Sahra Wagenknecht : „Viele Menschen wenden sich von der Linken ab“ – „Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zwei Aktuelle Interviews:

A. in der Saarbrücker Zeitung:

Sahra_Wagenknecht2017Viele Menschen wenden sich von der Linken ab

https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/inland/sahra-wagenknecht-viele-menschen-wenden-sich-von-der-linken-ab_aid-55800557
Auszüge:

Die ehemalige Linke-Fraktionschefin im Bundestag beklagt mangelndes Gespür ihrer Partei für Sorgen der unteren Mittelschicht.
Ein möglicher Regierungswechsel im Bund unter Einschluss der Linken hängt nach Überzeugung ihrer ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht von den Parteien im linken Spektrum selbst ab und nicht von der Personalaufstellung der Union.

Von Stefan Vetter

Frau Wagenknecht, sind die Chancen für eine künftige Bundesregierung ohne Unions-Beteiligung mit der Wahl Armin Laschets zum CDU-Chef besser oder schlechter geworden?

WAGENKNECHT Andere Mehrheiten hängen in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der linken Parteien und ihrer Kandidaten ab und nicht davon, wer an der Spitze der CDU steht.
Die SPD hat leider die Chance verpasst, jemanden aufzustellen, der überzeugend für mehr sozialen Ausgleich und eine neue Politik werben kann.
Olaf Scholz steht für die Agenda 2020 und die große Koalition, und dadurch eben nicht für höhere Löhne, bessere Renten und einen starken Sozialstaat.

Wäre Ihnen ein CDU-Chef Friedrich Merz lieber gewesen?

WAGENKNECHT Nein. Wenn ein Lobbyist der US-Finanzwirtschaft die Chance auf das Kanzleramt bekommen hätte, wäre das natürlich nicht gut gewesen.

In den aktuellen Umfragen dümpelt die Linke nur zwischen sieben und neun Prozent. Das ist weniger als bei der letzten Bundestagswahl. Woran liegt das?

WAGENKNECHT Einerseits ist es natürlich so, dass die Regierungsparteien, vor allem die Union, in der Corona-Krise deutlich zugelegt haben. Das hat mit Ängsten zu tun und mit der Omnipräsenz der Regierungspolitiker.

armut auf rekordniveau

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Andererseits muss es uns zu denken geben, dass die Linke in der politischen Debatte kaum noch vorkommt und sich gerade die Menschen von uns abwenden, für die die Linke in erster Linie da sein sollte: Menschen in schlecht bezahlten Berufen oder solche, die jetzt um ihren Arbeitsplatz bangen.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

WAGENKNECHT Das hat mit der Ansprache zu tun und mit der Themenwahl. Das ist das Problem der linken Parteien in ganz Europa.
Sie sind immer stärker zu Parteien der Bessergebildeten und auch der Besserverdienenden geworden.

Wie meinen Sie das?

WAGENKNECHT Ich nenne ein aktuelles Beispiel: In Berlin hat der rot-rot-grüne Senat jetzt beschlossen, dass es eine Migrantenquote von 35 Prozent im öffentlichen Dienst geben soll.
Das geht an den Problemen der meisten Menschen, auch der ärmeren Migranten, völlig vorbei.
Wenn man wirklich etwas für mehr Chancengleichheit tun wollte, müsste man sehr viel mehr Geld in die Schulen der ärmeren Wohnbezirke investieren und sich darum kümmern, dass der Anteil nicht-deutsch sprechender Kinder in keiner Schule 15 Prozent übersteigt.
Stattdessen zu verlangen, dass man für eine Bewerbung im öffentlichen Dienst künftig seine Abstammung nachweisen soll, ist fragwürdig.

Parteichefin Katja Kipping hat erklärt, dass eine sozial-ökologische Wende nur mit einer starken Linken möglich sei. Soll sich die Linke künftig mehr um den Klimaschutz kümmern?

WAGENKNECHT Auch das ist ein Thema, bei dem es entscheidend auf das Wie ankommt. Wer den Grünen nachläuft, die es für verantwortungsvolle Klimapolitik halten, Sprit, Heizöl und Strom zu verteuern, aber E-Porsches und Teslas staatlich zu subventionieren, muss sich nicht wundern, wenn sich Geringverdiener und die untere Mittelschicht abwenden.
Da wird der Verweis aufs Klima eher zum Alibi für eine Umverteilung von unten nach oben.

Das alles klingt nicht gerade so, als ob Sie einen rot-rot-grünen Regierungswechsel nach der nächsten Bundestagswahl für realistisch halten.

WAGENKNECHT Wenn man sich Umfragen anschaut, dann wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung mehr soziale Gerechtigkeit.
Sie wünscht sich, dass die Corona-Schulden von den wirklich Reichen und nicht vom Normalbürger bezahlt werden.
Es wäre ein großes Versagen von SPD und Linken, wenn es trotzdem am Ende Schwarz-Grün gibt und alles Wer meitergeht wie bisher.

B: Auf Watson:

„Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen“

https://www.watson.de/!709255752
Auszüge:

Die Linken-Politikerin spricht im watson-Interview über das Erbe der Ära Merkel, ihren Blick auf Fridays for Future – und darüber, warum diskriminierte Minderheiten aus ihrer Sicht wenig von Diversity und Frauenquoten haben.

Sebastian Heinrich

Im November 2019 lag Sahra Wagenknecht vor Angela Merkel. Ein paar Wochen, bevor die Welt zum ersten Mal von einem neuartigen Coronavirus hörte, war sie zumindest laut einer Umfrage des Instituts Insa Deutschlands beliebteste Politikerin, vor der Bundeskanzlerin. Wagenknecht ist seit fast drei Jahrzehnten auf der politischen Bühne: erst als Vertreterin der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS, einer Vorgängerpartei der Linken, später als Vizechefin der Linkspartei und als Fraktionschefin der Partei im Bundestag. Heute ist sie einfache Bundestagsabgeordnete, aber sie bleibt eine der kontroversesten Linken inDeutschland. Und eine der beliebtesten.

Watson hat mit Sahra Wagenknecht gesprochen. Über das Ende der Ära Merkel und über den neuen CDU-Vorsitzenden. Wagenknecht erklärt, warum sie die Klimaschutzbewegung bisher für ein Elitenprojekt hält – und weshalb sie zu ihrer Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik steht. Und sie fordert, jungen Menschen in der Corona-Krise stärker unter die Arme zu greifen.

watson: Frau Wagenknecht, 2021 geht mit der Kanzlerschaft Angela Merkels nach 16 Jahren eine Ära zu Ende. Wer heute 20 ist, erinnert sich an keine andere Bundeskanzlerin. Wie hat sich Deutschland seit 2005 verändert?

Sahra Wagenknecht: Deutschland ist noch tiefer gespalten, sozial und kulturell. Eine rechte Partei, die es vor Merkel gar nicht gab, ist heute stärkste Oppositionspartei im Bundestag. Und in der Corona-Krise haben sich die Probleme weiter verschärft: Diejenigen, die schon vorher wenig hatten, haben durch die Maßnahmen besonders viel verloren. Auf der anderen Seite ist die Zahl und der Reichtum der Milliardäre weiter gewachsen.

Angela Merkel ist aber nach wie vor in Deutschland enorm beliebt. Weltweit gilt sie als eine Art feministische Ikone. Gibt es auch etwas, das Ihnen an der Kanzlerin gefällt?

Sie macht zumindest nicht den Eindruck, dass sie am Tag nach ihrer Kanzlerschaft in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechseln würde. Sie wirkt persönlich bescheiden. Trotzdem hat sie mit ihrer Politik vor allem einflussreiche wirtschaftliche Interessengruppen bedient.​

coins-currency-investment-insurance-128867.jpegWen meinen Sie damit konkret?

Das aktuellste Beispiel sind die Corona-Hilfen. Kleine Selbstständige und Gewerbetreibende wurden weitgehend im Stich gelassen. Solo-Selbstständige, Freiberufler und Künstler, die seit Monaten nicht mehr arbeiten dürfen, bekommen bis heute keine echte Unterstützung, sondern werden auf Hartz IV verwiesen. Zugleich hat man großen Unternehmen viel Steuergeld hinterhergeworfen, obwohl sie gleichzeitig hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausgezahlt haben.

Sie kritisieren auch die Kurzarbeit. Die hat aber wohl Millionen Menschen vor der Arbeitslosigkeit bewahrt…

Ja, die Kurzarbeit ist sehr vernünftig, damit Beschäftigte ihren Job behalten, wenn das Unternehmen in Schwierigkeit gerät. Gerade im Niedriglohnbereich muss man das Kurzarbeitergeld allerdings aufstocken: Wer vorher in einem Restaurant gearbeitet hat, kann mit 60 oder 67 Prozent des Gehalts kaum überleben. Aber BMW oder VW, die 2020 hohe Dividenden ausgeschüttet haben, hätten mit dem Geld lieber ihre Beschäftigten weiter bezahlen sollen. Es ist fragwürdig, wenn solche Unternehmen Geld vom Staat bekommen.

Welchen Umgang mit der Coronakrise erwarten Sie nun vom frisch gewählten CDU-Chef Armin Laschet?

Armin Laschet hatte in dieser Frage bisher keine klare Linie. Aber letztlich wird die Corona-Politik ohnehin von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten gemacht. Armin Laschet wird da wohl auch in Zukunft keinen Widerspruch anmelden.

Im vergangenen Februar haben Sie in einem Interview gesagt, Friedrich Merz als Kanzler wäre für Deutschland „eine Katastrophe“. Wie erleichtert sind Sie, dass es anders gekommen ist?

Mit Friedrich Merz wäre ein offener Lobbyist der Finanzwirtschaft und des Vermögensverwalters Blackrock möglicherweise der nächste Kanzler Deutschlands geworden. Im Vergleich dazu ist Armin Laschet weniger problematisch. Aber natürlich hoffe ich, dass er die Union in die Opposition führen wird.

Wie blicken sie auf Fridays for Future, die 2019 in wenigen Monaten hunderttausende junger Menschen mobilisiert haben?

Der Klimawandel ist ein Menschheitsthema. Deshalb ist es wichtig, dass eine verantwortungsvolle Klimapolitik gesellschaftliche Akzeptanz findet. Indem große Teile der Klimabewegung sich auf die Forderung nach einer CO2-Steuer fokussiert haben, haben sie aber das Gegenteil erreicht. Wer Sprit, Strom und Öl verteuert, vertieft die soziale Spaltung, weil das die Ärmeren und die untere Mittelschicht besonders trifft, die einen größeren Anteil ihres Gehalts für Heizung, Strom und das Auto ausgeben müssen.

Das heißt, es benachteiligt die ländlichen Gebiete.

Klimapolitisch ist damit auch nichts gewonnen: Menschen im ländlichen Raum, wo kaum noch Züge und Busse fahren, werden weiter ihr Auto benutzen. Und in vielen ländlichen Gebieten gibt es auch keine Alternative zur Ölheizung.

Was wäre die bessere Lösung?

Wir sollten weniger darüber reden, wie wir konsumieren – und mehr darüber, dass wir anders produzieren müssen. Wir haben einen riesigen Verschleiß an Ressourcen dadurch, dass Unternehmen Produkte bewusst so konstruieren, dass sie nach Ablauf der Garantiefrist schnell kaputtgehen und sich nicht reparieren lassen. Das könnte man durch ordentliche Gesetze verhindern.

Das ist aber nur ein kleiner Teil des Problems.

So klein ist der nicht. Wir müssen außerdem über die Globalisierung reden: Die riesigen Containerschiffe, von denen vor Corona Jahr für Jahr mehr unterwegs waren, gehören zu den größten Dreckschleudern. Wer Menschen ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie ein altes Dieselauto fahren – und gleichzeitig immer neue Freihandelsabkommen abschließt, ist ein Heuchler. Denn diese Abkommen sorgen dafür, dass immer mehr Produkte, die man hier produzieren und anbauen könnte, aus tausenden Kilometer Entfernung hierher transportiert werden: mit extrem hohen Emissionen.

Fridays for Future selbst verbindet inzwischen den Kampf gegen die Klimakrise mit Kapitalismuskritik, mit der Forderung nach mehr globaler Gerechtigkeit. Was halten sie davon?

Das ist natürlich richtig. Kapitalismus bedeutet, dass nach dem Kriterium gewirtschaftet wird, aus Geld mehr Geld mehr Geld zu machen. Dafür muss man immer mehr und möglichst billig produzieren. Raubbau an der Natur und exzessives Wachstum gehören zur DNA dieser Wirtschaftsweise. Das lässt sich schwer vereinbaren mit Klimaschutz und einer gesunden Umwelt.

Ist Ihnen Fridays for Future durch diesen kapitalismuskritischen Spin sympathischer geworden?

Wenn sich junge Leute für eine andere Wirtschaftsordnung engagieren, ist mir das natürlich sympathisch. Aber Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen. Die meisten Jugendlichen kamen aus der gehobenen Mittelschicht. Heute haben Ärmere oft den Eindruck: Wenn die über Klima reden, dann steigen bei mir die Preise, dann wird mein Leben noch härter. Solche Ängste wurden von der Bewegung oft ziemlich kalt abgebügelt.

Ist das ein Vorwurf an die Jugendlichen in der Klimabewegung?

Den Jugendlichen werfe ich das nicht vor. Den Journalisten, die Fridays for Future unkritisch und euphorisch begleitet haben, dagegen schon. In der Klimadebatte wurde Klimaschutz überwiegend zu einer Frage des Lifestyles gemacht. Nach dem Motto: Wer sein Schnitzel bei Aldi kauft, wer einen Diesel statt eines teuren Elektroautos fährt, der macht sich schuldig. Das ist eine überhebliche Debatte, die der Akzeptanz des Klimathemas schadet.

Sie selbst haben 2018 versucht, mit „Aufstehen“ eine eigene politische Bewegung zu gründen. Sie waren damit aber deutlich weniger erfolgreich. Was hat Fridays for Future, was „Aufstehen“ nicht hat?

„Aufstehen“ hat ein ganz anderes Milieu angesprochen. Es ist schwer, die weniger wohlhabende Hälfte der Bevölkerung – Menschen, die nie die Chance hatten, ein Gymnasium oder eine Hochschule zu besuchen – auf die Straße zu bringen. Es wird überhaupt immer schwerer, diese Menschen politisch zu erreichen. Manche wählen aus Verzweiflung rechts, weil sie das Gefühl haben, alle anderen haben sie im Stich gelassen. An diese Menschen richtete sich „Aufstehen“. Und wir hatten ja immerhin in kurzer Zeit 170.000 Anmeldungen.

Woran hat es dann gehapert?

Viele wollten keine Bewegung, sondern eine neue Partei. Es gab da völlig gegensätzliche Erwartungen. Übrigens gibt es „Aufstehen“ auch heute noch. Die Bewegung wird gerade von couragierten jungen Leuten wieder aufgebaut. Siehe hier: https://aufstehen-basis.de/

Ein erklärtes Ziel von „Aufstehen“ war es ja, die politische Linke in Deutschland zusammenzuführen. Wenn man mit jungen linken Menschen in Deutschland spricht, bekommt man aber den Eindruck, dass viele davon ein Problem mit Ihnen persönlich haben, vor allem wegen ihrer Aussagen zur Flüchtlingspolitik. Wie sehr stört Sie das?

Die Rückmeldung hängt vermutlich davon ab, mit wem Sie reden. Also wenn ich an Universitäten aufgetreten bin, hatte ich immer übervolle Hörsäle. Ich habe im letzten Jahr einen eigenen Youtube-Kanal aufgebaut und mittlerweile haben meine Videos hunderttausende Clicks. Auch die dürften eher selten von Usern über 60 kommen. Es gibt Leute, die meinen, dass jeder, der hohe Zuwanderung kritisiert, ein halber Nazi ist. Meist sind das Leute, die in Wohnvierteln leben, wo die Flüchtlinge gar nicht hinkommen, und die auch keine Gefahr laufen, mit ihnen beruflich in Konkurrenz zu treten. Für mich ist ein solches Herangehen nicht links. Es hat dazu beigetragen, dass die linken Parteien heute von Geringverdienern und Nicht-Akademikern kaum noch gewählt werden.

Vielen der Millionen Menschen, die sich nach 2015 für Flüchtlinge engagiert haben, haben Sie mit Ihren Äußerungen aber wohl den Eindruck gegeben: Sahra Wagenknecht findet, dass diese Menschen gar nicht hier sein sollten.

Ich finde, dass Hilfe vor Ort unendlich viel wichtiger ist. Jeder Euro, der vor Ort ausgegeben wird, hilft hundert Mal so vielen Menschen. Die am meisten Bedürftigen schaffen es nie nach Europa. Wir haben dramatische Zustände in Lagern im Libanon. In Kenia gibt es ein riesiges Flüchtlingslager, auch in Jordanien. Da leben Menschen oft schon in der zweiten oder dritten Generation wie in einem Gefängnis: ohne jede Hoffnung und Perspektive. Die UN-Organisationen, die sich um sie kümmern, haben viel zu wenig Geld. Islamistische Terrorgruppen rekrutieren dort ihre Anhänger. Das wird hier in Deutschland alles ausgeblendet

Inwiefern?

Uns interessieren Flüchtlinge erst, wenn sie in Europa sind. Aber es sind die Bessergestellten, die das Geld für die Schlepper aufbringen können. Und es sind übrigens auch die Bessergebildeten, deren Qualifikationen in ihrer Heimat dann schmerzlich fehlen. Wenn man über Flüchtlinge redet, muss man auch über Kriege reden.

Was meinen Sie damit?

Es ist doch kein Zufall, dass die meisten Flüchtlinge, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, aus drei Ländern stammen: Syrien, Irak und Afghanistan. Drei Länder, in denen westliche Staaten ihre Kriege geführt und Kriegsparteien hochgerüstet haben. Und dann fühlen wir uns superedel, wenn wir von den vielen Millionen Menschen, die durch diese Kriege alles verloren haben, einige hier aufnehmen. Wir sollten lieber die Kriegseinsätze beenden und den Wiederaufbau vor Ort unterstützen.

Kriege und Rüstungsexporte kritisieren auch viele andere Menschen. Aber ein Vorwurf, der seit Ihren Äußerungen zur Flüchtlingspolitik immer wieder zu hören ist: Sie vertreten ähnliche Positionen wie die AfD.

Das ist ein besonders dummer Vorwurf. Mich interessiert, was richtig ist, und nicht, was die AfD sagt. Wenn es schneit und die AfD sagt, es schneit, werde ich auch in Zukunft nicht behaupten, dass die Sonne scheint.

Naja, aber wenn Sie nach den Übergriffen während der Kölner Silvesternacht und nach dem Terroranschlag von Berlin genauso wie AfD-Politiker Angela Merkel eine Mitschuld geben, dann finden das eben viele Menschen problematisch.

Und ich finde diese Art der Debatte problematisch. Wenn man Dinge von mir falsch findet, soll man das inhaltlich begründen, nicht damit, mich in eine schräge Nähe zur AfD zu rücken.

Was ist aus Ihrer Sicht die bessere Alternative für die Linke, um der teilweise offen rassistischen Rhetorik der AfD zu begegnen?

Sinnvolle Konzepte vorzulegen, statt die realen Probleme wegzureden. Es lässt sich doch nicht leugnen, dass Zuwanderer für Lohndrückerei missbraucht werden. Und natürlich gibt es auch Konkurrenz um Sozialwohnungen und generell um bezahlbaren Wohnraum. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Recht auf Asyl für Verfolgte unterstützt, aber ebenso für eine Begrenzung der Zuwanderung plädiert. Wer diese Menschen moralisch diffamiert und als Rassisten beschimpft, treibt sie nach rechts.

Corona wird auch 2020 noch lange bestimmen. Viele junge Menschen hat das Coronavirus zwar gesundheitlich nicht so oft getroffen – aber die Coronakrise dafür besonders heftig: Auszubildende, die Angst um ihre Zukunft haben, Studenten, die ihre Nebenjobs verlieren. Was müsste für junge Menschen jetzt am dringendsten getan werden?

Zum einen ist dramatisch, was jetzt an den Schulen passiert. Gerade Kinder aus ärmeren Familien leiden darunter, dass sie nicht mehr in die Klassen dürfen. Home-Schooling funktioniert eben nur, wenn Mama oder Papa entsprechende Unterstützung leisten. Wir brauchen Präsenzunterricht in kleinen Klassen und ordentliche Luftfilter in den Räumen. Im Gegenzug sollte man lieber Unternehmen verpflichten, alle Beschäftigten, bei denen das möglich ist, von zuhause arbeiten zu lassen.

Was ist mit den Studenten?

Studenten, die ihre Nebenjobs verloren haben, brauchen einen Corona-Bonus auf das BAföG, den sie nicht zurückzahlen müssen. Helfen würde auch mehr Unterstützung bei Mietzahlungen, gerade in Städten, wo selbst ein WG-Zimmer richtig teuer ist.

Mehrere Studien zeigen, dass junge Menschen psychisch besonders stark leiden unter der Isolation, den fehlenden sozialen Kontakten. Was soll aus Ihrer Sicht dagegen getan werden?

Man muss versuchen, Präsenzunterricht und Kontakte zuzulassen, wo immer es geht. Klar, unter Einhaltung der Abstandsregeln. Bei Kindern gibt es aus verschiedenen Ländern Studien, dass das Infektionsrisiko deutlich niedriger ist als bei Erwachsenen. Alle Schulen dichtzumachen, nur weil Kinder keine starke Lobby haben, ist eine fragwürdige Strategie. Zumal Kinder und Jugendliche selbst durch Corona kaum gefährdet sind. Die einzige Gefahr ist, dass sie das Virus an Risikogruppen weitergeben.

Wenige Monate vor der Bundestagswahl kommt ihre Partei, die Linke, kaum vom Fleck: In Umfragen pendeln sie zwischen sieben und zehn Prozent, Tendenz momentan eher fallend. Woran liegt das?

Wir sind mehr und mehr zu einer Akademikerpartei geworden, wie viele andere linke Parteien in Europa auch. Der Ökonom Thomas Piketty hat das in seinem jüngsten Buch mit Zahlen belegt. Unsere Parteiführung hat eine Themensetzung und Sprache, die sich vor allem an Studierende und akademisch Gebildete in den Großstädten richtet. Linke Parteien sind aber eigentlich dafür da, sich für die Benachteiligten einzusetzen: für die Menschen, die in harten und in der Regel wenig inspirierenden Jobs arbeiten, die um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen, so sie überhaupt welchen haben.

Das heißt, Sie wollen keine Akademiker mehr ansprechen?

Ich freue mich über jeden Gutverdiener, der uns aus sozialen Gründen wählt – aber wir sollten vor allem für die da sein, die sonst gar keine Lobby haben.

Ihre Hauptkritik an den Linken ist seit Längerem, kurz gesagt: Sie kümmere sich zu sehr um Gendersternchen und Klimaschutz – und zu wenig um Arbeitsbedingungen von Menschen mit niedrigen Löhnen und in prekären Bedingungen. Aber ist diese strikte Trennung überhaupt sinnvoll? Auch und gerade Menschen mit wenig Geld werden wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert und bedroht, die Klimakatastrophe betrifft gerade die Ärmsten besonders stark…

Die Frage ist ja nicht, ob man über Klimaschutz und Gleichberechtigung redet, sondern wie. Wenn man Klimapolitik zur Lifestyle-Frage macht und vieles verteuern will, dann muss man sich nicht wundern, dass sich die abwenden, für die das Leben schon in den letzten Jahren immer schwerer geworden ist. Und bei dem identitätspolitischen Rummel um Quoten und Diversity geht es immer nur um bessere Chancen für bereits Privilegierte. Ärmere Frauen oder Einwandererkinder haben heute viel weniger Perspektiven als vor 30 Jahren, die ganze Identitätspolitik nützt ihnen nichts.

Warum nicht?

Wo reden wir denn über Diversity oder über Frauenquoten? Nicht bei Pizzaauslieferern oder Reinigungskräften, da ist das alles sowieso übererfüllt, sondern bei Vorstandsposten in Unternehmen, bei gehobenen Stellen in der Verwaltung oder in den Medien. Um diese Posten konkurrieren Leute aus der gehobenen Mittelschicht. Damit Ärmere endlich wieder echte Aufstiegsmöglichkeiten haben, braucht es ganz andere Hebel.

Welche sind das Ihrer Meinung nach?

Bessere Bildung, höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze, einen guten Sozialstaat. Das würde allen aus ärmeren Familien helfen, ganz gleich, ob sie zur Minderheit oder Mehrheit gehören. Das konstruierte Gegeneinander von Minderheit und Mehrheit zerstört sowieso nur die gegenseitige Solidarität.

Wie viel werden Sie persönlich zum Bundestagswahlkampf beitragen? Sie gehen ja selbst offen damit um, dass sie stark mit großen Teilen ihrer Partei fremdeln. Aber andererseits sind Sie eine der bekanntesten und beliebtesten Politikerinnen Deutschlands.

Ich bin Mitglied der Bundestagsfraktion und wenn der NRW-Landesverband das möchte, werde ich wieder über die NRW-Landesliste kandidieren. Ich fremdele ja nicht mit der ganzen Partei, sondern ich kritisiere Dinge, die meiner Überzeugung nach falsch laufen – und mit denen wir Wähler verlieren.

Sie werden also auf jeden Fall wieder für den Bundestag kandidieren? Sie hatten bisher immer gesagt, dass sie das von der Unterstützung ihres Landesverbands abhängig machen.

Nicht auf jeden Fall. Nur, wenn der NRW-Landesverband das möchte und unterstützt.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

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Jochen

Eine linke Perspektive auf den Umgang mit Corona und Quarantäne

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hierzu die Falken Nürnberg – Eine Einschätzung, der ich mich überwiegend anschließen kann:
http://www.falken-nuernberg.de/?p=2643
Auszüge – Hevorhebungen von mir:

Weder #staythefuckhome noch #fuckstayinghome

Es gibt ein grundlegendes Problem in unserem Gesundheitssystem.
Es ist spätestens nach der Einführung der Fallpauschalenvergütung nicht mehr dafür da, möglichst viele Menschen optimal zu versorgen und freie Kapazitäten für Unerwartetes vorzuhalten.
Vergütet wird nur nach erbrachten Leistungen (z.B. OP’s), das ist, als würde die Feuerwehr nur bei gelöschtem Brand bezahlt werden.
Das zwingt Krankenhäuser dazu ihre Kapazitäten voll auszulasten. Extrabetten, genug Personal und Material für den Krisenfall wird damit betriebswirtschaftlich absurd.
Diese falsche Logik treibt das Personal bewusst schon in den Nicht-Krisenzeiten über ihre Belastungsgrenze und spart auch an wichtigen Punkten der Patientenversorgung.

Der Markt regelt, dass unser Gesundheitssystem kaputt gespart ist, weil es nach Kriterien der Effizienz funktionieren soll und nicht nach den menschlichen Bedürfnissen.
Das ist außerdem das konkrete Ergebnis der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte durch SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP.
Die AfD als marktradikale Partei der Bonzen wird genau diese Politik verschärfen.
Noch vor einigen Monaten kursierte der neoliberale Vorschlag der Bertelsmann-Stiftung von notwendigen flächenendeckenden Krankenhausschließungen wegen angeblicher Überkapazitäten. Jetzt rühmt sich der Gesundheitsminister für die große Bettenanzahl.
Doch Betten und Beatmungsmaschinen alleine versorgen noch keine Menschen! Und auch ein bisschen Merci-Schokolade und Heldenrhetorik wird den Pflegenden und anderem Krankenhausmitarbeitenden wie Reinigungskräften nicht gerecht. Es muss sich endlich auch im Gehalt zeigen.
Das Alles ist notwendige Konsequenz, wenn Gesellschaft nach kapitalistischen Maßstäben organisiert wird. Wir fragen uns: Wann ist denn ein Krankenhaus zu teuer?
Wieviel Menschen ohne medizinische Versorgung sind denn in Ordnung? Was kostet ein Menschenleben?

Die Reaktion der Behörden auf die Pandemie ist verräterisch. Schulen, KiTas, Unis, Kultur- und Musikveranstaltungen, Demonstrationen, Spielplätze etc. werden als Erstes geschlossen, während die Fabriken, Büros und Call-Center erstmal munter weiterlaufen.
Alles Politische, Soziale, Kulturelle soll in den Standby-Modus übergehen, aber die Mehrwertproduktion soll weiterbrummen, der Profit der Kapitalisten möglichst wenig gefährdet werden.
Die Schließung eines Werkes kommt erst dann in Frage, wenn sich bereits Arbeiter*innen mit Covid-19 infiziert haben (siehe bspw. Opel Rüsselsheim) und dies erst auf den Druck der Gewerkschaften hin.
Von staatlicher Seite aus, kam nach unseren Kenntnissen kein ernsthaftes Drängen auf die Schließung, sondern nur Homeoffice-Apelle, die in vielen Bereichen nicht greifen können.
Der Großteil der Betriebe läuft somit weiter vor sich hin. Dieser Staat ist der Staat der Kapitalisten und er setzt seine Prioritäten eindeutig.
Es geht eben nicht um eine solidarische und bedürfnisorientierte Produktion und Verteilung von Gütern, sondern um das Bestehen in der weltweiten Konkurrenz – selbst im Gesundheitskrisenfall.

Wie selbstverständlich wird – wie schon vor Corona – die Care-Arbeit (Kinderbetreuung, Kochen, Pflege, etc.) ins Private, also auch ins unbezahlte gedrängt.
Es sind vorrangig Frauen, die diese wichtige Arbeit ohne Anerkennung und Lohn erledigen. Diese Problematik wird sich durch eine womöglich kommende flächendeckende Quarantäne noch verschärfen.
Und nicht nur das: die Gewalt gegen Frauen und Kinder wird drastisch zunehmen, wenn diese mit ihren Männern und Vätern zu Hause eingesperrt sind, wenn die öffentlichen Plätze und Räume geschlossen werden. Das Private ist nicht nur politisch, sondern oft auch die tägliche Hölle.

Nicht zu vergessen ist, dass wer schon vor der Krise nicht viel Geld hatte, auch jetzt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit schlimmer von den Einschränkungen betroffen ist als manch Andere.
In einer großen Wohnung lässt es sich leichter ausharren als in einer vollen und kleinen. Wer einen privaten Garten hat, kann seine Kinder leichter ohne Spielplatz beschäftigen.
Wer nicht aufs Geld schauen muss beim Einkaufen, kann den Ausverkauf der Billigmarkennudeln leichter auf die leichte Schulter nehmen. Wer ein Auto hat, ist nicht auf sozialen Kontakt in Öffis angewiesen.

Für die geflohenen Menschen, die mit Gewalt an einem sichereren Leben gehindert werden und die in Lagern und Zentren eingesperrt werden, ist die Pandemie verheerend. Eine Ausbreitung des Virus unter diesen Umständen ist sehr wahrscheinlich und die Verantwortung dafür trägt die EU-Politik der Abschottung und Ausgrenzung. In den Lagern herrschen katastrophale hygienische Bedingungen: Menschen werden eingepfercht und festgehalten, Waschmöglichkeiten sind rar und grundlegende Hygieneartikel sowieso.
Dies ist der perfekte Nährboden für eine Ansteckung mit Covid-19. Weniger drastisch, aber ebenfalls prekär verhält es sich in den Abschiebeknästen und den Ankerzentren.

Zugleich liegt alle Medienaufmerksamkeit ausschließlich auf dem Virus- fast nie jedoch in Verbindung mit den Bedingungen für geflüchtete Menschen.*)
So geht völlig unter, dass diese Menschen, mitten im Corona-Chaos nach wie vor von Faschisten, türkischen und europäischen Grenzsoldaten und Polizisten abgewiesen, zurückgedrängt, gejagt und angezündet werden.

Angesichts der Krise kursieren derzeit vor Allem zwei ideologische Antworten, die wir beide für falsch oder unzureichend halten.
Die einen relativieren Corona und sagen: „Ist ja nur Panikmache. Ist ja nur wie eine normale Grippe. Trifft ja nur Alte und Vorerkrankte“. Die Menschen, die das sagen, sind vielleicht vielfach einfach nur froh, selbst nicht zu dieser Gruppe zu zählen und so weniger gefährdet zu sein. Mindestens implizit wird damit aber die kapitalistische Verwertungslogik reproduziert, nach der Menschen, die (angeblich) keinen oder weniger Mehrwert schaffen, eben auch weniger oder nichts wert sind.
Die Risikogruppen sind außerdem deutlich größer – es zählen u.a. Menschen mit Behinderung ebenso dazu.Diese Aussage beinhaltet gewissermaßen die Inkaufnahme der akuten Lebensgefahr für die Risikogruppen.

Die anderen fordern lautstark: „Stay the fuck home. Bleibt zu Hause und sorgt für eine Eindämmung oder zumindest Verlangsamung der Infektionen“. Das kann nur ein schlechter Witz für alle die sein, die wissen, dass sie dank dem Markt weiterhin Ausgaben für Miete und Lebensmittel haben werden und auch wissen, dass das Geld nur reinkommt, wenn sie rausgehen. Nämlich zur Arbeit.
Solange es keinen wirklichen Shutdown mit gleichzeitigem Quarantäne-Grundeinkommen gibt, ist die Forderung, doch einfach zu Hause zu bleiben, vermessen und arbeiter*innen- und armenfeindlich.

Wir haben volles Vertrauen in das Pflege- und Krankenhauspersonal und alle, die viel zu schlecht bezahlt jeden Tag für die Würde und die Gesundheit kranker Menschen kämpfen. Menschen, die jetzt, bspw. in Pflege- und Reinigungsberufen oder im Einzelhandel an vorderster Front kämpfen, wird seit Jahren ein sicherer Status verwehrt.
Drohende Abschiebung oder die Verweigerung sicherer Aufenthaltstitel, Kurzarbeit und Leiharbeit belasten sie täglich. Ihnen gilt unsere Solidarität.
Wir haben kein Vertrauen in ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, das uns nicht vor Elend und Krankheit schützt. Ihm gilt unser Zorn.

Was wir jetzt fordern:

1. von den Bundes- und Landesregierungen:

Einstellung und Schließung der nicht lebensnotwendigen Produktion und Lohnarbeit.

– schnelles, unkompliziertes Quarantäne-Grundeinkommen für Alle. Dieses soll den Menschen ermöglicht, zu Hause zu bleiben; finanziert durch die Besteuerung der höheren Einkommen und Vermögen.

staatliche Rettungsschirme für kleine Betriebeund Non-Profit-Organisationen zum Zwecke der Lohnfortzahlung der Mitarbeitenden, außerdem für (Schein-) Selbstständige, Kulturschaffende, etc. finanziert durch die Besteuerung der höheren Einkommen und Vermögen

– Die bedingungslose und unkomplizierte Einbürgerung aller Menschen mit ungeklärtem bzw. unsicherem Status die während der Gesundheitskrise im Pflege- und Gesundheitssektor, sowie in sonstigen für die Bevölkerung wichtige Beschäftigungen gearbeitet und ihr Leben riskiert haben.

– die Auflösung der Lager an europäischen Grenzen und die Aufnahme aller dort Lebenden

– ein befristetes Verbot von Mieteinnahmen für die Zeit der Pandemie, sowie ein Verbot von Zwangsräumungen. Zur Verfügungstellung von kostenlosem Wohnraum für Menschen ohne Wohnung.

– sofortige deutliche Lohnsteigerungen in Pflege und Einzelhandel und anderen unterbezahlten versorgungsnotwendigen Berufen, als für Arbeitgeber verpflichtende Gefahrenzulage. Sonst bleiben alle warmen Worte ein Hohn.

– ein Förderpaket zum Ausbau von Frauenhäusern und -wohnungen, damit von Männergewalt bedrohte Frauen und Kinder in der Quarantäne ausweichen können.

2. von den lohnabhängig Beschäftigten und der Bevölkerung:

geht nach Möglichkeit nicht mehr zur Arbeit

lasst euch nicht auf „einvernehmliche Kündigungen“ ein – die wollen euch verarschen!

– übt Druck in eurer Belegschaft und in eurer Gewerkschaft für einen politischen Streik für die Gesundheit aus: Quarantäne kollektiv durchsetzen.

Teilt euch die anfallende Care-Arbeit im Privaten gerecht auf. Das heißt für viele Männer sich aktiv raus aus den gewohnten Hausarbeits- und Sorgemustern zu bewegen, ohne auf eine Aufforderung zu warten und auch aufzuhören die Verantwortung des Überblicks weiter auf Frauen abzuwälzen. Ein bisschen mit den Kindern zu spielen und dann Probleme wieder der Frau zu überlassen reicht nicht! Frauen, lasst euch keine Ungerechtigkeiten gefallen.

3. von Sozialistinnen, Kommunistinnen, Sozialdemokratinnen, Anarchistinnen und Linken:

baut solidarische Netzwerke auf, unterstützt Menschen, die zu Risikogruppen zählen bei alltäglichen Besorgungen

– denkt an Menschen/Genossinnen/Freundinnen, die die soziale Isolation noch drastischer trifft und in Einsamkeit stürzt- leistet ihnen emotionalen Beistand

– spart beim Aufbau dieser Netzwerke nicht eure politische Haltung aus – zeigt, dass ihr solidarische Linke seid und gewinnt Vertrauen

– denunziert dabei die Rolle von Staat und Markt und schlagt solidarische Alternativen für ein Zusammenleben vor!

– solltet ihr Zeit in Quarantäne haben – bildet euch und andere – nutzt YoutubeChannels etc. zur Agitation, Bildung und Erziehung

– denkt immer daran: Krisen sind Scheidepunkte der Geschichte – selbstverständlich müssen wir Sozialist*innen da die Oberhand gewinnen, sonst droht die Barbarei. Lasst uns die Gelegenheit ergreifen, ein solidarisches Zusammenleben zu erstreiten.

Hier findet ihr den Text als PDF-Dokument zum Weiterleiten und Verbreiten.

Weder #staythefuckhome noch #fuckstaying home – Position der Falken Nürnberg zum Umgang mit Corona

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Presse von Nico

*: Was mir noch fehlt: ein Hinweis auf die Sanktionen der USA und der EU gegenüber Syrien, die für einen ganz großen Anteil der Fliehenden verantwortlich sind.
Die Abschaffung dieser Sanktionen sollte in die Forderungen aufgenommen werden.

 

Jochen

Natürlich ist Vollbeschäftigung möglich – Interview mit Stephan Schulmeister

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1056325.natuerlich-ist-vollbeschaeftigung-moeglich.html

Stephan Schulmeister über sinnloses Leid durch Sparpolitik, Wachstum in China und alternative Politik in der EU

Stephan Schulmeister (Jahrgang 1947) ist Wirtschaftsforscher und unterrichtet an der Universität Wien und der Wirtschaftsuni Wien. Er war zeitweise an Unis in den USA und beim Internationalen Währungsfonds tätig. Er sagt: Viele G20-Regierungschefs haben keine Idee, wie sie Wirtschaftswachstum fördern könnten.
Und er erklärt, wieso die EU an der Sparpolitik festhält. Mit ihm sprach Eva Roth.

Herr Schulmeister, zur G20 gehören so unterschiedliche Länder wie USA und Mexiko, Deutschland und China. Die Regierungschefs dieser Länder verfolgen nach eigenem Bekunden ein gemeinsames Ziel: Sie streben ein ausgewogenes Wachstum an, um den Menschen bessere Lebensbedingungen zu bieten.
Ist das mehr als eine hohle Phrase?

Natürlich wollen die Eliten auf der Welt mehr Wachstum und weniger Armut. Aber das sind Wünsche ans Christkind.
Es gibt keinen Konsens, wie nachhaltiges Wachstum erreicht werden soll. Viele Regierungschefs haben nicht einmal eine Idee, wie sie Wachstum fördern könnten.

Was verbindet dann diese Gruppe der politisch Mächtigen?
Die Staats- und Regierungschefs der G20 haben sich zum ersten Mal 2008 getroffen, damals herrschte Panik, wegen der globalen Finanzkrise. Das gemeinsame Interesse der G20 war es, alles zu tun, um eine Ausweitung der Krise zu verhindern.
Die Eliten fürchteten zu Recht: Wenn es zu einer Totalentwertung des Finanzkapitals kommt, wenn die Aktienkurse weiter abstürzen, dann ist die Krise nicht mehr aufzuhalten.

Ein Verfall der Aktienkurse ist verhindert worden. Wie?
Die USA haben – viel konsequenter als die EU – Banken und Versicherungen verstaatlicht und den Spielraum für Finanzspekulationen eingeschränkt. Gleichzeitig haben die USA und Deutschland die staatlichen Ausgaben erhöht, um die Nachfrage zu stützen. All diese Beschlüsse widersprachen der herrschenden marktliberalen Politik, die die Regierungen über Jahrzehnte verfolgt hatten.
Als die Aktienkurse im Frühjahr 2009 wieder stiegen, kehrte insbesondere die politische Elite in Europa wieder zu den alten Rezepten zurück. Dadurch wurde die Krise in Europa vertieft. Wir sind heute in einer Situation, die durchaus mit den 1930er Jahren vergleichbar ist.

Aber die Lage in Europa ist heute doch nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren, als die Nazis an die Macht gewählt wurden!
Das nicht, trotzdem ist die Analogie erlaubt. Wir haben es heute mit einem Giftcocktail zu tun, der die gleichen Zutaten enthält wie damals, nur die Dosis ist geringer.
2008 gab es wie 1929 zunächst eine Finanzkrise. In beiden Fällen folgten eine Sparpolitik, Sozialkürzungen und eine hohe Arbeitslosigkeit. Menschen wurden deklassiert und Rechtspopulisten gewannen an Zulauf.
Was bisher gefehlt hat, war der Protektionismus, der in den 1930er Jahren enorm zugenommen hat. Das könnte jetzt hinzukommen, nach dem Brexit und der Wahl von Trump als US-Präsident.
Aber, und das ist wichtig: Die Giftdosis ist geringer. Man kann die Wut auf Muslime und Flüchtlinge in der Intensität nicht vergleichen mit dem Antisemitismus der Nazis.
Aber die zugrunde liegenden Gefühle sind die gleichen: Rechtspopulisten lenken die Verbitterung von Deklassierten auf Sündenböcke.

Die EU tritt derzeit als Verfechter offener Märkte auf und warnt vor Nationalismus. Und Sie sagen nun: Die EU selbst hat mit ihrer marktliberalen Politik Nationalisten stark gemacht?
Die neoliberale Politik dominiert seit ungefähr 30 Jahren in ganz Europa. Sie wurde und wird auch von der EU verfolgt.
Die Sparpolitik in der Krise war eine Fortsetzung dieser Politik. Sie hat eine wachsende Zahl von deklassierten Menschen hervorgebracht, die für Nationalisten ansprechbar sind. Insofern hat auch die EU den Nationalismus gefördert, auch wenn sie das natürlich nicht wollte.

Unter der EU-Sparpolitik leidet vor allem Südeuropa. Dort sind rechte Kräfte nicht so stark. Wieso haben ausgerechnet die Briten für den EU-Austritt gestimmt?
Die Ungleichheit ist dort doch schon in den 80er Jahren stark gestiegen, in jüngster Zeit hat sich nicht viel verändert.

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In Großbritannien ist die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts am weitesten fortgeschritten, gerade weil Thatcher schon in den 80er Jahren damit begonnen hat. Die Verbitterung der Verlierer kann auf die Mühlen von nationalistischen Populisten gelenkt werden, was zum Brexit geführt hat.
Diese Menschen können aber auch für sozialstaatliche Ideen gewonnen werden, wie der Erfolg des Labour-Chefs Corbyn zeigt. Corbyn ist wie der Sozialist Sanders in den USA eine Persönlichkeit, die ungeachtet der 40-jährigen marktreligiösen Vernebelung so etwas wie Prinzipien hat.

Befürworter der EU-Sparpolitik sagen: Die Wirtschaft in Europa wächst wieder stärker. Das zeigt, dass unsere Rezepte wirken.
Dass die Wirtschaft in Fahrt kommt, stimmt. Wobei der Aufschwung mit Abstand der schwächste seit 1945 ist. Die Erklärung ist aber falsch.
Den Aufschwung gibt es, seit die Europäische Zentralbank die Zinsen auf Null gesetzt hat und seit Länder wie Spanien, Frankreich und Portugal die EU-Defizitregeln einfach ignorieren und mehr Geld ausgeben, als der Fiskalpakt erlaubt.
Die EU-Kommission hat die höhere Verschuldung von Spanien toleriert, weil sie gespürt hat, was politisch auf dem Spiel steht, nachdem die beiden großen Parteien massiv an Zustimmung verloren haben.
Vielleicht wollte die Kommission auch einen Sieg der linken Podemos verhindern. Griechenland wird dagegen weiter ein harter Sparkurs verordnet, dort ist kein Aufschwung in Sicht.

Und warum steht dann der Zuchtmeister Europas relativ gut da?
Deutschland hat in den vergangenen Jahren dem Rest Europas einen Sparkurs verordnet und selbst klammheimlich keynesianischen Wein getrunken.
In der Krise 2008/2009 hat der Bundestag Konjunkturprogramme beschlossen und Kurzarbeit massiv gefördert. Das war ziemlich erfolgreich. Deutschland hatte 2009 den stärksten Wirtschaftseinbruch in ganz Europa, trotzdem ist die Arbeitslosigkeit fast nicht gestiegen, insbesondere dank der Kurzarbeit.
Später hat der Bundestag das Kindergeld erhöht, Investitionen in die Energiewende massiv gefördert, den Mindestlohn eingeführt und die Rente mit 63 beschlossen.
Diese expansiven Maßnahmen haben die Wirtschaft stabilisiert.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Nach 5 Jahren noch aktuell: Krisenbewältigung und Vollbeschäftigung ohne Wirtschaftswachstum nach J.M.Keynes.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Dr. Karl Georg Zinn (*1939)

Dieses Interview mit Karl Georg Zinn erschien bereits 2010. Es enthält, auf den Punkt gebracht, Keynes‘ wichtigste Hinweise darauf, wie eine prosperierende und soziale Volkswirtschaft funktionieren kann, ohne auf Kosten der Nachbarn oder der erschöpfenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu expandieren:
http://www.arbeit-wirtschaft.at/servlet/ContentServer?pagename=X03/Page/Index&n=X03_1.a_2010_06.a&cid=1276689753841

Wachstum hat Grenzen

Keynes-Experte Karl Georg Zinn referierte auf Einladung des ÖGB Oberösterreich über Krisenbewältigung und Vollbeschäftigung ohne Wirtschaftswachstum.

Schulden zugunsten der Realwirtschaft sind das beste, was wir der nächsten Generation mitgeben können, sagt der deutsche Volkswirt Karl Georg Zinn. Und er vergleicht den Staatshaushalt mit dem Privatleben.
„Wenn der Vater ein Haus baut und es seinen Kindern noch nicht abbezahlt vererbt, dann haben die Kinder eine Immobilie, die im Wert gestiegen ist, und Schulden, die im Verhältnis weniger geworden sind. Geht er allerdings mit dem Geld ins Kasino und vererbt seinen Kindern Spielschulden, ist das fatal.“ Deshalb hätten die mit viel Steuergeld geretteten Banken unbedingt verstaatlicht werden müssen.

Kein unbegrenztes Wachstum

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Karl Georg Zinn ist Keynes-Kenner. Und ein Fan seiner Theorien.
„Dass die Theorie von Keynes Praxistauglichkeit hat, zeigt sich an ihrer Prognosefähigkeit. Die Neoliberalen können das nicht“, sagt er.
Unter dem Motto „Keynes – Eine Antwort auf die heutige Krise?“ referierte der deutsche Volkswirtschaftsprofessor bei einem Studientag des ÖGB Oberösterreich. Er verweist darauf, dass Keynes schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gesagt habe, dass es kein unbegrenztes Wachstum gibt.
Wie trotzdem für Vollbeschäftigung gesorgt werden kann? Mit Arbeitszeitverkürzung!
„Die 30-jährige Propaganda gegen den Staat hat gewirkt. Dabei hat die Wirtschaft besser prosperiert, als es noch viel mehr staatliche Eingriffe gab“, meint Zinn.
Dass die europäischen Staaten nun alle gleichzeitig Sparpakete zur Schuldenbekämpfung schnüren, sei der falsche Weg. Die Gläubiger müssten ihren Beitrag leisten, statt die „Spielschulden“ zu sozialisieren.
Vor allem aber die Realwirtschaft dürfe nun nicht durch Sparen in den Morast gefahren werden. Im Gegenteil, Investitionen in die Infrastruktur seien notwendig. Trotz hoher Schulden.

Keynes in 1970ern fehlinterpretiert

Auf grünes Wachstum müsse man nun setzen. Aber auch das sei nicht unbegrenzt möglich, auch nicht mit einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik.
„In den 70ern haben die Sozialdemokraten versagt, weil sie nicht erkannten, dass mit antizyklischer Politik kein nachlassendes Wachstum kompensiert werden kann“, stellt Zinn klar.
„Die Mainstream-Keynesianer haben Keynes fehlinterpretiert. Dauerhaft Wachstum erzeugen ist mit Krisenmaßnahmen nicht möglich.“
Gerade in der Wirtschaftskrise sei die neoliberale oder – wie Zinn es nennt – neokonservative Auffassung, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze kostet, widerlegt worden.
Einem arbeitslosen Grundeinkommen steht der Ökonom skeptisch gegenüber. Der Sozialstaat sei ohnehin verpflichtet, jenen ohne Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern.
Oberste Priorität muss für ihn aber das Ziel der Vollbeschäftigung haben. „Arbeitslosigkeit ist jener Faktor, der die mit Abstand negativsten Auswirkungen auf eine Gesellschaft hat“, meint Zinn. Von neoliberalen „Anreizen“, wie niedrigem Arbeitslosengeld, hält er wenig. „Die Menschen wollen arbeiten, selbst wenn der Lohn nicht viel höher ist als das Arbeitslosengeld. Arbeit hat einen so hohen Stellenwert für die Persönlichkeit, das kann man nicht kompensieren.“

Arbeitszeit verkürzen

Was aber tun, wenn die alte Formel „Vollbeschäftigung durch Wachstum“ nicht mehr anwendbar ist?
Zinn nennt drei wichtige Faktoren. Erstens müsse es eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen auf private Haushalte geben. „Wenn man oben explosionsartige Einkommen vermeidet, bleibt weniger Geld für Spekulation, gleichzeitig steigt bei gleichmäßigerer Verteilung die Massenkaufkraft„, sagt Zinn.
Zweitens sei ein höherer Staatsanteil notwendig. Der Staat müsse öffentliche Güter und Infrastruktur, wie etwa soziale und medizinische Dienstleistungen, finanzieren.
„Aber auch das reicht dauerhaft nicht für genug Wachstum. Deshalb muss die Arbeitszeit verkürzt werden. Das ist die einzige Möglichkeit für Vollbeschäftigung und Wohlstand auf Dauer“, meint Zinn.

Weblink
Mehr Infos unter:de.wikipedia.org/wiki/Karl_Georg_Zinn

Kürzere Arbeitszeit auf mittlere Sicht notwendig

Interview mit Prof. Dr. Karl Georg Zinn

Arbeit&Wirtschaft: Muss in der Krise am Sozialstaat gespart werden?

Dr. Karl Georg Zinn: Nein, im Gegenteil. Der Sozialstaat ist ökonomisch sinnvoll. Durch neokonservative Politik wurde fast 30 Jahre lang von unten nach oben umverteilt. Diese Politik hat dazu beigetragen, dass die Krise dieses extreme Ausmaß angenommen hat.

Welche Rolle spielt dabei eine Mindestsicherung?

Wenn die Mindestsicherung gewollt oder ungewollt dazu führt, dass das Vollbeschäftigungsziel aufgegeben wird, dann ist sie reaktionär.
Außerdem bedeutet Sozialstaat, dass ohnehin jeder und jede das Recht auf eine Mindestsicherung hat, da braucht es kein eigenes Gesetz.
Die Mindestsicherung ist von den meisten Befürwortern gut gemeint, verkennt jedoch, dass Arbeit nicht nur wegen des Einkommens äußerst wichtig für jeden Menschen ist, sondern auch wegen der sozialen Integration, der Selbstachtung und der psychischen Gesundheit.

Endloses Wachstum gibt es nicht. Wie können Arbeitsplätze gesichert werden?

Auf mittlere bis längere Sicht wird es eine Arbeitszeitverkürzung geben müssen. Der Produktivitätszuwachs kann analog zur Lohnpolitik durch kürzere Arbeitszeit ausgeglichen werden.

Wie beurteilen Sie die Kurzarbeit als Kriseninstrument?

Kurzarbeit hat in der Krise erfolgreich Arbeitsplätze erhalten und gezeigt, dass Vernichtung von Arbeitsplätzen für eine gewisse Zeit verhindert werden kann.

Die Umverteilungswirkung des Sozialstaats wird oft als „leistungsfeindlich“ diskreditiert. Warum plädieren Sie für mehr Gleichheit?

Betrachtet man einzelne Einkommensschichten in Gesellschaften, so steigt die Lebenserwartung mit dem Einkommen. Je ungleicher Einkommen in Gesellschaften mit vergleichbaren Durchschnittseinkommen sind, umso geringer ist die Lebenserwartung insgesamt. Einkommensunterschiede zwischen Schichten sind aber nur ein Signal für Ungleichheit.
Die Ungleichheit umfasst auch das Ansehen, daraus resultiert psychischer und somatischer Stress.
Die erschütternden Auswirkungen steigender Ungleichheit – wie etwa höhere Kriminalität – sind wissenschaftlich belegt.

Und wie kommt man zu einer gerechteren Gesellschaft?

Indem man das Besteuerungssystem entsprechend der Leistungsfähigkeit ausrichtet, das bedeutet, dass über staatliche Transferleistungen und Steuerpolitik eine gerechtere Verteilung erreicht wird. Wie das Beispiel Japan zeigt, gibt es aber auch die Möglichkeit, Egalität schon bei der Einkommenspolitik durchzusetzen.

Hat der Sozialstaat Zukunft?

Grob gesagt gibt es zwei Alternativen: Die im Moment wahrscheinlichere ist, dass weitergemacht wird wie bisher. Das wird in eine noch größere Krise münden.
Die zweite Alternative ist eine fundamentale Reform mit ökologisch orientiertem Wachstum für zehn bis zwölf Jahre.
Dann müssen die reichen, hoch entwickelten Länder einschwenken auf eine Politik der Vollbeschäftigung auch ohne Wachstum.
Das impliziert, dass der Sozialstaat aufrecht erhalten und fortentwickelt werden muss.

Zur Person
Dr. Karl Georg Zinn (*1939)
Der profunde Keynes-Kenner studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen mit den Arbeitsschwerpunkten Außenwirtschaft und Geschichte der politischen Ökonomie.

Kontakt
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