Prof.Mausfeld: „Das ist eine Phantom-Mitte, unter deren Mäntelchen sich die Täter als Retter ausgeben “

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

MausfeldHeute Wichtiges auf den NachDenkSeiten:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=40160
Auszüge:

Die Bundestagswahl am 24. September ist, wie erwartet, seit Wochen ein zentrales Thema in den Medien. Doch der Meinungskorridor in der Berichterstattung zur Wahl ist eng. In den politischen Talkshows, den Nachrichtensendungen und in dem, was als Analysen angepriesen wird, findet oftmals nur eine sehr oberflächliche Auseinandersetzung mit den Wahlen statt. Die NachDenkSeiten nahmen diese Beobachtung zum Anlass, ein Interview mit dem Kieler Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld zu führen.

Mausfeld, der dafür bekannt ist, mit einem kritischen Auge auf Politik und Herrschaftsstrukturen zu schauen, sagt im NachDenkSeiten-Interview unter anderem: „Regierung, Regierungsparteien und Medien betreiben einen großen Aufwand, um unseren Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten zu trüben und zu verstellen.“ Das Interview führte Marcus Klöckner.

Herr Mausfeld, bald stehen die Bundestagswahlen an. Welche Partei den Kanzler stellen wird und welche Parteien miteinander eine Koalition bilden werden, ist abzusehen.
Positiv könnte man sagen: Gut, die „politische Mitte“ wird das Land weiter regieren.
Wie sehen Sie das?

Bevor wir uns zufrieden auf die eigene Schulter klopfen, weil wir glauben, die bestmögliche Vertretung zur Sicherung unseres Gemeinwohls gewählt zu haben, sollten wir einen etwas genaueren Blick auf die Realitäten werfen. Aber das ist leider nicht einfach.

Wie meinen Sie das?

Regierung, Regierungsparteien und Medien betreiben einen großen Aufwand, um unseren Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten zu trüben und zu verstellen.

Was ist denn die Realität?

Die schlichte Realität ist, dass gerade diejenigen, die bislang den Kurs bestimmt haben, all die ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme und Krisen ausgelöst haben, für die sie sich nun als Retter anbieten.

Das heißt?

Die Zertrümmerung des Sozialstaates, die massive Ausweitung eines Niedriglohnsektors und die Prekarisierung von Lohnarbeit, die gewaltigen Steuerentlastungen für Reiche und Konzerne, die Preisgabe des Staates an die Finanzmärkte, den Verfall von Infrastruktur, das finanzielle Strangulieren öffentlicher Einrichtungen wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten oder Schulen, die Disziplinierung und Entmachtung des Parlaments durch die Exekutive, der Ausbau eines Überwachungs- und Sicherheitsstaat, etc., etc.

Die durch diese politischen Weichenstellungen hervorgerufenen gesellschaftlichen Probleme wurden nicht durch angebliche ‚Naturgesetzlichkeiten‘ des ‚globalisierten freien Marktes‘ hervorgerufen, wie es uns immer wieder gesagt wird, sondern bewusst und absichtlich durch die Interessen und den Konsens neoliberaler transatlantischer Machteliten, also in Deutschland durch konkrete Entscheidungen der regierenden Kartellparteien CDU, SPD und Grüne.

Kartellparteien?

Die traditionellen Volksparteien haben sich seit den 70er Jahren – also mit Beginn der neoliberalen Revolution – grundlegend gewandelt, weil ihre gesellschaftliche Verankerung in dem Maße schwand, wie sie sich neoliberale Ziele zu eigen machten. Sie haben sich daher zur Selbsterhaltung zunehmend in die staatlichen Machtapparate integriert. Je mehr die Bindung an die traditionelle Wählerschaft schwand, um so stärker haben sich die Parteienspitzen untereinander verflochten.
Das brachte für die großen Parteien den Vorteil, dass Wahlniederlagen an Bedeutung verlieren, da sie staatliche Ressourcen und Posten weitgehend unabhängig vom Wahlausgang untereinander verteilen können. Mit der zunehmenden Lösung der Parteispitzen von der Parteibasis kommt der Basis nun vor allem die Funktion von Cheerleadern bei Wahlen zu.
Dieser Parteienwandel ist empirisch gut studiert. Der renommierte Parteienforscher Peter Mair prägte für diesen neu entstandenen Typus politischer Großparteien den Begriff „Kartellpartei“, der die Sache treffend auf den Punkt bringt.

Und diese Kartellparteien, also: die CDU, SPD, Grüne und nicht zu vergessen, die FDP, haben die von Ihnen genannten Folgen absichtlich herbeigeführt?

Ja, natürlich. Es sind Folgen sehr konkreter und bewusster Entscheidungen. Es gehört gerade zum Charakter von Kartellparteien, dass sie bei politischen Entscheidungen nicht mehr den Präferenzen der Bürger verpflichtet sind, sondern den Interessen relevanter Machtgruppierungen: also ökonomischen Interessen von Konzernen und Reichen sowie geopolitischen Interessen transatlantischer Eliten. Schon die Formulierung ‚Notwendigkeiten des Marktes‘ ist ja nicht mehr als eine verklausulierte Formulierung…

…für?

…’die Bedürfnisse der besitzenden Klasse‘. Das mag recht abstrakt klingen, lässt sich jedoch anhand der konkreten Parlaments-Entscheidungen belegen.
Das Abstimmungsverhalten der Parteien im Parlament zu den genannten Beispielen lässt sich ohne allzu große Mühen zurückverfolgen. Gleiches gilt für politische Entscheidungen über die Osterweiterung der NATO, die Förderung von völkerrechtswidrigen Kriegen als Mittel der Politik – von Kosovo bis Libyen und Syrien –, Waffenexporte an Saudi-Arabien, die Militarisierung der EU etc., etc. All diese Dinge sind ja gut dokumentiert.
Die eigentlich drängende politische Frage ist also nicht, wer nun von den Kartellparteien der sog. ‚Mitte‘ die Regierung bildet, sondern warum angesichts all der systematisch und absichtsvoll angerichteten Zerstörungen zivilisatorischer Substanz der weit überwiegende Teil der Wähler immer wieder gerade diejenigen Parteien wählt, die genau für diese Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich sind.

Was sind denn die Gründe?

Die Gründe sind vielschichtig. Systematische Desinformation durch Regierung, Kartellparteien und Medien, systematische Erzeugung sozialer Ängste in der Bevölkerung und natürlich die in Ihrer ersten Frage angesprochene Ideologie der ‚politischen Mitte‘.
Diese vorgebliche Mitte ist jedoch nicht mehr als das Banner und die Tarnkappe des neoliberalen Konsenses. Sie stellt als wesentlicher Teil der neoliberalen ‚Revolution von oben‘ eine extremistische Position dar.

Extremistisch?

Ja, extremistisch in ihrer Demokratieverachtung und extremistisch in ihrer Verachtung für alle Ideen einer solidarischen Gemeinschaft. Was sich hier als ‚Mitte‘ deklariert, hat mit historischen – ohnehin schon weitgehend inhaltsleeren – Konzepten einer politischen Mitte nichts mehr gemein. Das ist eine Phantom-Mitte, unter deren Mäntelchen sich die Täter als Retter ausgeben – bislang offensichtlich recht erfolgreich.

Was meinen Sie mit „Phantom-Mitte“?

‚Mitte‘ ist ja eigentlich ein Begriff, der positiv besetzt ist und mit Gefühlen von Harmonie und Stabilität einhergeht. Nun beruht der Siegeszug der neoliberalen Revolution von Beginn an darauf, vertrauten und positiv besetzten Begriffen, wie ‚Reform‘, ‚Flexibilität‘, ‚Freihandel‘ oder ‚Stabilität“, eine neue Bedeutung zu geben und auf diese Weise das Denken so zu blockieren und zu vergiften, dass die gesellschaftlichen Folgen dieser Revolution geradezu als naturgesetzliche Notwendigkeit eines globalisierten freien Marktes erscheinen.
Schon ‚Globalisierung‘ und ‚freier Markt‘ sind jedoch bloße Verschleierungsbegriffe: Sie bezeichnen ideologische Truggebilde, die mit den Realitäten nichts zu tun haben. Sie sollen im Gegenteil die Realitäten gerade verschleiern.
Da aber dennoch in der Bevölkerung – trotz massivster Indoktrinationsbemühungen – die Folgen der neoliberalen Zerstörung von Gemeinschaft spürbar werden und zu großen Verunsicherungen führen, ist es für den Erfolg neoliberaler Programme wichtig, das Empörungs- und Veränderungspotential in der Bevölkerung wirksam zu neutralisieren.

Blair und Schröder haben sich ganz gerne des Begriffs der ‚Mitte‘ bedient.

Das haben sie in der Tat und zwar, um ihre neoliberale Agenda der Aushöhlung und Zerstörung demokratischer und sozialstaatlicher Substanz voranzutreiben.
Übrigens wäre dies nicht ohne massivste propagandistische Hilfe der Medien möglich gewesen. Heribert Prantl hat 2015 das eigentlich Offenkundige offen ausgesprochen: „Diese Agenda war auch Ergebnis einer publizistischen Großkampagne, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hatte.“
Da nun diese Form des politischen Extremismus unter dem Banner der ‚Mitte‘ geschah und geschieht und zudem als ‚Naturnotwendigkeit globalisierter Märkte‘ und somit als ‚alternativlos‘ deklariert wurde, kann es natürlich zum Konsens dieser neuen Phantom-Mitte keine grundsätzliche Opposition mehr geben.
Denn schließlich geht es – nach neoliberalem Konsens – bei politischen Entscheidungen nur noch darum, möglichst ‚rationale‘ und ‚effiziente‘ Problemlösungen zur optimalen Anpassung an die ‚Zwänge‘ globalisierter Märkte zu entwickeln und diese dann der Bevölkerung als ‚unbequeme Wahrheiten‘ zu vermitteln.

Demokratie wirkt da als Störelement, oder?

Demokratie ist damit natürlich nicht verträglich und wird folglich als eine Form der ‚Marktstörung‘ angesehen. Um solche ‚Marktstörungen‘ zu vermeiden, wurde nun alles, was grundlegend von der Phantom-Mitte abweicht, als ‚irrational‘ oder gar ‚extremistisch‘ bezeichnet.
Propagandistisch besonders wirksam erweist sich eine Neufassung des – historisch ursprünglich positiv besetzten – Konzepts des Populismus, mit dem gegenwärtig die neoliberalen Kartellparteien der Phantom-Mitte jede Form eines grundlegenden politischen Dissens zu delegitimieren suchen.
Die Propagandakonzepte ‚Mitte‘, ‚Alternativlosigkeit‘ und ‚Populismus‘ sind also auf das engste miteinander verbunden und dienen der Stabilisierung des neoliberalen Programms.

Sie führen den Begriff Populismus an. Zu bestreiten ist doch nicht, dass es Akteure gibt, die ein feines Gespür dafür haben, was so mancher Bürger hören möchte. Eifrig bedienen sie, unter anderem, rechtsradikale und fremdenfeindliche Ressentiments, um Applaus zu ernten.

Alle Parteien zielen opportunistisch darauf, Wählerstimmen zu gewinnen und bedienen sich dabei einer populistischen Rhetorik, zielen also in ihrer Wahlwerbung auf Gefühle und bedienen sich unzulässiger Vereinfachungen. Diese populistische Komponente ergibt sich bereits aus dem gegenwärtigen Standardmodell der kapitalistischen ‚Elitendemokratie‘, in dem den Bürgern die Rolle politischer Konsumenten zugewiesen wird.

Aber es gibt auch Unterschiede im Populismus.

Unterschiede gibt es natürlich in dem Ausmaß, in dem explizit oder indirekt über politische Maßnahmen fremdenfeindliche und kulturrassistische Ressentiments zum Ausdruck gebracht werden.

Das heißt?

Man denke an die Kampagne gegen „die faulen Griechen“ oder an andere kulturrassistische Ressentiments, wie sie beispielsweise gegen Araber im sogenannten ‚Kampf gegen den Terror‘ oder in der EU-Wirtschaftspolitik gegenüber Afrika zum Ausdruck kommen. Oder an das, was Immanuel Wallerstein die „Ethnisierung der Arbeiterschaft“ nennt, durch die Strukturen der Ungleichheit gerechtfertigt werden sollen. Die kulturrassistische Komponente ist also viel tiefer in unserer Gesellschaft verankert, als uns die Kartellparteien suggerieren. Leider sind die öffentlichen Sensitivitäten für solche Ressentiments bereits parteipolitisch verzerrt.

Haben Sie für diese Aussage ein Beispiel? Wie sehen diese Verzerrungen aus?

Nehmen wir, um nur ein Beispiel zu nennen, die Hetzkampagne Anfang der 90er Jahre von Wolfgang Schäuble und anderen Politikern der CDU/CSU gegen die „Asylantenflut“. Es ist erstaunlich, wie konsequent diese Hetzkampagne und der Zusammenhang zwischen den Äußerungen Schäubles und den sich anschließenden Gewaltexzessen aus dem öffentlichen Gedächtnis verdrängt wurde.
Die Haltungen der Kartellparteien zu expliziten oder indirekten kulturrassistischen Ressentiments sind also sehr viel weniger eindeutig, als uns diese Parteien mit dem Ziel suggerieren, ihren Anspruch auf ‚Alternativlosigkeit‘ noch einmal zu unterstreichen.

Wo und wie wird der Begriff ‚Populismus‘ denn nun zu einem „Propagandakonzept“, wie Sie es sagen?

Genau in dem Bemühen der neoliberalen Kartellparteien der ‚Mitte‘, sich in jeder Hinsicht als alternativlos zu erklären. Und zwar ökonomisch wie auch für eine Abwehr des Rechtsradikalismus. Daher müssen entsprechende Ängste geschürt werden – Ängste vor Verschlechterung des eigenen Status quo und Ängste vor Parteien am rechten Rand. Diese Ängste lassen sich dann nutzen, um jede Form grundlegender Kritik am neoliberalen Konsens zu diskreditieren und zu neutralisieren.
Da die AfD den neoliberalen Konsens teilt, sehen die Kartellparteien ihren Hauptfeind berechtigterweise auf der Linken. Denn ernsthaft linke Positionen zielen ja gerade auf die Wurzeln gesellschaftlicher Probleme und somit auf Alternativen zur neoliberalen Zerstörung gesellschaftlicher und ökologischer Lebensgrundlagen. Insbesondere sehen sie das Menschenbild, das dem neoliberalen Programm zugrunde liegt, als zutiefst anti-human und pervers an.
Was bedeutet das?

Da die sozialen und psychischen Auswirkungen der neoliberalen Organisation von Gesellschaft immer deutlicher zutage treten, müssen die neoliberalen Kartellparteien alle Formen einer kollektiven Organisation linker Kritik diskreditieren und zersetzen. Dazu eignet sich der Kampfbegriff des Populismus offensichtlich recht gut. Man erklärt einfach alle grundlegende Kritik an der neoliberalen ‚Mitte‘ als populistisch und verklammert dabei linke Positionen mit rechtspopulistischen, Corbyn mit Le Pen oder Trump, Ideen einer solidarischen Organisation von Gemeinschaft mit ausgrenzenden, kulturrassistischen und nationalistischen Haltungen.
Durch diese Verklammerung will man vor allem linke Positionen diskreditieren. Der Kampfbegriff des Populismus, der sich vordergründig gegen rechte Positionen richtet, zielt tatsächlich also auf linke Alternativen zum neoliberalen Konsens. Innenminister de Maizière hat dies ja jüngst noch einmal klar erkennen lassen.

Zurück zu den Wahlen: Wie blicken Sie denn auf die bevorstehenden Wahlen?

Sie sind weitgehend eine Art Politentertainment und Zuschauersport – und wurden übrigens historisch mit der Etablierung von Elitendemokratien genau als solches konzipiert. Sie lockern den politischen Alltag der politisch entmündigten Bürger auf und vermitteln ihnen die Illusion, dass sie in relevanten Fragen irgend etwas zu entscheiden hätten.

Und das ist nicht so?

Nein. Wer sich an diesen illusionären Gefühlen, etwas mitentscheiden zu können, erfreut, mag den Wahlen mit Spannung entgegenfiebern. Wer ernsthaft an Alternativen zur lähmenden ‚Alternativlosigkeit‘ interessiert ist, muss sich wohl andere Wege suchen, seinen politischen Präferenzen Ausdruck zu verschaffen.
Denn die relevanten politischen Entscheidungen werden in der „marktkonformen Demokratie“ nicht durch die Präferenzen der Bürger bestimmt.

Sondern?

Empirische Untersuchungen zeigen vielmehr, dass die Präferenzen der weit überwiegenden Mehrzahl der Bürger überhaupt keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und die Wahlentscheidung somit politisch konsequenzenlos ist. Daher ist es wenig überraschend, dass EU-weit das neoliberale Programm demokratisch nicht mehr abwählbar ist.
Wer sich also im Status quo mehr oder weniger behaglich eingerichtet hat und beruhigt ist, dass bislang die Konsequenzen der neoliberalen Zerstörungen überwiegend von sozial oder geographisch fernen Anderen zu tragen, wird den Wahlen gelassen entgegensehen.
Wer sich damit nicht begnügt, hat – völlig unabhängig vom Wahlausgang – Grund zu größter Beunruhigung.

Jochen

Die neoliberale Domestizierung der Sozialen Arbeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Die in diesem Beitrag geschliderten Verhältnisse, siehe das Fallbeispiel unten, erlebe ich tagtäglich in meiner psychotherapeutischen Praxis. Wir könnten mal eine Fortbildung im Kollegenkreis dazu machen.Bitte dort weiter verbreiten !
http://www.nachdenkseiten.de/?p=27957
Auszüge:

Wir alle sind – auf Gedeih und Verderb – auf unser Gesundheits- und Sozialsystem angewiesen. Aber wer weiß schon genau, wie die Systeme funktionieren? Wie sie sich verändert haben? Wer begreift noch den Sinn und die Auswirkungen staatlicher Verordnungen, der »Reformen« der letzten Jahre?
Wer begreift, wie die Denkgifte-tg2000a *) der neoliberalen Ideologie mehr und mehr die Institutionen durchdrungen, sich in den Köpfen und Herzen der Menschen festgesetzt haben und hierdurch etwa den Armen immer besser weißzumachen vermögen, sie selbst seien ihres Unglückes Schmied.
Diese Entwicklung beobachtet der Pädagoge und Familientherapeut Matthias Heintz auch im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe, weswegen er zur Abwehr der immer massiveren Angriffe auf diesen Bereich auch das„Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit“ ins Leben gerufen hat.
buendnis-jugendhilfeJens Wernicke
sprach mit ihm darüber, wie Politik unter dem Deckmantel des Fortschritts immer deutlicher soziale Rechte unterminiert, soziale Sicherheit abschafft sowie einer Ökonomisierung und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in die Hände spielt.

Herr Heintz, Sie waren knapp zwei Jahrzehnte in der Kinder- und Jugendhilfe tätig und sind Mitbegründer des Bündnisses Kinder- und Jugendhilfe. In einem aktuellen und lesenswerten Buch skizzieren Sie gemeinsam mit Prof. Mechthild Seithe massive Angriffe auf diesen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und befürchten dessen nahen Exitus. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Spätestens seit der politischen Weichenstellung zur Agenda 2010 durch die damalige rot-grüne Bundesregierung können wir einen zunehmenden Wandel im Verständnis des Verhältnisses vom Staat zum Bürger erkennen. Die Errungenschaften einer sozialdemokratischen Ära, gestaltete Demokratie als eine Regierungsform vom Bürger und für den Bürger zu definieren, verbunden mit dem System der sozialen Marktwirtschaft, geht in großen Schritten verloren.
Wir sind mittlerweile in einem neoliberalen Zeitalter angelangt, in einem ökonomisierten Staat, dessen ethische Prämisse lautet: „Jeder ist seines Glückes – und somit eben auch Unglückes – Schmied.“

Dieses System der Entsolidarisierung hat sich inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen eingenistet und eben auch in der öffentlichen Versorgung. Der Staat zieht sich zunehmend aus seiner Verantwortung zurück und überträgt sie auf den Einzelnen, gut zu erkennen etwa in dem Dogma der Agenda 2010: Fördern und Fordern.
Wobei sich das Fördern offenbar auf die Lernhilfe für nicht leistungswillige oder -fähige Menschen im Hinblick auf das Erlernen der funktionalen An- und Einpassung in das Regelwerk eines marktorientierten Systems bezieht. In der duldsamen und schweigenden Unterordnung finden wir die Maxime der pädagogischen Ethik des Neoliberalismus.

In der Praxis erkennen wir heute ein Gesellschaftssystem, in dem der Staat sich zunehmend aus dem Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge zurückzieht.
Diejenigen Menschen, die beispielsweise durch Langzeitarbeitslosigkeit aus der gesellschaftlichen Teilhabe herausgefallen sind, werden über Systeme wie Hartz IV verwaltet, kontrolliert und diszipliniert. Die öffentlichen Ressourcen werden bewusst knapp gehalten.
Dort, wo die Versorgung für die Menschen nicht ausreicht, wird auf mildtätige Hilfe aus der freien Wirtschaft und von den am System Teilhabenden gesetzt, gern verbunden mit dem viel besungenen bürgerschaftlichen, ehrenamtlichen Engagement.

So können die öffentlichen Kassen strategisch knapp gehalten sowie ggf. mit dem Prinzip des Outsourcing öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden, seit dem Bankencrash insbesondere auf kommunaler Ebene immer verbunden mit dem Totschlagargument des Sparzwangs und der Rettungsschirme.
Hier finden wir im klassisch marktwirtschaftlichen Sinne eine Win-Win-Situation. Der Staat entzieht sich seinen sozialen Verpflichtungen, um diese in Richtung der Interessen der freien Wirtschaft zu verlagern und hierdurch in Zeiten ökonomischer Globalisierung „Standortsicherung“ zu betreiben. Die Unternehmen können wiederum mit ihrem Engagement im Sozialen Sektor, gerne über die Gründung von Stiftungen, ihre Steuerpolitik regulieren, nehmen erheblichen Einfluss auf Politik und Meinungsbildung und haben darüber hinaus noch beste und günstige Publicity.
Anmerkung: Das ist eher eine Loose-Win-Win-Situation !

Ganz nebenbei lässt sich über die Strategie der Ökonomisierung auch ein subtiles Kontrollelement im Hinblick auf die arbeitende Bevölkerung gestalten, da diese mit der permanenten Bedrohung des potentiellen Abstiegs in den Hartz-IV-Bereich lebt und entsprechend die Zwangssysteme des freien Marktes wie etwa Lohndumping, prekäre Arbeitsverträge und anderes stillschweigend, bewusst oder unbewusst akzeptiert.
Insbesondere die im Bereich der Sozialarbeit, des Gesundheits- und Bildungswesens Tätigen sind auf diese Weise in eine erduldende Anpassungshaltung geraten, die selbst bei großem Leidensdruck kaum Widerstand hervorruft.

In der Gesamtentwicklung können wir in gewissem Sinne seit rund 20 Jahren eine Rückentwicklung in feudalherrschaftliche Zeiten konstatieren, nur dass die Macht heute nicht mehr bei Adel und Klerus, sondern in den Händen der Führenden der freien Marktwirtschaft liegt. Ich bezeichne dies auch als Amerikanisierung unserer Gesellschaft oder als ein System des Neofeudalismus.

Und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die konkrete soziale Arbeit vor Ort?

Die inzwischen gesellschaftlich weitgehend geduldete systematische Politik der knappen Kassen im öffentlichen Bereich führt logischerweise auch den Bereich der Sozialen Arbeit in eine drastische Engführung. Das ist durchaus weder eine schicksalhafte noch eine naturgegebene Entwicklung, sondern im von mir zuvor beschriebenen, ökonomisierten Sinne gemacht und gewollt.

Die Einsparung von öffentlichen Mitteln ist dabei nur ein Effekt. Im Verständnis der Logik des Neoliberalismus geht es immer auch darum, die Menschen zu kontrollieren, zu disziplinieren und darüber zu funktionalisieren. Das gilt im sozialen Bereich für deren Adressaten ebenso wie für die professionellen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

Im Kern geht es darum, das dreifache Mandat der Sozialen Arbeit – sozialanwaltschaftliche Ermöglichung und Wahrung der individuellen Autonomie, Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe sowie die Reflexionsfähigkeit der eigenen Situation unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen- auf den Aspekt der Integration zu reduzieren, und zwar gemäß eines funktionalen Anpassungsverständnisses.
Das gilt in der Umsetzung der Sozialarbeit wiederum sowohl für deren Adressaten wie auch die Sozialarbeiter selbst.

In der Praxis zeigen sich die Auswirkungen dieser Politik vor allem in der Verknappung der professionellen Arbeitsstrukturen, insbesondere im Bereich der personellen Ressourcen, was im betriebswirtschaftlichen Verständnis am meisten Sinn macht, da das Einsparungspotential hier am größten ist. In privatwirtschaftlichen Sozialunternehmen steigert dies die Gewinnspanne, im öffentlichen Bereich werden so Gelder eingespart.

Die Auswirkungen dieser, in der zynischen Wortwahl betriebswirtschaftlich orientierter Sozialarbeit formulierten „effizienten und verschlankten Strukturen“ tragen die Adressaten, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesenen Bürger, aber auch die Sozialarbeitenden selbst.
Dies geschieht in Zeiten, in denen allgemein, aber auch speziell in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Hilfebedarfe sowohl quantitativ als auch qualitativ zu verzeichnen ist. Immer öfter geraten junge Menschen und ihre Familien in Krisen, die komplexer werden und eine entsprechend umfassende und nachhaltige Hilfen erforderlich machen.

Parallel zu dieser Entwicklung arbeiten die Kommunen an einer Art Simplifizierung der Hilfen, was insbesondere die akuten Hilfen zur Erziehung nach dem § 27 SGB VIII betrifft, auf die Eltern und ihre Kinder einen Rechtsanspruch haben. Diese Hilfeformen, die konzeptionell auf eine nachhaltige Beziehungsarbeit angelegt sind, werden heutzutage teils drastisch gekürzt oder aber gar nicht mehr gewährt.

Stattdessen agieren die Kommunen gerne mit der Strategie, den anspruchsberechtigten jungen Menschen und ihren Eltern kostengünstige Hilfeformen außerhalb des Kanons der Hilfen zur Erziehung anzubieten, beispielsweise in Form von Elternkursen im Bereich von Präventionsmaßnahmen oder in Gruppenangeboten für Kinder im Stadtteil (wobei auch in diesen Bereichen das Spar- und Verknappungsdiktat entgegen anderslautender politischer Versprechen vorherrscht).
Beliebt ist auch die Verlagerung der Hilfen in den Kindergarten bzw. die Schulen, die ohnehin schon bis zum Anschlag ausgelastet sind, ins Gesundheitswesen oder in ehrenamtlich gestaltete Unterstützungsmaßnahmen. In der professionelle Angebote ersetzenden Ehrenamtlichkeit erlebt die Soziale Arbeit aktuell einen massiven Angriff, der einen wesentlichen Teil ihres gegenwärtigen Deprofessionalisierungsprozesses ausmacht.
Gut zu den Armen und Hilfebedürftigen zu sein, das kann doch jeder und sollte auch jedem, der ein Herz hat, ein Selbstverständnis sein und im Ehrenamt ausgelebt werden. Schließlich zeigen die Großen aus Wirtschaft und Politik bei Benefizveranstaltungen im Blitzlicht der Fotografen, wie man die Nicht-Besitzenden bekocht, bedient und füttert. Also, wo hat die Soziale Arbeit hier noch ihre Legitimation?

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Die oben genannten Interventionen einer gemeinwesenorientierten Arbeit, der Prävention und ergänzender Ehrenamtlichkeit sind wichtig und unverzichtbarer Bestandteil in einer solidarisch und demokratisch orientierten Gesellschaft. Jedoch verfehlen sie in ihrer ökonomisierten Variante eine umfassende und nachhaltige Unterstützung in den vielen Fällen, in denen Familien mit hochkomplexen Problemen eine entsprechend profunde Hilfe benötigen. Und ganz nebenbei wird über diese simplifizierende und bagatellisierende Steuerungspolitik der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung umgangen und ausgehöhlt.

Wichtig ist ebenfalls zu erwähnen, dass neben den knappen personellen Ressourcen die sozialpädagogischen Fachkräfte häufig im Rahmen schwacher und befristeter Arbeitsverträge arbeiten, was eine Stabilisierung der Beziehungsarbeit mit den betroffenen Familien verunmöglicht. Ein Schelm, der hier an eine Bergwacht denkt, die mit porösen Seilen und verrosteten oder recycelten Haken und Ösen den in Not Geratenen zur Hilfe eilt.

Kurzum: Das System wird ausgehöhlt, umgangen, deprofessionalisiert, kaputt rationalisiert und ist bereits jetzt kaum noch in der Lage, adäquat zu tun, wofür es geschaffen worden ist.

Und bei den Kindern und Familien, denen ja geholfen werden soll: Was geschieht und verändert sich da?

Seit etwa zwanzig Jahren sind im Zuge der skizzierten Neoliberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Familien einem immer größeren Druck ausgesetzt. Das Leben der Familien unter marktliberalen Bedingungen fokussiert sich ganz auf die Aspekte der flexiblen Anpassung an die Anforderungen der Arbeitgeber.
Und diese sind kaum kompatibel mit den entwicklungsbedingten Bedürfnissen der Kinder. Diese werden oft deutlich zu früh aus der Eltern-Kind-Bindung herausgenommen. Und die Eltern sind den hohen Anforderungen des Arbeitsmarktes, der Dauererreichbarkeit und der permanenten Verfügbarkeit und Mobilität immer seltener gewachsen.
Diese Situation hat sich durch die Wirkung der neuen Kommunikationsmedien verschärft. Weder die Partnerschaft, noch die Elternschaft können so in einer für die Kinder so wichtigen stabilen und gelassenen Haltung gelebt werden. So ist es auch zu erklären, dass Partnerschaften und insgesamt die für eine vitale Entwicklung des jungen Menschen wichtigen familiären und außerfamiliären Beziehungsstrukturen brüchig geworden sind und immer brüchiger werden.

In einem prinzipiell exorbitant reichen Land akzeptiert die neoliberale Politik eine hohe Armutsrate, nicht nur der Familien, die unter den oft entwürdigenden und demütigenden Bedingungen von Hartz IV leben müssen, sondern auch einer wachsenden Zahl von Familien, die knapp oberhalb des ALG II-Bezuges leben und kaum über die Runden kommen.
Die Zahl der Kinder, die in Deutschland in Armut leben müssen, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Armut ist in beschämender Weise zu einem zentralen gesellschaftlichen Phänomen und Problem in unserem Land geworden.

Die Folgen dieser chronischen Armut auf das Lebens- und Entwicklungsproblem der Familie und speziell der Kinder sind hinreichend bekannt und viel diskutiert. In der neoliberalen Praxis unserer Gesellschaft ist sie jedoch, abgesehen von plakativen medialen Empörungen und damit einhergehenden medial gehypten Hilfsaktionen, nicht nur akzeptiert, sondern im Denken vieler Menschen vielfach sogar als selbstverschuldet legitimiert.

Andererseits erleben wir in den marktliberalen Gesellschaften einen hohen Konsumdruck, der durch verschiedene Mechanismen noch künstlich verstärkt wird. Vor allem Kinder und Jugendliche sind als Konsumenten die wichtigste Zielgruppe der Industrie, ganz gleich, wie sinnig, unsinnig oder gar gefährlich dieser Konsum für sie ist.

Exemplarisch möchte ich den exzessiven Medienkonsum der jungen Menschen oft schon ab dem Kindergartenalter nennen, nicht nur in Bezug auf die Quantität, sondern ebenso im Hinblick auf die Inhalte des Konsumierten. Kinder werden von der Wirtschaft in dieser Gesellschaftsform oft rücksichtslos ausgebeutet und in allumfassender Weise dauerhaft überfordert.
Dieser Aspekt systematischer und struktureller Kindeswohlgefährdung wird in Zeiten, in denen permanent die Rechte der Kinder und der Kinderschutz betont werden, jedoch tabuisiert. Darüber wird geschwiegen. Er ist als Ursache mannigfacher Probleme schlicht nicht präsent.
Stattdessen ist es populär geworden, die Verantwortung für die Wohlstandsverwahrlosung vieler Kinder auf die Eltern zu schieben. Dies ist jedoch vor dem Hintergrund des beschriebenen Wandels zur neoliberalen Marktwirtschaft wenig mehr als eine zynische Ablenkungsstrategie. Außerdem werden auf diese Weise in marktliberaler Logik die Nachfragepotentiale für eine privatisierte Sozialwirtschaft gesichert. Die Sängerin Dota Kehr hat diese Logik in ihrem Song „die Funktionalisierer“ am Ende so treffend beschrieben: „Und selbst aus der Angst und dem bitteren Erwachen, glaubt mir, da kann man was draus machen …. da kann man was draus machen!“ https://youtu.be/PFTe0Vm7G10https://youtu.be/PFTe0Vm7G10

Können Sie die Überforderung des ökonomisierten Kinder- und Jugendhilfesystems im Umgang mit den komplexen Problemen der Kinder- und Jugendlichen unter den von Ihnen beschriebenen heutigen Lebensbedingungen bitte anhand eines Beispiels skizzieren?

pexels-photo-1043558.jpegLassen Sie mich ein Praxisbeispiel konstruieren, in dem verschiedene der genannten Faktoren kulminieren. Es ist in dieser Zusammenstellung durchaus realistisch und auch von mir in den vergangenen 10-15 Jahren so erlebte Praxis. Auch die einzelnen Elemente unzureichender Hilfe allein können bereits erhebliche negative Folgen im Hilfeprozess nach sich ziehen.

Nehmen wir also die 14-jährige Jugendliche H., die seit geraumer Zeit regelmäßig dem Schulunterricht fernbleibt. H. kommt aus einem belasteten Elternhaus, da die Eltern sich vor drei Jahren nach einer lange anhaltenden Konfliktphase getrennt haben und die Konflikte nun im Hinblick auf die Gestaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge anhalten.
H. fühlt sich zwischen den Eltern hin- und hergerissen. Die ohnehin schwierige finanzielle Situation der Eltern hat sich im Zuge der Trennung noch verschärft. Der Vater kommt seiner Unterhaltsverpflichtung nur unzureichend nach. Die Mutter hält sich und ihre zwei Kinder – es gibt noch einen achtjährigen Bruder – mit verschiedenen Jobs gerade so über Wasser.

Die Schule, welche anfangs über einen erheblichen Zeitraum die Eltern über das unerlaubte Fernbleiben in Unkenntnis hielt, spricht mittlerweile von Schulverweigerung. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus läuft nur schleppend, weil zum einen die Mutter mit den Alltagsbelastungen nach der Trennung überfordert ist, sich vom Vater in der Erziehung der Kinder nicht unterstützt fühlt und sich in Umgangskonflikten mit ihm und den Ex-Schwiegereltern aufreibt.
Zum anderen ist die Schule selbst personell knapp ausgestattet, sodass die wichtige Elternarbeit nur mühselig gestaltet werden kann. Außerdem gibt es eine wachsende Zahl an auffälligen bzw. problembelasteten Schülerinnen und Schülern. Bei einer Gesamtschülerzahl von 1.500 gibt es eine einzige Schulsozialarbeiterin, die sich neben ihrer Projektarbeit nur sporadisch einzelner Schülerinnen und Schüler annehmen kann.

Im Elterngespräch mit der alleinerziehenden Mutter empfiehlt der Klassenlehrer der Mutter, sich Unterstützung in der Erziehungsberatungsstelle zu holen. Dort erhält sie nach längerer Wartezeit einen Termin, erlebt aber, dass fortlaufende Termine aufgrund der hohen Auslastung der Fachstelle nur alle paar Wochen möglich sind. Die Mitarbeiterin empfiehlt der Mutter dringend, an dem Eltern- und Umgangskonflikt zu arbeiten, den sie als maßgeblich für H.´s Verweigerungshaltung hält. Die Mutter sieht sich gegenwärtig außerstande, an dieses Thema heranzugehen, schon gar nicht gemeinsam mit dem Vater. Die Erziehungsberaterin, die nur mühsam ihre vielen Fälle terminlich koordinieren und bewältigen kann, nimmt diese Haltung der Mutter mit Ungeduld und Unzufriedenheit zur Kenntnis. Sie rät der Mutter am Ende des zweiten Termins, H. zwecks diagnostischer Abklärung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanz anzumelden. Die Beratungsstelle darf aufgrund kommunaler Kürzungsmaßnahmen keine eigene Diagnostik mehr vornehmen. Dort angekommen erfährt die Mutter, dass H. erst drei Monate später einen ersten Untersuchungstermin erhält, da auch hier die Grenzen der Auslastung längst erreicht sind.

Es vergehen Wochen und Monate ohne greifbare Hilfe für H. und ihre Familie. Die Situation mit H., die sich immer mehr in ihre virtuellen PC-Welten zurückzieht. spitzt sich zu. Der Mutter gelingt es nur noch selten, mit H. in Kontakt zu kommen. H. besucht, trotz vieler Versprechen ihrer Mutter gegenüber, nur noch selten den Unterricht. Schließlich macht die Schule Druck, indem sie der Mutter nahelegt, sich an das Jugendamt zu wenden. Ansonsten könne H. nicht weiter an dieser Schule verbleiben.

Mit Widerwillen und verunsichert sucht H.´s Mutter mit ihrer Tochter den Allgemeinen Sozialen Dienst, kurz ASD, des Jugendamtes auf. Die Fachkraft dort führt mit Mutter und H. ein ausführliches Gespräch, an dessen Ende zu beider Überraschung die Empfehlung der Fachkraft steht, die bereits begonnene Erziehungsberatung fortzusetzen und zunächst einmal die Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchzuführen und deren Ergebnisse abzuwarten. Zusätzlich empfiehlt die Fachkraft eine Trennungs- und Scheidungselterngruppe für beide Eltern, welche im ortsansässigen Familienzentrum angeboten wird. Diese Gruppe werde durch eine Sozialpädagogin angeleitet, die wöchentlich mit den Trennungseltern arbeite.

Mutter und Tochter verlassen einerseits erleichtert das Jugendamt, weil ja nichts Schlimmes dort passiert ist. Andererseits ist die Mutter irgendwie frustriert und genervt, da sie wieder kein Stück weitergekommen ist. Eine Gruppe werde sie mit diesem für sie belastenden und beschämenden Trennungsthema ganz gewiss nicht aufsuchen, schon gar nicht gemeinsam mit dem Ex, der seinerseits wohl kaum zur Teilnahme an einer solchen Gruppe zu bewegen sein wird.
H. ist es egal. Sie möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden und mit allem nichts mehr zu tun haben. Die wichtige Information, dass Eltern einen Rechtsanspruch auf “Hilfe zur Erziehung” haben und diese beim Jugendamt beantragt werden kann, wurde der Mutter bislang nicht mitgeteilt. Die Mitarbeiterin der Erziehungsberatungsstelle klärt nun jedoch über den Rechtsanspruch der Eltern auf “Hilfe zur Erziehung” auf.

Diese sucht mit dem Wissen um den Rechtsanspruch die Fachkraft beim Jugendamt ein zweites Mal auf und drängt auf die Antragstellung, auch unter Verweis darauf, dass sich H.´s Situation verschlimmert habe und sie sich als Mutter mit all den Belastungen, der Sorge um H., dem Dauerkonflikt mit dem Vater und der kaum noch zu bewältigenden Doppelbelastung von Beruf und Familie chronisch überfordert fühle. Schließlich willigt die Fachkraft ein und das Team des Jugendamtes kommt nach gemeinsamer Beratung zu dem Schluss, der Familie eine sozialpädagogische Familienhilfe zu gewähren, die zunächst probehalber mit einem niedrigen Stundensatz eingesetzt und auf ein halbes Jahr befristet wird.

H.´s Mutter erlebt die für diese Hilfe eingesetzte Sozialpädagogin, die parallel sechs Familien zu betreuen hat, nach anfänglich gutem Beginn immer ungeduldiger. Auch der Sozialpädagogin gelingt unter den knapp bemessenen Zeitressourcen kein konstruktiver und vertrauensvoller Zugang zu H. und ihrer Mutter. Ebenso wenig gelingt eine Kontaktaufnahme zu H.´s Vater, der weiterhin im Hintergrund gegen die Mutter agiert und H. selbst permanent in Loyalitätskonflikte verstrickt.
H.´s Mutter fühlt sich zunehmend von der Sozialpädagogin bedrängt, bevormundet und kontrolliert. Sie empfindet Scham und Versagensgefühle und versucht sich nach und nach den anberaumten Terminen zu entziehen.

Nach negativen Rückmeldungen der Sozialpädagogin an die fallverantwortliche Fachkraft des ASD kommt es zu zwei Versuchen, der Mutter zu erklären, dass sie konstruktiv mitarbeiten und sich um Umsetzung der Ratschläge der Familienhelferin bemühen müsse. Kurze Zeit danach bricht das Jugendamt wegen der nicht vorhandenen Kooperationsbereitschaft der Familie die Hilfe ab. Zurück bleiben eine frustrierte, überforderte Mutter und eine Jugendliche, die von allen einfach nur noch in Ruhe gelassen werden möchte, und deren Situation sich zunehmend verschlechtert.

Wagen wir eine Prognose? Und wenn sie nicht gestrandet sind, dann dümpeln sie auch heute noch, mit Tausenden von im Stich gelassener Familien auf dem Meer der Hoffnungslosen in der restlos überfüllten und seeuntüchtigen MS Agenda 2010.

Nächster Zielhafen: Psychiatrie, Knast oder Straße?

In Summe: Da gibt ein System also vor, zu helfen, hält diese Hilfe jedoch kaum überhaupt vor, und beschädigt dadurch die Betroffenen womöglich nur noch mehr, die Ohnmacht, Hilflosigkeit und Resignation erfahren und deren Probleme in dieser Zeit nur größer und größer werden. Ganz zu schweigen vom allgemeinen Trend, aus Zeit- und Geldgründen Kinder dann eben psychiatrisch zu „behandeln“ anstatt ihnen wirklich zu helfen.

Wenn es so schlimm um die Profession bestellt ist, warum gibt es dann scheinbar keine Gegenwehr gegen diese Negativentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe?
Das System fährt doch offensichtlich … immer mehr gegen die Wand.

Nun, was würden Sie machen, wenn Sie unter prekären Arbeitsbedingungen arbeiten, sagen wir, mit einem Zwei-Jahresvertrag mit eventueller Verlängerungsoption, eine Familie zu versorgen hätten? Unter diesen Bedingungen macht kaum jemand den Mund auf – aus Angst vor drohender Arbeitslosigkeit und den damit einhergehenden existentiellen Konsequenzen.

Darüber hinaus fürchte ich, dass die Zeit der gesellschaftlichen Lähmung und der seit langem währenden Überbetonung des Individuums gegenüber Werten des Sozialen und der Solidarität inzwischen zu einem quasi reflexhaften Anpassungsverhalten an die Gesetze einer marktliberalen Kultur geführt hat.

Insofern finden wir insgesamt jüngere Generationen vor, die sich, so sozialisiert, im Wesentlichem kaum mehr kritisch verhalten können oder aber kaum die Anstrengung kritischer Auseinandersetzung auf sich nehmen wollen bzw. können. Sie kennen häufig überhaupt nur noch die Bedingungen und entsprechende Deutungsmuster einer, wie Kanzlerin Merkel es so treffend bezeichnet hat „marktkonformen Demokratie“.

Und diese Veränderungen sind inzwischen so tief in der Gesellschaft verankert, dass es auch den vermeintlich kritisch denkenden Sozialarbeitenden schwerfällt, alternative Perspektiven einzunehmen.

Die Ausbildung bzw. das Studium der Sozialpädagogik und ähnlicher Studiengänge hat unter dem beschriebenen politischen Wandel mit der Einführung der so genannten Bologna-Reformen ebenfalls enorm gelitten. Die Dogmen des Marktliberalismus werden sowohl über die strukturellen Erfordernisse des Studiums als auch über die betriebswirtschaftlich gefärbten Inhalte der Studiengänge vermittelt, sodass die nachwachsenden Generationen in diesem Berufsfeld diese ökonomisierte Variante Sozialer Arbeit zumeist als selbstverständlich erachten. Diejenigen Hochschul- und Fachhochschullehrenden, die noch ein anderes, fachliches Verständnis von Sozialpädagogik vermitteln, sind in der Minderzahl und stehen zudem selbst in der Gefahr, in ihren Lehrinstitutionen unter Druck gesetzt zu werden.

Die neoliberale Ideologie [PDF] ist einfach allerorten manifest und die Verhältnisse arbeiten ihr nur weiter zu.

Und was wäre in dieser gesellschaftlichen Situation sinnvollerweise zu tun? Was wünschen oder raten Sie?

Wünschen würde ich mir, dass die Menschen sich endlich wieder auf die Errungenschaften humanistisch orientierter und sozialer Bewegungen in Richtung Freiheit und Demokratie besinnen, wie sie trotz allen Militarismus‘, aller feudaler, autoritärer und faschistischer Strömungen und Epochen und ihren entsprechenden Erziehungs- und Bildungsmethoden immer wieder durchdringen konnten und so zumindest in Teilen des 20. Jahrhunderts zentrale gesellschaftliche Wertesysteme in Richtung der Achtung der Menschenwürde, der Realisierung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit ermöglicht haben.

Freiheit ist im Zeitalter des Marktliberalismus zur Freiheit des Konsums der am System Teilhabenden reduziert worden. Soziale Gerechtigkeit ist spätestens mit der Einführung der Agenda 2010 weggespült und durch Ellenbogendogmen wie „Leistung lohnt sich wieder!“ oder „Fördern und Fordern!“ ersetzt worden.
Leider habe ich nur wenig Hoffnung, dass hier in absehbarer Zeit ein gesellschaftlicher Wandel eintreten wird. Dafür funktionieren die Prinzipien des „Teile und herrsche!“ und „Brot und Spiele“ im medialen Zeitalter einfach zu gut.

Fraglich ist im Augenblick wohl vor allem, wie die aktuelle Flüchtlings- bzw. Einwanderungssituation Einfluss auf den gegenwärtigen Stillstand nehmen wird. Nicht nur diesbezüglich dürfen wir die jetzige Flüchtlingswelle als echte Chance für unsere gesellschaftliche Entwicklung sehen.

Und im Hinblick auf das Thema Ökonomisierung der Kinder- und Jugendhilfe rate ich allen engagierten Kolleginnen und Kollegen, den Lehrenden an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, den Studierenden, aber auch den verantwortlichen Jugendhilfepolitikern, inne zu halten und darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, welche Aufgabe die Soziale Arbeit und speziell die Kinder- und Jugendhilfe hat und was unsere ureigene sozialpädagogische Fachlichkeit ausmacht.

Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession und hat somit ein eindeutiges und parteiliches Mandat für die Menschen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt bzw. ausgeschlossen werden bzw. von Marginalisierung bedroht sind. Sie hat Entwicklungen vorzubeugen, die das Prinzip von Oben und Unten bedienen oder, so diese sich realisieren, sie offen zu benennen, zu skandalisieren und zur Gegenwehr aufzurufen.

In diesem Sinne hat Soziale Arbeit und insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem sozialpädagogischen Auftrag auf den Ebenen der Prävention, der Gemeinwesen- und Einzelfallarbeit immer auch eine politische Dimension.
Das betrifft nicht allein die Arbeit mit den Adressatinnen und Adressaten, sondern ebenso die professionellen Fachkräfte selbst. Denn wie sollen wir Menschen in ihrem Bestreben nach Autonomie begleiten, wenn wir selbst für uns und unsere Arbeitsbedingungen systematische Ausbeutung, Entwertung, stillschweigende Duldung teils unhaltbarer Arbeitsbedingungen und andere Formen prekärer Arbeit stillschweigend erdulden?

Die gegenwärtige Kinder- und Jugendhilfepolitik geht ganz im Einklang mit der ökonomisierten Politik trotz scheinbarer Gesprächsbereitschaft und oberflächlichem Verständnis für die fachlichen Positionen ihren Weg jedoch unbeirrt weiter. Hinter den aufgehübschten Fassaden einer Hochglanz-Jugendhilfe wird die Umsteuerung in Richtung einer ökonomisierten Kinder- und Jugendhilfe unnachgiebig weiterverfolgt. Inzwischen gibt es sogar eindeutige Signale aus der Politik, die gesetzlichen Grundlagen des SGB VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, der seit Jahren währenden kommunalen Praxis anzupassen, die sich an betriebswirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Effizienz orientiert.

Unser in 2010 gegründetes Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit hat sich aus diesem Grund nach verschiedenen vergeblichen Versuchen eines ernsthaften Dialogs mit der Politik über die Zukunft unseres Fachbereiches entschieden, diesen Dialog vorerst zu beenden. Stattdessen gehen wir nun mit einem Aufruf zu einem Memorandum auf allen Ebenen in die Öffentlichkeit, um ein Bewusstsein für die gegenwärtige Lage der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen. Wir hoffen, dass alle engagierten Menschen, die mit der gegenwärtigen Fremdbestimmung der Sozialen Arbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe im Speziellen nicht einverstanden sind und noch nicht resigniert haben, diesen Aufruf lesen und durch ihre Zeichnung unterstützen.

Noch ein letztes Wort?

Wenn ich mir eine kleine Anekdote sozusagen als Epilog erlauben darf… Ich tituliere ihn mal als “von Häuptlingen, Häppchen und Ungehorsam”: Ich saß vor einiger Zeit beruflich in einer Arbeitsrunde, bei der ein von Bundesmitteln gefördertes Projekt – übrigens ein klassisches Projekt der “Neuen Steuerung” – in der betreffenden Kommune als Zwischenergebnis durch einen Vertreter des Bundesministeriums überprüft werden sollte. Nachdem die das Projekt ausführenden Ehrenamtlichen und Professionellen zwei Stunden lang ihre wirklich kreativen und engagierten Ergebnisse monatelanger Arbeit präsentiert hatten, sollten in einer darauf folgenden zweiten Runde nur die politisch Verantwortlichen, sprich Geschäftsführer, Kommunalpolitiker und eben jener Mensch vom Bundesministerium miteinander ins Gespräch gehen.

In der Pause zwischen dem einen und dem anderen Gesprächsforum wurden fein dekorierte Häppchen gereicht. In Freude auf eine kleine Stärkung nach zwei intensiven Stunden und bevor wir Fachkräfte wieder in den mühsamen Arbeitsalltag entlassen wurden, griff meine Hand in Richtung eines dieser Häppchen. Da stürzte einer der Geschäftsführer auf mich zu und deutete symbolisch eine körperliche Maßregelung meiner allzu selbstbewussten Hand an und sprach unmissverständlich: “Stopp, das ist nur für Häuptlinge.”
Vielleicht war meine Hand intuitiv selbstbewusster als mein Denken. Denn ich griff dennoch beherzt zu, führte den wohlschmeckenden Happen in meinen Mund und sprach: “Dieser Happen schmeckt mir besonders gut.”

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Matthias Heintz, 51, ist Diplom-Pädagoge und systemischer Familientherapeut. Er hat 2 Söhne. Er ist seit knapp 20 Jahren in der Erziehungsberatung tätig, heute als Berater in einer kirchlichen Sozial- und Lebensberatungsstelle tätig, sowie in eigener systemischer Praxis.
Seit rund 10 Jahren arbeitet er zudem als Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal, insbesondere im Fachbereich „Kindheitswissenschaften“. Er ist Mitbegründer des „Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit“.

* Anmerkung: Das hier erwähnte Skript !Denkgifte habe ich in meine Mediathek übernommen, es ist aber über hundert Seiten dick, wird einiges an Druckertinte kosten, wenn ihr es ausdrucken wollt.

Bitte nehmt das als Grundlage von Diskussionen, ich habe selten so eine gute Zusammenfassung gelesen. Ein schönes Wochenende damit wünscht Euch

Jochen

INHumankapital – gnadenlose Umerziehungskampagne – Bildungsreform als Herrschaftsinstrument

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus Konstantin Weckers Blog: Konstantin_Wecker
http://hinter-den-schlagzeilen.de/2014/02/06/inhumankapital/

Dort auch gute Kommentare !
Früher hieß es übriegens: ChancenGLEICHHEIT ! Der Begriff „Chancengerechtigkeit“ ist bereits die neoliberale Umformulierung.
Auszüge:

Menschen in kapitalistischen Gesellschaften sollen nicht nur Waren konsumieren, sie sollten auch ihrer eigenen Umformung zu Waren im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeitslogik zustimmen.
Dies geschieht im Zuge einer gnadenlosen Umerziehungskampagne, die uns dazu bringen soll, jene “Werte”, die uns kaputt machen, zu verinnerlichen.
Besonders schlimm ist dies bei Kindern, deren Prägung auf Konsum, neue Medien und Markentreue schon im Kleinkindalter beginnt – ohne dass Eltern oder irgendeine Art von Jugendschutz dem Treiben Einhalt gebietet.
(Georg Rammer)*)

Bei den Koalitionsverhandlungen ist Armut kein Thema und schon gar nicht der soziale Graben, der die Gesellschaft in Profiteure und Verlierer teilt.
Die neoliberale Ideologie, die dem Kapitalismus in 25 Jahren einen enormen Schub verliehen hat, beherrscht die Politik.
Vor allem ist es gelungen, diese Ideologie in den Seelen sehr vieler Menschen zu verankern; sie prägt Erziehung und Beziehungen ebenso wie die Identität von Kindern und Jugendlichen.

In Umfragen äußern zwar sehr viele Menschen massive Kritik an diesem System der marktkonformen Demokratie – aber sie wählen es mit überwältigenden Mehrheiten.
Diese „kognitive Dissonanz“ ist das Ergebnis einer beispiellosen Umerziehung der Gesellschaft, die sich zunehmend mit den Werten und Normen identifiziert, die ihr eigentlich großen Schaden zufügen.
Die Werte und Normen sind Erfolg und Effizienz und die Wege dorthin sind Wettbewerb und Selbstmanagement.
Mächtige Instanzen arbeiten daran, der jungen Generation global eine neue Identität einzupflanzen.

Die allermeisten Familien haben „Super-Nannys“ in die Familie geholt, die ihnen zwar nicht die Arbeit mit den Kindern abnehmen, deren Einfluss aber auf die seelische Entwicklung, auf Denken und Fühlen, auf Geschmack und Ideale, Lebensziele und Selbstdarstellung beträchtlich ist: TV und Internet, Smartphone und Facebook.
Bereits von klein auf sind Kinder Adressaten eines Sperrfeuers von Verführung und Manipulation. Die Agenten bombardieren sie mit allen Tricks, denn sie wissen um den Einfluss der Kleinen auf die Kaufentscheidungen der Eltern.
Wie Benjamin Barber einen dieser Agenten zitiert, wird in dieser Schlacht jenes Unternehmen siegen, „das die Kids am besten versteht, ihre emotionalen Bedürfnisse, ihre Phantasien, ihre Träume, ihre Wünsche. Dieses Wissen ist die mächtigste Waffe im Arsenal des Vermarkters, der das Herz der Kinder gewinnen will.“
Die Kinder sind die Opfer dieser Schlacht und weit und breit ist keine Kinder- und Jugendhilfe, die diese Schlacht anprangert und unterbindet.

Agenturen sind damit befasst, die emotionalen Bedürfnisse und Träume der Kinder auszuforschen. Die KidsVerbraucherAnalyse hat schon Vierjährige im Visier, um ihre Rolle als Konsumenten und Kaufentscheider zu analysieren und die Ergebnisse für Marketing- und Werbeplanung zur Verfügung zu stellen.
Der Konzern Facebook ist milliardenschwer – nicht durch Produkte, sondern durch den Verkauf persönlicher und intimer Daten von meist jungen Leuten; mit Hilfe dieser Persönlichkeitsprofile können Konzerne auf jedes einzelne Kind zugeschnittene Werbung im Netz einblenden.

Kinder als Konsumenten sind Ziel dieser umfassenden Manipulation mit Hilfe raffinierter emotionaler und Sinne stimulierender Botschaften.
Häufig stellt aber nicht der Gebrauchswert der Markenklamotten und süßen Verlockungen oder des Elektrospielzeugs das eigentlich Attraktive dar.
„Konsumieren bedeutet heute nicht mehr, sich Genussmittel verschaffen, sondern in gesellschaftliche Zugehörigkeit investieren – was in einer Konsumentengesellschaft bedeuten muss: in die eigene `Verkäuflichkeit´“, sagt der Soziologe Zygmunt Bauman (Blätter, 13/10).

Wenn die Kinder von einer Marke abhängig geworden sind, ist das Ziel der „Dealer“ erreicht. Und der Prozess der Abrichtung zum Konsumenten hat sie dabei innerlich verändert: Sie konsumieren nicht nur Waren, sie haben vielmehr akzeptieren gelernt, dass alles und alle nicht an sich, sondern nur als Ware einen Wert haben.
Der Konsum wird quasi als Investition in die Selbst-AG vorgenommen, um die Selbstverwertung effektiver managen zu können. „Ein verkaufsfähiges Produkt zu werden und zu bleiben“ ist nach Bauman die Hauptsorge der Nutznießer, wobei sie selbst zum Konsumgut werden.
Alle Produkte, einschließlich der Zahl der Beziehungen, haben das Ziel, den eigenen Marktwert zu erhöhen. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich selbst in ein nachgefragtes Produkt verwandeln, um nicht exkommuniziert zu werden.

Wenn diese Beeinflussung Erfolg hat, stehen junge Leute nicht nur der Produktion zur Verfügung, sie akzeptieren sich selbst und ihre Fähigkeiten als Humankapital. Von ihnen ist kein Protest zu erwarten.
Diejenigen aber, die in diesem Prozess der Produktwerdung und der Selbstvermarktung nicht mithalten können, haben keine Gnade zu erwarten.
Der neoliberale Kapitalismus sorgt nicht für soziale Gerechtigkeit und Ausgleich, für Chancengleichheit und Förderung der Benachteiligten, sondern für Training der Starken und Effektiven, für Belohnung der „Exzellenz“.
Die Abgehängten bekommen danach gerade so viel, wie ihnen nach diesem Prinzip zusteht: sie sollen nicht verhungern, wir leben schließlich in einem sozialen Rechtsstaat.
Würde und Entfaltung der Persönlichkeit? Sie sollen sich gefälligst anstrengen, um ihre Selbstvermarktung effektiver zu gestalten.
Der Trick der die öffentliche Meinung beherrschenden politisch-wirtschaftlichen Elite besteht darin, die Ergebnisse ökonomischer Entscheidungen und massiver Beeinflussung (Armut und Ungleichheit, Konsumverhalten und Lebensstile) als „natürliche“ Tatsachen, Produkt autonomer Entscheidungen oder als feste Eigenschaften zu individualisieren und zu entpolitisieren.

So schließt sich heute der Kreis: Die Anhänger des neoliberalen Welt- und des sozialdarwinistischen Menschenbildes sind am Ziel ihrer Wünsche.
Die Markt-Menschen konsumieren nicht nur, sie haben das Prinzip der Vermarktung internalisiert. Sie haben sich zueigen gemacht, dass sie ein Produkt sind, das verwertet werden muss.
Für auf Ausgleich bedachte Sozialpolitik ist da weder Raum noch Bedarf. Die Sozialpolitik schafft sich ab.
Wieso sollen Looser gefördert, wieso Gewinner durch höhere Steuern belastet werden? Genauso wie für Banken das Kunst- und Sport-Sponsoring immer auch Public Relations ist, genauso wie Konzerne Spenden an Parteien als Gewinn bringende Investition betrachten, genauso betreibt die Regierung (und die EU) nicht Sozialpolitik für menschenwürdiges soziales Zusammenleben, sondern investiert in Humankapital, um es Konzernen zur profitablen Verwertung zur Verfügung zu stellen.

Blauäugig erscheint auf diesem Hintergrund die Forderung von Wohlfahrtsverbänden und UNICEF nach Bildungsgerechtigkeit. „Bildung sollte frühzeitige und gezielte Förderung für benachteiligte Kinder umfassen“, rät Unicef den Regierungsparteien. Diese werden den Rat nicht beherzigen.
Bildung ist für sie Förderung zukünftiger Leistungsträger und sie ist eine Ware wie alles, was uns umgibt und was wir sind.
Allerdings ist Deutschland durchaus bereit, den jungen Menschen anderer Länder – besonders der verarmenden Staaten in Südeuropa – zu helfen: Wenn sie gut ausgebildet und top motiviert sind, dürfen sie hier arbeiten.

downlogo

Die Bundesanstalt für Arbeit will spanische Ärzte und griechische Ingenieure anwerben; ihre zentrale Auslands- und Fachvermittlungsstelle sucht auch IT-Spezialisten und Pflegekräfte.
Das zuständige Bundesministerium unterstützt deutsche Anbieter von Aus- und Weiterbildung bei der Erschließung des schnell wachsenden internationalen Bildungsmarktes.
Auch Großkonzerne wie SAP wollen Südeuropas Fachkräfte anlocken – „Ihr Griechen und Spanier, kommet doch all“, karikiert die SZ die Anwerbebemühungen.
Die deutsche Politik fremdenfeindlich? Nicht, wenn es um gut verwertbare Arbeitskräfte geht. Dass deren Ausbildung für uns kostenlos war und ihre Qualifikation in den Heimatländern zu weiterem Ausbluten führt, das ist zwar bedauerlich, aber marktkonform. Und das ist die Hauptsache.

(aus: Ossietzky 25/2013 – Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft)

Dazu noch ein Verweis auf eine immer noch aktuelle Analyse von 2008,wie das an den deutschen Unis funktionieren soll:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=3230
Kurzer Auszug:
Kaum irgendwo wird derzeit soviel ‚Reform‘-Kraft entfaltet wie im deutschen Bildungssystem. An vielen Stellen wird reformiert, um- und neugestaltet.
Die in großen Teilen hiergegen kontext-argumentativ wehrlose Linke sieht sich mit scheinbar zusammenhanglosen Versatzstücken technokratischer Modernisierung konfrontiert, die sie mit dem Ruf „Bildung ist keine Ware!“ oder mit der Forderung, mehr Arbeiterkinder sollten an die Hochschulen gelangen können, zu parieren versucht.
Dabei bilden diese ‚Reformen‘ sehr wohl ein einheitliches Bild, wenn man sie aus materialistischer Perspektive betrachtet.
Die linke Kritik verharrt überall dort, wo sie diese Perspektive negiert, gar zu oft in einer affirmativen Position, die nur das Bestehende verteidigt oder schützt.

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Zusammenhänge zu verdeutlichen und einer neuen und weitergehenden Kritik den Boden zu bereiten.
Hierzu wird zunächst der Bereich der höheren Bildung betrachtet und dann im Rahmen einer Gesamtperspektive auch der Primar- und Sekundarbereich.
Jens Wernicke hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.

Die technokratische Hochschul(struktur)reform

Dominantes Zielmodell der gegenwärtigen Hochschulstrukturreform, das mit Stichworten wie Studiengebühren, Umstellung auf zweistufige Studiengänge (Bachelor und Master), Globalhaushalt, leistungsorientierte Mittelvergabe, Exzellenz-Initiative, Elite-Universitäten, Internationalisierung, Modularisierung, Stärkung der Leitungsorgane und leistungsorientierte Bezahlung für Wissenschaftlerinnen grob umrissen ist, ist die Vorstellung der Hochschule als marktgesteuertes Dienstleistungsunternehmen, das im Wesentlichen auf drei Eckpunkten beruht.

Implementation marktförmiger Wettbewerbsmechanismen

Die Hochschulstrukturrefom zielt erstens auf die Durchsetzung marktförmiger Wettbewerbsmechanismen als neuen Steuerungsinstrumenten (zu deren Wirkungen und Kritik vgl. Hoffacker 2003) innerhalb der Hochschulen sowie auch im Verhältnis zwischen diesen und dem Staat ab.

Zielvorstellung dieser Umstrukturierungs- und Implementationsmaßnahmen, wie sie unter anderem das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) (vgl. Bennhold 2002) entwirft, ist dabei stets „das Dienstleistungsunternehmen Hochschule, das sich in Konkurrenz mit anderen Anbietern auf einem Wissensmarkt zu behaupten hat, indem es dort die von ihm angebotenen Produkte und Dienstleistungen – Ausbildung von Studierenden und wissenschaftlichem Nachwuchs sowie Erzeugung verwertbarer Forschungsergebnisse – an kaufkräftige Nachfragerinnen und Nachfrager, […] absetzt“ (Keller 2005a: 5).
Dies verdeutlicht sich, wenn man sich die üblichen Schritte der Implementation dieser Mechanismen ansieht:
Die Lehr- und Forschungsleistungen werden evaluiert und somit vergleichbar gemacht.
Dies gilt „unabhängig davon, ob die gewonnenen Daten tatsächlich zutreffende Informationen über die Qualität der Hochschulleistungen vermitteln“ (ebd.).

Erfolgs- respektive leistungsorientierte Mittelvergabe sorgt für einen Ansporn, systemkonforme Leistungssteigerungen zu erreichen, indem Erfolge und Misserfolge in finanzielle Anreize oder Sanktionen umgemünzt werden.
So werden Hochschulen untereinander, aber auch hochschulinterne Untergliederungen (Fakultäten, Lehrstühle) in ein direktes Konkurrenzverhältnis um Ressourcen gesetzt.

Mittels Studiengebühren werden Studierende zu zahlenden Kundinnen und Kunden ihrer Hochschulen transformiert. Auch hier wird erwartet, dass die „Hochschulen bzw. deren Untergliederungen um die Kaufkraft der studentischen Kundinnen und Kunden konkurrieren“ (ebd.: 6).
Zudem sollen Studierende auch dadurch zur Einführung marktförmiger Wettbewerbsmechanismen beitragen, dass sie selbst die künftige ‚Rendite‘ ihrer Bildungsinvestitionen schärfer kalkulieren.

Umstrukturierung der inneren Verfassung der Hochschulen

Als Pendant zur Stärkung dieser Art ‚Finanzautonomie‘ der Hochschulen findet zeitgleich eine „Umstrukturierung der inneren Verfassung der Hochschulen nach dem Vorbild einer Unternehmensverfassung“ (ebd.) statt. Die Neubestimmung der inneren Organisation der Hochschulen orientiert sich dabei an jener der Unternehmensorgane Vorstand und Aufsichtsrat in einer Kapitalgesellschaft.
Insofern geht es mittelfristig nicht etwa nur um eine institutionelle Ausdifferenzierung von Grundsatzentscheidungen und Kontrollfunktionen, sondern um „eine Reduktion von Senat und Fachbereichsrat auf bloße Aufsichts- und Beratungsfunktionen“ (ebd.) zugunsten einer Übertragung aller Entscheidungsbefugnisse an die hochschulischen Leitungsorgane – eine Maßnahme, die sich nicht nur gegen die Mitbestimmung an den Hochschulen, „sondern gegen die im Status der Hochschulen als Körperschaften des öffentlichen Rechts verankerte Selbstverwaltung selbst“ (ebd.: 7) richtet und in der Folge auch eine Entmachtung der bisher privilegierten Gruppe der Professorinnen und Professoren „zugunsten eines verselbstständigten Hochschulmanagements“ (ebd.) bedeutet.

Gesellschaftliche Legitimation durch Dritte

Perspektivisch soll dabei ein aus Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik bestehender Hochschulrat die Funktion des Aufsichtsrates des Unternehmens Hochschule übernehmen.
Eine erste Studie der Universität Duisburg-Essen zur tatsächlichen Rekrutierung solcher Gremien liefert jedoch ein anderes Bild: Tatsächlich erobern vor allem Manager und also Technokraten derzeit die „Kontrolle an den Unis“ (Gillmann 2007) für sich, und es ist bereits abzusehen, „dass die Abhängigkeit einer Universität von ihren [nicht-staatlichen] Finanzierungsquellen einen deutlichen Einfluss darauf hat, wie ihr Hochschulrat zusammengesetzt ist“ (Uni Duisburg-Essen 2007).

Üblicherweise machen die privaten Träger mittels dieser von US-amerikanischen Privathochschulen bekannten Räte ihren Anspruch auf Kontrolle und Steuerung der von ihnen finanzierten Einrichtung geltend. „Ein von Dritten bestelltes Aufsichtsorgan passt jedoch nicht zu einem staatlichen Hochschulsystem, in welchem eben nicht Private, sondern der demokratisch legitimierte Staat Hochschulträger und -finanzier ist. Der Einrichtung von Hochschulräten liegt letztlich ein hochschulverfassungsrechtlicher Paradigmenwechsel zugrunde, der die zentrale Legitimationsinstanz für die Hochschulentwicklung weder beim Staat noch bei der hochschulischen Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, sondern bei Dritten ansiedelt.
Dem öffentlichen Eigentum an den Hochschulen wird dieser Paradigmenwechsel nicht gerecht, da er letztlich auf eine institutionelle Privatisierung des Hochschulwesens“ (Keller 2005a: 6) hinausläuft.

Weiteres a.a.O.
Schon 1978 riefen wir angesichts der damaligen Einführung des Hochschulrahmengesetzes : „Das Kapital leckt sich die Pfoten nach gut dressierten Fachidioten.“

Wenn die billig sind, dürfen die auch gerne aus dem Ausland kommen.

*: Nachtrag 2020: Diese früh einsetzende Erziehung für die Warengesellschaft beschreibt 8080573300001nSabine Seichter in ihrem neuen Buch: Das normale Kind.
Einblick in die Geschichte der schwarzen Pädagogik

Beltz Verlag, Weinheim 2019
189 Seiten, 24,95 Euro

Ein aktuelles Interview mit Frau Seichter ist hier wiedergegeben: https://josopon.wordpress.com/2020/01/22/die-spielarten-neoliberaler-erziehung/

Ein wichtiges Standardwerk zu dem Thema ist immer noch „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller.
Die Fortführung dieser Schwarzen Pädagogik läuft, wenn jemand zu den 20% gehört, die es nach der Schule nicht in den primären Arbeitsmarkt schaffen.
Die Schwarze Pädagogik wird dann weiter durch die Arbeitsagentur bzw. das Jobcenter betrieben.
Siehe https://josopon.wordpress.com/2017/04/02/hartz-iv-schwarze-padagogik-gegen-erwachsene/

und https://josopon.wordpress.com/2019/11/08/armut-ist-nicht-programmiert-klebt-aber-wie-kot-am-leib/
Jochen