Rettet den Kapitalismus vor sich selbst – Von Joseph E. Stiglitz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus dem SPD-nahen IPG-Journal ein Nobelpreisträger:

Bildergebnis für joseph e. stiglitzDas neoliberale Modell ist spektakulär gescheitert.
Es ist Zeit für eine progressive kapitalistische Agenda.

https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/rettet-den-kapitalismus-vor-sich-selbst-3509/
Auszüge:

In den meisten Industrieländern hat die Marktwirtschaft große Teile der Gesellschaft im Stich gelassen. Die Wahl von US-Präsident Donald Trump und das britische Brexit-Referendum vor drei Jahren bestätigten es; diejenigen unter uns, die sich lange mit Einkommensstatistik befasst haben, wussten es schon vorher. Nirgendwo trifft das mehr zu als in den Vereinigten Staaten.
Obwohl Amerika lange als Aushängeschild des Versprechens auf marktwirtschaftlichen Individualismus galt, weist Amerika heute eine höhere Ungleichheit und eine geringere soziale Mobilität nach oben auf als die meisten anderen Industrieländer. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA sinkt mittlerweile, nachdem sie zuvor ein Jahrhundert lang angestiegen war.
Und für die unteren 90 Prozent der Einkommensverteilung stagnierten die realen (inflationsbereinigten) Löhne: das Einkommen eines typischen amerikanischen Arbeiters liegt heute etwa so hoch wie vor 40 Jahren.

Unterdessen versuchten viele europäische Länder es Amerika gleichzutun, und Staaten, denen das gelang, insbesondere Großbritannien, leiden jetzt unter ähnlichen politischen und sozialen Konsequenzen. Die USA waren wohl das erste Land, in dem eine Mittelschichts-Gesellschaft geschaffen wurde, aber Europa hinkte nie weit hinterher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übertraf es die USA in vielerlei Hinsicht, wenn es darum ging, seinen Bürgerinnen und Bürgern Chancen zu eröffnen.
Durch eine Vielzahl politischer Maßnahmen etablierten die europäischen Länder den modernen Wohlfahrtsstaat, um die Menschen sozial abzusichern und wichtige Investitionen in Bereichen zu tätigen, wo der Markt allein zu wenig Mittel aufwenden würde.

Dieses europäische Sozialmodell leistete diesen Ländern jahrzehntelang gute Dienste. Den europäischen Regierungen gelang es, die Ungleichheit in Schach zu halten und trotz der Globalisierung, des technologischen Wandels und anderer disruptiver Kräfte die wirtschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten.
Als im Jahr 2008 die Finanzkrise und anschließend die Eurokrise losbrachen, erging es den europäischen Ländern mit den stärksten wohlfahrtsstaatlichen Systemen, insbesondere den skandinavischen Ländern, am besten.
Denn anders als viele Menschen im Finanzsektor es gerne glauben würden, bestand das Problem nicht in zu starker, sondern zu geringer staatlicher Einmischung in die Wirtschaft. Beide Krisen waren die direkte Folge eines zu schwach regulierten Finanzsektors.

Der progressive Kapitalismus

Mittlerweile wird die Mittelschicht auf beiden Seiten des Atlantiks ausgehöhlt. Um dieser Misere ein Ende zu setzen, muss geklärt werden, was schief lief.
Ein Kurswechsel hin zu einem progressiven Kapitalismus ist nötig. Dieser progressive Kapitalismus würdigt zwar die Vorteile des Marktes, er erkennt aber auch seine Grenzen. Er stellt sicher, dass die Wirtschaft zum Wohle aller funktioniert. Wir können nicht einfach in das goldene Zeitalter des westlichen Kapitalismus in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren, als der Lebensstil der Mittelschicht für die Mehrheit der Bürger in greifbarer Nähe schien.
Wir würden es auch nicht zwingend wollen. Schließlich war der „amerikanische Traum“ dieser Zeit vor allem einer privilegierten Minderheit vorbehalten: nämlich weißen Männern.

Die aktuelle Situation haben wir dem ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und der früheren britischen Premierministerin Margret Thatcher zu verdanken. Die Grundlage für die neoliberalen Reformen der 1980er Jahre bildete die Vorstellung, dass ungezügelte Märkte durch einen geheimnisvollen Sickereffekt von oben nach unten allen Wohlstand bringen würden.
Man sagte uns, eine Senkung der Steuersätze für Reiche sowie Finanzialisierung und Globalisierung würden einen höheren Lebensstandard für alle mit sich bringen.

Doch stattdessen sank die Wachstumsrate in den USA auf zwei Drittel ihres Wertes der Nachkriegszeit – einer Phase strenger Regulierungen im Finanzbereich und einem konstant über 70 Prozent liegenden Spitzengrenzsteuersatz – und ein größerer Teil des Wohlstands und der Einkommen aus diesem niedrigeren Wachstum wurde auf das oberste 1 Prozent umgeleitet.
Anstelle des versprochenen Wohlstands bekamen wir Deindustrialisierung, Polarisierung und eine schrumpfende Mittelschicht. Wenn wir dieses Muster nicht ändern, wird es sich weiter fortsetzen – oder die Lage noch verschlimmern.

Glücklicherweise besteht eine Alternative zum Marktfundamentalismus. Durch eine pragmatische Neuverteilung der Macht zwischen Staat, Märkten und Zivilgesellschaft ist es möglich, ein freieres, gerechteres und produktiveres System zu etablieren.
Progressiver Kapitalismus bedeutet, einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Wählern und gewählten Amtsträgern, Arbeitnehmern und Unternehmen sowie zwischen Arm und Reich zu schließen.
Um den Lebensstandard der Mittelschicht wieder zu einem realistischen Ziel für die meisten Amerikaner und Europäer werden zu lassen, müssen die Märkte der Gesellschaft dienen und nicht umgekehrt.

Wohlstandsschaffung

Im Gegensatz zum Neoliberalismus beruht der progressive Kapitalismus auf einem korrekten Verständnis dessen, wie heute Werte geschaffen werden. Nicht die Ausbeutung von Ländern, natürlichen Ressourcen und Menschen bildet die Basis des echten und nachhaltigen Wohlstands der Nationen, sondern menschlicher Einfallsreichtum und Kooperation, häufig mit der Unterstützung des Staates und zivilgesellschaftlicher Institutionen.
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind produktivitätssteigernde Innovationen der eigentliche Motor wirtschaftlicher Dynamik und höherer Lebensstandards.

Wohlstandsschaffung wird oftmals mit Wohlstandsextraktion verwechselt. Einzelpersonen und Unternehmen können durch Marktmacht, Preisdiskriminierung und andere Formen der Ausbeutung reich werden. Das heißt aber nicht, dass sie damit irgendeinen Beitrag zum Wohlstand der Gesellschaft geleistet hätten.
Im Gegenteil: durch derartiges Verhalten geht es allen anderen insgesamt oftmals schlechter. Derart abträgliches Verhalten ist besonders in der US-Wirtschaft verbreitet, wo immer mehr Sektoren von lediglich ein paar Unternehmen beherrscht werden.

Diese Megakonzerne nutzen ihre Marktmacht, um sich auf Kosten aller anderen zu bereichern. Durch die Festsetzung höherer Preise haben sie den Lebensstandard der Verbraucher effektiv gesenkt. Neue Technologien ermöglichen diesen Unternehmen Massendiskriminierung – die sie auch praktizieren –, da die Preise nicht auf dem Markt festgesetzt werden (als Einheitspreis, der Angebot und Nachfrage abbildet), sondern durch die algorithmische Bestimmung dessen, welchen Höchstpreis ein Kunde zu zahlen bereit ist.

Technologische Fortschritte und das Wachstum der Schwellenmärkte haben hinsichtlich des Niedergangs der Mittelschicht sicherlich eine gewisse Rolle gespielt, sind jedoch für die Wirtschaftspolitik von untergeordneter Bedeutung. Das wissen wir, weil dieselben Faktoren in verschiedenen Ländern unterschiedliche Auswirkungen hatten. Der Aufstieg Chinas und der Technologiewandel waren überall spürbar, die USA weisen jedoch eine höhere Ungleichheit und geringere soziale Mobilität auf, als viele andere Länder wie etwa Norwegen.
Wo die finanzielle Deregulierung am weitesten fortgeschritten war, kam es auch am häufigsten zu Missbrauch auf dem Finanzsektor wie etwa Marktmanipulation, räuberischer Kreditvergabe und übermäßiger Kreditkartengebühren.

Es wird wohl noch schlimmer kommen.

Oder man denke an Trumps Besessenheit bei Handelsabkommen. Wenn politische Entscheidungsträger die amerikanischen Arbeitnehmer schlecht vertraten, lag das nicht daran, dass die Unterhändler aus den Entwicklungsländern die Verhandler der USA über den Tisch gezogen haben. Tatsächlich bekommen die USA nämlich fast alles, was sie verlangen.
Das Problem liegt vielmehr darin, dass sich in den amerikanischen Wünschen die Interessen der US-Konzerne widerspiegeln und nicht jene der gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger.

So unbefriedigend sich die Lage derzeit präsentiert – es wird wohl noch schlimmer kommen. Künstliche Intelligenz und Robotisierung werden bereits als künftige Wachstumsmotoren gepriesen. Unter den vorherrschenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen werden jedoch viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und die Regierung wird ihnen bei der Suche nach neuen Jobs keine große Hilfe sein. Allein autonome Fahrzeuge werden Millionen Menschen ihrer Lebensgrundlagen berauben.
Gleichzeitig unternehmen unsere Technologieriesen alles, um die staatliche Reaktionsfähigkeit zu schwächen und das nicht nur mit ihren Kampagnen für Steuersenkungen: mittlerweile legen sie bei Steuervermeidung und der Ausbeutung der Verbraucher den gleichen Erfindungsreichtum an den Tag, den sie früher bei der Entwicklung hochmoderner Innovationen bewiesen haben. Außerdem nehmen sie, wenn überhaupt, wenig Rücksicht auf die Privatsphäre der Menschen. Geschäftsmodell und Verhalten der Technologieriesen unterliegen praktisch keiner Aufsicht.

Dennoch besteht Hoffnung: immerhin ist unsere wirtschaftliche Dysfunktion das Ergebnis unserer eigenen politischen Strategien. Mit progressiv-kapitalistischen Reformen können wir beginnen, die wirtschaftliche Dynamik wiederherzustellen sowie Gleichheit und Chancen für alle zu gewährleisten.
Oberste Priorität sollte es sein, die Ausbeutung einzudämmen und die Schaffung von Wohlstand zu fördern.
Die Regulierung hat einen schlechten Ruf, seit Reagan und Thatcher sie mit „Bürokratie“ gleichsetzten. Allerdings verbessert Regulierung oftmals die Effizienz.

Über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten nach der Großen Depression wurden Finanzkrisen durch ein starkes regulatorisches Rahmenwerk verhindert, bis man in den 1980er Jahren begann, es als „erstickend“ zu empfinden. Mit der ersten Welle der Deregulierung kam die Spar- und Kreditkrise.
Dieser folgte weitere Deregulierung und die Dot-Com-Blase der 1990er Jahre und schließlich die globale Finanzkrise des Jahres 2008. Zu diesem Zeitpunkt versuchten Länder auf der ganzen Welt, die Regeln neu zu schreiben, um eine Wiederholung dieser Ereignisse zu verhindern. Mittlerweile setzt die Trump-Administration allerdings alles daran, diese Fortschritte zunichte zu machen.

Der progressive Kapitalismus

Auch kartellrechtliche Bestimmungen, die sicherstellen sollten, dass der Markt ordnungsgemäß – also auf Wettbewerb beruhend – funktioniert, wurden zurückgenommen.
Mit der Eindämmung des Rent-Seeking, wettbewerbswidriger Praktiken und anderer Missbräuche könnten wir die Effizienz verbessern, die Produktion ankurbeln und zu mehr Investitionstätigkeit anregen.
Noch besser: wir würden damit Ressourcen für Aktivitäten freisetzen, die unser Wohlergehen tatsächlich verbessern. Wenn weniger unserer besten Studierenden ins Bankgeschäft einstiegen, würden vielleicht mehr ihren Weg in die Forschung finden. Die Herausforderungen sind in beiden Bereichen enorm, aber das eine Metier konzentriert sich darauf, andere auszunützen, während man sich im anderen darauf fokussiert, unser Wissen und unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern.
Und weil das Joch der Ausbeutung tendenziell am schwersten auf den Menschen am unteren Ende der ökonomischen Pyramide lastet, würden wir die Ungleichheit reduzieren.

Wie aus dem Begriff implizit hervorgeht, erkennt der progressive Kapitalismus sowohl die Macht als auch die Grenzen der Märkte an.
Es ist einfach eine Tatsache, dass ein sich selbst überlassener Privatsektor immer zu viel an Dingen wie Umweltverschmutzung produziert, aber zu wenig andere hervorbringt, wie etwa Grundlagenforschung, die das Fundament der Innovation und der wirtschaftlichen Dynamik bildet.
Der Staat muss eine zentrale Rolle dabei spielen, den Privatsektor nicht nur von Dingen abzuhalten, die er nicht tun sollte, sondern auch Aktivitäten zu fördern, die dort sehr wohl stattfinden sollten.
Und kollektive – staatliche – Maßnahmen ermöglichen uns, Dinge zu tun, die ein sich selbst überlassener Markt nicht zuwege bringt.
Große Innovationen – wie die Erfindung des Internets und das Humangenomprojekt – sind Beispiele für öffentliche Ausgaben, die unser Leben verändert haben.

Die von mir beschriebenen Regulierungen und Reformen sind notwendig, um das Wachstum wiederherzustellen und um ein Leben in der Mittelschicht wieder in die Reichweite der meisten Amerikaner und Europäer zu bringen. Allerdings wird das nicht reichen.
Wir brauchen darüber hinaus einen neuen Gesellschaftsvertrag des 21. Jahrhunderts, der allen Bürgerinnen und Bürgern Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, finanzieller Sicherheit im Ruhestand, erschwinglichen Wohnraum und einer menschenwürdigen Arbeit mit angemessenem Entgelt garantiert.

Die Zukunft der repräsentativen Demokratie

Aus progressiv-kapitalistischer Sicht liegt der Schlüssel zu einem neuen Gesellschaftsvertrag in der öffentlichen Option auf Leistungen, die von zentraler Bedeutung für das Wohlergehen sind. Öffentliche Angebote erweitern die Auswahlmöglichkeiten der Verbraucher und fördern den Wettbewerb, der wiederum niedrigere Preise und mehr Innovation zur Folge hat. Die meisten dieser Vorschläge verstehen sich eigentlich von selbst; doch die dafür notwendigen Reformen stehen wegen des Einflusses von Interessensgruppen vor gravierenden politischen Herausforderungen. Das ist das Problem schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleichheit: sie ruft unweigerlich auch politische und soziale Ungleichheit hervor und verstärkt sie auch noch.

Als sich die ursprüngliche progressive Bewegung während des goldenen Zeitalters Amerikas im späten 19. Jahrhundert formierte, bestand ihr Hauptziel darin, den großen Monopolkapitalisten und deren Kumpanen in der Politik eine demokratische Ordnungspolitik abzutrotzen. Das Gleiche gilt für den progressiven Kapitalismus von heute. Es ist erforderlich, dass wir den Einfluss des Geldes in der Politik zurückdrängen und ordnungsgemäße Kontrollen und Gewaltenteilung wiederherstellen. Die Präsidentschaft Trumps hat uns daran erinnert, dass eine derartige Kontrolle für das reibungslose Funktionieren der Demokratie unverzichtbar ist. Sie hat uns aber auch die Grenzen bestehender Institutionen vor Augen geführt (wie etwa des Wahlmännergremiums, das den Präsidenten wählt und des Senats, wo ein kleiner Bundesstaat wie Wyoming mit weniger als 600.000 Einwohnern über gleich viele Stimmen verfügt wie Kalifornien mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern). Das unterstreicht auch die Notwendigkeit struktureller politischer Reformen.

Sowohl in Amerika als auch in Europa stehen unser gemeinsamer Wohlstand und die Zukunft der repräsentativen Demokratie auf dem Spiel. Die Explosion der öffentlichen Unzufriedenheit im Westen in den letzten Jahren ist Ausdruck eines wachsenden Gefühls der wirtschaftlichen und politischen Ohnmacht der Bürgerinnen und Bürger, die ihre Chancen auf ein Leben in der Mittelschicht vor ihren Augen schwinden sehen. Der progressive Kapitalismus ist bestrebt, die übermäßige Macht des konzentrierten Geldes in unserer Wirtschaft und unserer Politik einzudämmen.

Alternativen zu gewinnorientierten Unternehmen

Aber es steht noch mehr auf dem Spiel: unsere Zivilgesellschaft und unser Identitätsgefühl, sowohl als Individuum als auch als Kollektiv.
Unsere Wirtschaft prägt uns in unserer Identität und in den letzten 40 Jahren brachte eine rund um amoralischen (wenn nicht gar unmoralischen) Materialismus und ebensolchem Gewinnstreben aufgebaute Wirtschaft eine Generation hervor, die diese Werte verinnerlicht hat.

Das muss nicht so sein. Wir können eine mitfühlendere und fürsorglichere Wirtschaft rund um Genossenschaften und andere Alternativen zu gewinnorientierten Unternehmen etablieren.
Wir können bessere Corporate-Governance-Systeme entwickeln, im Rahmen derer es nicht nur auf kurzfristige Gewinne ankommt. Wir können und sollten von unseren gewinnmaximierenden Unternehmen besseres Verhalten erwarten – und mit entsprechender Regulierung werden manche der Versuchungen für Fehlverhalten beseitigt.

Wir haben ein 40 Jahre dauerndes Experiment mit dem Neoliberalismus durchgeführt. Es ist bewiesen, dass er in jeder Hinsicht gescheitert ist.

Und in der allerwichtigsten Hinsicht – nämlich dem Wohlergehen gewöhnlicher Bürgerinnen und Bürger – ist er kläglich gescheitert. Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten.
Eine progressiv-kapitalistische Agenda bietet uns dazu die größte Chance.

Dieser Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von Project Syndicate. Dort ist eine ausführlichere Fassung im Original erschienen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Mein Kommentar: Zu kritisieren ist der moralistisch-idealistische Standpunkt des Autors. Der lässt die schon von Marx und Engels erkannten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des tendenziellen Falls der Profitrate genau so ausser acht wie die immer weiter um sich greifende Entfremdung.
So kann er nicht erklären, warum die Mont-Pelerin-Society, die Chikago-Boys als Berater von Reagan und Thatcher so erfolgreich waren, obwohl nur 1% der bevölkerung davon profitierten. Der Rest gehört unter „Man sollte…“. Jedenfalls ist er Bill Clinton bei seinem eiskalten Neoliberalismus und der Zerschlagung des US-amerikanischen Sozialsystems nicht in den Arm gefallen.
Joseph E. Stiglitz ist Professor an der Columbia University und war Vorsitzender des Council of Economic Advisers der Regierung von Bill Clinton sowie Senior Vice President und Chief Economist der Weltbank.
Im Jahr 2001 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Zu dem Thema empfehle ich noch ein gut verständliches Buch eines sozialdemokratischen Wirtschaftswissenschaftlers:

Per Molander

Titel:gebrauchtes Buch – Molander, Per – Die Anatomie der Ungleichheit - Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Die Anatomie der Ungleichheit – Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Jochen

Warum die Russen Putin respektieren: Weil beim Vorgänger Jelzin die Lebenserwartung von 70 auf 60 Jahre sank und jetzt wieder steigt

Putin2015Die folgende Betrachtung auf den NachDenkSeiten ist natürlich speziell für Ärzte interessant:
eine Wirtschaftsreform, die Millionen Menschen in den frühen Tod schickte. Schlimmer als die Stalinisierung.
Diese humanitäre katastrophe, um vieles schlimmer als selbst der Tschernobyl-GAU, wurde den Menschen im Westen verschwiegen. Aber wenn sie ein aktuelles Beispiel sehen wollen, können sie nach Griechenland schauen. Dort hat die EU-Troika bald mehr Schäden an der Infrastruktur angerichtet als der 2.Weltkrieg.

Die nachfolgende Analyse von Günter Baigger beschreibt den drastischen Rückgang der Lebenserwartung in Russland unter Putins neoliberal geprägtem Vorgänger Boris Jelzin nach dem Zusammenbruch der UDSSR. Jelzin wurde von einer ganzen Heerschar vor allem US-amerikanischer Wissenschaftler, Banker und Lobbyisten beraten.
Schock-Strategie_Naomi_KleinNaomi Klein
hat diese Vorgänge in Kapitel 12 der „Schock-Strategie“ beschrieben und beleuchtet. Die daraus folgende humanitäre Katastrophe bleibt im Westen weitgehend unerwähnt. Von Albrecht Müller.

Auch um exaktere Zahlen zu erhalten ist es an der Zeit, dass sich westliche Institutionen und Medien mit dem Thema befassen. Dies könnte viel zur Erklärung der Stimmung im heutigen Russland beitragen und den Weg zu einem verständnisvolleren Umgang mit miteinander ebnen. Danke an Günter Baigger für diesen wichtigen Denkanstoß:

G. Baigger Kriens, 21.11.2017

Bekanntlich wandte sich die Sowjetunion in den Neunziger Jahren vom Kommunismus ab. In dieser Zeit war es auch, dass sich die Sowjetrepubliken vom einstigen Mutterland abspalteten.
Die meisten Sowjetrepubliken wurden unter dem Zaren Teil Russlands. In der Sowjetzeit wurden sie zu sogenannten autonomen Republiken erklärt. Nun hatten sie die Gelegenheit sich von Russland ganz loszusagen.

In Kernland Russland fand in den Neunziger Jahren unter der Präsidentschaft Jelzins eine gewaltige wirtschaftliche Wende statt. Nach dem, was man aus den westlichen Medien über die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs erfahren hatte, konnte man erwarten, dass diese Veränderung von einem Grossteil der Bevölkerung herbeigesehnt wurde, und dass diese Veränderung der grossen Mehrheit Freiheit sowie grosse wirtschaftliche materielle Vorteile brachte.

Bereits damals wurde in den Zeitungen aber auch von Missständen berichtet. Überdies gab es den Hinweis, dass die Lebenserwartung nach der Wende in der ehemaligen Sowjetunion von 70 auf 60 Jahre zurückgegangen sei. Dieser Sachverhalt wurde in den allermeisten Darstellungen unkommentiert belassen. Ausnahme ist das amerikanische Heft Lancet, 2009.

Was bedeuten diese Zahlen?

Nun zunächst muss man feststellen, dass Werte der Lebenserwartung sich normalerweise äusserst träge verhalten. Selbst Grippeepidemien haben nur geringfügige Auswirkungen auf die Lebenserwartung.
In den westlichen Ländern sind die Lebenserwartungen in den letzten Jahren stabil geblieben, mit leicht steigender Tendenz.
(Eine Ausnahme bilden die USA. Dort ist die Lebenserwartung gesunken, aber auch nur um relativ kleine Werte.)

Zur Illustration geben ich zwei Beispiele: In den Achtziger Jahren galt in der Lebensversicherungsbranche folgende Faustregel:

  • Die Heilung aller Krebspatienten würde die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung um knapp ein Jahr anheben.
  • Die Heilung aller Herz- und Kreislauferkrankungen würde die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung um vier Jahre anheben.

Zehn Jahre Veränderung der Lebenserwartung sind demgegenüber eine andere Grössenordnung. Einen Anstieg oder Abfall in einer solchen Höhe hat es seit dem Weltkrieg nie mehr gegeben.
Es handelt sich um eine demographische Grundwelle, ja um eine humanitäre Katastrophe. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich unvorstellbares individuelles Leid. Denn Voraussetzung eines solchen Rückgangs der Lebenserwartung ist eine sehr grosse Zahl von zusätzlichen Todesfällen.
1991 betrug die Bevölkerungszahl in der Sowjetunion knapp 290 Millionen Menschen (Quelle Wikipedia). Ein Rückgang der Lebenserwartung um 10 Jahre war nur bei einer ungeheuren Zahl von zusätzlichen Todesfällen möglich. Sie bewegt sich im zweistelligen Millionenbereich. Ich komme darauf zurück.
Die genaue Zahl der Todesfälle lässt sich allerdings schwer berechnen, da Todesfälle in unterschiedlichen Altern unterschiedliche Konsequenzen für die Lebenserwartung haben.

Immerhin hat man die Möglichkeit, Weltbank-Statistiken heranzuziehen, welche im Internet veröffentlicht sind.

Eine Analyse dieser Statistiken ergibt für die Todesfälle der Nachwendezeit folgendes. Vergleicht man die Zahl der eingetretenen Todesfälle mit der Zahl von Todesfällen, welche bei einer durchschnittlichen Sterblichkeit von 2,2% (ein eher vorsichtiger Wert) eingetreten wäre, kommt man für Russland allein auf 136 Millionen verlorene Lebensjahre.
Geht man von dem eingangs genannten Wert von einer Senkung der Lebenserwartung um 10 Jahre aus, dann ergeben sich 13.6 Millionen Tote.
In Russland lebten vor der Wende aber nur 160 Millionen Einwohner. Hochgerechnet auf die gesamte Sowjetunion ergibt sich daraus eine Todesfallzahl von zwischen zwanzig und dreissig Millionen zusätzlichen Todesfällen. Die Zahl der zusätzlichen Toten erreicht also ein ähnliches Ausmass wie die Zahl der Toten des zweiten Weltkrieges

Man darf davon ausgehen, dass damit in dieser Zeit auch eine unglaubliche ökonomische Verarmung weiter Teile der Bevölkerung einherging.

Unter Putin ist die Lebenserwartung wiederum erheblich gestiegen. Und wie auch der Augenschein bei einem Besuch von Russland zeigt, ist wieder ein gewisser Wohlstand eingekehrt.
Allein dies ist ein (guter) Grund, dass die Bevölkerung Putin schätzt und hinter ihm steht.
Die gängige Hypothese, der westlichen Medien lautet: Die Russen lieben halt autokratische Herrscher. Vor dem geschilderten Hintergrund entpuppt sich diese Deutung als realitätsfern.

Die Russen wissen um die Katastrophe der Neunziger Jahre. Mir gegenüber haben sie von dieser Zeit als vom „grossen Sterben“ geredet. Ein Mann hat mir erzählt, die Friedhöfe hätten sich in sehr kurzer Zeit gefüllt.

Die Sache hat aber noch einen anderen Aspekt. In den Zwanziger Jahren wurden in der damaligen Sowjetunion die Grossbauern enteignet. Das Ganze endete mit einem Desaster. Es gab Millionen Hungertote.
Sehen wir in dieser Diskussion davon ab, dass auch der erste Weltkrieg und der darauf folgende Bürgerkrieg diese Hungersnot mitverursacht haben könnte, dann müssen wird dennoch folgende Frage stellen: Waren es damals so viele Tote wie in den Neunziger Jahren? Und, es können zwei Schlussfolgerungen gezogen werden:

  • Für das „überlegene“ Wirtschaftssystem ist es alles andere als ein Ruhmesblatt, wenn der Systemwechsel mit einer derartigen Katastrophe einhergeht.
  • In der heutigen Berichterstattung über Russland und die Sowjetunion wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Enteignung der Kulaken, also die Idee intellektueller Spinner, Schuld war am Tod von Millionen von Menschen. Mit anderen Worten, die Kommunisten sind aufgrund ihrer Ideologie zu millionenfachen Mördern geworden. Wo liegt nun die Verantwortung der neoliberalen Ökonomen, welche Jelzin beraten haben? Das waren ja auch Anhänger einer weltfremden Ideologie. Ist einer von ihnen zur Rechenschaft gezogen worden? Und warum berichten die Medien nicht über die Toten der Wende, der Neunziger Jahre, so wie sie ja auch heute noch über die Toten der Zwanziger Jahre berichten? (Aus der Darstellung von Naomi Klein geht übrigens hervor, dass man nicht nur die Chicago- Boys sondern auch einige politische Akteure der USA zur Rechenschaft ziehen müsste. Denn die USA haben damals gemäss Naomi Klein Russland eine finanzielle Unterstützung nach Art des Marshall-Plans bewusst verweigert. Wie wäre das strafrechtlich zu würdigen?)

Putin hat Medienberichten zufolge den Zusammenbruch der Sowjetunion als grösste Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet. Der Westen ist darüber entrüstet.
Aber vor diesem Hintergrund, hat er nicht ein Stück weit recht?

Gorbatschow hat den CSU-Politiker Gauweiler bezüglich des Wirtschaftsboykotts von Russland gefragt: „Warum tut ihr uns das an“. Soll die Antwort lauten, dass der Westen will, dass Russland ein weiteres Mal von einer Katastrophe heimgesucht wird?

Das allerschlimmste ist: Die Medien ignorieren diese Ereignisse. Ich habe dies selbst beim Schweizer Fernsehen erfahren müssen.
Einmal hat man mir gegenüber Zeitmangel angefügt: In einer dreiminütigen Nachrichtensendung kann man nie alle Aspekte unterbringen. Bei einer halbstündigen Reportage über Russland hat man mir auf meine kritische Frage gar nicht geantwortet.

Günter Baigger

PS: In Syrien ist die Lebenserwartung seit Beginn des Syrienkrieges von 70 auf 55 Jahre zurückgegangen. Auch darüber hat noch kein Medium berichtet.

Anmerkung: Die Anwendung dieser Schock-Strategie auf Syrien, Libyen und Griechenland folgte dem gleichen Muster. mehr dazu hier: https://josopon.wordpress.com/2014/08/27/schockstrategie-unabhangiges-forschungsinstitut-sieht-die-hauptschuld-an-ukraine-krise-bei-m-westen-ein-russischer-abgeordneter-bekommt-paranoia/
Jochen

Aus der Dreckschleuder der Arbeitgeberpresse: Der Mythos vom verkrusteten Frankreich

Die Redewendung vom „Beseitugen von Verkrustungen“ tauchte in der deutschen Arbeitgeberpresse (FAZ, Welt, WirtschaftsWoche u.s.w.) schon seit dem Lambsdorff-Papier 1982 auf. Eine Schönrednerei des Abbaus sozialer Sicherheit – die Arbeitgeber setzten unter Kohl und später Schröder üble Verschlechterungen der Arbeitnehmerrechte, z.B. beim Kündigungsschutz, durch, Heute dazu in der Neuen Welt:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1055287.der-mythos-vom-verkrusteten-frankreich.html

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.Für Jörg Goldberg zielt das verzerrte Bild vor allem darauf ab, die Sozialsysteme im Nachbarland zu schleifen

Wenn hierzulande von Frankreich die Rede ist, dann fällt mit Sicherheit das Wort verkrustet – während Deutschland reformfreudig und anpassungsfähig sei, leide Frankreich unter »verkrusteten« politischen Strukturen. Man hat das schon so oft gehört, dass die Absurdität dieser Behauptung kaum noch auffällt: Ein Land, in dem eine einzelne Partei und eine einzelne Person seit 2005 die Regierung bestimmt, das sich gerade auf eine dritte »Große Koalition« unter eben dieser Person einstellt, wirft dem westlichen Nachbarland, das über eine lebhafte politische Kultur verfügt, »Verkrustung« vor.

Für die deutsche und französische Wirtschaftspolitik zentral ist die verbreitete These, Frankreich sei im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, der nur dann aufgehalten werden könne, wenn man sich endlich entschließen würde, das deutsche Vorbild – insbesondere die Maßnahmen der Agenda 2010 – zu kopieren. An dieser Darstellung ist – ähnlich wie am Vorwurf der politischen »Verkrustung« – fast alles falsch. Dies gilt zu allererst für die Demografie. Seit Langem hat Frankreich einen deutlichen Geburtenüberschuss – dort werden (pro Frau) durchschnittlich zwei Kinder geboren, in Deutschland sind es etwa 1,4. Infolgedessen ist Frankreichs Bevölkerung jünger: Fast ein Drittel ist unter 25 Jahren, in Deutschland sind es weniger als ein Viertel. Dafür sind bei uns 21,5 Prozent der Menschen älter als 65, in Frankreich weniger als 19 Prozent, obwohl die Lebenserwartung dort zwei Jahre höher ist als in Deutschland. Der Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung ist in Frankreich mit 13,6 Prozent mehr als drei Prozent niedriger als in Deutschland – trotz der deutlich höheren registrierten Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen. Aber es gibt eben in Frankreich auch mehr Jugendliche als in Deutschland.

Ökonomen pflegen sich nur selten für soziale Fragen zu interessieren – für sie sind angeblich »harte« Fakten wie Wachstum, Produktivität und Investitionen wichtiger. Aber auch hier ist das Bild der französischen Wirtschaft anders als behauptet: Zwischen 2000 und 2017 (Prognose) war die französische Wachstumsrate in fünf Jahren deutlich höher als in Deutschland, in fünf Jahren war es umgekehrt. Über die gesamte Periode hinweg sind die beiden Volkswirtschaften gleich stark gewachsen – um 1,3 Prozent jährlich. Auch für 2017 wird für beide Länder eine ähnliche Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP; ca. 1,5 Prozent) erwartet.

Anders sieht es bei den Investitionen aus – angeblich erstickt die (historisch begründete) höhere Staatsquote Frankreichs die Investitionstätigkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anteil der Investitionen am BIP, also die Investitionsquote, ist seit 2002 in Frankreich kontinuierlich höher als in Deutschland. In einzelnen Jahren beträgt die Differenz mehr als drei Prozent. Der Internationale Währungsfonds schätzt die Investitionsquote in Frankreich 2017 auf 20,8 Prozent, für Deutschland auf 19,4 Prozent. Da verwundert es nicht, dass die französische Arbeitsproduktivität nicht nur höher ist als die deutsche, sondern auch rascher zunimmt: Die europäische Statistikbehörde Eurostat gibt an, dass die reale Arbeitsproduktivität je Stunde zwischen 1999 und 2014 in Frankreich von 39 auf 47 Euro gestiegen ist, in Deutschland von 37 auf 42 Euro.

Wie kommt es, dass Deutschland trotzdem seinen Exportüberschuss gegenüber Frankreich steigert – von 16 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 36 Milliarden 2016? Das Geheimnis heißt Lohnstückkosten: Zwischen 1999 und 2014 sind diese in Deutschland um 15 Prozent gestiegen, in Frankreich (trotz höherer Produktivität) um 30 Prozent. Deutschland hat gegenüber Frankreich, geschützt durch den Euro, eine Art Lohndumping betrieben. Darum geht es bei der aktuellen »Reformdiskussion« in und um Frankreich: Sozialsysteme und Arbeitskosten sollen reduziert, Schutzstandards gesenkt werden. Wenn von »Verkrustung« gesprochen wird, ist die (relative) Stabilität des Sozialsystems gemeint.

Angesichts der französischen Geschichte der sozialen Bewegungen ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass sich diese Hoffnungen erfüllen werden – im Gegensatz zur deutschen Situation sind die Konfliktfähigkeit der französischen Arbeiter und Angestellten und ihre Bereitschaft zu spontanen Formen der Konfliktaustragung in Frankreich alles andere als verkrustet.

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.

Von Kindesbeinen an: Im Teufelskreis der Armut

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, einer sehr seriösen linken Zeitung, vom Februar: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/februar/von-kindesbeinen-an-im-teufelskreis-der-armut
von Annett Mängel
Er nimmt auf den inzwischen in zensierter Form vom Nahles-Ministerium veöffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht bezug.

In wenigen Wochen wird Arbeitsministerin Andrea Nahles den „Fünften Armuts- und Reichtumsbericht“ vorstellen. Die SPD könnte, ja sie sollte dies zum Anlass nehmen, einen Kontrapunkt zur derzeit alles dominierenden Debatte um die innere Sicherheit zu setzen. Dafür müsste sie deutlich machen, dass sie die wachsende soziale Ungleichheit endlich wieder ernst nimmt.

Immerhin gehen die jüngsten Fraktionsbeschlüsse zum Thema „Gerechtigkeit“ in eben diese Richtung: Die SPD fordert Ganztagsbetreuung in der Kita für alle Kinder, die Entlastung von Alleinerziehenden und einen Familientarif im Steuerrecht, unabhängig von der Art des Zusammenlebens der Eltern. Auf diese Weise will sie Ungleichheit abbauen und setzt dabei zu Recht vor allem auf eine stärkere Unterstützung von Familien.
Das Nachsehen haben allerdings all jene, die in der Armutsfalle Hartz IV festhängen – während Gutverdiener und Wohlhabende keine Einschnitte zu befürchten haben. Ohne eine gesellschaftliche Umverteilung aber wird man das wachsende Armutsproblem hierzulande nicht bekämpfen können.

Doch während sich die SPD-Bundestagsfraktion das Thema Gerechtigkeit immerhin auf die Fahnen geschrieben hat, streichen CDU und CSU ihnen missfallende Passagen munter aus dem „Armuts- und Reichtumsbericht“.
So war in der ersten Fassung noch explizit von einer „Krise der Repräsentation“ die Rede:Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Es gebe sogar „eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“[1]
Dieser dramatische Befund fehlt in der zweiten Fassung – vermutlich auf Veranlassung des Bundeskanzleramts *). Und obwohl ursprünglich besonders der Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersucht werden sollte, verschwand auch hier die entscheidende Passage, nämlich zum Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungen.

Die Analyse der bestehenden Verhältnisse wich so „der Apologie des Regierungshandelns“[2], wie der Paritätische Gesamtverband zu Recht moniert. Erheblich relativiert wurde auch die Aussage, dass sich die Ungleichheit negativ auf das wirtschaftliche Wachstum auswirkt: Dieses hätte „fast sechs Prozentpunkte höher ausfallen können“, hätte die Ungleichheit in den vergangenen Jahren nicht in so hohem Maße zugenommen, wie der „Paritätische“ mit Verweis auf die OECD betont.

Die derart geschönte Analyse ist umso fahrlässiger, weil das Problem noch gravierender geworden ist: Die soziale Mobilität nimmt ab[3] und die Armutsquote der Bundesrepublik liegt inzwischen bei 15,7 Prozent.
Damit hat jeder Siebte weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung: Im Jahr 2015 lag die so ermittelte Armutsschwelle für alleinlebende Personen bei 942 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1978 Euro.[4]
Zugleich sind mehr als eine halbe Million Rentnerinnen und Rentner von Grundsicherung im Alter abhängig, mehr als je zuvor und mit steigender Tendenz. Besonders von Armut betroffen sind Alleinerziehende und deren Kinder.[5] Die Folgen von Armut sind dramatisch: Frauen im untersten Fünftel der Gesellschaft haben eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als Frauen im obersten Fünftel, bei Männern liegt die Differenz sogar bei elf Jahren.[6]

Der Hauptgrund für Armut ist – neben Arbeitslosigkeit – das niedrige Einkommen infolge prekärer Arbeitsverhältnisse. Deshalb müssen auf dem Arbeitsmarkt endlich Standards durchgesetzt werden, die es den Menschen ermöglichen, von ihrer Arbeit auch zu leben.
Bei der jüngsten Erhöhung des Mindestlohns auf 8,84 Euro pro Stunde kann davon nicht die Rede sein. Damit eine Familie zu ernähren, ist völlig ausgeschlossen, von der Hoffnung auf eine auskömmliche Rente ganz zu schweigen. Will der Staat nicht dauerhaft – und noch dazu unzureichend – schlechte Arbeitsbedingungen subventionieren, durch aufstockende Hartz-IV-Leistungen, Wohngeld und Kinderzuschläge, dann muss er sich für „gute Arbeit“ stark machen. Wird der fatale Trend zu immer mehr prekärer Beschäftigung – von der Paketbotin bis zum Altenpfleger – dagegen nicht endlich umgekehrt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt noch weiter erodieren.

Die große Kluft zwischen Kindern

Besonders gravierend wirkt sich Armut auf das Leben von Kindern aus. Bei ihnen beginnt ein wahrer Teufelskreis: Kinderarmut erhöht das Risiko von Einkommensarmut und damit auch von Altersarmut. Deshalb ist es besonders dringend geboten, hier wirksam gegenzusteuern.
Inzwischen lebt fast jedes fünfte Kind in einkommensarmen Haushalten, jedes siebte Kind sogar von Hartz IV. Für Letztere stehen nach den jüngsten Erhöhungen zum Januar 2017 lediglich zwischen 237 und 311 Euro pro Monat zur Verfügung: für Essen, Bildung und Freizeit. Eine ausgewogene Ernährung und eine auch nur minimale gesellschaftliche Teilhabe sind davon kaum möglich. Die Posten für Schreibwaren, Zeichenmaterial und Hobbykurse sind bei der Berechnung sogar gestrichen worden – unter Verweis auf das Bundesteilhabegesetz.
Doch weil dessen Angebot nicht ausreichend kommuniziert und vor allem der bürokratische Aufwand zu hoch ist, machen viel zu wenige tatsächlich Gebrauch davon.

Der Paritätische Gesamtverband moniert deshalb zu Recht, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder „wissenschaftlich nicht belastbar und realitätsfern“ sind, und fordert eine Anhebung um 29 Prozent sowie eine nachvollziehbare Neuberechnung.[7]
Darüber hinaus macht er sich gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden, den Grünen und der Linkspartei für eine allgemeine Kindergrundsicherung stark.

Tatsächlich beeinflusst das Aufwachsen in Armut die Lebensrealität und die Zukunftschancen von Kindern ganz massiv.

Sie wohnen oft unter beengten Verhältnissen und damit ohne einen ruhigen Platz, um Hausaufgaben zu erledigen.
Ein Viertel der armen Kinder bekommt teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesundes Essen. Der permanente Mangel verschlechtert das Familienklima. Und auch die sozialen Netzwerke sind kleiner, denn die Kinder nehmen weniger Freizeitangebote – ob Musikschulen oder Fußballvereine – wahr.
Viele arme Kinder entwickeln daher ein geringeres Selbstwertgefühl, nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung. So starten sie mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule und werden dort selbst bei gleichen Leistungen schlechter bewertet als Kinder aus wohlhabenden Haushalten.[8]

Jede neue Bildungsstudie attestiert Deutschland eine im Vergleich zu anderen Ländern besondere Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft – und dennoch hat sich daran noch immer nichts geändert. Vielmehr verfestigen sich die Unterschiede zwischen armen und nichtarmen Kindern schon früh.
Vielerorts ist die Möglichkeit, eine Kita zu besuchen, an eine sogenannte Bedarfsprüfung gekoppelt – das will nach der Linkspartei nun auch die SPD endlich ändern. Bislang nämlich können nur jene Kinder den ganzen Tag in die Kita gehen, deren Eltern auch Vollzeit arbeiten. Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen oder deren Eltern eine Teilzeitstelle haben, können dagegen nur einen halben Tag in der Kita verbringen. Diese absurde Regelung ist besonders für jene Kinder von Nachteil, die von Spiel und Sport mit anderen, vom Basteln und Vorlesen besonders profitieren würden, weil ihnen zu Hause zu wenig Angebote gemacht werden.

Auch die grassierende Wohnungsnot in vielen Großstädten und die damit verbundene Verdrängung von Haushalten mit geringem Einkommen aus den Innenstädten spielt hier eine fatale Rolle. Denn die zunehmende Segregation **) in einkommenshomogene Wohnviertel verschärft die Kluft zwischen den Bildungschancen. Vor allem Kinder mit nichtdeutscher Herkunft profitieren von sprachlich durchmischten Kitagruppen, da sie so schon in jungen Jahren die deutsche Sprache erlernen.

Zudem benötigen die Kitas ausreichend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, von denen es derzeit viel zu wenige gibt. Der „Erziehermarkt“ ist leergefegt – und in den kommenden Jahren stehen viele Renteneintritte an. Um dem gesetzlich zugesicherten Anspruch auf einen Kitaplatz ab einem Jahr wirklich gerecht zu werden, muss daher in den kommenden Jahren massiv investiert werden: Mehr Erzieherinnen und Erzieher müssen ausgebildet, sinnvolle Strategien für die Weiterbildung von Quereinsteigern erarbeitet und diese so in die Kitas eingebunden werden, dass sie auch tatsächlich eine Hilfe und keine Belastung für die dortigen Erzieherinnen und Erzieher sind.[9]

Umverteilung ist nötig

Dafür aber wird eine Menge Geld benötigt. Doch eines steht fest: Eine gute Bildung unserer Kinder ist die beste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Solange dies nicht durch die dringend gebotene stärkere steuerliche Belastung von hohen Einkommen und Vermögen geschieht, sollten – angesichts des enormen Bedarfs an Kitaplätzen und Erziehern – allerdings auch nicht die Kitagebühren gänzlich für alle abgeschafft werden, wie es jüngst die SPD gefordert und für Berlin schon beschlossen hat.[10]
Wer tatsächlich „die Zugangshürden“ für Kinder von Geringverdienern und Hartz-IV-Beziehern abbauen will, sollte sich vielmehr für bundesweit gleiche Regelungen und sinnvoll gestaffelte Gebühren einsetzen, um auf diese Weise die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Denn derzeit fallen Kitagebühren bundesweit höchst unterschiedlich aus: So gibt es Gemeinden, in denen ein Kitaplatz einkommensunabhängig mehr als 600 Euro im Monat kostet – die Trennung von armen und reichen Kindern ist hier vorprogrammiert.

Für die einen ist die Kita unerschwinglich. Die anderen hingegen, die in der Lage sind, solche Summen zu begleichen, können einen Großteil davon vom zu versteuernden Einkommen abziehen lassen. Zugleich erfahren sie über den Kinderfreibetrag bereits eine höhere Zuwendung vom Staat als Durchschnitts- und Geringverdiener. Denn bei gutverdienenden Eltern lässt der sogenannte Kinderfreibetrag wegen der progressiv steigenden Steuersätze die Steuerlast in einem höheren Maße sinken, als weniger gut verdienende Eltern Kindergeld erhalten.[11]
Kurzum: Für Kinder, deren Eltern sowieso viel Geld für Bildung ausgeben können, gibt der Staat noch extra was obendrauf.

Dabei müssen einkommensschwache Haushalte ohnehin einen viel größeren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Bildungsausgaben aufwenden. Die Konsequenz: Während in den untersten Einkommensgruppen nur knapp 30 Prozent der Familien für sogenannte nonformale Bildung jenseits von Kita und Schule Geld ausgeben – also für Musikschulen oder Sportvereine – sind es in den obersten Einkommensgruppen 80 Prozent.[12]

Um die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Kindern zu verkleinern, sind deshalb vor allem drei Dinge erforderlich: Erstens müssen die derzeitigen Haushaltsüberschüsse von Bund und Ländern dringend in gute Kitas, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen investiert werden – notfalls auch der vergötzten schwarzen Null zum Trotz.

Zweitens müssen Familien zielgenauer unterstützt werden – vor allem jene, die Hartz IV beziehen. Die SPD-Idee, das Kindergeld je nach Einkommen zu staffeln und den Kinderzuschlag für Geringverdiener gleich mit auszuzahlen, entbehrt zudem nicht eines gewissen Charmes. Sichergestellt werden muss dann jedoch, dass es nicht die Durchschnittsverdiener sind, die dabei verlieren.

Drittens muss deshalb endlich eine Steuerreform angepackt werden. Den Anfang machen sollte dabei die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf den Stand zu Helmut Kohls Zeiten, also von jetzt 42 auf 53 Prozent – damit hohe Einkommen und Vermögen endlich wieder einen höheren Beitrag für mehr Chancengleichheit unserer Kinder leisten können.
Nur so kann der wachsenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wirksam begegnet werden.

[1] Erste Fassung des Fünften Armuts- und Reichtumsbericht, S. 172.

[2] Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, 4.1.2017.

[3] Dorothee Spannagel, Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016, WSI-Report 31, 10/2016.

[4] Das sogenannte Medianeinkommen steht genau in der Mitte aller nach Größe sortierten Einkommen: Bei drei betrachteten Einkommen von 500, 2000 und 10000 Euro läge das Medianeinkommen bei 2000 Euro, das Durchschnittseinkommen hingegen bei 4166 Euro.

[5] Anne Lenze und Antje Funke (Bertelsmann-Stiftung), Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf, Gütersloh 2016.

[6] Fred-Jürgen Beier, Armut kann tödlich sein, in: „der Freitag“, 10.10.2016.

[7] Vgl. Der Paritätische Gesamtverband, Expertise: Regelsätze 2017. Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze durch das Bundesministerium Arbeit und Soziales und Alternativberechnungen der Paritätischen Forschungsstelle, Berlin 2016, S. 19.

[8] Vgl. Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig (Bertelsmann-Stiftung), Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016, insbesondere S. 13 und S. 56.

[9] Anfang Januar gaben die Berliner und die Bremer Bildungssenatorinnen, Sandra Scheeres und Claudia Bogedan, bekannt, den Erzieherberuf zum Mangelberuf erklären zu lassen. Dann wären Fördermaßnahmen besser finanzierbar und die Einstellung ausländischer Fachkräfte würde erleichtert. Die GEW unterstützt den Vorstoß.

[10] Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Gute Zeiten für Familien, 13.1.2017, www.spdfraktion.de.

[11] Weil das „Existenzminimum“ steuerfrei sein muss, werden pro Kind 7356 Euro jährlich vom zu versteuernden Einkommen abgezogen. Das Finanzamt prüft automatisch, ob für die Steuerzahler der Freibetrag oder das Kindergeld günstiger ist. Bis zu einem Haushaltseinkommen in Höhe von 46 000 Euro ist die Kindergeldsumme bei einem Kind höher, als es die Steuerersparnis wäre. Bei einem Haushaltseinkommen in Höhe von 100 000 Euro liegt die Steuerersparnis schon knapp 1000 Euro darüber, bei zwei Kindern beträgt sie sogar 1879 Euro mehr, als wenn es Kindergeld gäbe. (Eigene Berechnung nach aktueller Splittingtabelle.)

[12] Vgl. Carsten Schröder, C. Katharina Spieß und Johanna Storck, Private Bildungsausgaben für Kinder. Einkommensschwache Familien sind relativ stärker belastet, „DIW-Wochenbericht“, 8/2015, S. 166.

(aus: »Blätter« 2/2017, Seite 9-12)

* Anmerkung: Das Bundeskanzleramt leitet zufällig derselbe Altmaier, der jetzt auch das Wahlprogramm für die CDU schreiben soll. Der Mann hat noch nie Armut am eigenen Leib gespürt.
** Segregation := Einsortierung – die Reichen kriegens aus dem Töpfchen, die Armen aus dem Kröpfchen

Jochen

Sensation: Gabriel schlägt Lafontaine die Zusammenarbeit von SPD und Linkspartei vor

http://www.nachdenkseiten.de/?p=32638

Dank der guten Kontakte zu Führungspersonen der beiden Parteien sind die NachDenkSeiten in den Besitz eines vertraulichen, strategisch wichtigen Papiers gekommen. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schlägt darin dem früheren SPD-Vorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Saarland, Oskar Lafontaine vor, das Kriegsbeil zu begraben und im Blick auf die Bundestagswahl 2017 eine Zusammenarbeit zu erreichen. Das ist eine wahrlich notwendige, strategische Wende. Sie ist aus der Not geboren, hat aber das Potenzial für eine Erfolgsgeschichte.

Das im folgenden in Auszügen dokumentierte Papier enthält eine kurze Analyse der Ausgangslage, Vorschläge zur Programmatik und strategische Überlegungen zur Eroberung einer Mehrheit des fortschrittlichen Teils unserer Gesellschaft. Von Albrecht Müller

Das Papier des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel (Auszüge):

Lieber Oskar Lafontaine,

wohl wissend, dass SPD und Linkspartei eher wie tief verfeindete Brüder erscheinen, wende ich mich an Dich mit dem Vorschlag zur sachlichen, zugleich emotionalen und strategischen Annäherung und Zusammenarbeit. Natürlich weiß ich, dass Du in der Linkspartei nicht über entscheidende Ämter verfügst, aber du kannst bei der vorgeschlagenen und aus meiner Sicht existenziellen Wiedervereinigung unserer politischen Kräfte eine Schlüsselrolle übernehmen.

Die Ausgangslage ist ernüchternd

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen Anhalt, und für die Linkspartei auch in Rheinland-Pfalz, haben gezeigt, dass beide Parteien mit der jetzt verfolgten Strategie keine Wahlerfolge erzielen und der Bedeutungslosigkeit entgegengehen. Das hat verschiedene Ursachen.

Unter anderem dürfte eine gravierende Rolle spielen, dass die Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums nicht als handelnde Einheit oder wenigstens als handlungsfähiges Bündnis mit dem Ziel des Gewinns der politischen Macht gesehen werden, sondern als zerstrittene, gegeneinander positionierte politischen Kräfte. Warum sollten Menschen Parteien wählen, die gar nicht zusammenarbeiten wollen und ihnen in dieser schwierigen gesellschaftlichen und weltpolitischen Lage keine Alternative zum herrschenden Einheitsbrei bieten.

Die jetzige Situation hat gravierende Folgen:

  1. Wenn die Menschen keine Alternative mehr geboten bekommen, dann zweifeln sie am Sinn und an der Existenz demokratischer Verhältnisse.
  2. Das Interesse für Politik schwindet. Die Beteiligung daran ebenfalls. Gleichzeitig werden die Menschen anfällig für rechtsradikale Parteien.

Es gibt gute Gründe, keine Zeit zu verlieren. Wenn SPD und Linkspartei nicht zu Wortführern einer Alternative zu Frau Merkel und zum neoliberalen Zeitgeist werden, dann wird sich Schwarz-Grün als scheinbare Alternative anbieten. Und wenn dies nicht nur in Hessen und Baden-Württemberg stattfindet, sondern auch im Bund und in anderen Bundesländern, dann ist die Zeit und Gelegenheit für eine fortschrittliche Alternative verstrichen. Dann erscheint Schwarz-Grün als die Alternative zu Schwarz-Gelb und anderen rechtskonservativen Möglichkeiten. Diese faktische Alternativlosigkeit wäre fatal. Denn:

Die Herausforderungen sind so, dass fortschrittliche Alternativen auf nahezu allen Feldern der Politik notwendig sind:

  1. Herausforderung: Unsere Gesellschaft ist tief gespalten – in oben und unten, in Reich und Arm. Die Verteilung der Einkommen und der Vermögen und damit auch der Chancen ist skandalös.In den letzten Tagen ist öffentlich geworden, dass die Lebenserwartung des ärmeren Teils unseres Volkes geringer ist als die Lebenserwartung der Gut- und Bessergestellten. Das ist keine neue Erfahrung. Aber wir dachten, solche schlimmen Verhältnisse überwunden zu haben. In der DDR und im Westen. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es in sozialdemokratisch geprägten Familien üblich, in Anlehnung an den Titel eines Filmes von 1956 zu beklagen: „Weil du arm bist, musst du früher sterben.“ Die SPD hat es dann in den sechziger und siebziger Jahren durch eine aktive Bildungs-und Sozialpolitik geschafft, wenigstens die schlimmsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen und auch den Kindern aus Arbeiter-Familien Zugang zu einer weiterführenden Bildung zu verschaffen.
    Warum sollten wir an diesen guten Erfahrungen und an diesen Erfolgen nicht anknüpfen und gemeinsam gegen Armut und Spaltung unserer Gesellschaft angehen?

    Für die SPD hat das Konsequenzen, zum Teil harte programmatische Konsequenzen.

    Zum Beispiel:

    1. Abkehr von der Agenda 2010. Wiedereinführung einer vollwertigen Arbeitslosenversicherung. Schluss mit prekären Arbeitsverhältnissen, mit Leiharbeit und Niedriglohnsektor.
    2. Konzentration aller Mittel auf die gesetzliche Altersvorsorge, Wiederaufbau  ihrer Leistungsfähigkeit und Stopp für alle Formen staatlicher Förderung privater Altersvorsorge.
    3. Umkehr auf dem Weg zur Zweiklassenmedizin.
    4. Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen war ein Irrweg. Die Sozialdemokratie war einmal schon viel weiter, als sie formulierte: „Wettbewerb soweit wie möglich, staatliche Planung und Tätigkeit soweit wie nötig.“ Am sozialen Wohnungsbau kann man studieren, dass die Privatisierung viel zu weit getrieben wurde. Genauso in der Bildungspolitik. Wir, Sozialdemokratie und Linkspartei, könnten zusammen neue Pflöcke einschlagen für eine zugleich vernünftige wie auch gerechte Verteilung öffentlicher und privater Tätigkeiten.
    5. Selbstverständlich wäre die Steuerpolitik ein wichtiges Feld gemeinsamer Tätigkeit zur Minderung der Spaltung unserer Gesellschaft, zum Beispiel:
      • Der Spitzensteuersatz könnte doch mindestens auf das Niveau der Zeit von Helmut Kohl angehoben werden: 53 %.
      • Die zum 1.1.2002 eingeführte Befreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen von der Besteuerung müsste gestrichen werden. Das hätte nicht nur Folgen für die Steuergerechtigkeit; Das wäre auch ein Beitrag gegen den weiteren steuerbegünstigten Ausverkauf von deutschen Unternehmen, die jeweils in der Regel mit harten Belastungen für die Betriebe und vor allem für die Beschäftigten verbunden waren und sind.
      • Wir müssten und könnten gemeinsam nach Wegen suchen, um Spekulationsgewinne weitgehend ab zu schöpfen. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Entmachtung der Finanzwirtschaft.
      • Wichtig wäre der unbestechliche Kampf gegen Steueroasen und Steuerhinterziehung.

    Das waren einige wenige Beispiele für eine gemeinsame Politik zum Abbau der Spaltung unsere Gesellschaft. Wahrscheinlich könnten wir uns recht schnell auf eine Reihe anderer wichtiger Änderungen verständigen.

  2. Herausforderung: Der neue West-Ost-Konflikt, Kalter Krieg und wirkliche Kriegsgefahr.Was wir 1989 erreicht hatten – das Ende des West-Ost-Konfliktes, die Zusammenarbeit zwischen West und Ost, zwischen den USA, Europa und Russland, die Verabredung, gemeinsam für Sicherheit in Europa zu sorgen – das ist nahezu alles verspielt worden. Der Konflikt zwischen West und Ost wird auf vielerlei Weise angeheizt. Die NATO rückt immer näher an die Grenzen Russlands heran. Es wird aufgerüstet, mit Waffen und mit Worten. Wichtige Regeln aus der Zeit der Entspannungspolitik sind vergessen. Sich in die Lage des anderen zu versetzen, Vertrauen zu bilden, zu bedenken, was die Konfrontation für die innere Entwicklung des Partners beziehungsweise des Gegners bedeutet – alles vergessen. Wandel durch Annäherung – eine vergessene politische Leitlinie, vergessen, obwohl sie äußerst erfolgreich war.

    Sozialdemokraten und Linkspartei könnten auf ein gemeinsames gedankliches und faktisches Erbe zurückgreifen und eine neue Politik der Verständigung einleiten. Diese ist lebensnotwendig.

  3. Herausforderung: Die USA. Und das Ziel: Befreiung Europas aus der Vormundschaft der USA.Wegen des imperialen Anspruchs ihrer meinungsführenden Eliten aus dem neokonservativen und aus dem etablierten demokratischen Lager und ihrer Neigung zur militärischen Intervention wurden sie erkennbar eher zum Störenfried als zum Retter des Weltfriedens. Mit Clinton oder Trump als Präsident/in würde die Lage noch schlimmer.
    Europa muss sich militärisch, außenpolitisch und wirtschaftspolitisch aus der Vormundschaft der USA befreien.

    Praktisch heißt das vieles: langfristig zum Beispiel die Kündigung der militärischen Basen und die Auflösung der NATO, wie es übrigens im SPD-Grundsatzprogramm von 1989 schon anvisiert und versprochen worden ist. Kurzfristig zum Beispiel die Verweigerung der Zustimmung zu den Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Kurzfristig sollte auch die Streichung der Sanktionen gegenüber Russland auf der Agenda stehen. Diese Politik, auf die sich SPD und Linkspartei leicht verständigen könnten, wenn sie ihren Grundwerten treu blieben, richtet sich nicht gegen das amerikanische Volk. Sie richtet sich ausschließlich gegen den Anspruch ideologisch geprägter US-Eliten, die nicht auf Partnerschaft, sondern auf imperiale Macht setzen.

  4. Herausforderung: Europa retten.Wir, die deutsche Bundesregierung und damit die Koalition aus CDU, SPD und CSU, haben mit ihrer Austeritätspolitik und Währungspolitik der forcierten Exportüberschüsse Europa an den Rand des Scheiterns gebracht. Die Linkspartei war zwar auch nicht immer einheitlicher Meinung, sie hat aber von Anfang an eine vernünftige und insgesamt Europa förderlichere Linie vertreten. Sie hat sich an der Demütigung zum Beispiel des griechischen Volkes nicht beteiligt. Jedenfalls könnten Sozialdemokraten wie auch die Bundesregierung auf diesem Feld der Politik viel von den Fachleuten der Linkspartei lernen, die Zusammenarbeit wäre produktiv und sie wäre nötig, um die Volkswirtschaften Europas in eine gleichgerichtete Entwicklung zu bringen, in eine Richtung, die allen Völkern die Luft zum Atmen, zur Entwicklung ihrer Wirtschaftskraft und zur Gestaltung ihrer eigenen Lebensweise lässt.

    Welche Folgen das dann für die Weiterentwicklung des Euro und des Euroraums hätte, wäre zu besprechen. Der Spielraum für eine vernünftige und erfolgreiche Politik ist schon deshalb groß, weil sie von den Fesseln der Ideologie eines Herrn Schäuble befreit wäre.

    Wichtig für den künftigen Zusammenhalt Europas ist die Wirtschafts- und Lohnpolitik unseres eigenen Landes, unserer Regierung und der Tarifpartner.

    Die Löhne in Deutschland, genauer die Lohnstückkosten, müssen im Vergleich zu den meisten anderen Ländern Europas steigen. Deutschland muss eine aktive Beschäftigungspolitik betreiben. Es muss zusammen mit anderen ähnlich gelagerten Ländern Europas zur Konjunktur-Lokomotive der Europäischen Union werden. Sozialdemokratische Wirtschafts- und Finanzpolitiker – ich erinnere an Karl Schiller – haben in einer ähnlich gelagerten Situation Ausgangs der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch gewusst, was sachgerechte Wirtschaftspolitik ist. Jetzt müssen und können wir von der Linkspartei auf diesem wichtigen Feld der Politik lernen. Wir sind bereit, das zu tun.

  5. Herausforderung: Der Werteverfall.Vermutlich gibt es kein anderes Wort, das ähnlich oft und inbrünstig wie das Wort „Werte“ oder „Wertorientierung“ von neoliberal geprägten Politikern und Ideologen im Munde geführt wird.

    Das aber ist reine Camouflage. Damit wird verdeckt und soll wohl auch verdeckt werden, dass in einer Welt der totalen Kommerzialisierung Egoismus die entscheidende Leitlinie des Handelns ist. Schon das neoliberale Glaubensbekenntnis, „jeder ist seines Glückes Schmied“, ist eine Verneigung vor dem Egoismus als Richtschnur des Zusammenlebens.

    Den Blick auf das eigene Interesse wird es immer geben. Das ist menschlich. Entscheidend ist, ob Egoismus und Ellenbogen das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft total prägen sollen. Entscheidend ist, dass Raum bleibt für Mitmenschlichkeit, für Solidarität und die Fähigkeit zum Mitleiden, Mitfühlen, Compassion, wie es Willy Brandt 1972 gesagt und empfohlen hat. Das war fünf Wochen vor einer erfolgreichen Wahl. Ich erwähne das Beispiel deshalb, weil es zeigt, dass man als linke Partei mit dem Appell an den Grundwert Solidarität Wahlen gewinnen kann. Jeder Mensch schaut auf sein eigenes Interesse, aber die Mehrheit der Menschen ist auch ansprechbar für Solidarität mit anderen Menschen.

Damit bin ich bei der wichtigen Frage, ob und wie die Parteien des fortschrittlichen Spektrums unserer Gesellschaft Wahlen gewinnen können.

Dazu ein paar Einschätzungen und Empfehlungen:

  1. Wir müssen die Menschen auf ihre gute Seite, auf Ihre Bereitschaft zu Solidarität und Mitfühlen ansprechen.Das wird nicht möglich sein, wenn wir nichts tun, um die Spaltung unsere Gesellschaft in Arm und Reich wirksam zu mindern.
  2. Die herrschende Ungerechtigkeit, die unfaire Verteilung von Einkommen und Vermögen ist inzwischen ein Thema geworden, das in weiten Kreisen besprochen und erfasst wird. Deshalb kann die Spaltung unserer Gesellschaft ein wichtiges Thema werden.
  3. Neben Gerechtigkeit muss Effizienz und die fachliche Qualität der Wirtschaftspolitik eine Domäne des linken Teils unsere Gesellschaft werden. Zu Unrecht gelten die Konservativen und Neoliberalen als kompetenter. Sie haben rund um versagt. Ihre Politik hat zu einer europaweiten Unterauslastung der Ressourcen geführt. Sie haben die Währungsunion an die Wand gefahren. Sie lassen riesige Monopole und Oligopole zu. Das widerspricht ihren Sonntagsreden über die Marktwirtschaft. Deshalb, so meine ich, kann und muss Wirtschaftskompetenz und Effizienz das Markenzeichen der Sozialdemokratie und der Linken sein.
  4. Jahrzehntelang war die Parole „Nie wieder Krieg“ in Deutschland mehrheitsfähig. Die Mehrheit mag unter dem Eindruck der verschiedenen geführten Kriege und der ständigen Kriegspropaganda etwas geschrumpft sein. Aber die Sorge um den Frieden wird ein großes Thema bleiben und größer werden können. Auch deshalb, weil ständig Anlässe dafür geboten werden: leider viele Kriege, immer neue Milliarden für die militärische Rüstung und so weiter.
  5. Kein neuer West-Ost-Konflikt. Dieses Ziel ist mehrheitsfähig. Sozialdemokraten und Linke vertreten es in gleicher Weise glaubwürdig. Auch wenn die Propaganda der kalten Krieger anschwillt, sie werden bei diesem Thema nicht gewinnen, wenn die linke Seite vereint dagegen hält.
  6. In weiten und sehr verschiedenen Kreisen unseres Landes ist ein Unbehagen gegenüber den führenden Kräften der USA zu spüren. Deshalb und aus sachlichen Gründen sollte die Befreiung aus der Vormundschaft der USA ein zentrales Thema der politischen Auseinandersetzung im Blick auf die Bundestagswahl 2017 werden.

Es gibt noch viele andere Möglichkeiten …

Es wäre gut und hilfreich, wir könnten uns bald mal treffen. Wie sieht es denn bei Dir am 1. April aus?

Schöne Grüße
Sigmar Gabriel

Nachtrag von Albrecht Müller:

http://www.nachdenkseiten.de/?p=32705

Den Brief des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel an Oskar Lafontaine und damit den Vorschlag zur Zusammenarbeit (siehe hier) gibt es nicht. Leider frei erfunden. Aber es war zugleich der Versuch, wichtige Teile eines Not-wendigen Programms vorzustellen und das Gespräch darüber anzuregen. Außerdem sollte sichtbar werden, wie leicht es wäre, gute Themen und Konflikte für die fällige Wahlauseinandersetzung zur Bundestagswahl 2017 zu finden und damit auch Mehrheiten zu gewinnen. Jene Leserinnen und Leser, die sich getäuscht fühlten, bitte ich ausdrücklich um Entschuldigung. Albrecht Müller.

Es war wirklich gut gemeint. So hat es die Mehrheit der NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser wohl auch verstanden. Einen Leserbriefschreiber möchte ich zitieren. T.B. schrieb heute Nacht um 3:00 Uhr:

Mit ein paar Tagen Verspätung, weshalb ich zuerst nicht am Wahrheitsgehalt zweifelte, las ich mit wachsender Begeisterung und zunehmendem Staunen den Beitrag von Albrecht Mueller „Gabriel schlägt Lafontaine Zusammenarbeit von SPD und Linkspartei vor“.
Soviel Selbstkritik und Reflektion des eigenen Handelns und seiner Führungsposition bei der SPD hätte ich Sigmar Gabriel nicht zugetraut. Endlich der langersehnte Kurswechsel und ein gemeinsamer Aufbau linker Alternativen? Es war fast wie Weihnachten, und spontan war ich bereit, mich zu engagieren.
Dann kam langsam die Ernüchterung: Moment, wurde der Beitrag nicht am 1. April veröffentlicht? Dann muss das ja ein Scherz sein. Schade, aber es war sowieso fast zu schön um wahr zu sein.
Trotzdem, ein interessanter Denkanstoß, was sein könnte. Ich hoffe, er findet den Weg in die Parteien und zu vielen anderen Menschen. Vielleicht zeigt er ja doch Wirkung.
Viele Grüße und ein herzliches Dankeschön für die Nachdenkseiten.

So war es gedacht: ein Denkanstoß.

Der Artikel hat im Internet eine beachtlich große Diskussion ausgelöst. Überdurchschnittlich viele NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser haben uns geschrieben. Großen Dank dafür. Eine Auswahl der Lesermails werden wir ins Netz stellen.