Weihnachtsmärchen: Das Soziale Europa kommt ? Warum wir endlich mit liebgewonnenen Mythen brechen müssen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Martin HöpnerHier setzt sich, im Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Sozialdemokrat Martin Höpner mal fundiert und mit sozialem Bewusstsein mal mit der Europabeweihräucherung der Leim-Medien auseinander:
Auf leisen Sohlen kam hier die gesamteuropäische Entsolidarisierung des Neoliberalismus in unsere Regierungen.
Das Trauerspiel nach der letzten EU-Wahl war nur die Spitze des Eisbergs.
Sein Skeptizismus passt gut zu Sahra Wagenknechts EU-Skepsis mit ihrer These: Sozialstaat geht auf absehbare Zeit hin nur im nationalen Rahmen.
Solange sich die linken und sozialdemokratischen Kräfte im EU-Parlament und die Repräsentanten der Gewerkschaften allzusehr auf die Pflege ihrer Privilegien konzentrieren, ist da leider keine Veränderung zu erwarten.
Viele gute Ideen zu diesem Thema, leider nur auf Englisch, sind darüber hinaus diesem Newsletter zu entnehmen:

https://www.socialeurope.eu/focus/what-is-inequality

Und hier auszugsweise Martin Höpner im Oktober 2019:

Die progressiven Europadebatten sind voller Tabus und Mythen. Vorsicht ist geboten, wenn man sich in diese Debatten begibt. Es ist herausfordernd, die sozialen Wirkungen der europäischen Integration klar zu benennen und sich damit in Widerspruch zum Mythos vom Sozialen Europa zu begeben. Am Ende steht man schnell ungewollt als EU-Gegner da.
Ohne den Mythos vom Sozialen Europa kommt im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Spektrum kaum eine Rede zum Thema daher.

Das Soziale Europa kann empirisch oder prognostisch gemeint sein. Wahrscheinlich stimmen Sie mir zu, dass der Begriff als Zustandsbeschreibung der Europäischen Union nicht wirklich passt.
Dafür ist in den vergangenen ein bis zwei Dekaden einfach zu viel passiert, von den Eingriffen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in das Streikrecht (die Fälle Viking und Laval) über die Unterwerfung der öffentlichen Infrastruktursektoren unter das europäische Wettbewerbsrecht bis hin zur sozialen Kahlschlagpolitik der Troika in Südeuropa.
Die europäische Gleichstellungspolitik, oft und nicht zu Unrecht als Beispiel für eine sozial wünschenswerte EU-Politik genannt, kann das alles kaum aufwiegen.

Ist das Soziale Europa im Entstehen begriffen? Nein, hierfür gibt es keine Anzeichen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Die EU könnte sozialere Wirkungen entfalten, als sie es heute tut.
Das ist kein Mythos und ich werde noch darauf zurückkommen.
Ein Mythos ist hingegen, dass uns, so wie es die Feiertagsreden nahelegen, „mehr Europa“ dem Sozialen Europa näher bringt. Diese traditionelle Erzählung hat über die Jahre ihren Sinn verloren und bleibt dennoch ein hartnäckiger Bestandteil sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Selbstvergewisserung.

Bitte denken Sie mit mir an jene Integrationsschritte zurück, an die Sie sich selbst erinnern können.
Vielleicht haben Sie die Diskussionen um das Binnenmarktprogramm in den achtziger Jahren selbst miterlebt, vielleicht sind sie jünger und ihre Erinnerung setzt bei der Währungsunion und ihren Reformen an. All das waren genuin wirtschaftliche Integrationsschritte.
Warum waren Sozialdemokratie und Gewerkschaften stets treue Begleiter? Weil die Schritte durch ein mal implizites, mal aber auch explizites soziales Versprechen begleitet wurden.
Die Wirtschaftsintegration werde, so dachte man, mehr und mehr auf angrenzende Politikfelder „überschwappen“ und so schließlich das Soziale Europa hervorbringen.

In der Theorie klang das alles recht plausibel. Auch die Politikwissenschaft, die das erhoffte „Überschwappen“ als „spillover“ theoretisierte, schien die Plausibilität der Erzählung zu bestätigen.
Aber die Integrationsgeschichte ist anders verlaufen. Von Erweiterungsrunde zu Erweiterungsrunde wurde die EU heterogener.
Die Chancen auf Verwirklichung ambitionierter sozialer Harmonisierungsprojekte sind damit immer weiter gesunken, statt mit zunehmender Tiefe der Wirtschaftsintegration zu steigen.
Den europäischen Sozialstaat, der auf Bulgarien ebenso passen würde wie auf Dänemark, können wir uns nicht einmal mehr in der Theorie vorstellen. Von der praktischen Durchsetzbarkeit ganz zu schweigen.
Ähnlich verhält es sich etwa mit der Hoffnung auf europaweit einheitliche – und möglichst anspruchsvolle – Regeln zur Arbeitnehmermitbestimmung. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen.

Das ist noch nicht alles. Die gestiegene Heterogenität der Mitgliedsstaaten hinderte die Wirtschaftsintegration nämlich nicht daran, sich mehr und mehr zu radikalisieren und auf alle nur erdenklichen Politikfelder auszustrahlen.
In dieser Hinsicht fanden die „spillovers“ tatsächlich statt – aber nicht als Dynamiken der Supranationalisierung des Sozialen, sondern als destruktive Liberalisierungsimpulse dort, wo sich das Soziale bis auf weiteres manifestiert: auf Ebene der Mitgliedsstaaten.

Folgende Quellen der Liberalisierungsimpulse lassen sich unterscheiden: Das europäische Wettbewerbsrecht, das unter anderem ein Beihilfenverbot enthält. Mit diesem Verbot kollidieren regelmäßig staatliche Betätigungen in Sektoren, in denen es sowohl öffentliche als auch private Anbieter gibt. So wird debattiert, ob die öffentliche Finanzierung der niedersächsischen Wohlfahrtsverbände als Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu qualifizieren ist, weil sie einen Wettbewerbsnachteil für private Anbieter von Pflegedienstanbietern darstellt.
Dieses Konfliktmuster treffen wir in den so genannten „gemischten Sektoren“ immer wieder an, etwa bei öffentlich-rechtlichen Banken, beim Rundfunk oder in allen Infrastruktursektoren: Private Anbieter erkennen im europäischen Wettbewerbsrecht ein Instrument zur Durchsetzung ihrer auf Liberalisierung gerichteten Interessen.

Die Binnenmarktfreiheiten, also die Rechte der Marktteilnehmer, sich auf dem Binnenmarkt ungehindert bewegen zu dürfen

Diese Rechte interpretiert der Europäische Gerichtshof derart extensiv, dass sie individuellen Ansprüchen auf Liberalisierung nahekommen. Insbesondere die Dienstleistungsfreiheit hat erhebliche Liberalisierungswirkungen entfaltet, ähnliches lässt sich etwa von der Niederlassungsfreiheit sagen. Auch dies lässt sich am besten anhand eines aktuellen Beispiels verdeutlichen. Im Fall Polbud urteilte der EuGH, dass die – so der Fachbegriff – isolierte Satzungssitzverlegung in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fällt. Unternehmen können daher zukünftig noch leichter als ohnehin schon ihre Rechtsform abstreifen und gegen eine andere in der EU vertretene Unternehmensrechtsform eintauschen. Ihren Verwaltungssitz oder die Orte ihrer sonstigen Betätigungen müssen sie dafür nicht verlegen.
Die soziale Brisanz: Damit wird es auch leichter, bei Bedarf die Arbeitnehmermitbestimmung auf Ebene der Leitungsorgane zu umgehen.
Die Drohung mit solchen Umgehungen wird in Auseinandersetzungen mit der Arbeitnehmerseite glaubwürdiger. Die Unternehmensmitbestimmung wird durch diese Art der Rechtsprechung immer mehr von einer verpflichtenden Institution zu einem freiwilligen Arrangement.

All das wird von den im Zuge der Eurokrise errichteten makroökonomischen Überwachungs- und Korrekturverfahren und von den sozial höchst destruktiven Eingriffen der Troika in die Wirtschafts-, Sozial- und Haushaltspolitiken der Länder unter den europäischen Rettungsschirmen noch weit in den Schatten gestellt.
Neben den weithin bekannten Spardiktaten und Sozialkürzungen beinhalteten diese Vorgaben auch gezielte Schwächungen der Gewerkschaften, etwa mittels gezielter Eingriffe in die Bindungskraft von Flächentarifverträgen.

Diese Aufzählung beschränkt sich auf jene Liberalisierungsimpulse, die auf direkte Anordnung durch supranationale Organisationen – Kommission, EuGH, EZB, IWF – zurückgehen. Die europäische Integration erzeugt weitere Impulse zur Liberalisierung, indem sie den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den EU-Ländern verschärft, etwa den Steuerwettbewerb.
Freilich ist es gerade der Zweck des Binnenmarkts, den innereuropäischen Wettbewerb zu verschärfen – das lässt sich kaum bestreiten.
Aber bitte glauben Sie daher jenen nicht, die Ihnen weismachen wollen, die europäische Integration diene dem Schutz vor der Globalisierung, mit anderen Worten: dem Schutz vor dem transnationalen Wettbewerb. Auch das ist ein Mythos.
In Wahrheit wirkt die europäische Wirtschaftsintegration als Verstärker der Globalisierung
, ist gewissermaßen eine innereuropäische Globalisierung zum Quadrat.

Was bedeutet das alles nun für unsere Hoffnungen auf eine EU, die zumindest sozialere Wirkungen entfaltet als in der Vergangenheit? Ich möchte keiner Absage an visionäre Projekte auf europäischer Ebene das Wort reden.
Ein gutes Projekt wäre etwa die Bereitstellung von aus Strukturmitteln finanzierten Hilfen zum Aufbau von sozialen Mindestsicherungen in jenen ärmeren EU-Ländern, in denen es bis heute keinen sozialen Mindestschutz gibt.
Es sollte lohnen, für solche und ähnliche Ideen zu streiten – die mit gutem Recht in die Kategorie „mehr Europa“ passen.

Das ändert allerdings nichts daran, dass es verantwortungslos wäre, falsche Hoffnungen auf eine in absehbarer Zukunft bevorstehende Harmonisierung, also europäische Vereinheitlichung des Sozialen zu wecken.
Gewiss, vielleicht ändert sich das in nicht absehbarer Zukunft einmal. Bis auf weiteres aber werden wir uns auf ein eigentümliches Mehrebenensystem einstellen müssen. Der Wettbewerb, die Binnenmarktfreiheiten und die Einhaltung einiger basaler Konvergenzerfordernisse des Euro werden auf europäische Ebene geschützt.
Die zur Verwirklichung sozialer Rechte notwendigen Regularien und Umverteilungsmechanismen verharren gleichzeitig auf dezentraler, mitgliedstaatlicher Ebene.

Für die Formulierung stimmiger Strategien ist diese Einsicht von großer Relevanz. Es genügt dann nämlich nicht, visionäre Konzepte für eine zukünftige europäische Sozialpolitik zu formulieren.
Diesen Konzepten ist eine komplementäre, zweite Teilstrategie an die Seite zu stellen, die das Soziale auf mitgliedsstaatlicher Ebene besser vor den auf Liberalisierung zielenden europäischen Impulsen schützt.
Ein zentraler Baustein ist das Konzept der Bereichsausnahmen, das von einigen gewerkschaftsnahen Juristen ausgearbeitet wurde. Es zielt darauf, die mitgliedsstaatlichen Arbeits- und Sozialordnungen aus den Anwendungsbereichen der Binnenmarktfreiheiten, des europäischen Wettbewerbsrechts und der sanktionsbewehrten Korrekturverfahren zu entfernen.

Und hier nun schließt sich der Kreis zum Mythos des durch immer „mehr Europa“ erreichbaren Sozialen Europa. Der dringend notwendige bessere Schutz der Arbeits- und Sozialordnungen vor destruktiven europäischen Liberalisierungsimpulsen lässt sich nicht in die traditionelle Erzählung integrieren.
Dass eine sozialere EU mal „mehr Europa“, mal aber eben auch „Abwehr von zu viel Europa“ braucht, ist in den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Debatten bis heute weitgehend tabuisiert. *)
Damit entsteht eine gefährliche Leerstelle. Die Forderungskataloge drohen hinter dem zurückzubleiben, was sie eigentlich leisten könnten.
Gangbare Lösungswege haben es schwer, auf die progressiven Agenden zu gelangen, weil sie mit sachlich nutzlos gewordenen, gleichwohl aber immer weiter perpetuierten Mythen in Konflikt geraten.

Mythen mögen ein notwendiger Teil politischer Selbstvergewisserung sein. Ein Zuviel an Mythen kann aber, wie wir am Beispiel des Mythos vom im Entstehen begriffenen Sozialen Europa sahen, destruktiv wirken.
Wollen wir herausfinden, wie die EU sozialer werden kann, dann setzt das eine Bereitschaft zur Entmystifizierung und Enttabuisierung voraus
. Diese Bereitschaft ist bisher allenfalls in Ansätzen erkennbar.

Wachsamkeit ist geboten, wo  empirische Einsichten in den progressiven Europadebatten von hartnäckigen Mythen verdrängt zu werden drohen.
Der beste Weg ist meiner Erfahrung nach, die Mythen explizit als solche zu kennzeichnen und sie offensiv zu hinterfragen.

Martin Höpner ist Politikwissenschaftler und leitet am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung eine Forschungsgruppe zur Politischen Ökonomie der europäischen Integration.
An der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ist Höpner außerplanmäßiger Professor.

*: Das wirkt sich in den Leim-Medien seit Jahren so aus, dass der, der soziale Forderungen konsequent erhebt wie z.B. Sahra Wagenknecht, Albrecht Müller oder Werner Rügemer, immer mehr in die rechte Ecke gestellt wird, siehe z.B. hier: https://josopon.wordpress.com/2015/01/27/antisemitismus-vorwurf-gegen-werner-rugemer-als-lugengespinst-entlarvt/.
Wer das US-amerikanische Bankensystem kritisiert, muss sich dann plötzlich Antisemitismus vorwerfen lassen.

Prof. Birgit Mahnkopf von der HWR Berlin spricht hier https://josopon.wordpress.com/2015/07/15/gezielte-zerlegung-und-desintegration-haus-europa-vor-dem-einsturz/ von einem Brandbeschleuniger für eine Feuerbrunst, die das lange schon einsturzgefährdete »gemeinsame Haus« Europa in Schutt und Asche legen könnte.

In den nächsten Tagen werde ich mich ein wenig mit Beiträgen zurückhalten, aber:
Über Kommentare hier würde ich mich freuen.

Jochen

Voran in ein erneuertes Europäisches Währungssystem – und alles wird gut?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Passend zu Bernhards Vortrag vom Dienstag und dem Artikel aus der monde diplomatique, siehe hier:
https://josopon.wordpress.com/2016/02/03/eine-finanzpolitische-zeitbombe-die-geplante-kapitalmarktunion/
hat Martin Höpner heute unmissverständloch und ausführlich Stellung genommen. Er hat aus meiner Sicht da die beste Übersicht:
http://www.flassbeck-economics.de/voran-in-ein-erneuertes-europaeisches-waehrungssystem-und-alles-wird-gut/
Auszüge:

Das Europäische Währungssystem (EWS) rückt zunehmend in das Interesse der Gegner der europäischen Austeritätspolitik. Auf der Auftakttagung der internationalen „Plan B“-Initiative in Paris (am 23./24. 1. 2016) drehten sich viele Diskussionen um die Frage, ob der Euro durch ein anpassungsfähiges Wechselkursregime nach dem Vorbild des EWS ersetzt werden sollte. Ich werde nachfolgend darstellen, warum Rückbesinnung und Bezugnahme auf das EWS in der momentanen Debatte in der Tat sinnvoll sind, gleichwohl aber vor überzogenen Erwartungen an anpassungsfähige Wechselkursregime warnen.

Machen wir uns zunächst klar, welche Gründe überhaupt dafür sprechen könnten, den Euro in Richtung eines modifizierten EWS weiterzuentwickeln. In Deutschland wurden diese Gründe an keinem anderen Ort so umfassend dargestellt und diskutiert wie auf flassbeck-economics (zum Beispiel hier). Seit Gründung des Euro haben sich aufgrund heterogener innereuropäischer Lohn- und Preisauftriebe Auf- und Abwertungsbedarfe aufkumuliert, von denen immer deutlicher wird, dass sie sich innerhalb des Euros nicht abbauen lassen.
Die Strategien der so genannten „internen Abwertung“ haben sich in Südeuropa als grausige Experimente erwiesen, die – hiervon muss man im progressiven Spektrum niemanden mehr überzeugen – nicht fortgesetzt werden dürfen. Gleichzeitig aber gibt es auch im achten Jahr der Eurokrise keine Anzeichen für eine Bereitschaft Deutschlands und weiterer Länder des ehemaligen DM-Blocks, den Süden der Eurozone durch eine gezielte Inflationierungspolitik von einem Teil der Anpassungslast zu befreien.
Bleiben die realen Wechselkursverzerrungen aber bestehen, kann der Euro nichts anderes sein als ein Programm zur beschleunigten De-Industrialisierung Südeuropas. Diesem Szenario wäre eine einvernehmliche und in gemeinsamer Verantwortung gehandhabte Auflösung des Euro vorzuziehen.
Stellt man zudem in Rechnung, dass gänzlich flexible Wechselkurse aufgrund der inhärenten Instabilität der Finanzmärkte keine Lösung sein können (hier ein Beitrag dazu), landet man automatisch bei der Option verwalteter, anpassbarer Wechselkursregime. Ein solches Regime war das EWS.

Das EWS war die Wechselkursordnung, die 1979 aus der so genannten Währungsschlange hervorging und die bis zum Übergang in den Euro zum Jahreswechsel 1998/99 Bestand hatte.
Im Kern beruhte das System auf wechselseitigen Verpflichtungen der Notenbanken, auf den Devisenmärkten zugunsten der eigenen und zugunsten fremder Währungen zu intervenieren, wenn deren Kurse vorab definierte Bandbreiten zu verlassen drohten. Diese Bandbreiten betrugen normalerweise +/- 2,25% um den definierten Referenzkurs, in einigen Fällen aber auch +/-6% und nach der EWS-Krise 1992/93 für alle +/- 15%. Durch einvernehmlichen Beschluss des Rats der Finanzminister konnten die Referenzkurse verändert, also Wechselkursanpassungen vorgenommen werden. Das geschah häufig: Im EWS gab es 62 verhandelte Wechselkursanpassungen zu 18 unterschiedlichen Zeitpunkten und zudem zeitweilige Ein- und Austritte.
Allgemein lässt sich das System als anspruchsvoll, komplex, schwerfällig, unbeliebt und politisch höchst pflegebedürftig charakterisieren, was alles nicht gerade zur Rückbesinnung ermuntert – wäre der Charakterisierung nicht ein entscheidender Punkt hinzuzufügen: Das EWS war dem Euro hinsichtlich seiner Fähigkeit, Wechselkursverzerrungen zu minimieren und damit Leistungsbilanzungleichgewichte in Grenzen zu halten, deutlich überlegen.

Aus vier Gründen erscheint die Bezugnahme auf das EWS angeraten. Der erste Grund besteht in der Praktikabilität.
Sie ergibt sich daraus, dass das in unserem Zusammenhang entscheidende Element des EWS – der Wechselkursmechanismus – mit dem Übergang zum Euro nicht verschwunden ist, sondern als so genannter „Wechselkursmechanismus II“ fortbesteht. An ihm nimmt derzeit allerdings nur Dänemark teil.
Das bedeutet konkret, dass die EZB verpflichtet wäre, die Krone durch Aufkäufe zu stützen, würde sie die definierte Bandbreite nach unten verlassen.
Der Wechselkursmechanismus II könnte wiederbelebt und weiterentwickelt werden und es könnte also an etwas angeknüpft werden, das bereits existiert.

Der zweite Grund für die explizite Bezugnahme auf das EWS besteht in einer dadurch gewonnenen Prüfbarkeit der Fakten. Behauptungen über die Funktionsweise von gemanagten Wechselkursen lassen sich gegen solche Fakten testen und gegebenenfalls korrigieren.
Beispielsweise wird häufig bestritten, dass nominale Abwertungen Ländern helfen können, wenn sie in Überbewertungskonstellationen verharren und ihre Leistungsbilanzdefizite daher chronisch werden.
Auf die Erfahrungen mit dem EWS können sich solche Behauptungen nicht berufen, denn dort folgten auf Abwertungen ungefähr zwei Jahre andauernde Sequenzen, in denen sich die Leistungsbilanzen entspannten und das Wachstum zunahm (mein Kollege Alexander Spielau und ich arbeiten die entsprechenden Erfahrungen hier auf).
Auch Inflationsschübe nach Abwertungen ließen sich im EWS nicht beobachten. Zudem warnen die Gegner anpassbarer Wechselkurse regelmäßig vor der Ermöglichung innereuropäischer Abwertungswettläufe. Nichts dergleichen fand im EWS statt und es ist unklar, warum das in einem neuen, modifizierten EWS anders sein sollte.

Die Bezugnahme auf das EWS hat zudem, drittens und viertens, den Vorteil des Ausschlusses zweier Missverständnisse, die im komplexen Euro-Diskurs rasch auftreten können.
Wer als Gegenentwurf zur Zwangsjacke des Euro ein diskretionäres Wechselkursregime nach Art des EWS nennt, grenzt sich effektiv von der neoliberalen Eurokritik ab. Der Traum der Neoliberalen besteht in frei floatenden Wechselkursen und gerade nicht darin, gewählte Volksvertreter aushandeln zu lassen, ob Realignments stattfinden sollen oder nicht.
Vor allem aber muss sich warm anziehen, wer Befürwortern eines EWS II nationalistische Beweggründe unterstellen will. Denn ein EWS II wäre kein „Zurück in die nationale Wagenburg“, sondern eine anspruchsvolle europäische Lösung.

Am Rande sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass ein wiederbelebter und erweiterter Wechselkursmechanismus II auch als Integrationsangebot an Länder wie Polen fungieren könnte, die dem Euro bis auf weiteres nicht beitreten möchten.

Insgesamt gibt es also gute Gründe dafür, Konzepte für eine besser auf Europa passende Währungs- und Wechselkursordnung unter sorgsamer Berücksichtigung der mit dem EWS gemachten Erfahrungen zu erarbeiten und an die verbliebenen Reste des EWS politisch-institutionell anzuknüpfen.
Gleichwohl kann vor dem Fehlschluss, mit dem etwaigen Übergang in ein neues EWS wären die Probleme der Geld- und Wechselkurspolitik in Europa im Wesentlichen gelöst, nur nachdrücklich gewarnt werden. Derzeit erleben viele europäische Länder die vom Euro ausgehenden Politikzwänge als nationale Erniedrigungen (wir haben hier darauf hingewiesen).

Wären Anpassungszwänge in einem neuen EWS in Gänze verschwunden? Das muss bezweifelt werden. Denn sowohl das bekannte EWS als auch ein etwaiges neues EWS wären ja auf ein Mindestmaß an nominaler Wechselkursstabilisierung zielende Ordnungen.
Angestrebte Wechselkursstabilisierung muss die Freiheitsgrade der Geldpolitik aber empfindlich einschränken und es kann auch gar nicht anders sein.
Das Problem ergibt sich aus dem Mundell-Trilemma (die „unheilige Trinität“), die ja nichts anderes besagt, als dass sich die Geldpolitik unter der Randbedingung eines freien Kapitalverkehrs – den ich hier voraussetze – nicht gleichzeitig um die nominale Wechselkursstabilisierung und die Steuerung der Binnenkonjunktur kümmern kann. Zweifellos wären die Freiheitsgrade zur Durchführung einer auf die Binnenkonjunkturen passenden Wirtschaftspolitik in einem neuen EWS größer als derzeit, aber sie blieben gleichwohl begrenzt und abhängig davon, wie viele nominale Wechselkursanpassungen man zulassen will.
Allgemein lassen sich Modelle nach Art des EWS als Ordnungen charakterisieren, deren Lokalisierung im Mundellschen Zielkonflikt zwischen Wechselkursstabilisierung und Konjunktursteuerung der stetigen politischen Aushandlung bedürfen (zum Mundell-Trilemma bei flexiblen Wechselkursen gibt es hier einen Artikel auf flassbeck-economics).

Man kann das auch anders ausdrücken und sagen: Die europäische Wechselkurspolitik sieht sich mit einem Grundwiderspruch konfrontiert, der so oder so bearbeitet, aber niemals zum Verschwinden gebracht werden kann. Der Widerspruch besteht darin, dass die europäischen Länder einerseits verstanden haben, dass die Bestimmung des Wechselkurses nicht den Devisenmärkten überlassen werden darf. Alle europäischen Wechselkursregime strebten daher ein Mindestmaß an nominaler Wechselkursstabilisierung an.
Andererseits waren, sind und bleiben die europäischen Produktions- und Verteilungsregime samt ihrer Inflationsdynamiken zu heterogen, als dass diese Stabilisierung friktionslos und vor allem dauerhaft gelingen könnte.
Die Geschichte der europäischen Wechselkursordnungen seit dem Ende des Goldstandards lässt sich als Geschichte des Experimentierens mit möglichen Handhabungen dieses Widerspruchs begreifen. Bisher war keine Lösung perfekt und keine von Dauer.
Fest steht lediglich, dass die Architekten des Euro – leider – zu einer besonders imperfekten Lösung griffen, als sie entschieden, das recht funktionale diskretionär anpassbare Wechselkursregime zugunsten der gemeinsamen Währung aufzugeben

Jochen