Sexarbeit ist Arbeit – Abschaffung von Prostitution ist weder möglich noch nötig

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ob jemand mit den Händen, dem Mund oder seinen Geschlechtsteilen Lohnarbeit verrichtet, ist aus sozialistischer Sicht gleich zu behandeln.
Entfremdung
spielt in allen Fällen eine Rolle, Ausbeutung häufig, wie schon hier
https://josopon.wordpress.com/2019/12/22/wenn-es-um-sex-geht-wird-fur-viele-schnell-alles-schwierig-uber-kleinburgerliche-moral-hiv-und-den-unterschied-von-prostitution-und-sexarbeit/ und hier https://josopon.wordpress.com/2016/11/01/das-neue-prostituiertenschutzgesetz-ein-regelwerk-der-repression/ beschrieben. Man findet da eine unglaubliche Koalition von emanzipationsfeindlichen Klerikalen und männerfeindlichen Emanzen, die jeden Kunden zum Täter erklärt.
Demnach kann ich mich der folgenden Einschätzung von Birthe Berghöfer anschlieen: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1137369.prostitution-sexarbeit-ist-arbeit.html
Auszüge:

IProstitutionm Zuge des coronabedingten Berufsverbots für Sexarbeiterinnen fordern 16 Bundestagsabgeordnete aus Union und SPD gleich die endgültige Abschaffung der Prostitution: Mit dem Schwedischen Modell sollen der Kauf sexueller Dienstleistungen und damit die Freier kriminalisiert, Zwangsprostitution beendet und Sexarbeiterinnen geschtzt werden.

 

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Proteste gegen das „Prostituiertenschutzgesetz“ unter dem Motto „Mein Körper, mein Bettlaken, mein Arbeitsplatz“ im Sommer 2016 in Berlin – Foto: Bjoern Kietzmann

Dagegen wehren sich – auch ber den Internationalen Hurentag am 2. Juni hinaus – Berufsverbände und Prostituierte.

Denn ein Sexkaufverbot macht alle Sexarbeiter*innen pauschal zu Opfern. Zwangsprostitution ist durchaus ein Problem, durch Gesetze gegen Menschenhandel jedoch bereits strafbar.
Das weitläufige Argument, es handele sich um eine frauenfeindliche Tätigkeit, zu der Frauen gezwungen wrden, bersieht nicht nur, dass auch Männer, Trans und Nicht-binäre Personen Sexarbeit leisten. Es bersieht auch, dass sexuelle Dienstleistungen durchaus einvernehmlich sind. Ist dies nicht der Fall, sollten Gesetze gegen Vergewaltigung greifen.

Der Vorstoß reiht sich also ein in die anhaltende Stigmatisierung von Prostitution als unsittliche Dienstleistung.
Er ignoriert, dass sich das älteste Gewerbe der Welt nicht einfach abschaffen, sondern lediglich in den Untergrund drängen lässt.
In alter Tradition wird über den weiblichen Körper und ihren Einsatz bestimmt.
Dabei sollte der feministische Slogan My Body, My Choice auch hier zu tragen kommen.

Mein Kommentar: Gesetze gegen Menschenhandel, für Arbeitsschutzrechte, Mitbestimmungsrechte für Sexarbeiter durchzusetzen, würde heißen, die stillen heimlichen Übereinkünfte im „Milieu“ mit viel personellem Aufwand zu durchleuchten und viele Korruptionssümpfe trocken zu legen. Das klappt ja noch nicht einmal auf Schlachthöfen.

Und möglicherweise sind auch einige politisch Verantwortliche als Kunden erpressbar und halten deshalb die Hand drber, schaffen statt dessen eine Gesetzesverschärfung, die mangels Personal kaum durchgesetzt wird, aber bei den Lesern von Bild und ähnlichen Blättern gut ankommen wird.

Jochen

»Wenn es um Sex geht, wird für viele schnell alles schwierig« – Über kleinbürgerliche Moral, HIV und den Unterschied von Prostitution und Sexarbeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das erschien vor einigen Wochen zum Welt-AIDS-Tag in der jungen Welt. Ich stelle es anlässlich des „Fests der Liebe“ hier noch mal ein:
https://www.jungewelt.de/artikel/367879.prostitutionsdebatte-wenn-es-um-sex-geht-wird-f%C3%BCr-viele-schnell-alles-schwierig.html
Aus meiner sozialistischen Sicht ist Lohnarbeit = Lohnarbeit, egal ob jemand seine Arme, seinen Verstand oder seine Geschlechtsorgane anbietet.
Mir macht es sehr große Sorgen, wenn in dieser Debatte männerfeindliche Emanzen und katholische Nonnen eine Koalition eingehen, die Sexarbeiter durch Einführung neuer Gesetze diskriminieren.
Durch verschärfte Gesetze kann man der Elendsprostitution nicht beikommen, siehe Skandinavien, wo sich diese nur noch mehr in den Untergrund verzogen hat.
Der erfolglose „Kampf gegen die Drogen“ sollte uns da belehren.
Elendsprostitution zu bekämpfen braucht man gut ausgebildete Ermittler und Polizisten, das würde Geld kosten und viele korrupte, im kriminellen System verstrickte Amtsträger gefährden. Gesetzesverschärfungen sind wohlfeil.
Hier gehts zum Text:

Ein Gespräch mit Mareen Heying und Ursula Probst. Über kleinbürgerliche Moral, HIV und den Unterschied von Prostitution und Sexarbeit

Interview: Markus Bernhardt
ehbdilkiljacghik

An diesem Sonntag ist Welt-AIDS-Tag. Hat dieser Tag auch für Sexarbeiterinnen und -arbeiter eine Bedeutung?

Mareen Heying: Wie für alle Menschen, die ein aktives Sexualleben haben und sich möglicherweise mit HIV infizieren können, hat der Tag auch für Sexarbeitende eine Bedeutung.

Und für Prostituierte?

M. H.: Ich verstehe Prostituierte als Sexarbeitende und nutze beide Begriffe synonym. In der Forschung hat sich der Begriff »Sexarbeit« durchgesetzt.
Dagegen kennt die deutsche Rechtsprechung nur den Begriff »Prostitution«. Es ist daher sinnvoll, beide Worte zu gebrauchen.

Ursula Probst: Genau hier liegt ein zentrales Problem: zu behaupten, dass Prostitution und Sexarbeit zwei grundlegend unterschiedliche Dinge wären. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch und nicht zielführend.

Sie würden also sagen, dass es sich bei allen Prostituierten um Sexarbeiterinnen und -arbeiter handelt?

M. H.: Der Begriff »Sexarbeit« ist spezifischer als »Prostitution«. Letzterer ist zudem mit zahlreichen Zuschreibungen und Bewertungen aufgeladen.
Der Begriff »Sexarbeit« wurde durch die US-amerikanische politisch aktive Prostituierte Carol Leigh 1978 eingeführt. Sie verstand ihn als Gegenbegriff zur Objektivierung von Prostituierten.
Er soll zum Ausdruck bringen, dass es sich bei der Tätigkeit um Arbeit handelt, die als eine freiwillig erbrachte sexuelle Dienstleistung zu verstehen ist, die einen einvernehmlichen Vertrag zwischen erwachsenen Geschäftspartnerinnen und -partnern voraussetzt.
Mit der Bezeichnung »Sexarbeit« verbunden war auch die Forderung nach Anerkennung von Prostituierten als Arbeiterinnen und Arbeiter, anstatt ihnen länger den Status des Opfers zuzuschreiben.
Durch die Verwendung von »Sexarbeit« wird der ökonomische Kern mit seinem Konsumcharakter sichtbar.

U. P.: Wobei man anerkennen muss, dass nicht alle Personen, die der Sexarbeit nachgehen, sich mit diesem Begriff identifizieren – selbiges gilt aber auch für den Begriff Prostituierte.
Wenn ich nun versuche, die unterschiedlichen ­Positionen zusammenzufassen, bevorzuge ich aus den genannten Gründen auch den Begriff »Sexarbeit«.
Gleichzeitig stellt sich dadurch die Frage, wie Arbeit definiert wird. Dazu muss man festhalten, dass Arbeit nicht immer »gut« oder »bereichernd« sein muss, der Begriff »Sexarbeit« also nicht automatisch eine positive Arbeitserfahrung suggeriert.

M. H.: Arbeit ist oft mit Notwendigkeit und Fremdbestimmung verbunden – innerhalb und außerhalb der Prostitution.

Dann ganz konkret: Wie viele Menschen gehen Ihrer Einschätzung nach freiwillig der Prostitution nach, wie viele sind Zwangsprostituierte, und wie viele tun es, weil sie arm sind?

M. H.: Das kommt auf Ihre Definition von »Freiwilligkeit« an. Stellen Sie mir freiwillig diese Fragen, oder weil Sie dafür entlohnt werden?
Ebenso sehen es die Prostituierten. Sie bieten eine sexuelle Dienstleistung an, für die sie entlohnt werden.
Freiwilligkeit verstehe ich, angelehnt an die Soziologin Sabine Grenz, als eine unter bestimmten Umständen bewusste und rational getroffene Entscheidung. Das heißt in diesem Fall, dass eine Person sich rational dafür entscheidet, in der Prostitution tätig zu sein. Das kann viele Gründe haben: ein schlechter Schulabschluss, Schulden, Neugierde oder Spaß an der Arbeit.

Wenn jemand zu einer sexuellen Handlung gezwungen wird, dann ist das klar als Vergewaltigung, Körperverletzung und Misshandlung zu definieren.
Es gibt keinen Grund, hier von »Zwangsprostitution« zu sprechen. Der »Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen« schrieb schon 2013: »Gibt es keine Einwilligung zu sexuellen Handlungen, so handelt es sich nicht um Prostitution. Denn Sex gegen den Willen der Beteiligten ist Vergewaltigung. Das ist auch dann ein Straftatbestand, wenn dabei Geld den Besitzer wechselt.« Es wäre schön, würden die klugen Stellungnahmen der Sexarbeitenden häufiger zur Kenntnis genommen.

U. P.: Unabhängig davon lässt sich Ihre Frage nicht beantworten, da keine verlässlichen Erhebungen zu Sexarbeit existieren. In den Debatten wird zwar mit Zahlen argumentiert, die aber auf Schätzungen beruhen oder sogar frei erfunden sind.
Ich frage mich dabei, warum wir uns genau an dieser Frage, wie hoch der Anteil der einen oder der anderen ist, aufhängen. Fakt ist, dass es Personen gibt, die Sexarbeit gerne und unter selbstbestimmten Bedingungen machen, genauso wie es Personen gibt, die Sexarbeit lieber nicht machen würden, aber keine anderen Einkommensmöglichkeiten sehen oder gar dazu gedrängt werden.

Warum fällt diese recht schlüssige Einteilung sowohl den Gegnern als auch den Befürwortern von Prostitution so schwer?

M. H.: Es geht nicht darum, Prostitution zu befürworten. Es geht darum, Personen zur Selbstermächtigung zu verhelfen, die in der Sexarbeit tätig sind.
Jegliche Versuche, Prostitution zu verbieten, endeten immer darin, dass sie weiterhin stattfand, aber unter schlechten Bedingungen – abgedrängt, verborgen, illegalisiert.

U. P.: Abgesehen davon finde ich die Einteilung überhaupt nicht schlüssig. Das Problem ergibt sich genau daraus, dass wir die Erfahrungen von Sexarbeitenden immer in vermeintlich klar erkennbare Kategorien packen wollen. Das führt aber dazu, dass all diejenigen, die nicht in solche Schubladen passen, unsichtbar werden.

Aber wenn es für jedermann ersichtlich ist, dass verschiedene Arten von Prostitution existieren, muss damit doch auch unterschiedlich umgegangen werden.

U. P.: Ich bin mir nicht sicher, ob das für jedermann so ersichtlich ist, wenn man bedenkt, wie aufgeladen und einseitig die medialen Debatten über dieses Thema sind.

M. H.: Das, worauf Sie mit Ihrer Frage hinaus wollen, gilt auch für andere Berufszweige. Nehmen Sie Ärztinnen: Eine Herzchirurgin hat sicher andere Arbeitskonflikte und Bedürfnisse als eine Anästhesistin oder eine Proktologin. Wenn eine Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich in der Kälte auf Kunden wartet, so hat sie einen anderen Arbeitsalltag als eine Domina, die in einem beheizten Studio einen Kunden per Termin empfängt.

Welche Rolle spielt Moral in dieser Debatte?

M. H.: Eine zu große. Es ist völlig egal, wie ich persönlich zu Sexarbeit stehe: Ich muss anerkennen, dass Menschen diese Arbeit ausführen. Und wenn ich ihre Rechte beschneide, dann beschneide ich Arbeiterinnen- und Arbeiterrechte.

U. P.: Eine Rolle spielt die moralische Bewertung von Sexualität an sich: dass gerade Frauen mit verschiedenen mehr oder weniger unbekannten Personen ohne ausgeprägte Gefühlskomponente Sex haben wollen, ist auch heute noch für viele unvorstellbar.

Hat das auch etwas mit dem gängigen Frauenbild zu tun?

U. P.: Natürlich. Frauenbilder existieren nicht im Vakuum, sondern in Beziehung zu anderen Geschlechterbildern. Das Ganze hat genauso viel mit gängigen Männerbildern zu tun.

In der Debatte um Prostitution wirkt es teilweise, als hätten vor allem Teile der Linken Schwierigkeiten mit Menschen, die frei und selbstbestimmt für sich Entscheidungen treffen. Was ist Ihr Eindruck?

U. P.: Wenn es um Sex geht, wird für viele Leute – unabhängig der politischen Orientierung – schnell alles schwierig.

Frau Heying, Sie haben zur Hurenbewegung der 1980er und 1990er Jahre und über die Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien promoviert.
Warum spielen männliche Sexarbeiter bei Ihren Forschungen keine Rolle?

M. H.: Zwar partizipierten auch männliche und nicht-binäre Prostituierte punktuell an der Hurenbewegung und dem italienischen Pendant »Lucciole«, getragen wurden diese jedoch von weiblichen Prostituierten und ihren Unterstützerinnen. Verglichen mit den Sexarbeiterinnen waren sogenannte Stricher in Deutschland und Italien durchschnittlich jünger und befanden sich in prekäreren Lebenslagen.
Darum entstand eine Stricherhilfe in Deutschland fast ausnahmslos aus niedrigschwelligen sozialarbeiterischen Angeboten, nicht wie die Hurenbewegung aus der Selbsthilfe.

Täuscht denn der Eindruck, dass schwule Männer einen anderen, möglicherweise unverkrampfteren Zugang zum Thema Prostitution haben, weil Sexualität in ihrem Leben oftmals einen größeren Raum einnimmt, verglichen mit bürgerlichen Kleinfamilien von Heterosexuellen?

M. H.: Die Pauschalisierung, ein schwuler Mann könne keine bürgerliche Kleinfamilie haben, ist falsch. Nur weil jemand schwul ist, ist er nicht automatisch aufgeklärt oder weniger bürgerlich.
Dasselbe gilt übrigens für Sexarbeitende. Die Annahme, dass alle Schwulen promiskuitiv leben, ist im übrigen sehr problematisch, gerade angesichts des Welt-AIDS-Tages an diesem Sonntag.
Ihnen wird aufgrund der Unterstellung, ihr Sexual- und Verhütungsverhalten sei risikoreich, weiterhin verweigert, Blut zu spenden. Außer sie belegen, zwölf Monate lang kein »sexuelles Risikoverhalten« gehabt zu haben. Prostituierte dürfen auch nicht spenden.

Wie ist es derzeit um Präventionsangebote in Sachen HIV und anderer sexuell übertragbarer Krankheiten für Menschen, die der Prostitution nachgehen, bestellt?

U. P.: Deutschland hat mit dem Infektionsschutzgesetz von 2001 auf eine Strategie gesetzt, die das Angebot von anonymen und kostenfreien Untersuchungsangeboten ins Zentrum gestellt hat.
Man hat erkannt, dass HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten alle und nicht nur bestimmte Gruppen betreffen können. Unter anderem ist das der Hurenbewegung und der Deutschen Aidshilfe zu verdanken. Statt Zwangsuntersuchungen hat man versucht, die freiwillige Testbereitschaft zu erhöhen. Das funktionierte dem Robert-Koch-Institut zufolge soweit auch ganz gut.
Allerdings müssen die Untersuchungsangebote dafür ausreichend finanziert und ausgebaut sein – und daran hapert es weiterhin, gerade in ländlichen Gegenden.
Das ist nicht nur für Sexarbeitende problematisch, sondern für alle, die sich abseits von Großstädten über HIV und sexuell übertragbare Krankheiten informieren wollen.

Eine Zwangsberatung wird hingegen Sexarbeitenden vorgeschrieben, die sich registrieren lassen müssen. Ist Zwang ein guter Ratgeber, wenn es um Präventionsangebote geht?

M. H.: Das ist er nie. Den Zwang zur Informations- oder Untersuchungsberatung kritisieren viele Institutionen wie Gesundheitsämter und NGOs.

U. P.: Außerdem löst die Zwangsberatung nicht das grundlegende Problem, dass viele Sexarbeitende keinen ausreichenden Zugang zum Gesundheitssystem haben. Würde es wirklich darum gehen, die Gesundheitsversorgung dieser Menschen zu verbessern, hätte man das Geld in den Ausbau der oben erwähnten Angebote und in eine Reform des Krankenversicherungssystems investieren müssen.

Leiden unter dieser Regelung nicht vor allem die Personen, die sich frei entschieden haben, der Prostitution nachzugehen? Armuts- und vor allem Zwangsprostituierte dürften wohl kaum bei den Bezirks- und Ordnungsämtern Schlange stehen.

M. H.: Entscheidend ist, ob die Betroffenen rechtlich dazu in der Lage sind, sich anmelden zu können. Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus oder ohne Arbeitserlaubnis werden nicht zur Anmeldung erscheinen, weil sie Abschiebung oder Sanktionierungen befürchten. Damit erreicht das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz eine besonders vulnerable Personengruppe überhaupt nicht.

Bewirkt das Gesetz am Ende gar das Gegenteil von dem, was angeblich geplant war, weil Präventionsangebote und Gesundheitsversorgung für Betroffene weniger zugänglich werden?

M. H.: Wenn Sie das Gesetz wörtlich nehmen, und es um den »Schutz« von Sexarbeitenden gehen soll, dann muss ich Ihre Frage bejahen. Geschützt wird hier niemand.*)

Sie plädieren demnach für eine Abschaffung des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes?

U. P.: Generell ja. Wobei man in Anbetracht der aktuellen Debatten auch sehr kritisch damit umgehen sollte, welche Alternativen vorgeschlagen werden.

Wodurch könnte der Schutz von Prostituierten gewährleistet werden?

U. P.: Es braucht dringend Reformen im Sozialsystem und im Arbeits- und Migrationsrecht, damit diejenigen, die Unterstützung benötigen, diese auch wirklich bekommen.
Zudem brauchen wir bezahlbaren Wohnraum, eine Stärkung der Selbstorganisation von Sexarbeitenden und viele weitere Dinge.
Die meisten halten sich beim Thema Sexarbeit aber lieber mit Moraldebatten auf, als diese grundlegenden Probleme anzugehen.

Manche Kritiker von Sexarbeit fordern einen anderen Umgang mit Sexualität und wollen nicht, dass diese noch weiter zur Ware verkommt. Ist das nicht nachvollziehbar?

U. P.: Man sollte der Kommodifizierung von Sexualität und Intimität kritisch gegenüberstehen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Prozess, der sich auf Sexarbeit beschränkt.
Zu behaupten, dass dieser Prozess mit Sexarbeit steht und fällt, ist viel zu kurz gegriffen. Es handelt sich um ein systemimmanentes Problem.
Außerdem finde ich es problematisch, was manchmal demgegenüber als »richtige« Sexualität propagiert wird: nämlich, dass insbesondere Frauen ein erfülltes Sexualleben nur in partnerschaftlichen Beziehungen haben können. Das mag für einige, aber sicher nicht für alle so sein. Die Kritik am Warencharakter von Sexualität sollte nicht zur Verteidigung einer kleinbürgerlichen Sexualmoral verkommen.

M. H.: Würden Sie eine Ehe stets als harmonische Liebesbeziehung bewerten? Sind nicht auch dort weiterhin ökonomische Abhängigkeiten zentral?

Wenn ich Sie richtig verstehe, wird es eine Welt ohne Prostitution niemals geben?

Beide: Nicht in diesem System!

Warum haben Huren- und Frauenverbände eigentlich niemals die Kooperation gesucht, sondern – um es vorsichtig auszudrücken – immer stark miteinander gefremdelt?

M. H.: Das ist nicht wahr. Prostituierte und nicht in der Sexarbeit arbeitende Feministinnen hatten in den Jahrzehnten vor der letzten Jahrtausendwende durchaus ähnliche Forderungen.
Die Hurenbewegung war beeinflusst durch feministische Kämpfe. Ihre Forderungen waren zum Teil sehr frauenspezifisch und schlossen die Selbstbestimmung über den eigenen Körper mit ein. Dennoch bestand stets eine Diskrepanz zwischen beiden Gruppen, was die Zusammenarbeit erschwerte.

Die Hurenbewegung fordert eine differenziertere Betrachtung von Prostitution und Prostituierten ein, da sie sich selbst als Teil der Frauenbewegung versteht. Der feministische Charakter der Hurenbewegung wird nicht zuletzt an punktuellen Verbindungen zur Kampagne »Lohn für Hausarbeit« deutlich, die Sex als Teil der von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit begriff. Je nachdem, welche Position Feministinnen zu Sexualität und Sexarbeit einnehmen, gibt es Möglichkeiten zur Zusammenarbeit.

Sie betrachten sich beide als Feministinnen. Wie könnte eine feministische Perspektive auf Prostitution und Sexarbeit aussehen?

U. P.: Das muss ein Blick sein, der Sexarbeit nicht als singuläres, außergewöhnliches »Übel« begreift, durch dessen »Beseitigung« sich plötzlich alle Probleme mit Sexismus, Kapitalismus und Patriarchat in Luft auflösen. Vielmehr müssen wir Sexarbeit im Kontext von geschlechterspezifischen Einkommensunterschieden, Entwicklungen im Bereich Sorgearbeit, Arbeitsmigration oder Diskriminierungen betrachten, diese größeren Zusammenhänge aufzeigen und auch Allianzen bilden.

Ist der von Ihnen gegründete Verein »Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung« demnach auch ein feministisches Projekt?

M. H.: Vor allem ist er ein interdisziplinärer Forschungszusammenhang, den wir in diesem Jahr zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegründet haben, um der Forschung zum Themenfeld im deutschsprachigen Raum Gewicht zu verleihen. Dies ist angesichts des großen Unwissens und der Mythenbildung um Sexarbeit ein wichtiges Anliegen.
Wir brauchen einen besseren Zugang zu kritischer Forschung, die auf Fakten basiert, und nicht auf Emotionen und Moral.

Mareen Heying ist Historikerin. Ihre Dissertation »Huren in Bewegung« wurde 2018 mit dem Dissertationspreis des »Arbeitskreises Historische Frauen- und Geschlechterforschung« ausgezeichnet und jüngst als Buch publiziert.

Ursula Probst ist Kultur- und Sozialanthropologin sowie Slawistin und promoviert an der Freien Universität Berlin. Sie beschäftigt sich seit 2012 mit Sexarbeit und forscht aktuell ethnographisch zum Lebens- und Arbeitsalltag von Menschen aus zentral- und osteuropäischen Ländern, die in Berlin der Sexarbeit nachgehen.

Beide Wissenschaftlerinnen sind im Vorstand der 2019 gegründeten »Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung«.

Mareen Heying: Huren in Bewegung. Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien, 1980 bis 2001. Klartext, Essen 2019, 300 Seiten, 34,95 Euro

*:https://josopon.wordpress.com/2016/11/01/das-neue-prostituiertenschutzgesetz-ein-regelwerk-der-repression/

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Jochen

Noam Chomsky: Sozialismus in Zeiten der Reaktion

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Im Original hier:
https://diefreiheitsliebe.de/politik/sozialismus-in-zeiten-der-reaktion-im-gespraech-mit-noam-chomsky/
Auszüge:

chomsky american dreamObwohl er auf die 90 zugeht, wächst Noam Chomskys Werk immer noch. Und er gibt, zum Glück für die internationale Linke, noch immer Interviews. Wenige Tage vor seinem 88. Geburtstag gab Chomsky ein Interview in seinem Büro in Cambridge, Massachusetts. Das Gespräch führte Vaios Triantafyllou, ein Student an der Universität von Pennsylvania.
Chomsky sprach über alles von Sozialismus, die menschliche Natur und Adam Smith, bis zu Donald Trump. (Das Transkript wurde aus Gründen der Lesbarkeit verdichtet und redigiert.)

Mit Trump im Amt sieht Chomsky eine Zukunft in Bigotterie und Kleinkrämerei. Aber wir haben noch immer die Wahl: „Ob sie gelingen“, sagt Chomsky über die „teile und herrsche“-Taktiken, „hängt von der Art des Widerstands ab, die Menschen wie du dem entgegensetzen.“

Jacobin Mag: Wie sollten Sozialisten über die Beziehung von Reformen zur Humanisierung des bestehenden Produktionssystems (wie es Bernie Sanders vorschlägt) und dem langfristigen Ziel einer gänzlichen Abschaffung des Kapitalismus denken?

Noam Chomsky: Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass der Begriff „Sozialismus“, wie alle Begriffe des politischen Diskurses, mehr oder weniger seine Bedeutung eingebüßt hat. „Sozialismus“ hat mal etwas bedeutet. Wenn wir weit genug zurückblicken, war damit die Kontrolle über die Produktion durch die Produzenten gemeint, die Abschaffung der Lohnarbeit, die Demokratisierung aller Lebenssphären: Produktion, Handel, Bildung, Medien, Arbeiterkontrolle über die Betriebe, gesellschaftliche Kontrolle der Gesellschaft usw. Das hieß „Sozialismus“ früher.

Aber diese Bedeutung hat er keine hundert Jahre beibehalten. Tatsächlich waren die sogenannten sozialistischen Länder die anti-sozialistischten Länder der Welt.
Arbeiter hatten mehr Rechte in den Vereinigten Staaten und in England als in Russland, und dennoch wurde es Sozialismus genannt.

Was Bernie Sanders betrifft, ist er ein anständiger und ehrbarer Mensch, den ich unterstütze. Doch was er als „Sozialismus“ bezeichnet, ist Liberalismus im Stile des New Deal. Wahrscheinlich wären seine aktuellen Forderungen keine große Überraschung für General Eisenhower.
Dass sie als politische Revolution bezeichnet werden, zeigt, wie sehr das politische Spektrum nach rechts gerückt ist – vor allem in den letzten 30 Jahren, seit die neoliberalen Programme institutionalisiert wurden. Was Sanders fordert, ist eine Restauration des New Deal-Liberalismus, was eine sehr gute Sache ist.

Zurück zu deiner Frage, sollten wir uns fragen: Sollten Leute, die sich um andere Menschen, um deren Leben und ihre Bedürfnisse kümmern, versuchen, das bestehende Produktionssystem zu humanisieren, so wie du es sagst? Die Antwort ist: Auf jeden Fall – es ist besser für die Menschen.

Sollten sie sich gleichzeitig weiter für das langfristige Ziel einsetzen, die kapitalistische Organisationsweise der Produktion abzuschaffen? Selbstverständlich. Sie hatte ihre Erfolge. Aber sie basiert auf sehr brutalen Annahmen, unmenschlichen Annahmen.
Die Grundannahme ist, dass eine Klasse von Menschen, kraft ihres Besitzes und ihres Reichtums einer anderen, gewaltigen Klasse befehlen kann.
Und dass diese andere diesen Befehlen zu folgen hat, weil ihnen der Zugang zu Wohlstand und Macht fehlt. Das ist inakzeptabel.

Also, ja, der Kapitalismus sollte abgeschafft werden. Aber es handelt sich hier nicht um Alternativen. Es sind Vorgänge, die zusammengehen.

Jacobin Mag: Eines der Hauptargumente, das gegen Sozialismus vorgebracht wird, ist, die menschliche Natur selbst wäre von Egoismus und Konkurrenzdenken geprägt. Wie würdest du antworten?

Noam Chomsky: Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bisher nur eine kurze Periode der menschlichen Gesellschaft darstellt. Es gab nie einen reinen Kapitalismus, sondern immer nur die eine oder andere Variante. Der Grund dafür: Reiner Kapitalismus würde sich sofort selbst vernichten.
Also haben die geschäftstüchtigen Klassen immer massive staatliche Interventionen gefordert, um die Gesellschaft vor den zerstörerischen Effekten der Marktkräfte zu schützen. Es sind oft Geschäftsleute, die hier die Führung übernehmen, weil sie nicht wollen, dass alles zerstört wird.

Es gab also die eine oder andere Form von Staatskapitalismus während einer extrem kurzen Spanne der Menschheitsgeschichte, aber das sagt uns sehr wenig über die menschliche Natur. Bei der Betrachtung menschlicher Gesellschaften und Beziehungen kann man alles finden: Egoismus, Altruismus, Mitgefühl.

Nehmen wir Adam Smith, den Schutzheiligen des Kapitalismus. Was dachte er darüber? Er hielt Mitgefühl für den menschlichen Hauptinstinkt. Man muss sich ansehen, wie er den Begriff der „unsichtbaren Hand“ verwendete. Auf welche Art er diesen Begriff verwendete. Es ist nicht schwer, das heraus zu finden, weil er es maßgeblich zwei mal getan hat: jeweils in seinen beiden Hauptwerken.

Einmal erscheint der Begriff in Wohlstand der Nationen und läuft auf eine Kritik neoliberaler Globalisierung hinaus. Was er sagt, ist, dass wenn England, wenn die Fabrikanten und Kaufleute im Ausland investierten und von dort importierten, Gewinne machen könnten. Doch das wäre schädlich für England. Aber ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrem Heimatland reiche aus, so dass es unwahrscheinlich sei, dass sie das täten – geschützt durch eine „unsichtbare Hand“ bliebe England von dem verschont, was wir neoliberale Globalisierung nennen. Das ist das eine Mal.

Das andere Mal benutzt er den Begriff in Theorie der ethischen Gefühle (das nicht oft gelesen wird, doch Smith selbst hielt es für sein Hauptwerk). Er ist ein Egalitarier.
Er glaubte an Gleichheit als Resultat, nicht Gegensätzlichkeit. Adam Smith ist eine Figur der Aufklärung, eine vor-kapitalistische.

Er sagt, wenn, vermutlich in England, ein Landeigner das meiste des Landes besäße und andere Menschen hätten nichts mehr, wo sie leben könnten, so wäre das nicht schlimm – der reiche Landeigner, kraft seines Mitgefühls für andere, würde die Ressourcen unter ihnen verteilen. Mit einer „unsichtbaren Hand“ landeten wir in einer ziemlich egalitären Gesellschaft. Das ist sein Konzept der menschlichen Natur.

Das ist nicht die Art, in welcher „die unsichtbare Hand“ von Leuten gebraucht wird, mit denen man Kurse besucht oder deren Bücher man liest. Das zeigt einen Unterschied in der Doktrin – aber nicht in der menschlichen Natur. Was wir über die menschliche Natur wissen, ist, dass sie all diese Facetten hat.

Jacobin Mag: Denkst du, es ist notwendig, konkrete Vorschläge für eine zukünftige sozialistische Ordnung zu entwerfen, eine solide Alternative, die bei den meisten Menschen Anklang findet?

Noam Chomsky: Ich glaube, viele Menschen haben Interesse an authentischen sozialistischen Langzeitzielen (die nicht das sind, was für gewöhnlich „Sozialismus“ genannt wird). Sie sollten sorgfältig darüber nachdenken, wie so ein Projekt funktionieren sollte – ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn vieles kann nur im Experiment erlernt werden. Und wir wissen auf keinen Fall genug darüber, wie Gesellschaften im Detail geplant werden könnten.
Der große Rahmen aber könnte ausgearbeitet werden und viele der spezifischen Probleme können diskutiert werden.

Und das sollte Teil des allgemeinen Bewusstseins sein. So könnte der Übergang zum Sozialismus stattfinden. Wenn er ein Teil der Erkenntnis, des Bewusstseins und des Strebens einer großen Mehrheit der Bevölkerung wird.

Sehen wir uns als Beispiel eine der großen Leistungen in diese Richtung an, vielleicht die größte: Die anarchistische Revolution in Spanien 1936.
Sie wurde jahrzehntelang vorbereitet: in der der Bildung, im Aktivismus und in den Bemühungen, erlitt manchmal Rückschläge, doch als der Faschismus angriff, hatten die Menschen eine Vorstellung davon, welche Gesellschaftsorganisation sie wollten.

Wir haben auch andere Beispiele. Sagen wir, der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Auswirkung des Zweiten Weltkriegs waren für den größten Teil Europas verheerend.

Doch es brauchte nicht lange, die staatskapitalistischen Demokratien wieder aufzubauen, denn sie waren in den Köpfen der Leute vorhanden.

In anderen Teilen der Welt, die verwüstet wurden, war das nicht möglich. Die Leute hatten kein Konzept im Kopf. Menschliches Bewusstsein macht eine Menge aus.

Jacobin Mag: Syriza kam mit dem Versprechen von Sozialismus an die Macht. Doch schlussendlich kooperieren sie mit der EU und sind auch nicht zurückgetreten, nachdem sie gezwungen wurden, die Austeritätspolitik zu übernehmen. Wie können wir einen ähnlichen Ausgang in Zukunft vermeiden?

Noam Chomsky: Ich denke, die wahre Tragödie Griechenlands – abseits der Brutalität der europäischen Bürokratie, der Brüsseler Bürokratie, und die der nordischen Banken, die wahrlich bestial waren – dass die Griechenland-Krise gar nicht hätte ausbrechen müssen. Man hätte sie verhältnismäßig leicht ganz zu Anfang bewältigen können.

Aber es ist soweit gekommen, und Syriza mit dem erklärten Versprechen ins Amt eingezogen, die Krise zu bekämpfen. Tatsächlich haben sie ein Referendum abgehalten, das Europa entsetzt hat: Der Gedanke, dass es Menschen erlaubt sein sollte, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden, ist schlicht ein Anathema für die europäischen Eliten – wie kann Demokratie nur wirklich gestattet werden (selbst in dem Land, in dem sie erfunden wurde)?

Als Ergebnis dieses kriminellen Akts, Menschen zu fragen, was sie wollen, wurde Griechenland noch mehr bestraft. Die Forderungen der Troika wurden wegen dem Referendum viel harscher. Sie befürchteten einen Dominoeffekt – wenn wir Rücksicht auf die Nöte der Menschen nehmen, könnten andere auf denselben Gedanken kommen und sich die Plage der Demokratie verbreiten. Also müssen wir sie an der Wurzel ausrotten.

Danach hat Syriza kapituliert und seitdem Dinge getan, die ich für inakzeptabel halte.

Du fragst, wie die Menschen darauf antworten sollen? Sie sollten etwas besseres schaffen. Das ist nicht einfach, besonders, wenn sie isoliert sind. Griechenland allein ist in einer sehr verletzlichen Lage. Wenn die Griechen die Unterstützung progressiver linker und populärer Kräfte woanders in Europa gehabt hätten, hätten sie den Forderungen der Troika vielleicht Widerstand leisten können.

Jacobin Mag: Was denkst du über das System, das Castro nach der Revolution in Kuba geschaffen hat?

Noam Chomsky: Ja, was Castros tatsächliche Ziele waren, das wissen wir nicht. Vom ersten Moment an wurde er massiv eingeschränkt durch die raue und grausame Attacke der herrschenden Supermacht.

Wir müssen uns erinnern, dass buchstäblich innerhalb von Monaten, nachdem Castro ins Amt kam, Flugzeuge von Florida aus anfingen, Kuba zu bombardieren.
Innerhalb eines Jahres beschloss die Eisenhower-Administration im Geheimen, aber mit Nachdruck, die Regierung [auf Kuba] zu stürzen.
Danach kam die Invasion in der Schweinebucht. Die Kennedy-Administration war rasend über das Scheitern der Invasion und begann augenblicklich einen großen Terrorkrieg, einen Wirtschaftskrieg, der über die Jahre immer schärfer wurde.

Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass Kuba überlebt hat. Es ist eine kleine Insel direkt vor der Küste einer großen Supermacht, die sie zu zerstören versucht, und war offensichtlich zum Überleben ihre ganze vorherige Geschichte von den USA abhängig. Aber irgendwie haben sie überlebt. Es ist war, dass es eine Diktatur war: viel Grausamkeit, viele politische Gefangene, viele wurden getötet.

Man muss sich vorstellen, dass der US-Angriff auf Kuba ideologisch als absolut notwendig dargestellt wurde, um uns vor den Russen zu verteidigen. Aber sobald die Russen verschwunden waren, wurde der Angriff noch schärfer. Es gab dazu kaum Erklärungen, aber es bestätigt dir, dass die vorherigen Behauptungen Lügen waren, die sie mit Sicherheit waren.

Wenn man sich interne US-Dokumente ansieht, dann wird klar, welche Bedrohung von Kuba ausging. Damals in den 60ern betrachtete das Außenministerium die von Kuba ausgehende Gefahr als Castros erfolgreiche Missachtung der US-Politik, welche auf die Monroe-Doktrin zurück ging.
Die Monroe-Doktrin begründete den Anspruch – sie hatten es damals noch nicht durchsetzen können, aber es war der Anspruch – die westliche Hemisphäre zu beherrschen. Und Castro hatte das erfolgreich infrage gestellt.

Das kann nicht toleriert werden. Es ist, wie wenn jemand sagt, „lasst uns in Griechenland Demokratie einführen“, und wir können das einfach nicht tolerieren, also müssen wir die Bedrohung mit ihren Wurzel ausreißen. Niemand darf erfolgreich den Meister der Hemisphere, eigentlich der Welt, herausfordern – darum diese Rage.

Aber die Reaktionen blieben gemischt. Es gab Errungenschaften, wie das Gesundheitssystem, die Alphabetisierung und so weiter. Der Internationalismus war unglaublich.
Es gibt einen Grund, warum Nelson Mandela nach Kuba reiste, um Castro zu loben und dem kubanischen Volk zu danken, kaum war er aus dem Gefängnis entlassen.
Das ist eine Dritte-Welt-Reaktion, und das verstehen sie.

Kuba spielte eine enorme Rolle bei der Befreiung Afrikas und der Überwindung der Apartheid. Es hat Ärzte und Lehrer in die ärmsten Gegenden der Welt geschickt: nach Haiti, nach Pakistan nach dem Erdbeben, beinahe überall hin. Der Internationalismus ist einfach erstaunlich. Ich denke, so etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

Die Errungenschaften im Gesundheitssystem waren erstaunlich. Die Gesundheitsstatistiken in Kuba waren ähnlich denen in den Vereinigten Staaten – bei diesem Unterschied an Reichtum und Macht.

Auf der anderen Seite gab es eine scharfe Diktatur. Also gab es beides.

Ein Übergang zum Sozialismus? Darüber können wir nicht einmal sprechen. Die Bedingungen machten es unmöglich, und wir wissen nicht einmal, ob das gewollt war.

Jacobin Mag: In den vergangen Jahren sind in den USA zahlreiche Bewegungen entstanden, die die derzeitige soziale und wirtschaftliche Organisationsform kritisieren. Wie dem auch sei: Die meisten haben sich gegen einen gemeinsamen Feind vereint, anstatt sich um eine gemeinsame Vision zu sammeln. Wie sollten wir über die Lage sozialer Bewegungen und deren Fähigkeit, sich zu einen, denken?

Noam Chomsky: Nehmen wir die Occupy-Bewegung. Occupy war keine Bewegung, es war eine Taktik. Man kann nicht für immer in einem Park nahe der Wall Street sitzen. Nicht länger als ein paar Monate.

Es war eine Taktik, die ich nicht voraus gesehen hatte. Wenn mich jemand gefragt hätte, ich hätte davon abgeraten.

Aber es war ein großer Erfolg, ein enormer Erfolg, mit einer großen Auswirkung auf das Denken und Handeln der Menschen. Das ganze Konzept, wie Reichtum konzentriert wird (1 Prozent und 99 Prozent) – das Wissen war sicherlich da, irgendwo im Hintergrund, aber so wurde es nach vorn gekehrt.
Es wurde sogar in den Massenmedien herausgestellt (z.B. im Wall Street Journal) – und es führte zu vielen Formen von Aktivismus, es stärkte Menschen und so weiter. Aber es war keine Bewegung.

Die Linke, in einem übergreifenden Sinne, ist sehr atomisiert. Wir leben in hoch atomisierten Gesellschaften. Die Leute sind ziemlich oft allein: Nur du und dein iPad.

Die großen Organisationszentren, wie etwa die Arbeiterbewegung, wurden ernstlich geschwächt, in den Vereinigten Staaten sehr ernstlich, von der Politik.
Das passierte nicht wie ein Hurrikan. Die Politik wurde so gestaltet, um die Organisationen der Arbeiterklasse zu untergraben.
Der Grund dafür ist nicht nur, dass Gewerkschaften für die Rechte von Arbeitern kämpfen, sondern auch, dass sie einen demokratisierenden Effekt haben.
Es sind Institutionen, in denen Menschen ohne Macht zusammenkommen können, sich gegenseitig unterstützen, etwas über die Welt lernen, ihre Ideen ausprobieren, Programme initiieren können – das ist gefährlich. Das ist wie ein Referendum in Griechenland. Es ist zu gefährlich, um es zu erlauben.

Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass es während des Zweiten Weltkrieges und der Großen Depression einen Aufschwung breiter, radikaler Demokratie gab, überall auf der Welt. Er nahm verschiedene Formen an, aber er war da, überall.

In Griechenland war es die Griechische Revolution. Und sie musste niedergeschlagen werden. In Ländern wie Griechenland wurde sie mit Gewalt nieder gerungen.
In Ländern wie Italien, wo amerikanische und britische Truppen 1943 einmarschierten, wurde er nieder gerungen durch Angriffe auf und die Zerschlagung anti-deutscher Partisanen und die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung.
In Ländern wie den Vereinigten Staaten wurde dieser Aufschwung nicht mit Gewalt niedergeschlagen – der Kapitalismus hat diese Macht hier nicht – aber es wurden, beginnend in den späten 1940ern, große Anstrengungen unternommen, um die Arbeiterbewegung zu unterminieren und zu zerstören. Und es ging weiter.

Das wurde wieder fortgeführt unter Reagan, es wurde fortgeführt unter Clinton, und heute ist die Arbeiterbewegung extrem schwach (in anderen Ländern hat es andere Formen angenommen). Aber das war eine dieser Institutionen, in welcher Menschen zusammen kamen, um gemeinsam zu handeln und mit gegenseitiger Unterstützung, und auch andere solche Institutionen wurden stark dezimiert.

Jacobin Mag: Was können wir von Donald Trump erwarten? Bereitet sein Aufstieg den Boden für eine Neudefinierung und Vereinigung einer sozialistischen Bewegung um eine gemeinsame Vision in den Vereinigten Staaten?

Noam Chomsky: Die Antwort darauf liegt grundsätzlich bei dir und deinen Freunden. Es hängt wirklich davon ab wie Menschen, besonders junge Menschen, reagieren.
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die ergriffen werden könnten. Aber das ist auf keinen Fall zwangsläufig.

Nehmen wir an, was wahrscheinlich geschehen wird. Trump ist extrem unvorhersehbar. Er weiß selbst nicht, was er plant. Aber was passieren könnte, ein Beispiel für ein mögliches Szenario: Viele Menschen, die für Trump gestimmt haben, Menschen aus der Arbeiterklasse, haben 2008 für Obama gestimmt. Sie wurden verführt von Slogans wie „Hope“ und „Change“. Sie haben weder Hoffnung noch Veränderung bekommen, sie wurden desillusioniert.

Dieses Mal haben sie für einen anderen Kandidaten gestimmt, der Hoffnung, Veränderung und eine ganze Reihe toller Sachen versprochen hat. Aber er wird sie nicht liefern. Also, was wird in ein paar Jahren geschehen, wenn er nicht geliefert hat und dieselbe Wählerschaft wieder desillusioniert ist?

Wahrscheinlich macht das herrschende System das, was es unter solchen Umständen für gewöhnlich macht. Unter den noch Verwundbaren einen Sündenbock suchen, um sagen zu können: „Ja, ihr habt nicht bekommen, was wir versprochen haben – und der Grund sind diese wertlosen Menschen, die Mexikaner, die Schwarzen, die syrischen Immigranten, die Sozialschmarotzer. Das sind diejenigen, die alles zerstören. Wir müssen sie verfolgen! Die Schwulen, das sind die Schuldigen!“

Das könnte passieren. Das ist in der Geschichte wieder und wieder passiert mit allen hässlichen Konsequenzen.

Ob sie Erfolg haben werden, liegt an der Art des Widerstands, den Menschen wie du dem entgegensetzen. Die Antwort auf die Frage liegt bei dir, nicht mir.

Veröffentlicht im Jacobin Mag und übersetzt von David Dannys.

 

Jochen