegstreibern und Profiteuren, die unsere Welt bedrohen. Was sind Hasardeure?

Wimmer: Es sind diejenigen, die mit der Existenz und der Sicherheit von Menschen und Völkern spielen. Es sind diejenigen, die aus politischen Krisen, Rohstoff-Interessen oder finanzieller Gier ihre wirtschaftliche und politische Hegemonie durchsetzen wollen – auch wenn das Krieg bedeutet.
Ich hatte gehofft, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands eine Periode der Stabilität und der friedlichen Entwicklung einsetzt.
Das Gegenteil ist der Fall: Die Welt ist kriegerischer, brutaler, unsicherer geworden.

Sehen Sie diese „Hasardeure“ auch in der gegenwärtigen Ukraine-Krise am Wirken?

Wimmer: Aber selbstverständlich, und zwar in großer Anzahl. Nur sehe ich die aktuelle Problematik etwas anders als in der öffentlichen oder veröffentlichten Meinung von „Spiegel“ über „FAZ“ bis „Bild-Zeitung“ in Deutschland. Die Ukraine ist ein fragiles und ökonomisch schwaches Land, das sich völlig im Griffwechselnder Oligarchen befindet – von Timoschenko früher bis Poroschenko heute. Dies ist aber nur die innenpolitische Seite.
Die internationale Seite ist, dass den USA die Rohstoff- und Energie-Verträge vieler westeuropäischer Staaten, wie Deutschland, mit Russland ein Dorn im Auge sind. Deshalb stehen die Zeichen auf Konfrontation. Die Ukraine soll mit Unterstützung der NATO und anderer westlicher Länder zum Frontstaat gegen Russland auf- und ausgebaut werden.

Dies ist nicht nur eine gezielte Provokation, dies läuft der früheren westlichen Politik des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa völlig zuwider.

Sie waren als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der KSZE und OSZE an vielen Gesprächen mit der ehemaligen Sowjetunion und mit Russland beteiligt, ebenso an den Verhandlungen zum sowjetischen Truppenabzug aus der DDR im Rahmen der Wiedervereinigung.
Ein überzeugter Politiker des Westens, der jetzt die USA scharf kritisiert. Wie kommt’s?

Wimmer: Seit Mitte der 1990er-Jahre, erst unter Präsident Bill Clinton, dann unter Präsident George W. Bush Junior, haben die USA einen unverantwortlichen Paradigmenwechsel vollzogen. Im Gefühl des Sieges über den Ost-Kommunismus wurde bedingungslos auf militärische Stärke gesetzt – und es wurde und wird gnadenlos das Völkerrecht gebrochen.
Jegliche wirtschaftliche und politische Kooperation des westlichen Europa mit der Russischen Föderation ist den Vereinigten Staaten suspekt. Der unter Führung der USA und der NATO völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und die Bombardierung Belgrads geschahen ohne UN-Mandat – und leider auch mit Beteiligung der deutschen Bundeswehr.
Ich habe in den Jahren zuvor im Auftrag von Bundeskanzler Kohl mit Jugoslawiens Präsidenten Milosevic verhandelt. Als dann aber deutlich wurde, dass die USA die Jugoslawien-Krise nutzen wollten und genutzt haben, eine ihrer größten Auslands-Militärbasen, „Camp Bondsteel“ im Kosovo, zu errichten, war klar, dass dem die jugoslawische Regierung nicht zustimmen würde.
Die Folge: Die USA und die NATO brachen einen brutalen Bombenkrieg vom Zaun.
Wenige Jahre später ein anderes Szenario: Die USA marschierten – wieder ohne UN-Mandat – völkerrechtswidrig in den Irak ein. Ein Krieg, der jetzt schon länger dauert als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen und der ein völlig zerstörtes und traumatisiertes Land hinterlässt.
Um es hier ganz klar zu sagen: Die Vereinigten Staaten von Amerika, die über Jahrzehnte die Garantiemacht des internationalen Völkerrechts waren, gerade auch in Europa, brechen dieses Völkerrecht seit rund 20 Jahren nach Belieben und nach reinen Machtinteressen.

Die Zustimmung zum Jugoslawien-Krieg und zum erstmaligen Einsatz der Bundeswehr im Ausland erfolgte unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Und ein konservativer CDU-Mann wie Sie hebt die Fahne des Friedens?

Wimmer: Ich rechne es Gerhard Schröder hoch an, dass er in einer kürzlichen Rede seine persönliche Schuld an diesem Desaster eingestanden hat und dass er als Politiker die richtige Konsequenz gezogen und keine Bundeswehr-Soldaten in den Irak-Krieg geschickt hat.
Übrigens ganz im Gegensatz zur jetzigen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die damals Präsident George W. Bush Junior ihrer Solidarität versicherte und ihm ihr Unverständnis über Schröders Entscheidung mitteilte.

Frau Merkel ist Ihre Parteivorsitzende …

Wimmer: … die diese Partei heute im Stil des Demokratischen Zentralismus von oben nach unten regiert.
Ich war immer ein großer Anhänger von Bundeskanzler Helmut Kohl, der ein europäischer Friedenspolitiker war und ist. Ich gebe Ihnen die Garantie, dass sich unter Helmut Kohl kein einziger Bundeswehr-Soldat am Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt hätte. Helmut Kohl, und ich habe in seiner Regierung als Parlamentarischer Staatssekretär gearbeitet, war immer ein Mann der friedlichen Verhandlungslösung und des Ausgleichs, weil er die Konsequenzen aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat.
Jugoslawien ist Geschichte, die Ukraine ist die aktuelle Realität. Im Osten des Landes wird bombardiert und massakriert.

Schlafwandeln wir – um das Buch des Historikers Christopher Clark zu zitieren – in einen neuen „Großen Krieg“?

Wimmer: Das kann und will ich nicht ausschließen. Was mir auffällt, ist, wie fast schon kriegspropagandistisch die Berichterstattung in vielen westlichen Medien und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist.
Hier die guten Freiheitskämpfer vom Maidan in Kiew, dort die bösen Spitzbuben in der Ost-Ukraine, marodierende Freikorps-Banditen, ausgerüstet von Russland, mit dem Teufel Putin als Oberbefehlshaber.
Was völlig unterschlagen wird, ist die Tatsache, dass die so genannte „Nationalgarde“ der Ukraine fast vollständig in der Hand von Rechtsradikalen ist und dass Faschisten in der ukrainischen Regierung sitzen.
Man spricht bei uns voller Zorn über angebliche russische Soldaten, die in der Ost-Ukraine kämpfen, und unterschlägt, dass dort längstens amerikanische Söldner für die Kiewer Regierung im Einsatz sind.

Der Anschluss der Krim an Russland galt aber vielen im Westen als Bruch des Völkerrechts …

Wimmer: Viele führende Völkerrechtler in Deutschland haben die Volksabstimmung auf der Krim, die ja mit haushoher Mehrheit eine Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation brachte, als legal und legitim erklärt.*) Ich selbst plädiere dafür, die Vorgänge auf der Krim von höchsten europäischen Gerichten prüfen zu lassen – und dann dieses Urteil anzuerkennen.
Klar ist allerdings auch, dass der Hafen von Sewastopol als Sitz der russischen Schwarzmeer-Flotte für Putin und die russische Regierung nicht verhandelbar ist. Aber die Politik der ukrainischen Regierung und des Westens gegenüber Russland und der Krim war auf Konfrontation angelegt.

Sie haben von faschistischen Kräften in der Ukraine gesprochen. Werden diese nicht überschätzt?

Wimmer: Nein. Sie sind großen Teils bewaffnet und bilden militärische Einheiten wie in der „Nationalgarde“. Sie sitzen in der Regierung, ihr gesellschaftlicher Einfluss im Westen der Ukraine wächst, im Osten gehen sie gegen die Bevölkerung vor. Sie haben teilweise die Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew dominiert.
Was mir aber auffällt, ist folgendes Faktum: Es gibt in Kiew und in der Ukraine eine starke jüdische Gemeinde, der eine rechtsradikale, bewaffnete und antisemitische Truppe gegenübersteht. Ich hatte gehofft, dass der Westen und die EU darauf reagieren werden. Es ist aber nichts passiert.
Vor einigen Jahren kam die rechtspopulistische FPÖ von Herrn Haider in die österreichische Regierung. Die Folge waren Proteste auf den höchsten politischen Ebenen der Europäischen Union bis hin zu Boykott-Aufrufen und Sanktionen gegen Österreich. Jetzt aber wird gegenüber der Ukraine nichts unternommen. Warum wohl? Das macht mir Sorgen.

Sie sehen die Perspektive der Ukraine-Krise pessimistisch?

Wimmer: Selbstverständlich hoffe ich auf die Vermittlungsbemühungen besonnener Politiker wie des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier und seines französischen Kollegen Laurent Fabius.**)
Aber ich sehe auch, dass einflussreiche Kräfte des Westens Herrn Putin am liebsten am Nasenring durch Europa ziehen wollen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Europa für einen Krieg fit gemacht werden soll. Ich befürchte, dass die USA und die NATO die Fackel des Krieges nach Russland tragen wollen.

Mit deutscher Beteiligung?

stern

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Wimmer: Das hoffe und wünsche ich nicht, wenngleich mich das Säbelrasseln der Verteidigungsministerin (damals Ursula von der Leyen, die heutige EU-Kommissionspräsidentin. Red.) beunruhigt.
Und ich hoffe auch, dass man hierzulande, gerade in unserer Bevölkerung, die Lehren aus dem Jugoslawien- und dem Afghanistan-Krieg gezogen hat.
Vor wenigen Wochen hat mein Parteifreund Peter Gauweiler vor der Bundeswehr-Universität in Hamburg eine bemerkenswerte Rede gehalten, die für mich eine der besten Reden eines deutschen Politikers in den letzten 50 Jahren war. Er hat thematisiert, was eigentlich der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr ist. Er hat an unsere Verfassung erinnert, dass unsere Soldaten im Ernstfall das Land zu verteidigen haben und nicht zur internationalen Eingreiftruppe umfunktioniert werden dürfen.
Peter Gauweiler hat den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr vom Kopf auf die Füße gestellt. Und das war gut so.

(Red. Das Interview führte GAZETTE-Redakteur Rudolf Schröck. Chefredakteur der GAZETTE war damals Christian Müller, der heutige Herausgeber der Plattform Globalbridge.ch.)

Siehe auch den neusten Artikel von Willy Wimmer vom 25. November 2022 «Merkels Hinterlassenschaft» auf world-economy.eu.

*: Seieh hierzu https://josopon.wordpress.com/2016/08/16/was-ist-los-auf-der-krim-ein-beitrag-von-prof-dr-gabriele-krone-schmalz/

**: Um die Einhaltung der beschlossenen Vereinbarungen Minsk und Minsk-2 haben die beiden Herren sich dann in den folgenden Jahren leider nicht mehr gekümmert.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

USA – Weltmacht mit allen Mitteln – dazu ein aktueller Kommentar von Rainer Rupp

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

USA – Weltmacht mit allen Mitteln

https://www.jungewelt.de/artikel/436908.imperialismus-weltmacht-mit-allen-mitteln.html

Zu diesem Thema hat sich prophetisch schon 2014 Noam Chomsky geäußert: https://josopon.wordpress.com/2014/12/23/wiederkehr-des-kalten-krieges-einsichten-von-noam-chomsky-uber-die-amerikanische-ausenpolitik-a-nlasslich-des-ukraine-konfliktes

Vorabdruck. An einer friedlichen Ordnung des Planeten haben die USA nie Interesse gezeigt. In Washington gilt einzig die rücksichtslose Aufrechterhaltung der eigenen Dominanz.

Von Klaus Eichner

Klaus_Eichner_scherbenIn diesen Tagen erscheint im Berliner Verlag Edition Ost von Klaus Eichner der Band »Bis alles in Scherben fällt. Der Kampf der USA um eine neue Weltordnung«.
Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor das Kapitel »Feindbild USA. Berechtigt oder falsch?« (jW)

Der Widerstand gegen die USA und deren aggressive Politik zur Gestaltung einer neuen Weltordnung wird als überkommenes Relikt des Kalten Krieges diffamiert. Es sei eine Fortschreibung des alten Feinbildes, das sich doch mit dem Ende der Blockkonfrontation erledigt habe, heißt es.
Die militärische Intervention Russlands in der Ukraine muss als Argument herhalten, dass nicht die USA die Welt unter ihre Militärstiefel zwingen wollen, sondern der Aggressor Russland heiße. Der »verbrecherische Überfall« – so die genormte Formulierung – habe bewiesen, dass die Furcht vor Russland bei seinen Nachbarn begründet war und ist. Deshalb hätten sie sich schließlich nach 1990 unter die schützenden Fittiche der NATO begeben.

Nun ist es ein gern kolportierter und zweckdienlich verbreiteter Irrtum zu glauben, dass »Feindbilder« eine Erfindung der kommunistischen Ideologie zur Charakterisierung des Klassenfeindes seien. Seit es Armeen gibt, existieren Feindbilder zur Motivation der Soldaten. Und zwar unabhängig vom Charakter der Gesellschaft.
Die Ideologie, auf der der Staat fußt, bestimmt allerdings das Bild des »Feindes«. Und der ist immer konkret, keineswegs abstrakt, wie lange und noch immer im Westen behauptet.

Ewiger Krieg?

Die Feinde in der imperialistischen Ideologie sind zwangsläufig jene Kräfte, Bewegungen und Staaten, die die Ausbeutergesellschaft überwinden und eine alternative Gesellschaft errichten wollen.
Und die Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt politisch, juristisch, wirtschaftlich, polizeilich, geheimdienstlich und militärisch. Ganz unmittelbar im Sinne des von Carl von Clausewitz 1832 formulierten Gedankens: »Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Oder eben in Form des Wettrüstens, mit dem Ressourcen der Volkswirtschaft des Feindes entzogen werden und verhindern, dass dieser etwa soziale Probleme oder humanitäre Aufgaben löst.
Der konservative Historiker Michael Stürmer, eine Zeitlang außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und namhafter Vertreter jener Kreise, die für ein stärkeres militärisches Engagement der Bundesrepublik stehen, interpretierte 2015 diesen Satz des Preußengenerals, den man laut Stürmer dreimal lesen müsse:
»Einmal als Feststellung, dass es Krieg gab und gibt und leider Gottes keine Aussicht besteht, dass es anders wird. Zum zweiten als Warnung vor dem absoluten Krieg, der jeden anderen Zweck verschlingt. Und drittens als Aufforderung an die Diplomatie, das Ziel des Friedens auch im Krieg zu verfolgen.«¹

Es war und ist nicht nur ein Interpretations-, sondern ein grundsätzlicher Denkfehler zu meinen, dass es Kriege immer gab und immer wieder geben wird. Der Irrtum wurzelt in der Überzeugung, dass die Ursachen von Kriegen der unreife, unvollkommene Mensch sei und nicht das Wirtschaftssystem, das Staaten hervorbringt und deren Politik bestimmt.

Krieg, so darum der Umkehrschluss, kann nur überwunden werden, wenn die kapitalistische Ausbeuter- und Klassengesellschaft überwunden wird.

Denn wie der 1914 ermordete französische Sozialist Jean Jaurès formulierte: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Und ihm ist beizupflichten, wenn er daraus schloss, dass – entgegen allen patriotischen und demagogischen Behauptungen – nicht der Krieg revolutionär sei, sondern der Friede.
Weil er nämlich durch die Überwindung des Kapitalismus erzwungen und gewonnen werde.

Jahrzehntelanges Zerstörungswerk

Das Feindbild von den USA – das mächtigste Land des Imperialismus, beschönigend als Mutterland des Kapitalismus bezeichnet – ist keine Erfindung von Politikwissenschaftlern oder Ideologen.
Die USA haben seit ihrer Gründung im Jahr 1776 mehr als zweihundert Kriege geführt – ohne selbst jemals angegriffen worden zu sein.
(Der »Krieg gegen den Terror«, den Präsident George Bush jr. 2001 ausrief, wurde mit dem Anschlag auf das Welthandelszentrum in New York begründet, der in der Propaganda zu einem »Angriff auf die USA« gemacht wurde, aber keinen Angriff auf den Staat darstellte.)

Es heißt, dass seit 1946 in den Kriegen der USA, bei militärischen Interventionen und bei Geheimdienstbeteiligungen an Terroranschlägen, Putsch- und Umsturzversuchen auf den Territorien anderer Staaten fast sieben Millionen Menschen starben. Gemessen an den beiden Weltkriegen, die von Deutschland ausgingen, ist das eher wenig. Aber Leid, Not und Elend bemessen sich nicht nur an Kriegstoten. Flucht und Vertreibung gehören auch dazu.
Im Mai 2022 meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dass die Zahl der Menschen, die vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung auf der Flucht seien, die 100 Millionen überschritten habe.²

Auf der anderen Seite: Rüstungskonzerne sowie die Finanz- und Investmentindustrie verdienen mit Kriegen und militärischen Konflikten Milliarden. Und sie verdienen zweimal: einmal durch die Produktion von Waffen und Rüstungsgütern, dann durch den Wiederaufbau der mit diesen Waffen zerstörten Städte und Produktionsanlagen.
Die meisten dieser global operierenden Unternehmen haben ihren Sitz in den USA.

Konzept zum Dominanzerhalt

George Bushs Verteidigungsminister Richard »Dick« Cheney ließ von September 1991 bis Mai 1992 eine Arbeitsgruppe Leitlinien erarbeiten, wie die militärische Dominanz der USA erhalten und ausgebaut werden kann.
»Jede in Frage kommende feindliche Macht (ist) daran zu hindern, in einer Region dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung ist«, hieß es darin.
»Potentielle Rivalen (sollen) erst gar nicht auf die Idee kommen, regional oder global eine größere Rolle spielen zu wollen.« Und mit Blick auf die Bundesgenossen in der NATO, die mehrheitlich in Europa disloziert waren und sind, wurde an die US-Administration appelliert: »Wir müssen darauf achten, dass es keine auf Europa zentrierten Sicherheitsvereinbarungen gibt, welche die NATO untergraben könnten.«³

Die einschüchternde Ansage war unmissverständlich: Eine Verständigung Westeuropas mit dem Osten, insbesondere mit dem Nachfolgestaat der Sowjetunion, sollte unterbleiben.
Damit wurde den seit Jahrzehnten von Moskau verfolgten Intentionen, in Europa eine Sicherheitsstruktur zu entwickeln, eine deutliche Absage erteilt.
Ein System kollektiver Sicherheit, zu dessen Entwicklung in den siebziger Jahren erste Schritte unternommen worden waren, hatte sich erledigt, eine Emanzipation (West-)Europas von den USA sollte nicht stattfinden.

Die Warnung vor der »Untergrabung der NATO« war eine Warnung vor dem Verlust der Dominanz ihrer Führungsmacht, den USA. Das Wort von der »Rapallo-Angst« machte – wieder einmal – die Runde.

Zur Erinnerung: Im italienischen Rapallo hatten im April 1922 das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (die UdSSR sollte erst später gegründet werden) vertraglich beschlossen, ihre bilateralen Beziehungen zu normalisieren. Die souverän am Rande einer internationalen Finanz- und Wirtschaftskonferenz in Genua geschlossene Vereinbarung führte, trotz Ablehnung durch die Westmächte und auch in Deutschland – darunter Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) und weite Teile der SPD-Führung –, zu prosperierenden Wirtschaftsbeziehungen, von denen beide Seiten profitierten.
Deutschland lieferte Industrieanlagen und Know-how, half bei der Erschließung der Erdölfelder bei Baku und vermarktete sowjetisches Öl in Deutschland, wodurch die Abhängigkeit von britischen und US-amerikanischen Ölkonzernen reduziert werden konnte.

Vorauseilender Gehorsam

Die Federführung bei der Fixierung des Defense Planning Guidance 1991/92 lag bei Colin Powell – damals Chef der Vereinigten Generalstabs – und Paul Wolfowitz, Staatssekretär im Pentagon.
Es gibt Autoren, die nach Bekanntwerden dieses internen Dokuments monierten, dass die »fundamentalen Verschiebungen auf der weltpolitischen Landkarte«⁴ unbeachtet geblieben seien, dass es sich bei dem Papier um einen Rückfall in den Kalten Krieg handele, weil Washington – wie seit Jahrzehnten – Sicherheit in erster Linie mit militärischen Mitteln und gegen andere (nicht mit anderen) herstellen wolle.
In Japan und in der BRD erregte man sich in bestimmten Kreisen zudem darüber, dass beide Staaten darin als »Konkurrenten« genannt und damit auf eine Stufe mit Russland und China gestellt worden waren. Es war, wie immer bei solchen Kontroversen, ein Sturm im Wasserglas.
Die von Kanzler Helmut Kohl geführte Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) versicherte wie gewohnt unterwürfig und im vorauseilenden Gehorsam, dass das vereinte Deutschland keinen Sonderweg beschreiten und unverändert fest an der Seite der USA stehen werde.

Solche von wenig Souveränität getragenen Erklärungen stellten eine diplomatische Gratwanderung dar. Zwar bereiteten sich die Truppen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – GUS) auf ihren für 1994 geplanten Abzug vor – aber große Teile davon standen noch auf dem Territorium der sogenannten neuen Bundesländer.
Ihr finaler Rückzug durfte nicht durch überschwengliche Treuebekundungen an die Adresse der USA gefährdet werden, genauso wie überzogene Kritik an der »Schutzmacht« USA Washington eventuell verstimmen konnte.

Der diplomatische Balanceakt der Bundesregierung ist allerdings nicht unser Thema, sondern inwieweit die zu Beginn der neunziger Jahre formulierten Leitlinien den Kalten Krieg ungebrochen fortsetzten bzw. eine neue Qualität in den Außenbeziehungen der USA bedeuteten.

Politik der Stärke

In der Führung der USA herrschte die Auffassung vor, dass man die Politik der Stärke in der Stunde ihres größten Triumphs nicht aufgeben sollte.
Im Gegenteil. »Ich habe den Eindruck, dass die sowjetische Gefahr möglicherweise größer ist als früher, da sie vielgestaltiger geworden ist«, erklärte US-Präsident Bush, der Exgeheimdienstchef.⁵
Es sei nicht an der Zeit, die Sowjetunion in die Gemeinschaft der »zivilisierten Nationen« aufzunehmen.

Konfwerenz_Helsinki_NDDie Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war von Anfang an als hinderlich bei der Durchsetzung von US-Interessen und als Sieg sowjetischer Außenpolitik gewertet worden.
Deshalb musste ihre Schlussakte liquidiert werden. »Die KSZE ist die eigentliche Gefahr für die NATO«⁶, erklärte US-Außenminister James Baker intern, womit er nicht unrecht hatte. Es war eine europäische Sicherheitsstruktur.
Zwar waren die USA daran beteiligt, sie waren aber nur ein Staat von insgesamt 35. Und in der 1975 unterzeichneten Schlussakte waren die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und aller Unterzeichner in gleicher Weise berücksichtigt worden.

»Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen«, hatte es gleich eingangs in der Schlussakte geheißen.
»Sie sind der Auffassung, dass ihre Grenzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können. Sie haben ebenfalls das Recht, internationalen Organisationen anzugehören oder nicht anzugehören, Vertragspartei bilateraler oder multilateraler Verträge zu sein oder nicht zu sein, einschließlich des Rechtes, Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein; desgleichen haben sie das Recht auf Neutralität.«⁷

Die USA beriefen sich gern auf diese Festlegung, wenn sich eine »Vertragspartei« etwa mit dem Westen verbünden wollte. Doch wenn sich ein Staat verweigerte, wenn er sich nicht der NATO und darum deren Führungsmacht anzuschließen wünschte, nahmen die USA das nicht einfach so hin und halfen bei der »Meinungsbildung« mit verschiedenen Mitteln nach.
Insofern lag der US-Außenminister nicht falsch, wenn er 1989/90 meinte, dass aus Sicht der USA die KSZE »die eigentliche Gefahr für die NATO« sei.

»America first«

Auf KSZE-Linie bewegten sich Überlegungen, die in Europa nach dem Ende der Blockkonfrontation angestellt wurden. Jetzt sei die Chance für den Abbau aller ideologisch motivierten Barrieren, für die Abrüstung konventioneller Streitkräfte, für die Abschaffung der beiden Militärpakte.
Diese Kreise nahmen Bushs Ansage wörtlich: »Wir können einen dauerhaften Frieden verwirklichen und die Ost-West-Beziehung in eine dauerhafte Zusammenarbeit umwandeln.«

Sie hatten einerseits überhört, dass der US-Präsident in der Möglichkeitsform gesprochen hatte, und andererseits an die Lauterkeit der Politik der USA geglaubt. Die besaß Washington aber nie.
Im Zentrum der Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika standen immer die nationalen Interessen, es ging immer um »America first«. Nationale Belange anderer Staaten fanden allenfalls Beachtung, wenn sie US-amerikanischen Interessen nützten oder ihnen im Wege standen. Ein Neustart der Außenbeziehungen, von dem nicht wenige inner- und vor allem außerhalb der USA 1989/91 geträumt hatten, erfolgte nicht.
Man hätte mit dem Wesen der kapitalistischen Ordnung brechen müssen. Dazu waren die in den USA herrschenden Kreise nicht bereit.

Der 99jährige Henry Kissinger, Exaußenminister, Friedensnobelpreisträger und Organisator des Staatsstreiches in Chile, mit dem 1973 die demokratisch gewählte Regierung der Unidad Popular weggeputscht worden war, machte 2022 in einem Buch⁸ gewohnt zynisch die Kontinuität und den Charakter der Außenpolitik kapitalistischer Staaten, insonderheit des eigenen Landes, ex negativo deutlich.
»Wem es hauptsächlich um Werte geht, sollte nicht den diplomatischen Dienst, sondern das Priesteramt anstreben.«

Interessen nicht Werte

Egon Bahr, Spiritus rector der neuen Ostpolitik der SPD, lag mit seiner deutlichen Ansage gegenüber Gymnasiasten nicht weit davon entfernt: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte.
Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.«⁹

Der 2015 verstorbene Bahr, nach eigenem Bekunden einst selbst ein Kalter Krieger, berief sich bei der Frage nach seiner aktuellen politischen Verortung auf seinen Freund Willy Brandt.
Der habe gesagt, je älter er werde, desto linker werde er. »Mir geht es nicht anders.«¹⁰

Gods_Own_CountrySein Urteil über die USA hatte eventuell nichts mit dieser linken Haltung zu tun, sondern war einfach nur logisch und vernünftig. »Das nationale Interesse der USA ist von der moralischen Gewissheit durchdrungen, das auserwählte Volk Gottes zu sein.
Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unlöslich verschmolzen«, konstatierte er 2015. Und fast schon resignativ fügte er an, dass es »sinnlos« sei, dies zu kritisieren.
»Die amerikanische Position stellt einen moralischen Maßstab dar, der nicht verhandelbar ist. Das entspricht auch der amerikanischen Haltung, sich nicht durch fremde Ordnungen binden zu lassen. Das hat mit Macht und weniger mit Werten zu tun. Die Globalmacht USA wird sich nur binden, wo ihr Interesse das rät. Sie wird insgesamt ihre Politik der freien Hand verfolgen, um ihren Einfluss zu vergrößern.«¹¹
Das war eine sehr diplomatische, sehr höfliche Umschreibung für die Durchsetzung einer neuen Weltordnung, die sich die USA in ihre internen Strategiepapiere und auf ihre Fahne geschrieben hatten.

Anmerkungen

1 Zit. in: Michael Stürmer: »Politik mit anderen Mitteln«. Deutschlandfunk am 9. Februar 2015

2 unric.org/de/unhcr23052022 am 22. Mai 2022

3 vgl. Bernd Greiner: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, S. 164

4 So Bernd Greiner, ebenda, S. 165

5 Bush am 10. Februar 1989, zit. n. Michael R. Beschloss, Strobe Talbot: Auf höchster Ebene. Düsseldorf 1993, S. 35

6 zit. n. ebenda, S. 187

7 vgl. www.osce.org/files/f/documents/6/e/39503.pdf

8 Henry Kissinger: Staatskunst – Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert. München 2022

9 zit. nach: Egon Bahr und Lutz Riemann: Annäherung durch Wandel. Kalter Krieg und späte Freundschaft. Edition Ost, Berlin 2022

10 Brief an Lutz Riemann am 3. Februar 2005, zit. in: ebenda, S. 5

11 aus: Rede im Adlon zur Verleihung des Dr.-Friedrich-Joseph-Haass-Preises, 27. März 2015, zit. n. Bahr, Riemann, Annäherung, a. a. O., S. 192

Klaus Eichner arbeitete ab 1959 in der Spionage­abwehr und ab 1974 als Chefanalytiker für US-Geheimdienste bei der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A).

Klaus Eichner: »Bis alles in Scherben fällt. Der Kampf der USA um eine neue Weltordnung«, Verlag Edition Ost, Berlin 2022, 130 Seiten, 16 Euro

 

„Die Welt darf nicht ohne US-Führung bleiben“

Ein Kommentar von Rainer Rupp

https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/152113-welt-darf-nicht-ohne-us/

rainer rupp

Mit diesen Worten beschwört US-Außenminister Antony Blinken den Erhalt der bröckelnden US-Führungsmacht. Aber ist die Abwendung von der „regel-basierten Ordnung“ des US-Alleinherrschers womöglich ein Schritt in den (chinesischen) Abgrund?

Man dürfe nicht zulassen, dass die Welt ohne die Führung der USA bleibe, erklärte US-Außenminister Antony Blinken bei einer Veranstaltung an der US-Elite-Universität Stanford am 17. Oktober. Gemeinsam mit seiner Amtsvorgängerin, Ex-Außenministerin Condoleezza Rice, sprach er über die zukünftige Entwicklung und Bedeutung von Technologie, Diplomatie und nationaler Sicherheit und in diesem Zusammenhang ausgiebig über die Rolle Chinas. Unter anderem sagte Blinken:

„Rundum stehen wir in einem Wettrennen (mit China), um – wie ich bereits aus unserer Perspektive erklärte – die Ära zu gestalten, die auf die Post-Kalte-Krieg-Periode als nächstes folgt. Wie wird diese Zeit aussehen? Wessen Werte werden widergespiegelt werden? Wir haben eine einfache Entscheidung, denn die Welt organisiert sich nicht von selbst. Die USA haben die Wahl. Wenn wir uns an der Organisation nicht beteiligen und keine Führungsrolle übernehmen, bedeutet das eins von beiden: Entweder sie (die Welt) wird von jemand anderem übernommen, vielleicht von China, und zwar nicht in einer Weise, die voll und ganz mit unseren Interessen und Werten übereinstimmt, oder – was genau so schlimm ist – niemand tut es, dann entsteht ein Vakuum, das eher von schlechten Dingen gefüllt wird als mit guten.“

Hier haben wir sie wieder, die unausstehliche US-amerikanische Selbstverherrlichung, dass nur und ausschließlich die USA das Wahre, Gute und Schöne verkörpern und sich die US-Oligarchen selbstlos aufopfern, den Rest der Welt mit Gaben zu beglücken, wenn nötig mit Bomben und Granaten, mit Sanktionen und Hungersnöten, mit Millionen Toten und noch mehr Verletzten und Flüchtlingen. Aber die Länder der Welt haben längst hinter die glitzernde Kulisse der US-Oligarchen-Demokratur geschaut, erkannt, dass die politische Kaste sich einen feuchten Dreck um die existenziell notwendigen, täglichen Bedürfnisse der Masse der eigenen US-Bevölkerung kümmert, zugleich aber dem Rest der Welt Demokratie und Prosperität vorgaukelt.

Was der neo-liberale Kriegstreiber Blinken in Stanford akademisch verklausuliert aufgetischt hat, wird in den letzten Jahren von westlichen US-Vasallen in Politik, Medien und Wissenschaft vermehrt als warnende Frage in die Länder der sogenannten Dritten Welt getragen; ob nämlich der lang ersehnte, jetzt von China und Russland ermöglichte, vermeintlich befreiende Schritt nach vorn, weg von der ordnenden Pax Americana des US-Alleinherrschers und hin zu einer multipolaren Weltordnung, nicht womöglich ein Schritt in den Abgrund ist?

Dieses Schreckensbild wird von den Vertretern und Profiteuren der im Westen immer noch tonangebenden, aber absterbenden neo-liberalen Ordnung propagiert. Aber welche Alternative kann eine multi-laterale, von BRICS-Staaten geführte neu Ordnung gegenüber der kriminellen, US-geführten US-Kriegs- und Chaosversion bieten? Kann es für die Länder der Welt überhaupt schlimmer werden als die angeblich „regel-basierte Ordnung“ der USA und ihrer Vasallen, die stets und überall auf Konfrontationskurs gegen alle Länder gehen, die sich der Ausbeuterordnung der Imperialisten nicht unterwerfen.

Eine Ahnung von der im Entstehen begriffenen, multilateralen Weltordnung bietet die Struktur der von China gegründeten und insbesondere von den BRICS-Staaten unterstützten Asiatischen Infrastruktur- und Investitionsbank (AIIB).

Ein erklärtes Ziel dieser Entwicklungsbank ist es, die bis dahin weltweit allein geltenden, von den USA und ihren neo-liberalen Verbündeten aufgestellten Regeln der globalen Entwicklungsfinanzierung, d. h. den Washingtoner Konsens, auszuhebeln.

Wenn die US-geführte Weltbank z. B. in Afrika eine Wasseraufbereitungsanlage finanziert, dann muss sich das betroffene Land dazu verpflichten, weitere wirtschaftliche „Reformen“ in Richtung Marktwirtschaft und Deregulierungen der Wirtschaft durchzusetzen, u. a. den Abbau von Schutzzöllen und Subventionen zur Entwicklung der eigenen Wirtschaft, die Öffnung der eigenen Wirtschaft zur Ausbeutung durch westliche Raubtier-Konzerne, den Abbau von Arbeitsschutz und Kürzung sozialer Sicherungsmaßnahmen, usw.

Zugleich besteht die Weltbank in der Regel darauf, dass die zu neue oder die zu modernisierende Wasseraufbereitungsanlage marktwirtschaftlich arbeitet und profitabel ist und deshalb privatisiert werden muss. Das bedeutet, dass die Anlage in dem Entwicklungsland an den Meistbietenden, in der Regel an einen westlichen Konzern, für ’n Appel und ’n Ei verhökert wird.

Für die profitorientierten Wasserkonzerne muss der Preis für sauberes Wasser natürlich erhöht werden, selbst wenn dadurch ein Großteil der armen Bevölkerung von der Versorgung mit sauberem Wasser ausgeschlossen wird. Davon sind nicht nur die Entwicklungsländer betroffen, sondern auch die Armenviertel in den reichen und angeblich hochentwickelten Oligarchen-Demokraturen des Westens, vor allem in den USA.

In vielen Ländern dominieren private Monopole inzwischen den Bereich der einstmals sozialen ausgerichteten öffentliche Dienstleistungen. Wer nicht zahlen kann, bleibt von der Versorgung ausgeschlossen. Selbstredend sind dadurch mehr Krankheiten und Epidemien und insbesondere eine höhere Kindersterblichkeit vorprogrammiert. Aber für Freiheit und Markwirtschaft müssen schließlich Opfer gebracht werden, wie wir alle aus den unzähligen Propagandareden westlichen Eliten in Politik und Medien wissen!

Es ist die von den USA und ihren Vasallen kontrollierte Weltbank, die im Verein mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), für die westlichen Konzerne den Weg freiräumt, um die Länder der Dritten Welt auszuplündern. Die dabei angewandte, neo-koloniale Methode stellt eine raffinierte Verfeinerung, aber nicht weniger brutale Abwandlung des alten Kolonialismus ist. Im Unterschied zu früher ersetzen heute in der Regel Finanz-Instrumente die Kanonen, obwohl auch die immer wieder zum Einsatz kommen, um den Forderungen der westlichen „regel-basierten Ordnung“ Nachdruck zu verleihen.

AIIB-logoDie Asiatische Infrastruktur- und Investitionsbank (AIIB) arbeitet ganz anders. An ihre Kreditvergabe knüpft sie keine ideologischen oder politischen Vorleistungen der Entwicklungsländer. Die souveräne Regierung eines jeden Landes entscheidet selbst. Einzige Bedingungen sind

a) Transparenz, also öffentliche Kontrolle zur Vermeidung von Korruption,
und b) die finanzierten Projekte müssen umweltverträglich sein.

Politische oder andere Bedingungen im Stil des Washingtoner Konsens sind bei der neuen von China gegründeten AIIB-Entwicklungsbank vom Tisch. Wir notieren, dass für sie Privatisierung von staatlichen oder genossenschaftlichen Unternehmen keine Vorbedingung für einen Kredit ist. Auch die Abschaffung oder Abschwächung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zum Schutz und zur Entwicklung der heimischen Wirtschaft ist keine Vorbedingung der AIIB.

So ist es kein Wunder, dass die AIIB den neo-liberalen Globalisierern unter den westlichen Eliten ein großer Dorn im Auge ist. Denn die Regierungen in den Entwicklungsländern hatten plötzlich die Wahl, sich entweder für westliche Instituten wie die Weltbank, IWF und Asiatische Entwicklungsbank oder für die chinesische AIIB zu entscheiden. Da die Attraktivität der AIIB im Vergleich zu westlichen Institutionen klar war, galt ihr wirtschaftlicher Erfolg schon bei ihrer Gründung im Jahr 2015 als sichert, weshalb auch europäische Großbanken nicht abseitsstehen wollten. Die meisten westlichen Staaten, einschließlich Frankreich und Deutschland, und sogar England beeilten sich, Mitglied dieser chinesischen Entwicklungsbank zu werden, obwohl Washington vor diesem Schritt nachdrücklich(!) abgeraten hatte.

Nachdem die AIIB 2016 ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, entwickelte sie sich schnell zu einem wichtigen Akteur in der globalen Finanzwelt. Anfang 2021 hatte sie bereits 102 zugelassene Mitgliedsstaaten. Die Teilnahme der größeren Volkswirtschaften Europas als Gründungsmitglieder hatte sicher dazu beigetragen, dass die AIIB bei den global führenden Rating-Agenturen eine erstklassige Bonitätsbewertung von AAA bekam.

Aber die AIIB war auch ein riesiger diplomatischer Triumph für China, das damit zeigte, dass es auch in der internationalen Wirtschaft eine andere Geschäftspolitik verfolgt als die Raubtier-Kapitalisten des Washingtoner Konsens, nämlich eine Win-win-Politik zum gegenseitigen Vorteil und zur gesellschaftlichen Entwicklung. Letzteres wird z. B. durch die beeindruckenden AIIB finanzierten Investitionen in Afrika, Asien und auch in Latein-Amerika in Projekte der Verkehrs- oder Gesundheits- und Sozialinfrastruktur belegt, z. B. Eisenbahnlinien, Krankenhäuser, Schulen, etc.

Zugleich spielt die chinesische Währung, der Yuan, bei der Finanzierung neuer Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern den eben genannten Weltregionen eine immer größere Rolle und sie hat das Zeug, den Dollar im Handel mit diesen Regionen nach und nach weitgehend zu ersetzen.

Washington blieb im Abseits sitzen, sah aus der Ferne zu und schmollte. Zugleich musste es zusehen, wie weitere Pfeiler seiner „regel-basierten Ordnung“ mehr und mehr zerbröseln. Jetzt, wo die AIIB fest etabliert ist, plant sie zunehmend, ihre eigene Kredit-Pipeline zu entwickeln mit dem Ziel, zur weltweit führenden Finanzinstitution für Infrastruktur zu werden. Ihre Standards werden in Zukunft in den Ländern der Dritten Welt fundamental wichtig sein, was für die Wall Street ein Dorn im Auge und vollkommen inakzeptabel ist.

Aber ohne Beachtung der AIIB-Standards werden die rein westlichen Finanzakteure in den Ländern der Dritten Welt immer mehr an Boden verlieren. Das ist der Grund, weshalb westliche Eliten in Politik und Medien dazu aufrufen, dass „Wir“, also die USA und ihre Vasallen, den Chinesen nicht erlauben dürfen, in Industrie, Technik und Finanzen die Standards für die Märkte der Zukunft zu setzen. Denn das sind die Instrumente, die bisher die Ausbeutung der Welt durch den Westen erheblich erleichtert haben.

Aber um die befürchte Dominanz chinesischer Standards auf den zukünftigen Märkten der Dritten Welt zu verhindern, sind den denkfaulen Eliten in Washington keine konstruktiven Lösungen eingefallen. Denn eine nachhaltige und breite Anhebung des wirtschaftlichen und technologische Niveaus, wäre nur durch eine Verbesserung des desaströsen Bildungsniveaus in den USA möglich. Das aber würde über mindestens eine Generation enorme politische, finanzielle uns soziale Anstrengungen verlangen, zu denen die parasitären Eliten in Washington nicht bereit sind.

Andererseits fehlt Washington auch die Bereitschaft zur diplomatischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Peking mit dem Ziel eines einvernehmlichen Miteinanders. Denn für die arroganten US-Eliten ist die Vorstellung, gegenüber den aus ihrer Sicht „unterentwickelten“ Chinesen nicht als Führungsmacht diktieren zu können, sondern im kollegialen Miteinander zu zusammenarbeiten, vollkommen unakzeptabel.

Stattdessen hat Washington zu seinem bevorzugten, „altbewährten Rezept“ im Umgang mit Staaten zurückgegriffen, die nicht gewillt sind, die Interessen Washingtons auf Kosten der eigenen zu bedienen, nämlich:

– Drohung mit Krieg,
– Verhängung von Wirtschaftssanktionen, um Chinas Entwicklung zu blockieren,
– Destabilisierungsversuche in Hongkong und Förderung der lokalen Unabhängigkeitsbewegung, was zu schweren Unruhen führte,
– schwere Provokationen Pekings in Bezug auf Taiwan; De-facto-Aufkündigung des US-China-Abkommens zur „Ein-China-Politik“, in dem Washington ausdrücklich die Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik China anerkannt hat; massive Waffenlieferungen an Taiwan.

Ähnlich wie im blutigen Ukraine-Russland-Konflikt übt Washington derzeit auch massiven Druck auf seine europäischen Vasallen aus, die der US-Führungsmacht in ihrer Konfrontationspolitik gegen China zu folgen haben. Auch damit hat Washington bei den meisten deutschen Parteien Erfolg, vor allem bei der „grünen“ US-Sekte. Denn aus deren Reihen haben sich bereits freiwillig viele „Selbstmord-Attentäter“ gegen die deutsche Wirtschaft gemeldet.

Über Kommentare hier würde ich mich freuen.

Jochen

„Stopp Ramstein“ – (Drohnen-) Kriege beenden! – Vortrag von Albrecht Müller vom 10.6.2016

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Für die Friedensfreunde Nordschwabens wichtig:
Heute abend, 19:30, Treffen in der „Goldenen Rose“, Baldinger Str., Nördlingen

Textfassung des Vortrags von Albrecht Müller bei „Stopp Ramstein“ am 10.6.2016

Ist die Spirale der Eskalation zwischen NATO und Russland vom Himmel gefallen?

Müller_Albrecht_02mAm 14. Juni hatten die NachDenkSeiten auf das Video mit der Rede „Wir wollen keine Konfrontation mit Russland und laden die USA herzlich ein, gemeinsam in Europa den Frieden zu sichern“ verlinkt. Hier folgt die Textfassung.
Die Rede ist sehr aktuell – wie man zum Beispiel an den Einlassungen von Außenminister Steinmeier wie auch an einer heute (mit Sperrfrist 12 Uhr) veröffentlichten, im Kern begrüßenswerten Erklärung des Willy-Brandt-Kreises sehen kann. Eine kurze Kommentierung dieser Erklärung folgt später. Albrecht Müller

Soviel vorweg: Die Autoren des Willy-Brandt-Kreises müssen sich die Fragen gefallen lassen, ob die „zwischen Russland und der NATO eingetretene Eskalationsdynamik“ vom Himmel gefallen ist und ob der Westen und Russland in gleicher Weise für die neue und gefährliche militärische Konfrontation verantwortlich sind. Meine hier folgende Rede vom 10.6.2016 in Kaiserslautern enthält die ausführliche Antwort auf diese Fragen. Die kurze Antwort lautet: Nein.

(Der Text entspricht in wesentlichen Teilen der gehaltenen Rede, ergänzt um Teile des Entwurfs, die wegen der Kürze der Zeit beim Vortrag gestrichen worden waren.)

Guten Abend, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Frau Reimann, lieber Herr Wimmer.

Was verbindet uns?

Erstens: Wir sind hier, weil wir gescheitert sind. Wir sind hier, weil wir betrogen worden sind.

Zweitens: Wir sind hier, weil wir trotzdem nicht aufgeben. Nicht weil wir Helden sind, es bleibt uns nichts Anderes übrig, wenn wir überleben wollen und wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel auch noch leben können.

Hoffentlich habe ich Sie mit diesen beiden Anfangsbemerkungen nicht hoffnungslos entmutigt. Aber: es bleibt uns nichts Anderes übrig, als der Wirklichkeit in die Augen zu schauen. Diese ist bitter:

Wir sind in der Zeit nach 1989 maßlos und in großem Stil betrogen worden.

Wir Älteren, die damals engagiert waren, sowieso. Die jüngeren, weil der Betrug ihre Zukunft betrifft, ja sogar ihr Leben kosten könnte.

Das klingt etwas rätselhaft. Es ist aber tatsächlich nicht rätselhaft. Ich will erläutern, was ich meine. Und dabei auf meine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen:

  • 1968 bin ich als Redenschreiber des damaligen Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller nach Bonn gekommen. Zwei Jahre vorher hatte der kleinere Partner in der Großen Koalition, die SPD, mit Willy Brandt durchgesetzt, dass mit der Ost- und Entspannungspolitik begonnen wird. Ein Jahr später, 1969 war die Blockade durch Kanzler Kiesinger, seine Partei, die Union und die Gegner der Versöhnung mit dem Osten jedoch offensichtlich. Deshalb wurde die neue Friedenspolitik zum Thema des Wahlkampfes 1969. Als Mitarbeiter von Karl Schiller, der Mitglied des Präsidiums der SPD war, bin ich damals mitten in den Wahlkampf um diese Ostpolitik geraten.
  • Nach der Wahl im September 1969 hat dann die neue Regierung Brandt mit der sogenannten Vertragspolitik begonnen: es ging Schlag auf Schlag, schon 1970 der Moskauer Vertrag, dann der Warschauer Vertrag und der Prager Vertrag. Es ging bei den Vertragswerken – wie der Name sagt – darum, sich endlich zu vertragen und den Kalten Krieg zu beenden.
  • Eines der Schlüsselworte lautete „Wandel durch Annäherung“, d.h. Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost, um damit Frieden zu schaffen und auch eine Veränderung im Inneren, im Warschauer Pakt und auch bei uns im Westen zu erreichen, insbesondere mehr demokratische Rechte im Osten, mehr Bewegungsfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger in der DDR und in anderen Ländern des sogenannten Ostblocks.
  • 1972 war ich dann als Wahlkampfleiter von Willy Brandt mitverantwortlich für die Absicherung der Ostpolitik durch die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl. Das endete mit einem überzeugenden Votum von 45,8 Prozent für die SPD und einem überwältigenden Votum für die Friedenspolitik.
  • Danach ging es mit Höhen und ein paar Tiefen weiter mit der Ostpolitik, über die Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und mit der Idee der Gemeinsamen Sicherheit in Europa. Keine Konfrontation, weder mit den früheren Satelliten der Sowjetunion noch mit der Sowjetunion und Russland selbst.
  • Wichtig ist: die Entspannungs- und Vertragspolitik war von einem besonderen Geist und von wichtigen Einsichten getragen: der Begriff „vertrauensbildende Maßnahmen“ war sehr wichtig. Es war klar, dass die eigene Politik nie dazu beitragen sollte, Misstrauen zu säen. Es war klar, dass wir in dem, was wir taten und was wir sagten, immer mitbedenken wollten und mussten, wie das bei den anderen, dem früheren Gegner, empfunden wird, was es dort auslöst. Konfrontation hatte im anderen Lager Verhärtung ausgelöst. Entspannung und Versöhnung haben dazu geführt, dass Politiker wie Gorbatschow, die auf Versöhnung setzten und ihr Land verändern wollten, möglich wurden. Entspannung, Versöhnung und vertrauensbildende Maßnahmen raubten den Militaristen auf beiden Seiten die Argumente. Das ist sehr aktuell.
  • Wichtig war es damals und wäre es heute, sich in die Lage der anderen zu versetzen. Damals musste dem deutschen Volk – und manchen Politikern und Journalisten ohnehin – erst einmal vermittelt werden, dass und wie sehr Russland, die Sowjetunion und die Völker Ost- und Mitteleuropas unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben. 27 Millionen Menschen verloren allein in der Sowjetunion im Krieg zwischen 1941 und 1945 ihr Leben. Im Deutschland der fünfziger Jahre haben die tonangebenden Kräfte hierzulande locker über diese Opfer hinweggesehen und hinweg agitiert, eigentlich ein unglaublicher Vorgang.
  • Diese Entspannungs-, Friedens- und Versöhnungspolitik war dann gekrönt worden: mit dem Mauerfall, mit der Fortsetzung und Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit und mit der Weiterarbeit an der zukunftsweisenden Idee „Gemeinsamer Sicherheit“ in Europa.
  • Im SPD-Grundsatzprogramm von 20. Dezember 1989 ist dies und einiges Zukunftsweisendes unser Thema „Stopp Ramstein“ betreffend formuliert und beschlossen worden. Ich erinnere mich deshalb noch gut daran, weil ich damals als Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Parlamentarischen Linken zusammen mit Egon Bahr eine Art Schlussredaktion für diesen Teil des Grundsatzprogramms gemacht hatte. Unter der Überschrift „Frieden in gemeinsamer Sicherheit“ steht zu lesen:

    „Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.“

    Und weiter heißt es von den militärischen Bündnissen Warschauer Pakt und NATO:

    „Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“

    So weit waren wir schon einmal!

    „Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen“,

    heißt es dann noch. Und von Abrüstung und nicht von Aufrüstung ist die Rede. Der Text wäre wegweisend für heute.

    Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die diese Politik mitbewirkt und mitgetragen haben und auch die handelnden Personen – von Helmut Kohl über Gorbatschow, Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Richard von Weizsäcker bis zu Willy Wimmer, den ich damals noch nicht persönlich kannte – wir alle waren überzeugt davon, dass es in Europa keinen Graben und keine Mauer und keinen Stacheldraht und auch kein Gegeneinanderrüsten mehr geben soll. Wir waren überzeugt davon, dass das auch geht.

  • Und der Osten hat kooperiert. Die Sowjetunion hat sich aus Deutschland zurückgezogen. Sie hat akzeptiert, dass die DDR in die NATO integriert wird. Die Verantwortlichen in Russland haben viele Zugeständnisse gemacht. Sie haben darauf vertraut, dass es kein Wettrüsten zwischen West und Ost mehr geben wird. Auf beiden Seiten gab es vertrauensbildende Maßnahmen und eine glückliche Perspektive.

Dann wurde alles anders. Wir wurden um die Früchte der Friedenspolitik betrogen.

Die NATO wurde bis an die Grenze Russlands ausgedehnt. Deutlich imperialistische Züge bestimmten und bestimmen jetzt die Politik des Westens.

Von dieser grundlegenden Änderung, vom Betrug, wie ich das nenne, hat die deutsche Öffentlichkeit nicht viel wahrgenommen. Willy Wimmer hat mir davon berichtet, dass Helmut Kohl, der Bundeskanzler, anfangs der Neunzigerjahre des Öfteren besorgt aus den USA zurückkam und davon berichtete, dass man dort offensichtlich nicht mehr viel von den gemeinsamen Verabredungen hielt. Er hat miterlebt, wie Helmut Kohl sich Sorgen machte wegen der Neigung der USA, die Konfrontation neu aufzubauen und die NATO nach Osten auszudehnen.

Willy Wimmer hat dann später, 2000, in einem Brief an den dann amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder von den imperialen Absichten berichtet, die auf einer Konferenz in Bratislava, die vom American Enterprise Institute und vom State Department gemeinsam ausgerichtet war, spürbar wurden. Da ging es um die Ausdehnung des Machtbereichs des Westens in Richtung Russland.

Heute müssen wir feststellen, dass die westliche Politik grundlegend auf den Kopf gestellt worden ist: Wir führen Krieg, auch wir Deutschen haben den Krieg auf dem Balkan mitgemacht. Die westlichen Alliierten führen im Irak, in Libyen, in Syrien, in Afghanistan, an vielen Stellen Afrikas Krieg.

Der Westen maßt sich an zu entscheiden, wie Völker und von wem sie regiert werden sollen; der Westen verfolgt deshalb an vielen Stellen die Strategie des sogenannten Regime Change – das ist eine Zielsetzung und eine Strategie, die wahlweise alle Länder betreffen kann, deren Regierungen uns nicht genehm sind: Gaddafis Libyen, Assads Syrien, demnächst vielleicht Putins Russland.

Der Auftrag der Bundeswehr wurde verändert. Die Beschränkung auf Verteidigung beseitigt.

Das sind wirklich gravierende Veränderungen.

Mir waren an zwei Ereignissen anfangs der Neunzigerjahre Zweifel daran gekommen, ob die im Westen führenden Kräfte die Erfolge der Ost- und Vertragspolitik erhalten und genießen wollen:

  1. Ich war Abgeordneter des Deutschen Bundestages, als im Zuge der deutschen Einheit auch über die Rechte der Alliierten und insbesondere der USA in Deutschland beraten wurde. Ich wollte damals genau wissen, ob die uns bedrängenden Sonderrechte erhalten bleiben würden. Das betraf den militärischen Tiefflug, das betraf die Giftgaslager in der Pfalz und die sonstigen Einrichtungen der Alliierten wie hier in Kaiserslautern, in Landstuhl und in Ramstein. Die Tiefflugübungen waren eine Marter. Aber über die Fragwürdigkeit der Fortsetzung dieser Rechte der Alliierten wollte man mit uns Abgeordneten nicht beraten. Ich wurde damals von Bundestagskollegen, die als „links“ galten, bedrängt, ich solle doch meinen Widerstand aufgeben.
  2. Noch markanter war ein Erlebnis mit Rudolf Scharping. Er war 1991 in den Landtagswahlkampf mit der Parole gezogen, Rheinland-Pfalz wolle nicht weiter der „Flugzeugträger der USA in Europa“ sein. Dann wurde gewählt und Rudolf Scharping wurde Ministerpräsident. Er reiste in die USA und rühmte sich dann dessen, einen Lobbyisten für das Land Rheinland-Pfalz in Washington installiert zu haben. Ein guter Freund in den USA konnte darüber nur lächeln, denn da hatte offenbar ein deutscher Ministerpräsident verabredet, dass sein Land, Rheinland-Pfalz, den Lobbyisten der US-Regierung auch noch bezahlt. – Einige Zeit danach traf sich die SPD-Landesgruppe Rheinland-Pfalz/Saarland in der Saarländischen Landesvertretung in Bonn. Wir sprachen dabei auch über die weitere Ostpolitik und die Zusammenarbeit mit Russland. Des Ministerpräsidenten Rudolf Scharpings Äußerungen widersprachen dabei sowohl seinen Parolen im Wahlkampf, Rheinland-Pfalz solle nicht weiter der Flugzeugträger der USA in Europa sein, als auch dem, was kurz zuvor im Berliner Grundsatzprogramm vom 20.12.1989 beschlossen worden war: die Perspektive einer Beendigung beider Militärblöcke, auch der NATO. – Ich wollte von Rudolf Scharping wissen, ob denn das Berliner Programm für ihn nicht mehr gelte. Er antwortete mit einem klaren Nein. Das Wahlversprechen des Ministerpräsidenten-Kandidaten und späteren Ministerpräsidenten gilt nicht, Rheinland-Pfalz ist weiter der Flugzeugträger der USA in Europa. Die Bundesregierung und auch die rheinland-pfälzische Landesregierung haben sich den Interessen der USA gebeugt.

Es ist wahrscheinlich, dass im Umfeld der Verträge zur deutschen Einheit de facto die Vormachtstellung der USA über unsere Außen- und Sicherheitspolitik und vor allem die Nutzung deutschen Territoriums für Kriegshandlungen festgeschrieben worden ist. Aber dies kann nun wirklich kein Dauerzustand sein.

Wir sind um die Früchte der vergangenen Friedenspolitik betrogen worden. Das ist kein Zufall. Die ethische Grundeinstellung zum Umgang mit anderen Völkern, der Geist, der die Außen- und Sicherheitspolitik heute bestimmt ist ein diametral anderer als zu Beginn des Entspannungs- und Versöhnungspolitik.

In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt vom 28. Oktober 1969 heißt es:

„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.“

„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen!“

heißt es im oben zitierten Berliner Grundsatzprogramm der SPD.

In seiner Nobelpreisrede sagte Willy Brandt 1971:

Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen. Jede Außenpolitik muss dieser Einsicht dienen.“

Wir sind inzwischen meilenweit von solchen Einsichten entfernt. Von deutschem Boden geht Krieg aus. Von deutschem Boden aus wird der Einsatz von Drohnen vermittelt und gesteuert, um Menschen zu töten.

Und der Geist der Verantwortlichen hat sich völlig verändert:

„Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen“.

Das ist Originalton des amtierenden Bundespräsidenten Gauck.

Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen sind im Januar 2014 in München bei der Sicherheitskonferenz gemeinsam aufgetreten und haben mehr internationale Verantwortung gefordert und versprochen; damit war unmissverständlich mehr militärischer Einsatz gemeint.

Man muss sich darüber klar werden, wie verschieden der Geist ist,

  • der unser Zusammenleben in Zeiten des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt hatte und heute wieder prägt
  • und jener Geist, der die Zwischenzeit, die Zeit der Entspannungspolitik und der erfolgreichen Beendigung der Konfrontation in Europa geprägt hat.

Die eine Konzeption, die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit geht davon aus, dass man sich mit allen Völkern verständigen kann, dass man sich dann allerdings darum bemühen muss. Zu diesen Völkern, um die man sich bemüht hat, gehörte bis 1990 auch Russland.

Die andere Konzeption, die Konzeption der Aufteilung der Welt in Gut und Böse, geht davon aus, dass man dem Bösen drohen muss, dass man rüsten muss, dass man abschrecken muss.

Wenn wir uns die neue Konfrontation zwischen West und Ost in Europa anschauen, dann sollten wir einmal innehalten und uns dessen erinnern, wie es zwischen Deutschland und Frankreich aussah, und wie positiv sich das Verhältnis zwischen unseren Völkern entwickelt hat: Mein Großvater war noch erfüllt von Verachtung für „die Welschen“, wie man zu seiner Zeit in der Kurpfalz die Franzosen nannte. Noch 1950 hat er mir Illustrierte aus dem siebziger Krieg des 19. Jahrhunderts gezeigt, wo der Sieg über die Franzosen gefeiert wurde. Dieser Geist war glücklicherweise nicht maßgeblich für das, was dann passierte: die Verständigung mit Frankreich. Heute kämen zumindest einigermaßen vernünftige Menschen nicht mehr auf die Idee, das Feindbild der Franzosen neu aufzubauen, wie man das mit Russland und Putin tut. Es geht also, trotz aller Unterschiede zwischen den Völkern.

Über die Dringlichkeit der friedenspolitischen Debatte

Wir sind betrogen worden. Aber es bleibt uns nichts Anderes übrig, als weiter zu machen, weiter zu demonstrieren und zu debattieren und Menschen auf die Notwendigkeit des friedlichen Miteinander aufmerksam zu machen.

Das ist wichtig, denn wir sind inzwischen von Menschen und Medien umgeben, die am Krieg nichts außerordentlich Schlimmes finden, die Kriege zu führen als etwas Selbstverständliches betrachten:

Am 8.6. lief im Deutschlandfunk eine Diskussion unter dem TitelAmt und Würden“, moderiert von Stephan Detjen.

In dieser Diskussion sprach der ehemalige Chefredakteur des Rheinischen Merkur, Michael Rutz, davon, Bundespräsident Gauck habe uns vom „friedenspolitischen Mehltau befreit“.

Sie, liebe Freundinnen und Freunde, die Sie heute nach Kaiserslautern gekommen sind, um gegen die Nutzung Ramsteins für den Drohnen-Einsatz der USA zu protestieren, sind Bestandteil dieses Mehltaus.

Die Dringlichkeit der friedenspolitischen Aufklärung wird in einer solchen Äußerung sichtbar. Die Dringlichkeit wird darin sichtbar, dass Kriegstreiberei inzwischen hoffähig geworden ist. Im wahren Sinne des Wortes hoffähig. Der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck nutzt das Schloss Bellevue dazu, um Stimmung für Kriegseinsätze zu machen und damit auch Stimmung für das, was von hier aus, von Ramstein aus, an Vernichtung und an völkerrechtswidrigem Mord betrieben wird.

Die Kriegsgefahr ist größer geworden. Das will ich an zehn Punkten, an zehn Risiken für den Frieden, sichtbar machen:

  1. Der erste ist die erwähnte Feststellung, dass die Werbung für den militärischen Einsatz, dass Kriegstreiberei wieder hoffähig geworden ist. Der Bundespräsident, mehrere Bundesminister und Diskussionsteilnehmer im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie dem Deutschlandfunk bereiten den Boden. Kriege zu führen wird als selbstverständlicher Teil der Politik betrachtet.
  2. Es gibt unter den Menschen geringeren Widerstand gegen Kriege. Das hat viel damit zu tun, dass die meisten heute lebenden Menschen keine unmittelbare Kriegserfahrung mehr haben, nicht mehr haben können. Die Älteren unter Ihnen haben vermutlich Verwandte und Freunde verloren im letzten Krieg oder sie haben Kriegseinsätze unmittelbar erlebt. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, dessen Bahnhof ein Knotenpunkt auf einer Strecke zu einer V2 Produktion war. Wir waren ständig Angriffen von Jagdbombern ausgesetzt. Es gab Tote. In der Ferne haben wir am Nachthimmel Mannheim, Pforzheim, Heilbronn und Würzburg brennen sehen – auch ich als Sechsjähriger. Das prägt. Die Kriegserfahrung unserer heute Sechsjährigen ist eine ganz andere: eine elektronische beim Spiel, eine spannende, oft eine siegreiche. Das prägt auch.
  3. Kriege werden tatsächlich geführt. Die Scheu ist abhandengekommen. Bei Journalisten und Politikern und auch bei Militärs: „Die USA sind bereit, gegen Russland in Europa zu kämpfen und es zu besiegen“, erklärte der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), US-General Breedlove, in einer Anhörung des US-Repräsentantenhauses im Februar 2016.
  4. Die Regime Change-Absichten der USA sind höchst gefährlich, gerade wenn sie wie im Falle der Ukraine ein Land in der Nähe Russlands betreffen, oder Russland selbst.
  5. Überall wird an neuen Feindbildern gestrickt. Es wird personalisiert. Putin ist an allem schuld, in Syrien Assad.
  6. Und das Volk ist müde geworden. Das ist verständlich. Der skizzierte Betrug an uns und unseren Erwartungen und Leistungen zur Beendigung der Konflikte in Europa hat ja wohl bei der Mehrheit der Menschen den Eindruck hinterlassen, dass man eh nichts machen kann, dass die Politik von den Oberen bestimmt wird, dass die Rüstungswirtschaft Einfluss auf politische Entscheidungen hat und damit auch auf Kriege.
  7. Die USA sind weit weg. Die zitierte Äußerung des Generals der USA lautet ja nicht zufällig: „die USA sind bereit, gegen Russland in Europa zu kämpfen und es zu besiegen“. Wenn der General angedeutet hätte, dass dieser Krieg auch in den USA selbst geführt werden könnte, wäre er im Ausschuss des Repräsentantenhauses vermutlich nicht freundlich aufgenommen worden.
  8. Im heutigen Ost-West-Konflikt gibt es viele verschiedene Akteure und es gibt viele Gelegenheiten und Möglichkeiten, an denen sich Spannungen entzünden können. Die baltischen Staaten, die Ukraine, die Balkanstaaten, die Rüstungswirtschaft bei uns, in den USA, in Großbritannien, irgendwelche rechts konservativ denkenden Funktionäre – sie alle können die Ursache von kleinen und größer werdenden Konflikten werden.
  9. Es gibt russische Minderheiten in mehreren möglichen Konfliktregionen.
  10. Es ist nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich, dass sich auf mittlere Sicht innerhalb möglicher Kriegsparteien kriegslüsterne oder auch nur kriegsbereite Personen und Gruppen durchsetzen. Das kann in den USA passieren. Das kann in Dänemark, in Polen, in den baltischen Staaten oder sonst wo passieren. Und auch in Russland. So wie wir erfolgreich darauf setzen konnten, dass die Strategie des „Wandel durch Annäherung“ dazu führen könnte und wird, dass sich in Russland, in der Sowjetunion und im Warschauer Pakt Kräfte durchsetzen, die Konflikte friedlich lösen wollen und auf gemeinsame Sicherheit in Europa setzen, so kann umgekehrt die neue Konfrontation zu inneren Veränderungen in Russland führen, die uns dem heißen Konflikt näher bringen.

Mit der Beschreibung dieser zehn Risiken für den Frieden wollte ich nicht Angst machen. Ich wollte ein realistisches Bild von der veränderten Situation zeichnen.
Es gibt so viele verschiedene Spieler in den heutigen Auseinandersetzungen und die Wirklichkeit der Welt ist so stark von militärischen Aktionen geprägt, dass es ganz und gar nicht abwegig ist, die Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges für hoch zu halten.

Das ist die Botschaft, die ich ihnen vermitteln wollte. Mehr nicht. Und das sollte auch der Anstoß für Sie sein, sich zu engagieren und bei anderen Menschen dafür zu werben, dass sie sich in einer neuen großen Friedensbewegung zusammenfinden.

Unser Ziel ist klar: wir wollen in Europa gemeinsame Sicherheit. Auch mit Russland. Wir wollen die Zusammenarbeit und nicht die Konfrontation.
Wir wollen keine neuen Feinde und keine neuen Feindbilder. Und wir wollen auch nicht, dass von unserem Boden Krieg ausgeht; wir wollen nicht, dass Menschen in anderen Regionen der Welt von hier aus bedroht und getötet werden.

Wenn wir das zusammen mit den USA und anderen westlichen Mächten erreichen, dann ist das prima.

Die USA sind herzlich eingeladen. Auch die Nachbarstaaten Russlands in Osteuropa sind herzlich eingeladen, an dieser friedlichen Zusammenarbeit und am friedlichen Zusammenleben in Europa weiter mitzuwirken. So wie es 1989 und 1990 vereinbart worden ist.

Wenn den USA das nicht möglich ist, dann müssen wir nach Wegen suchen, unsere Beteiligung an Kriegen auf andere Weise zu beenden und wir müssen versuchen, gemeinsame Sicherheit in Europa unter einem begrenzten Teil von Teilnehmern zu organisieren. Das klingt kompliziert. Ich sehe aber nicht, dass wir notfalls eine andere Wahl haben.

Der erste Schritt wäre die Kündigung der Möglichkeit, Einrichtungen wie in Ramstein für den militärischen Einsatz in anderen Ländern zu nutzen.

Der zweite Schritt wäre die Befreiung aus der US-amerikanischen Vormundschaft.
D.h. konkret: Wenn die USA nicht bereit sind, sich auf die Verabredungen von 1989 und 1990 zu verständigen, wenn sie an einer gemeinsamen Sicherheit in Europa, die den Frieden mit Russland einschließt, nicht interessiert sind, dann sollten wir uns aus dem Bündnis, aus der NATO, zurückziehen und wir sollten vorher versuchen, so viele andere Nationen Europas wie möglich, für diesen Schritt zu gewinnen.

Ein solcher Schritt wendet sich nicht gegen das Volk der USA. Es wendet sich gegen eine bestimmte Politik. Er wendet sich gegen die inzwischen eingerissene Vorstellung, die USA seien das einzige Imperium und sie hätten das Recht und die Pflicht, andere Völker als Vasallen oder Mitstreiter zu betrachten.

Der Wandel des Verhältnisses zu den USA und der Wandel der Notwendigkeiten im Umgang mit den USA

Viele Deutsche sehen in den USA eine Nation und in den dortigen Menschen ein Volk, das uns sehr geholfen hat: mitgeholfen bei der Befreiung von den Nazis, geholfen bei der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kann dieses Bild hinterfragen, aber es hat viel Wahres an sich und außerdem empfinden es sehr viele Leute so. Nicht alle.

Viele Deutsche sehen in den USA jene, die uns vor den Sowjets und den Kommunisten geschützt haben. Auch wenn man das anders sehen kann, generell kann man wohl sagen, dass in den fünfziger und sechziger Jahren so etwas wie ein abschreckendes Gleichgewicht der Kräfte bestand. Damals waren wir von den USA geschützt, heute werden wir benutzt.

Heute könnte man und müsste man wohl deutliche Grenzen setzen und zum Beispiel zu sagen wagen:

Bei aller Freundschaft zu US-Amerikanern:

  • es geht nicht, uns als Nachschubbasen und Ausgangsort militärische Aktionen gegenüber anderen Völkern zu benutzen.

Bei aller Freundschaft,

  • wir wollen nicht weiter der Flugzeugträger und Kommunikationsplatz für Drohneneinsätze der USA sein.

Bei aller Freundschaft,

  • wir teilen nicht die Vorstellung, die Welt müsse von einem Imperium beherrscht werden, es muss möglich sein und wird möglich sein, dass alle Völker insgesamt friedlich miteinander umgehen.

Bei aller Freundschaft mit Amerika,

  • wir teilen nicht die Vorstellung, dass sich ein Volk, eine Nation, die Reichtümer eines anderes Landes aneignen kann. Was die USA und ihre Wirtschaft z.B. mit Russland in der Zeit von Präsident Jelzin getrieben haben, ist schlicht unanständig und nicht friedensfördernd.

Die USA sind ein interessantes Land. Die US-Amerikaner sind oft kreativ und menschenfreundlich. Ich habe als junger Mensch in Heidelberg, meiner Heimatstadt, eine Reihe von produktiven kulturellen Erfahrungen mit US-Bürgern gemacht. Im Jazzclub Cave 54, mit dem Amerika-Haus usw.

Es gibt überhaupt keinen Grund, ein schlechtes Verhältnis zu US-Amerikanern zu haben.

Aber es gibt einige Gründe, die USA als imperiale Macht nicht mehr zu akzeptieren.
Weil das gefährlich ist, weil der grundlegende Geist der Beherrschung und der Konfrontation einem friedlichen Zusammenleben der Menschen nicht guttut und im konkreten Fall Europas äußerst gefährlich wird.

Deshalb wird es die Hauptaufgabe der deutschen Politik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein, uns aus der Vormundschaft der USA zu lösen. Das ist eine Herkulesarbeit.

Unsere Sicherheit in Europa muss auf Zusammenarbeit und nicht auf Konfrontation und nicht auf Abschreckung beruhen.

Jochen

Deutschland hat den OSZE-Vorsitz: Wie im Kalten Krieg

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auszüge:
BERLIN/MOSKAU
(Eigener Bericht) – Mit der Übernahme des OSZE-Vorsitzes für das Jahr 2016 will Berlin den Ukraine-Konflikt besser unter Kontrolle bekommen und eine Phase erneuter Wirtschaftskooperation mit Russland einleiten. Dies geht aus dem deutschen Programm für den OSZE-Vorsitz hervor, das Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der vergangenen Woche offiziell vorgestellt hat.
Demnach soll insbesondere diejenige OSZE-Mission (SMM), die den Waffenstillstand in der Ostukraine überwacht, verlängert werden; darüber hinaus strebt Berlin im Rahmen der OSZE ökonomische Absprachen mit Moskau an. Dies entpricht Forderungen aus der deutschen Wirtschaft, die nach Möglichkeit ihr Russland-Geschäft wieder stärken will.
Dabei liefe eine neue Kooperation zwischen dem Westen und Moskau im Rahmen der OSZE nicht darauf hinaus, den aktuellen Konflikt beizulegen; sie würde ihn vielmehr auf eine andere Ebene heben – nach dem Modell der einstigen KSZE. Diese trug in den 1970er und 1980er Jahren, wie der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zum Jahreswechsel in Erinnerung gerufen hat, in hohem Maß dazu bei, im Kampf zwischen Ost und West den Sieg des Westens herbeizuführen.

Nützlich im Ukraine-Konflikt

Nach der formellen Übernahme des OSZE-Vorsitzes durch die Bundesrepublik am 1. Januar hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der vergangenen Woche das Berliner OSZE-Vorsitzprogramm für das Jahr 2016 offiziell vorgestellt. Demnach hat die Nutzung der OSZE zur Kontrolle des Ukraine-Konflikts, den der Westen gegenwärtig nicht gewinnen kann, vorrangige Bedeutung für Berlin. Der Konflikt ist letzten Endes sogar der Anlass dafür gewesen, dass die Bundesregierung am 1. Oktober 2014 beschloss, sich um den OSZE-Vorsitz zu bewerben.
Die OSZE trägt mit zwei „Missionen“ dazu bei, Berlins Bemühungen um eine Einhaltung der Bestimmungen von Minsk II voranzubringen. Die Special Monitoring Mission (SMM), die am 21. März 2014 eingesetzt wurde, überwacht mit etwa 660 Beobachtern aus 45 Staaten die Einhaltung des Waffenstillstands in der Ostukraine; die Observer Mission (OM), die die OSZE am 24. Juli 2014 initiierte, beobachtet zwei Grenzübergänge aus der Ostukraine nach Russland (Gukowo und Donezk), um etwaige russische Waffenlieferungen zu verhindern.
Steinmeier hat jetzt erklärt, er wolle sich für eine baldige Verlängerung zumindest des SMM-Mandats stark machen.[1]

Neue Gespräche mit Moskau

Zentrale Bedeutung wird in Berlin darüber hinaus der Option beigemessen, im Rahmen der OSZE wieder zu umfangreicheren Gesprächen mit Russland zu gelangen. Mit Blick darauf hatte die Bundesregierung bereits zum 1. Januar 2015 Gernot Erler (SPD) zu ihrem Sonderbeauftragten für den OSZE-Vorsitz ernannt. Erler ist ansonsten als „Koordinator“ der Regierung „für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Länder der Östlichen Partnerschaft“ tätig; der sperrige Titel wird gewöhnlich mit „Russland-Koordinator“ abgekürzt, was dem eigentlichen Zweck des Postens, die Zusammenarbeit mit Moskau auszubauen, durchaus nahekommt.
Erler hat zum Jahreswechsel darauf hingewiesen, dass zur Zeit keine institutionalisierten Verhandlungen mit Moskau mehr stattfinden: Die deutsch-russischen Regierungskonsultationen sind ebenso eingestellt worden wie die EU-Russland-Gipfel, die Treffen im G8-Format und der NATO-Russland-Rat. Das Programm des deutschen OSZE-Vorsitzes ist nun mit den Worten „Dialog erneuern“ betitelt worden; damit ist vor allem der Dialog mit Russland gemeint.[2]
Berlin macht sich mittlerweile Hoffnungen, auch in anderen Formaten bald wieder mit Moskau verhandeln zu können. Außenminister Steinmeier hat am Wochenende mitgeteilt, er habe „im letzten Nato-Rat versucht, den Nato-Russland-Rat wiederzubeleben“: „Es gab zwar ein wenig Gegrummel, aber viel mehr Zustimmung, als ich erwartet hatte.“ Er gehe jetzt davon aus, „dass wir in einiger Zeit das Angebot machen können, auf Botschafterebene in Brüssel in die Gespräche zurückzukehren“.[3]

Geschäfte bis Wladiwostok

Hintergrund für die Bemühungen, wieder zu einem modus vivendi und zu Gesprächen mit Russland zu gelangen, ist vor allem Druck aus den ostorientierten Kreisen der deutschen Wirtschaft.
„Die deutschen Exporte dürften 2015 auf etwa die Hälfte des Niveaus von 2012 geschrumpft sein“, hält der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft in einer aktuellen Pressemitteilung fest: Deutsche Unternehmen erlitten „teils erhebliche Umsatz- und Gewinneinbußen auf dem russischen Markt“.[4]
Ende letzten Jahres hatte der scheidende Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Eckhard Cordes, zum wiederholten Male gefordert, das müsse sich ändern; es gelte, „über den Einstieg in den Ausstieg“ aus den Russland-Sanktionen „nachzudenken“.[5]
Wenngleich das US-Geschäft für die deutsche Wirtschaft ungleich größere Bedeutung besitzt als ihr Handel mit und ihre Investitionen in Russland (german-foreign-policy.com berichtete [6]), verzichten deutsche Unternehmen dennoch nicht freiwillig auf die Ost-Option. Eine Annäherung zwischen Russland und dem Westen im OSZE-Rahmen böte die Chance zur Aufhebung der Sanktionen und zu einer Verbesserung des Geschäfts.
Darüber hinaus kündigt die Bundesregierung an, den OSZE-Vorsitz auch zu nutzen, um „Impulse für mehr wirtschaftlichen Austausch im OSZE-Raum“ selbst zu setzen und dadurch „bessere wirtschaftliche … Rahmenbedingungen“ zu schaffen. Dazu werde man eigens eine OSZE-„Wirtschaftskonferenz“ abhalten, heißt es.[7]
Der Berliner Sonderbeauftragte für den OSZE-Vorsitz, Erler, bringt die „Idee einer Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok“ ins Spiel.[8]

„Mit Russland umgehen“

Weichen für eine Wiederaufnahme der deutsch-russischen Kooperation werden mittlerweile auch über die Medien gestellt. In der vergangenen Woche veröffentlichte Springers Boulevard-Flaggschiff „Bild“ in zwei Teilen ein ungewöhnlich ausführliches Interview mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Zur Begründung hieß es: „Viele der internationalen Krisen, die uns gegenwärtig den Atem rauben, werden ohne Russland nicht zu lösen sein“; „Europa und die USA werden damit umzugehen haben.“[9]
Putin wurde mehrfach mit der Aussage zitiert, Moskau habe keinerlei Einwände gegen eine erneute Zusammenarbeit mit dem Westen. „Russland ist jederzeit bereit, wieder an G-8-Treffen teilzunehmen“, erklärte der russische Präsident: „Russland würde gern wieder mit der Nato zusammenarbeiten, Gründe und Gelegenheiten gäbe es genug.“

Ins Gegenteil verkehrt

Dass eine neue, womöglich durch die OSZE vermittelte Kooperation zwischen dem Westen und Russland den zuletzt offen aufgebrochenen Grundkonflikt zwischen beiden Seiten nicht kitten, sondern nur auf eine andere Ebene verlagern würde, darauf deuten Äußerungen des ehemaligen Bonner Außenministers Hans-Dietrich Genscher hin. Genscher hat zum Jahreswechsel in Erinnerung gerufen, dass die sozialistischen Staaten Osteuropas sich in den 1960er und 1970er Jahren für die damalige KSZE eingesetzt hatten, um „eine Bestätigung des Status Quo“ zu erreichen. Dem Westen sei es jedoch gelungen, den KSZE-Gedanken „aufzugreifen und inhaltlich so zu verändern, dass die Schlussakte von Helsinki 1975 das genaue Gegenteil bewirkte und einen dynamischen Prozess der Veränderung in Gang setzte“. Die Schlussakte habe „wirtschaftliche[n] Austausch und humanitäre Standards“ festgelegt, erläuterte Genscher; seitdem sei „Kritik an den menschenrechtlichen Zuständen im Ostblock möglich“ gewesen, „ohne dass dies als eine Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen werden konnte“.[10]
„Der KSZE-Prozess war keine Plauderei, sondern ein ganz wesentliches Element zur Überwindung … des Ost-West-Konflikts„, hielt der Ex-Außenminister mit Blick auf die durch ihn geschaffenen Möglichkeiten zur Einmischung in die Innenpolitik der sozialistischen Staaten fest, um sich klar für eine Neuauflage des Konzepts auszusprechen.

Die „Überwindung“ des Konflikts zwischen West und Ost bestand im vollständigen Sieg des Westens über den kollabierenden Osten.


Mehr zum Thema:

Krieg mit anderen Mitteln, Krieg mit anderen Mitteln (II), Sieg im zweiten Kalten Krieg und Wie im Kalten Krieg.

[1] Antrittsrede von Außenminister Steinmeier vor dem Ständigen Rat der OSZE zur Übernahme des OSZE-Vorsitzes. 14.01.2016.
[2] Dialog erneuern, Vertrauen neu aufbauen, Sicherheit wieder herstellen. Schwerpunkte des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016. Auswärtiges Amt, Arbeitsstab OSZE-Vorsitz, Januar 2016.
[3] „Das Problem ist größer als die Querelen in CDU und CSU“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.01.2016.
[4] Ost-Ausschuss befragt wieder deutsche Unternehmen im Russland-Geschäft. www.ost-ausschuss.de 11.01.2016.
[5] Marc Beise, Karl-Heinz Büschemann: „Russland nicht in die Enge drängen“. www.sueddeutsche.de 28.12.2015.
[6] S. dazu Billionenschwere Allzeitrekorde.
[7] Dialog erneuern, Vertrauen neu aufbauen, Sicherheit wieder herstellen. Schwerpunkte des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016. Auswärtiges Amt, Arbeitsstab OSZE-Vorsitz, Januar 2016.
[8] Claudia von Salzen: Neue alte Ostpolitik. www.tagesspiegel.de 12.01.2016.
[9] „Wir wollen keine Supermacht sein“. www.bild.de 12.01.2016.
[10] Thorsten Jungholt: „Welche Telefonnummer hat Amerika?“ www.welt.de 31.12.2015.

Jochen