Eine ZDF-Redakteurin packt aus – und fordert: keine Gebührenerhöhung jetzt!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Endlich bestätigt eine mutige Mitarbeiterin, was man sich seit Jahren denken konnte.
Ein demonstratives ebispiel für organisierte Meinungsmache im Neoliberalismus.
Besonders übel nehme ich dem ZDF, der „aspekte“-Redaktion das Studio entzogen zu haben.
https://reitschuster.de/post/eine-zdf-redakteurin-packt-aus-und-fordert-keine-gebuehrenerhoehung-jetzt/

Auszüge:

Eklatante Missstände in öffentlich-rechtlichem Sender

Ein Gastbeitrag von einer ZDF-Redakteurin, die anonym bleiben möchte, weil sie sonst ihren Arbeitsplatz verlieren würde

Ich möchte als seit mehr als einem Jahrzehnt beim ZDF beschäftigte Redakteurin einen Impuls für eine sachgerechte und fundierte Diskussion über die Gebührenerhöhung geben.
Dazu biete ich hier Einblicke aus Gesprächen mit Kollegen und schildere Tatsachen, die ein Großteil der ZDF-Mitarbeiter kennt.
In der Öffentlichkeit wird über die Missstände beim ZDF nicht diskutiert. Auch, weil in den meisten Verträgen steht, dass Interna nur innerhalb des Hauses besprochen werden dürfen.
Wer dies offenlegt, bricht seinen Vertrag und verliert seinen Job.
Der Gebührenzahler hat jedoch ein Anrecht auf eine solche Diskussion, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, was die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren Geldern machen.

Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und skizziere Strukturen im Überblick. Details und die Aufarbeitung seien den Verantwortlichen des ZDF und einer interessierten Öffentlichkeit überlassen.

Thesen:

Die politisch geführte Debatte zwischen Sachsen-Anhalt und den anderen Bundesländern, den Ministerpräsidenten und Länderparlamenten lenkt ab vom eigentlichen Thema: Wofür verwendet der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Gebührengelder?

Was hätte der Zuschauer an Mehrwert, wenn die Gebührenerhöhung durchgeht? Darüber geben die ÖR zu wenig Transparenz gegenüber dem Gebührenzahler.

Ein Abbruch interner Strukturen ist seit Jahrzehnten im Gange. Es dauert nicht mehr lange, und viele frei berichtende Redaktionen, die jahrzehntelang Rundfunkgeschichte geschrieben haben, sind nicht mehr handlungsfähig im Sinne einer unabhängigen Presse und Berichterstattung.

Die ÖR erklären sich als wirtschaftlich agierende Medienunternehmen. Wenn sie dies sein wollen, dürfen sie strenggenommen keine Gebührengelder beziehen.
Wenn sie aber Gebührengelder einziehen, sind sie verantwortlich für die Erfüllung des Rundfunkstaatsvertrags und damit für den Bildungsauftrag. Dies findet seit geraumer Zeit immer weniger statt.
Es fehlt an gutem Journalismus, daran, dass öffentliche Debatten angestoßen und dabei alle Schichten der Bevölkerung abgebildet werden, und dies bereits vor März 2020.

Die Verantwortlichen wissen genau um diesen Missstand. Sie veröffentlichen positive Meldungen, die der Öffentlichkeit die Erfüllung des Bildungsauftrages erklären.
Z. B. die Agenturmeldung Anfang Januar, ARD und ZDF planten ein Home-Schooling-Programm.
Reaktionen im Tagesspiegel vom 21.1.2021 („Ohne Struktur, ohne Ordnung. Die Erfahrungen mit dem Schul-TV bei ARD/ZDF sind ernüchternd. Wie es geht, zeigen BBC oder Mexiko“) sowie in „Der Freitag“ vom 14.1.2021 („ARD und ZDF müssen endlich Schule machen“).

Missstände:

Die Vertragsformen eines beträchtlichen Teils der ARD- und ZDF-Mitarbeiter (freie Mitarbeit) wären in der freien Wirtschaft Scheinselbstständigkeit und verboten.
In den Gewerken der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind sie gängige Praxis.

Verträge von Mitarbeitern verschiedener Gewerke (vor allem programmgestaltend) wurden vielerorts, wo es juristisch möglich ist, sukzessive in unverbindlichere Formen überführt und eingespart.

Die jetzt geforderten Gebührengelder kommen vor allem den üppigen Pensionszahlungen von Mitarbeitern zugute, die bereits in Rente sind. Dieses Problem haben die Sender bisher nicht gelöst.
Dies wäre im Sinne der gebührenzahlenden Öffentlichkeit dringend geboten.

Zahlreiche Mitarbeiter und Führungskräfte in ARD und ZDF sind gegen die Gebührenerhöhung und für eine Konzentration auf das Wesentliche, halten sich aber öffentlich bedeckt (Quellen liegen vor).

Die Vielfalt von Meinungen und Formaten, eine journalistisch ausgewogene Berichterstattung durch freie Journalisten hat immer weniger Raum.

Ein Netzwerk von Kooperationsverträgen mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Playern wird seit Jahren geschaffen, so dass eine kritische, freie Berichterstattung immer schwieriger wird. Mit wem man zusammen arbeitet, den kritisiert man nicht öffentlich. (Im Kulturbereich sind das z. B. die großen Museen wie Städel, Schirn, Pinakotheken München.)

Strukturumbau:

Das ZDF wird seit Jahren zu einer Abspielstation umgebaut. Kraftvoll investiert wird vor allem noch in die Aktualität (Heute, Heute-Journal, Heute Plus sowie Magazinsendungen), Sportübertragungen und Spielfilm. Zentral in der Senderstrategie ist u.a. die Gewinnung jüngerer Zuschauergruppen, Aufrechterhaltung der großen Sportübertragungen sowie der Ausbau in Social Media und Online.

Von der ursprünglichen Vielfalt an Sendeformaten aus einem breiteren Ressort-Spektrum (Wirtschaft, Sport, Kultur, Kirche und Leben, Zeitgeschichte, Wissenschaft) für alle Schichten und diverse Publikumsgruppen in der Bevölkerung bleibt immer weniger übrig.

1998/99 kam die Unternehmensberatung McKinsey ins ZDF und hat den Impuls gegeben, die Struktur einer öffentlich-rechtlichen Anstalt umzubauen in die eines wirtschaftlich agierenden Unternehmens.

Die einzelnen Bereiche wie Kamera, Schnitt, Gebäudemanagement etc. wurden als Geschäftsbereiche aufgestellt und bekamen eine eigene Währung, die sogenannten DLP-Kosten.
In dieser internen Währung stellten sich die einzelnen Abteilungen gegenseitig Rechnungen. Dadurch wurden die Mitarbeiter und Dienstleistungen innerhalb des ZDF teilweise nicht mehr konkurrenzfähig zum freien Markt.
Beispiel: Ein Kamerateam wird berechnet mit Kameramann, Ton-Assistent, Equipment-Ausleihe, Dienstwagen und Parkplatz in der Tiefgarage für den Dienstwagen.

Der Parkplatz war in der vorherigen Struktur natürlich kostenfrei, weil auf dem ZDF-Gelände und Eigentum des ZDF. Mit der Umwandlung der Geschäftsbereiche stellte das Gebäudemanagement neuerdings eine Rechnung an die Produktion für den Parkplatz. Dadurch erhöhten sich die Gesamtkosten für ein Kamerateam auf ca. 1.800 Euro am Tag (Zahlen nur beispielhaft und ungefähr, nicht zitierfähig). Ein freies Team einer externen Produktionsfirma kostete dagegen am 1.100 Euro am Tag.
Wenn nun ein Produktionsleiter die Kosten für eine größere Produktion berechnete, z. B. 10 Tage Dreh, dann war es ein eklatanter Vorteil, ein freies Team zu buchen und in der Summe 11.000 Euro Kosten zu haben, als 18.000 Euro Kosten im Haus zu bezahlen.

Das ZDF schuf zwar intern Anreize für die Produktion, eher DLP-Kosten zu verursachen als Geld rauszugeben.
Aber die Tendenz ging dahin, externe Firmen zu buchen, anstatt die internen, vorhandenen Strukturen zu nutzen. So nahm der sukzessive Umbau der Strukturen über die Jahre seinen Lauf.

Ergebnis: Während das ZDF Ende der 90er Jahre mehr als 100 festangestellte Kameraleute und 60 Tonassistenten hatte, gibt es jetzt nur noch rund 20 Kameraleute und 6 Tonassistenten mit festem Vertrag.

Redakteure und Mitarbeiter 1., 2. und 3. Kreis:

Die Mitarbeiter des ZDF sind seit der Strukturreform 2011/12 in 3 Kreise eingeteilt, was große Ungerechtigkeiten mit sich bringt.

Der 1. Kreis ist klein, darin sind nur wenige hochbezahlte Moderatoren und Mitarbeiter.
Im 2. Kreis sind Festangestellte und Mitarbeiter, die bei Vertragsantritt zumeist ihren Bestandsschutz und andere Sicherheiten aufgeben mussten, um eine feste vertragliche Bindung zum Sender garantiert zu bekommen.
Im 3. Kreis sind freie Mitarbeiter, deren Verträge einer Scheinselbstständigkeit gleichen, ohne die der Sender aber seinen Auftrag nicht mehr erfüllen könnte.

Dies führt zu einem starken Ungleichgewicht z. B. von Redakteuren, die in gleicher Funktion (z. B. Planer, Autor, Chef vom Dienst) arbeiten, aber sehr unterschiedlich bezahlt werden (der eine hoch, der andere vergleichsweise niedrig).
Der Festangestellte kann sehr oft krank sein und dafür vollen Lohnausgleich erhalten und/oder mangelhafte Arbeit leisten, behält in jedem Falle seinen Vertrag bis zur Berentung und bekommt eine hohe Rente.
Der „Freie Mitarbeiter“ wird bei gleicher Funktion wesentlich geringer bezahlt, kann schneller entlassen werden, hat nur eine begrenzte Anzahl an Krankheitstagen und steht insgesamt stärker unter Druck, gute Arbeit zu leisten, als der Festangestellte. Seine Rente fällt geringer aus.

Strategie der Verlagerung von Mitarbeitern und Produktionen in Tochterunternehmen

Das ZDF hat über die Jahrzehnte Tochterunternehmen (Gruppe 5, ZDF Digital, ZDF Enterprise mit Sparten wie „Junior“ (Kinderfernsehen), „Drama“ (Spielfilm), „Unscripted“ (Dokumentation)) gegründet und verlagert seit Jahren gezielt Mitarbeiter, Aufträge und große Produktionen in die Tochterunternehmen.

Dass es sich hier um eine Verlagerung öffentlich-rechtlich eingezogener Gebührengelder in eine privatwirtschaftliche Struktur handelt, ist weder lauter noch hat die zahlende Öffentlichkeit davon Kenntnis.

Vielen langjährigen Mitarbeitern des ZDF, die Programm gestalten (Redakteure, Cutter, Kameraleute) wird damit die Arbeit im Haus entzogen.
Wenn sie feste Verträge haben, bleiben sie häufig in ihren Funktionen und haben weniger oder auf niedrigerem Niveau zu tun.

Vorteil für das ZDF, wenn es Produktionen und langjährige Mitarbeiter in Tochterunternehmen verlagert:
Langjährige ZDF-Mitarbeiter mit einem Vertrag, der Bestandsschutz und andere vertragliche Sicherheiten beinhaltet, bekommen beim Tochterunternehmen in der Regel einen Ein- bis Zweijahresvertrag.
So verringert das ZDF die Anzahl seiner Mitarbeiter in der alten öffentlich-rechtlichen Struktur, befreit sich von Personalkosten und baut eine komplett betriebswirtschaftlich funktionierende, kleinteiligere Struktur auf.

Beispiel: Ein langjähriger Redakteur des Heute-Journals wollte seine Arbeitszeiten geringfügig reduzieren, um mehr Zeit für seine Familie zu haben. Seine Vorgesetzte empfahl ihm, zum Tochterunternehmen des ZDF, „Gruppe 5“, zu wechseln.
Hätte er zugestimmt, hätte er seine Rechtsansprüche auf Bestandsschutz aufgegeben und seinen unbefristeten Vertrag in einen befristeten eingetauscht. Als Anreiz wurde ihm ein höherer Tagessatz in Aussicht gestellt.

Bei „37 Grad“ sind Redakteure angehalten, 25 Prozent aller Produktionen von Tochterfirmen produzieren zu lassen.
Dadurch werden die ZDF-internen Gewerke weniger gebraucht und damit geschwächt.

Redundanz-Effekt: Autoren von Langformaten wie Terra X oder 37 Grad, die früher aufwändig innerhalb des ZDF Programminhalte gestaltet haben, sind dadurch degradiert und redundant.
Während sie früher selbst Langformate produzierten, sind sie nun als Redakteure inhaltlich verantwortlich für eine Sendung, dürfen sie aber nicht mehr selbst erstellen.
Da die Autorenschaft (Dreh, Konzept, Schreiben des Drehbuches, Schnitt etc.) im Gegensatz zu früher jetzt eine Produktionsfirma übernimmt, muss der ZDF-Redakteur jedes Detail nachrecherchieren, was der externe Autor ja ohnehin recherchiert hat und viel schneller präsent hätte.

Ergo: Es entsteht eine Arbeitsredundanz, ein hoher Arbeitsaufwand für den ZDF-Redakteur bei gleichzeitiger Lahmlegung seiner früheren Befugnisse: Was er selbst vormals herstellte (eine komplette Sendung), haben inzwischen Externe übernommen. Dennoch ist er inhaltlich verantwortlich und muss sich in sämtliche Inhalte hineinarbeiten, ohne mit der Materie direkt Kontakt zu haben.

Begründung des internen Abbaus bzw. der Sparmaßnahmen:

Wenn Leitungspersonen innerhalb des ZDF davon sprechen, warum gespart werden soll und Personal gekürzt, Abteilungen zusammengelegt oder insgesamt konsolidiert werden soll, werden zwei oder drei große „Widersacher“ genannt:

a) die KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland). Argument: Wenn es um Personalabbau, Budgetkürzungen und Programmreduktion geht, müsse das ZDF den Forderungen der KEF nachkommen.

Fakt ist, dass die KEF nicht festlegt, wo eingespart wird. Der KEF-Bericht legt nur fest, welcher Gesamtbetrag eingespart werden muss. Wie und wo gespart wird, obliegt dem ZDF.
Der KEF-Bericht umfasst mehrere hundert Seiten und ist für die Öffentlichkeit oder auch kritische Journalisten nicht leicht auf Richtigkeit zu überprüfen.
Der Geschäftsführer der KEF, Jurist Dr. Tim Schönborn, LLM, hat beratende Funktion in einem Gremium, das u. a. aus Vertretern der Länder bzw. der Ministerpräsidenten besteht.

Erforderlich wäre eine Überprüfung des KEF-Berichtes durch eine unabhängige Instanz und für den Gebührenzahler nachvollziehbare Darlegungen der Inhalte.

b) Netflix und Amazon. Argument: Das ZDF muss gegen globale Medienplayer wie Netflix oder Amazon konkurrenzfähig bleiben.
Dies sind m. E. keine schlagkräftigen Argumente, da das ZDF gegen solche globalen Player ohnehin nie konkurrenzfähig sein wird.
ARD und ZDF versuchen momentan, ihren Fokus auf die Mediatheken zu legen, eigene Inhalte dafür zu produzieren und dort möglichst viel Zulauf zu haben.

Aushöhlung von Journalismus / Vernachlässigung des Bildungsauftrages / Abbau der Kultur:

  • Geringer Gesamtetat der Kultur im Vergleich zu Sport, Nachrichten und Unterhaltung seit Jahrzehnten
  • Abschaffung der ZDF-Bibliothek 2015/16
  • Abschaffung des 3sat-Messe-Standes auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig mit jeweils knapp 50 moderierten Live-Gesprächen mit Buchautoren pro Messe
  • Löschung eines Teils des Bewegtbild-Archivs mit historischen Dokumenten der Zeitgeschichte
  • Abschaffung der Frauensendung „Mona Lisa“ in München
  • Abziehung der ZDF-Marke „Blaues Sofa“ zu Bertelsmann nach Berlin in Corona-Zeiten
  • Kurzzeitige Abschaffung der Sendung „Buchzeit“, dann Wiedereinführung, nachdem der NDR im Sommer 2020 für die Kürzung seiner Kulturprogramme öffentlich stark kritisiert wurde.
    Das ZDF wollte sich einen ähnlichen Eklat nicht leisten und hat die „Buchzeit“ wieder eingeführt, allerdings in reduzierter Form (4 statt 6 Sendungen im Jahr, Umzug des Drehortes)
  • Das wöchentlich ausgestrahlte Kulturmagazin „Aspekte“ wird in Zukunft als Reportage-Format realisiert. => Wegfall des aufwändig hergestellten Studios, Studiobetriebes und Schwächung von Autoren, Reportern und anderen Mitarbeitern, die mittels ihrer Magazin-Beiträge vor allem durch journalistische Leistung Programm gestalteten.
  • Die Strategie einer Plattformredaktion reduziert die Möglichkeiten freier, unabhängiger und kritischer Berichterstattung, da die Redakteure zunehmend für Kooperationen und Sonderprojekte abgezogen werden und weniger einem Sendeablauf zuträglich arbeiten können.
  • Kulturkritik hat immer weniger Raum, es gibt immer weniger Kulturredakteure für kritischen Journalismus und Feuilleton im klassischen Sinne findet immer weniger statt.
  • Die Hauptredaktion Kultur entzieht ihrem „Flaggschiff“, der werktäglichen Magazinsendung „Kulturzeit“, die Online-Redaktion.
  • Ausbildung von Journalisten in der Breite der Fachrichtungen (Sport, Wirtschaft, Kultur, Aktualität) wird reduziert. Der Fokus der Ausbildung liegt in Online und Social Media.
    Dabei geht aber die inhaltliche Kompetenz, die für die Erfüllung des Bildungsauftrages relevant ist, zunehmend verloren.

Frauen:

Führungskräfte geben stolz bekannt, dass das ZDF so viele Frauen auch in Leitungsfunktionen fördert. Nicht gesagt wird, dass die Führung des ZDF nach wie vor in Männerhand liegt (Der Intendant und drei von vier Direktoren sind Männer) und wie sehr Mütter in Teilzeit benachteiligt werden. Sie haben oft Verträge im dritten Kreis und verdienen in der Regel weniger als ihre männlichen Kollegen – je nach Vertragsform – nur real an dem Tag, an dem sie auch arbeiten.

Forderungen

Ich fordere eine vollständige Transparenz und eine Rückkehr zum Bildungsauftrag und zu anderen gesetzlich festgelegten Verpflichtungen im Rundfunkstaatsvertrag.

Ich fordere Gerechtigkeit im Verhältnis der Leistung zu Vertrag und Bezahlung. Während sich festangestellte Mitarbeiter alles erlauben können, stehen freie Mitarbeiter im Verhältnis dazu unter einem massiven Druck, selbst wenn beide inhaltlich und in denselben Funktionen arbeiten.
Ich fordere eine strukturelle und bewusste Förderung von Müttern in Teilzeit: Gleiches Niveau der Tätigkeit auch nach einer längeren Elternzeit, Überführung der losen Drittkreis-Verträge in Festanstellungen, Mentoring in Frauennetzwerken im und außer Haus.

Ich fordere einen Strukturwandel, so dass der Mitarbeiter nicht mehr gegen seinen Arbeitgeber kämpfen muss, damit er seine durch langjähriges, zuverlässiges Arbeiten erworbenen Arbeitnehmerrechte beibehält.
Umgekehrt soll der Arbeitgeber die Arbeitnehmerrechte fair und gerecht verteilen und nicht dafür kämpfen, zahlreiche, langjährige Mitarbeiter mit hoher Qualifikation loszuwerden.

Ich fordere, dass die gängige Praxis beendet wird, junge, wenig ausgebildete Kurzzeitkräfte einzustellen, die nach maximal 2 Jahren ohnehin wieder gehen müssen.

Ich fordere in Corona-Zeiten, angesichts von Millionen von Menschen in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, Solidarität und den Verzicht auf eine Gebührenerhöhung.

Ich fordere eine umfassende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems, so dass es wieder das tut, was im Bildungsauftrag verankert ist: seinen Bildungsauftrag erfüllen und alle Schichten der Gesellschaft repräsentieren.

Ich fordere, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk wieder Kultur in allen Bereichen fördert und auch für alle Altersstufen im Publikum Sendungen bereitstellt.

Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs, ob die Macht der Kirche im Rundfunkrat, so wie sie derzeit ausgeübt wird, noch zeitgemäß ist.

Diese Forderungen kann ich nur unterstützen. Es muss einen Ausweg aus der oben beschriebenen Sklaverei geben, die sich im neoliberalen Kapitalismus jede einzelne Institution greift, auch Kliniken und Arztpraxen. Mit meinem losen Maul wäre ich da schon längst rausgeflogen. Man kann angsichts der Wandlung der Monitor-Redaktion von Georg Restle und der Riesterrentenvertreterin Sonja Mikich nur annehmen, dass es in der ARD genau so läuft. Sogar eine von mir sehr geschätzte Kabarettistin musste, nachdem sie vom WDR ins Erste befordert worden war, in ihren Sendungen mindestens einmal etwas schlechtes über Putin sagen. Man hört nur noch Kükenpiepsen

Zu diesem Thema hier auch: https://josopon.wordpress.com/2019/10/23/lakaien-des-kapitals-journalisten-und-politiker-weltanschaulich-eng-miteinander-verbunden/
und https://josopon.wordpress.com/2020/02/21/syrien-fraglwurdlige-berichtserstattung-das-zittern-bei-der-ard-tagesschau/

Über Kommentare auf meinem Blog hier/ würde ich mich freuen.
Jochen

Ostdeutschland und die „Treu“hand – Eine Geschichte einer Annexion, die den Deutschen wohl nicht zugemutet werden sollte!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der folgende Artikel aus der Monde diplomatique vom November 2019 war ausgerechnet in der deutschen Ausgabe nicht zu lesen:
Hatte möglicherweise die taz als Hauspostille einer zukünftigen Regierungspartei da etwa interveniert ?
Zu diesem Thema ist hier schon ein ausführlicher Artikel erschienen:
https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/
Zur kriminellen Vorgeschichte kann man auch auf die beiden Ausgaben des „Schwarzbuch Strauß, Kohl u.s.w.“ zurückgreifen sowie auf den folgenden Artikel von Otto Köhler aus der jungen Welt 2012: http://www.jungewelt.de/2012/09-29/019.php
Dankenswerter Weise hat unser Genosse Heiner sich die Mühe einer gut leserlichen Übersetzung gemacht – inklusive der Anmerkungen.
Der Artikel ist zwar lang, aber sehr inhaltsreich:

treuhand logo

Dieser Artikel wurde nur auf englisch und spanisch vom Verlag übersetzt. Eine deutsche Übersetzung ist in der deutschen Ausgabe der Monde Diplo nicht erschienen.
Hat wohl damit zu tun, daß der Inhalt für deutsche Leser eher peinlich wäre…..

Vor dreißig Jahren fiel die Berliner Mauer

Ostdeutschland, Geschichte einer Annexion

(Monde diplomatique, November 2019)

Der Gründungsmythos der Europäischen Union, das Jahr 1989, ist jedoch ein mehrdeutiges Symbol. In Ostdeutschland zum Beispiel wurde der Zugang zu politischen Freiheiten und zum Massenkonsum mit einem hohen Preis bezahlt – sozialer Zusammenbruch und wirtschaftliche Ausplünderung, die im Westen oft ignoriert werden.

von Rachel Knaebel & Pierre Rimbert

Der Jubel, die Freiheit, ein virtuoser Cellist, der am Fuß einer zersplitterten Mauer spielt, andere Möglichkeiten, das Versprechen „blühender Landschaften“ (1):
Die Geste vom 9. November 1989 wird normalerweise nach der Melodie von der Ode an die Freude gesungen .
Seit einigen Monaten zeigt sich jedoch eine Diskrepanz zwischen der großen Geschichte der „Wiedervereinigung“ und der Gewalt, die auf die sogenannte friedliche Revolution folgte: Mit Werten von mehr als 20% in diesem Jahr von der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AFD) in mehreren Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erreicht, mit Umfragen, wo „58% der Deutschen sich vor staatlicher Willkür nicht besser geschützt fühlen als in der „DDR“ (Die Zeit, 3. Oktober 2019), mit dem Erfolg von Büchern, die die 1990er Jahre aus Sicht der „Verlierer“ der „DDR“ offenbaren.
Das Gedenken an den Mauerfall hat 2019 einen weniger triumphalen Ton als die vorherigen. Irgendetwas stimmt nicht in der schönen Geschichte eines großzügigen Westdeutschlands, das seinem Nachbarn, der durch vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur zerstört wurde, die deutsche Mark und Demokratie anbietet.

Im Herbst 1989 schrieb die Bevölkerung der DDR ihre eigene Geschichte. Ohne äußeres Eingreifen zerlegen die Massendemonstrationen in Berlin, Leipzig und Dresden den von der Sozialistischen Einheits- Partei (SED) geführten Parteistaat, ihre politische Polizei, ihre Medienordnungen. In den Wochen nach dem Mauerfall strebt die überwiegende Mehrheit (71%) der Regimegegner nach einer demokratischen DDR – laut einer Spiegel-Umfrage (17. Dezember 1989) – nicht nach Einigung.
Die Worte des Pfarrers an der Riesen- Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin spiegeln diese Haltung: „Wir Deutschen haben eine Verantwortung vor der Geschichte, zu zeigen, dass ein wahrer Sozialismus möglich ist (2). „

Gleicher Ton in der am 26. November gestarteten Aufforderung „Für unser Land“, die die Schriftstellerin Christa Wolf im nationalen Fernsehen der DDR präsentierte.
„Wir haben immer noch die Möglichkeit, eine sozialistische Alternative zur BRD [BR Deutschland] zu entwickeln“, sagt der Text, der 1,2 Millionen Unterschriften sammelt – von etwa 16,6 Millionen Einwohnern.
Versammelt am Runden Tisch, der am 7. Dezember nach polnischem und ungarischem Vorbild gegründet wurde, um die „Unabhängigkeit“ des Landes zu wahren und eine Verfassung zu entwerfen, skizzieren Oppositionsbewegungen und traditionelle Parteien die Umrisse eines demokratischen und ökologi-schen Sozialismus. Die Einwirkung durch politische Kräfte aus Westdeutschland neutralisiert diese Mobilisierung bald.

Nachdem sich die Bonner Führungsleute von ihrer anfänglichen Überraschung durch die Ereignisse einigermaßen erholt hatten, machen sie sich daran, den Nachbarn über die kommenden Wahlen zu „erobern“.

Ihre Einmischung in die Parlamentswahlen vom 18. März 1990, die erste, die vom Einfluss des Parteistaats und Moskaus befreit sind, ist derart, dass Egon Bahr, ehemaliger sozialdemokratischer Minister und Architekt in den 1970er Jahren der Annäherung zwischen den beiden Deutschlands von den „schmutzigsten Wahlen, die er in seinem Leben beobachtet hat“ spricht(3).
Mit der Unterstützung der Vereinigten Staaten und bei Passivität einer geschwächten Sowjetunion startet die vom konservativen Bundeskanzler Helmut Kohl geführte Bundesrepublik in ein paar Monaten einen spektakulären Coup: die Annexion eines souveränen Staates, die vollständige Auflösung seiner Wirtschaft und seiner Institutionen, die Transplantation eines Regimes des liberalen Kapitalismus.

Doch vier Jahrzehnte nach der Gründung der DDR im Jahr 1949 hatte sich die Bevölkerung eine spezifische Identität geschaffen, die zum einen von den sozialistischen Errungenschaften in Bezug auf Arbeit, Solidarität, Gesundheit, Bildung und Kultur geprägt war. und auf der anderen Seite durch ängstliche Feindseligkeit gegenüber dem autoritären Parteistaat, ein Rückzug in die Privatsphäre und ein Sich-Hingezogen-Fühlen zum Westen. Die Architekten der „Wiedervereinigung“ werden etwas spät zu dem Schluss kommen, dass ein Volk nicht wie eine Firma aufgelöst werden kann.

Um die Fehl-Darstellung der offiziellen Geschichte zu verstehen, die fast niemand im Osten glaubt, müssen wir uns des Begriffs selbst entledigen, denn es hat nie eine „Wiedervereinigung“ gegeben. Diesbezüglich sagte der für die Verhandlungen über den Einigungsvertrag zuständige Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, Wolfgang Schäuble, gegenüber der ostdeutschen Delegation im Frühjahr 1990, es sei eindeutig: „Liebe Freunde, es handelt sich um den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und nicht um die Vereinigung zweier gleichwertiger Staaten (4).
„Statt in beiden zusammengeführten deutschen Völkern über eine neue Verfassung in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 146) und dem Wunsch der Bürgerbewegun-gen abstimmen zu lassen, setzt Bonn schlicht und ergreifend die Annexion seines Nachbarn durch, auf Grund einer undurchsichtigen Bestimmung, die 1957 zur Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik verwendet wurde.
Der am 31. August 1990 unterzeichnete und am 3. Oktober in Kraft getretene Einigungsvertrag erweitert lediglich das westdeutsche Grundgesetz auf fünf neu ge-schaffene Bundesländer.

Eine beschleunigte Währungsunion

Dann stehen sich zwei ungleiche Kräfte gegenüber. Die Ostdeutschen wollen die politischen Freiheiten und den Wohlstand, ohne jedoch auf die charakteristischen Merkmale ihrer Gesellschaft zu verzichten.
Für Bonn, erklärt der italienische Wissenschaftler Vladimiro Giacché, Autor einer auf-schlussreichen Studie mit dem Titel The Second Anschluss, „hat die absolute Liquidation der DDR Vorrang (5).“

Der erste Schritt besteht darin, gleichzeitig die Wahlurnen und die Geldbörsen zu füllen, zwei Gegenstände, die vom SED-Staat weitgehend vernachlässigt wurden.
Als Kohl am 6. Februar 1990 vorschlägt, die westdeutsche Mark nach Osten auszudehnen, verfolgt er mehrere Ziele. Er beabsichtigt zunächst, die DDR fest an den Westen zu binden, für den Fall, daß der sehr entgegenkommende Michail Gorbatschow in Moskau gestürzt wird. Vor allem aber sollen die in der DDR geplanten Parlamentswahlen am 18. März gewonnen werden. In den Umfragen wird der kürzlich gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SPD) jedoch ein großer Vorsprung gegenüber der (Ost-)CDU zugeschrieben, die seit Jahrzehnten Teil der kommunistisch dominierten Regierung ist.
Die Lösung einer „unmittelbaren Eingliederung der Wirtschaft der DDR in den Wirtschafts- und Währungsraum der Deutschen Mark (6)“ bringt beide Anforderungen in Einklang. Inspiriert insbesondere von dem Währungsspezialisten Thilo Sarrazin, der zwanzig Jahre später mit seinem fremdenfeindlichen Buch Deutschland schafft sich ab berühmt wird, taucht die Lösung im Januar 1990 beim Finanzministerium in Bonn auf.

Bis dahin skeptisch, nimmt Bundeskanzler Kohl Anfang Februar die Idee einer sofortigen Währungsunion an, ohne die ablehnende Haltung des Bundesbankpräsidenten – theoretisch unabhängig – zu berücksichtigen, der ‚seinen Hut essen‘ und zurücktreten wird.

Gegenüber der Öffentlichkeit wirkt diese Perspektive als großer Beschleuniger des Wahlkampfs. Die Westmark ist in diesem Moment 4,40 Mark des Ostens wert, das Versprechen eines sofortigen Austauschs in Höhe von 1 : 1 sorgt für Begeisterung bei den Bewohnern des Ostens, die mit ihrer Mangelwirtschaft nur allzu vertraut sind. Und stellt das Thema der Vereinigung der beiden Staaten in den Mittelpunkt der Kampagne.
Die CDU und ihre Verbündeten holen ihren Rückstand auf und gewinnen die Wahl mit mehr als 48% der Stimmen gegenüber 21% für die SPD und 16% für die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS, hervorgegangen aus der SED). Doch hinter dem „Akt der politischen Großzügigkeit der Bundesrepublik“, gepriesen von Lothar de Maizière, Chef der CDU-Ost und großer Sieger der Wahlen, verbirgt sich eine politische Entscheidung: „mit Hilfe der D-Mark die rasche Annexion der DDR an die Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten“, so Christa Luft, DDR-Wirtschaftsministerin vom 18. November 1989 bis 18. März 1990 (7).

Die Wahl des sozialen Abrisses

Mit der Währung wird plötzlich die gesamte Marktwirtschaft in die DDR transplantiert. „Wir konnten die Deutsche Mark nur als Gegenleistung für eine vollständige Umgestaltung des Wirtschaftssystems vergeben“, erinnert sich Sarrazin. Die Bedingungen des am 18. Mai unterzeichneten Vertrags bestätigen einen Regimewechsel. „Die Wirtschaftsunion basiert auf der sozialen Marktwirtschaft als einer gemeinsamen Wirtschaftsordnung der beiden Vertragsparteien. Letzteres wird insbesondere durch Privateigentum, Wettbewerb, freie Preise und den freien Verkehr von Arbeitskräften, Kapital, Waren und Dienstleistungen bestimmt „(Artikel 1).
Da sie von nun an dem politischen Liberalismus und dem freien Austausch, ebenso wie dem Eigentumsrecht der privaten Investoren über den Boden und die Produktionsmittel widersprechen, werden „die Bestimmungen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage der zuvor sozialistischen Gesellschaft nicht mehr angewendet „(Artikel 2).

Kurz nach dem Inkrafttreten des Vertrages am 1. Juli 1990 und dem damit einhergehenden „Bank-Run“ waren die Ostdeutschen schnell desillusioniert. Während sich die Verbraucher hektisch westlichen Gütern zuwenden, explodieren die realen Preise für im Osten hergestellte Güter und Dienst-leistungen von 300 bis 400 Prozent, und die Unternehmen verlieren auf einen Schlag ihre Wettbe-werbsfähigkeit. Hier werden sie nicht nur des Binnenmarktes beraubt, den westliche Konzerne erobern, sondern auch ihrer östlichen Kunden, insbesondere der UdSSR, die bisher 60 bis 80% der ostdeutschen Exporte absorbierten.
Nach Meinung des ehemaligen Bundesbankpräsidenten, Karl Otto Pöhl, macht das Land „eine Roßkur durch, die keine Wirtschaft aushalten könnte (8)“.
Wie Molières Arzt überzeugt von den segensreichen Wirkungen des Aderlasses, verweigern die Bonner Unterhändler jegliche Unterstützungs- oder Linderungsmaßnahme (schrittweise Angleichung der Wechselkurse, Subventionen für die Ost-Produktion, höhere Steuern auf westliche Produkte).

Über Nacht zog die DDR die Wirtschaftsliberalisierung durch, für die Westdeutschland nach dem Krieg ein Jahrzehnt zur Verfügung hatte. Die Industrieproduktion ging im Juli gegenüber dem Vor-jahr um 43,7%, im August um 51,9% und Ende 1991 um fast 70% zurück, während die offizielle Zahl der Arbeitslosen von kaum 7.500 im Januar 1990 steigen wird auf 1,4 Millionen im Januar 1992 – allerdings mehr als doppelt so hoch, wenn zu den offiziell Arbeitslosen auch die in Umschulung oder vorzeitiger Pensionierung erfasst werden. Kein Land in Mittel- und Osteuropa hat beim Ausscheiden aus dem sowjetisch geführten Wirtschaftsraum schlechter abgeschnitten …

Die Wahl des sozialen Abrisses war absichtlich: Dutzende von Berichten hatten die Konsequenzen detailliert dargelegt. „Lieber die Einheit mit einer ruinierten Wirtschaft erreichen, als länger mit ei-ner halb ruinierten Wirtschaft im Sowjetblock zu bleiben“, sagte der sozialdemokratische Theologe Richard Schröder (9).
Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass sein Gebet beantwortet wurde. In den Köpfen der Ossis – der Bewohner des Ostens – hat der Würge-Engel einen Namen: die Treuhand, abgekürzt von Treuhandanstalt, oder „Treuhandagentur“.
Sie wurde am 1. März 1990 ins Leben gerufen und wird das Instrument für die Umwandlung der ehemaligen DDR in den Kapitalismus sein. Die Treuhand erfüllt ihren Auftrag, indem sie fast das gesamte „volkseigene Vermögen“ (der Name, der den Unternehmen und dem Staatseigentum gegeben worden war), von dem sie am 1. Juli 1990 den Besitz erlangt, privatisiert oder liquidiert.
An der Spitze von 8.000 Kombinaten und Unternehmen mit ihren 32.000 Einrichtungen – von Stahlwerken bis zu Sommerlagern, einschließlich Lebensmittelgeschäften und Kinos in der Nachbarschaft -, auf einer Landfläche, die 57% der DDR ausmacht, ist diese Institution zu einem Immobilienimperium geworden. Über Nacht präsidiert das größte Konglomerat der Welt über das Schicksal von 4,1 Millionen Beschäftigten (45% der aktiven Belegschaft). Bei seiner Auflösung am 31. Dezember 1994 hat das Unternehmen den größten Teil seines Portfolios privatisiert oder liquidiert und kann sich einer Bilanz rühmen, die in der Wirtschaftsgeschichte ihresgleichen sucht: eine deindustrialisierte ehemalige DDR, 2,5 Millionen vernichtete Arbeitsplätze, Verluste von 256 Milliarden D-Mark für ein anfängliches Nettovermögen, das von seinem eigenen Präsidenten im Oktober 1990 auf 600 Milliarden geschätzt worden war(10)!

Dieses Wunder des Liberalismus ist für Frau Luft, die letzte Wirtschaftsministerin der DDR, „die größte Zerstörung von produktivem Kapital in Friedenszeiten (11)“.
Die Forscher Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar sehen darin einen Höhepunkt der strukturellen Kolonisierung der DDR durch die westdeutsche Bundesrepublik (12): Westdeutsche Investoren und Unternehmen haben 85% der ostdeutschen Produktionsstätten gekauft; Ostdeutsche nur 6%.

Die Idee eines Blitzkrieges gegen die Planwirtschaft des Nachbarn stammt aus den 1950er Jahren: Der Historiker Markus Böick schreibt dem früheren Wirtschaftsminister und Kanzler der Bundesrepublik Deutschland (in der Nachkriegszeit der Hüter des Allerheiligsten, des Ordoliberalismus), Ludwig Erhard, 2018 in einer Gesamtbewertung über die Treuhand, die geistige Urheberschaft dieser seltsamen bürokratischen Kreatur zu.
In seinem weitsichtig vorausschauenden Aufsatz über die „wirtschaftlichen Probleme der Wiedervereinigung“, der 1953 veröffentlicht wurde, sprach sich Erhard für eine schnelle Währungsunion aus und lieferte – schreibt Böick -, das „Modell, das keines-wegs alternativlos war, einer Schock-Therapie ”(13,*)”.

Ironischerweise hatte die im März 1990 gegründete Treuhand zunächst nicht das Ziel, die Wirtschaft zu privatisieren. Diese Einrichtung, die als „Treuhandgesellschaft zur Wahrung der Rechte der DDR-Bürger über das Volksvermögen der DDR-Bevölkerung“ in dissidenten Kreisen und Bürgerbewegungen erdacht worden war, sollte die Anteile staatlicher Unternehmen an die Bevölkerung neu verteilen. Die IG Metall schlug vor, das Eigentum direkt auf die Arbeitnehmer zu übertragen.
Der Wahlsieg der Konservativen bei den DDR-Wahlen am 18. März brachte die Karten durcheinander. Zwei Wochen vor dem Inkrafttreten der Währungsunion am 1. Juli hat die Volkskammer – das Parlament der DDR – überhastet ein „Gesetz zur Privatisierung und Organisation des Volksvermögens“ verabschiedet.
Damit endet die Suche nach einem Kompromiss zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der das reformistische Wirtschaftsdenken in der DDR seit dem Fall der Mauer beflügelt hatte. Die „Schocktherapie“, die ein halbes Jahrhundert zuvor erdacht worden war, drängte sich auf.

Die Treuhand, auf die Beine gestellt in wenigen Wochen, begann ihre Arbeit mit viel Improvisation. Da die beiden Deutschen kein gemeinsames Telefonnetz haben, gehen ihre Mitarbeiter aus Ostberlin zu festgelegten Zeiten in die Telefonzellen in Westberlin, um sich mit ihren westlichen Kontakten auszutauschen (14).
Diese Art Engpässe in der Praxis verhindert nicht, dass alles, was in der BRD in der Umstrukturierung von Unternehmen Rang und Namen hat, an die Spitze der Organisa-tion gelangt.
Sein erster Präsident, Reiner Maria Gohlke, ehemaliger Generaldirektor von IBM, macht im August 1990 Detlev Karsten Rohwedder, Präsident des Hüttenkonzerns Hoesch, Platz.
Der Vorsitz im Aufsichtsrat geht an Jens Odewald, Vertrauter von Kanzler Kohl und Vorsitzender einer Kaufhauskette in Westdeutschland, der Kaufhof-AG, der die ‚saftigen‘ Läden am Alexanderplatz erwerben wird.
Ab Sommer 1990 beaufsichtigte Bonn den Betrieb: Das Finanzministerium richtete ein Kabinett ein, in dem Führungskräfte von Beratungsunternehmen wie KPMG, McKinsey und Roland Berger bei der Präsidentschaft der Treuhand vertreten waren, die die Unternehmen ohne präzise Kriterien evaluierten und entschieden, ob sie saniert, unverzüglich priatisiert oder liquidiert werden sollten (15).

Zerstückelte Firmen

Eine Reihe absurder Entscheidungen sowie die Absprache zwischen der Treuhand, der konservativen Regierung und dem westdeutschen Unternehmerverband haben die Überzeugung genährt – was nie geleugnet wurde -, dass die Treuhand vor allem in dem Sinne gehandelt hat, um jegliche Konkurrenz vom Markt zu eliminieren, die die Gewinnspannen westdeutscher Unternehmen hätte senken können.
Abgewürgt und wenig erfolgreich, zählte die ostdeutsche Wirtschaft doch noch einige Juwelen. Am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der Wiedervereinigung, beschloss die Treuhand-Geschäftsführung beispielsweise, die Pentacon-Kamerafabrik in Dresden zu schließen, die 5.700 Mitarbeiter beschäftigte und ihr Praktica-Modell in viele westliche Länder exportiert hatte.

Auf dem Gebiet der Ökologie heißt eine der seltenen Umwelt-Errungenschaften der DDR „Sero“ (von Sekundär-Rohstoffe), das nationale Unternehmen für Recycling und Wiederverwendung von Materialien. Als die Kommunen die Umwandlung in ein Netzwerk kommunaler Unternehmen fordern, lehnt Treuhand dies ab und befürwortet einen Abverkauf zu Schleuderpreisen zugunsten westlicher Konzerne.
Das unermüdliche Bestreben der Agentur, die weitgehend profitable Fluggesellschaft Interflug zu zerstören, um die Betriebsrechte für ihre Strecken und die Nutzung ihres Flughafens kostenlos an den westdeutschen Konkurrenten Lufthansa zu übertragen, hat etwas von einer Karikatur.
Im thüringischen Bergbaudorf Bischofferode wird es nun schwierig sein, das Prinzip des freien und unverfälschten Wettbewerbs an die Einwohner zu verkaufen. 1990 faßte die Treuhand alle Kaliminen zu einer Einheit zusammen und verkaufte sie an den westlichen Konkurrenten K + S (Kali und Salz-AG), der alsbald beschloss, deren Betrieb einzustellen. „Bischofferode ist ein Beispiel für die Schließung eines profitablen Betriebs, um der Konkurrenz aus Westdeutschland Wettbewerbsvorteile zuzuschanzen“, sagte Dietmar Bartsch, Abgeordneter der Linkspartei Die Linke. „Man musste zeigen, dass die DDR am Ende war, dass es dort nichts mehr an Wert gab. „

Auf die Stellenkürzungen zu Hunderttausenden reagieren die Protestaktionen. Im März 1991 kämpfen 20 000 Textilarbeiterinnen in Chemnitz (Sachsen), denen die Entlassung droht, 25 000 Chemiearbeiter, die ihre Fabriken in Sachsen-Anhalt besetzen, 60 000 Menschen, die auf Aufforderung der IG Metall demonstrieren. aber auch die evangelische Kirche und ehemalige Regime-Gegner nicht mehr für die politische Freiheit, sondern gegen den Wirtschaftsliberalismus.
Am 30. März setzt eine Gruppe ein Büro der Berliner Treuhand in Brand; am nächsten Tag wird der Direktor der Einrichtung, Rohwedder, erschossen. Birgit Breuel, CDU-Mitglied und Privatisierungsfanatikerin, wird von der Firma Roland Berger angeworben und besetzt diese Stelle umgehend.

Gangster, Scharlatane und organisierte Kriminelle kapieren schnell, dass die Treuhand als öffentlicher Geldverteiler fungiert, der jedem offen steht, der ihr einen ihrer Vermögenswerte abkaufen möchte.
Da die Organisation das Strafregister und die Referenzen ihrer Kunden nicht überprüft, häufen sich die Skandale: Veruntreuung von Subventionen im Zusammenhang mit dem Verkauf der Leuna-Raffinerie an Elf-Aquitaine im Jahr 1991; Korrupte Führungskräfte, die 1993 in der Agentur Halle entdeckt werden; Hunderte Millionen Mark für die Sanierung der Werften von Rostock und Wismar an die Westdeutsche Bremer Vulkan-Werft widerrechtlich umgeleitet – 15.000 Entlas-sungen.
Die Verfehlungen folgen so schnell aufeinander, dass ein Begriff aufkommt: „Vereinigungskriminalität“.
1998 schätzt ein parlamentarischer Ausschuss einen Betrag zwischen 3 und 6 Milliarden Mark (16), zu dem man versucht wäre, die kostspieligen Bezüge der Liquidatoren (44.000 Mark Bonus für eine Privatisierung, 88.000 Mark bei Überschreitung der Zielvorgabe) zu addieren ) sowie die enormen Kosten der Berater: In vier Jahren Tätigkeit haben externe Mitarbeiter von Treuhand 1,3 Milliarden Mark verschlungen, davon allein 1992 460 Millionen Mark (17).

„Was wir heute verpfuschen, wird uns für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre verfolgen“, hatte der Direktor der Treuhand (18) im Juli 1990 zugegeben. In der sächsischen Kleinstadt Großdubrau bleibt die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG trotz seriöser Kaufinteressenten empfohlene Liquidation der Keramikfabrik, in jedermanns Erinnerung. Bei den Regionalwahlen vom 1. September 2019 stimmten mehr als 45% der Wähler für die AfD. Frau Petra Köpping, sozialdemokratische Ministerin für Gleichstellung und Integration des Landes Sachsen (lesen Sie „Eine Mauer kann eine andere verbergen“), sieht einen ursächlichen Zusammenhang. „Wir müssen den Menschen vor Ort Rechenschaft ablegen, was mit der Treuhand passiert ist“, empfiehlt sie – und eine „Wahrheitskommission“ einsetzen.

„Zombie-Denkmal“

1993-94 und dann 1998 haben zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse die Spitze des Eisbergs freigelegt, obwohl das Finanzministerium die Einsichtnahme in Akten und Verträge verhindert hat.
„Die Regierung und die Treuhand haben das Recht der parlamentarischen Kontrolle aufgehoben, wie es keine andere legitime demokratische Regierung seit 1945 je zu tun gewagt hatte,“, prangerten die Sozialdemokraten im August 1994 den Skandal an (19). Dann verschwand das Thema aus der öffentlichen Debatte.
Wer sorgt sich schon um Jammerossies – diese „weinerlichen Nörgler des Ostens“, wie sie im Westen genannt werden?

In den letzten Jahren ist das Gespenst der Treuhand wieder aufgetaucht. „Früher hatten die Menschen noch Hoffnung“, sagt Köpping. Sie sagten sich: „Ich versuche da wieder rauszukommen, noch ein Training, noch eine Umschulung.“
Es dauerte lange. Diese Generation, die sich nach der Wiedervereinigung als Generation des Wiederaufbaus betrachtet, hat nach ihrer Verrentung eine Rente von manchmal nur 500 Euro. Sie sieht, dass das, was sie getan hat, um das Land zu verändern, überhaupt nicht anerkannt wird. „Der Historiker Marcus Böick vergleicht die Treuhand mit einem “ Zombie-Denkmal“, in dem sich alle faulen Schulden der deutschen Einheit kristallisieren“: Zerstörung der Industrie, Entvölkerung der Regionen, Ungleichheit, Massenarbeitslosigkeit in einem Land, in dem Arbeit mehr als anderswo die Grundlage des sozialen Status war.
Die Linke fordert einen neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuß und Zugang zu den im Jahr 1990 als geheim erklärten Dokumenten. Mit Ausnahme der AfD sind alle anderen Parteien im Bundestag dagegen.
Um die 45 Kilometer Akten zu durchsuchen, werden die 7 neu eingestellten Archivare die 1.400 Mitarbeiter beneiden, die auf die Papiere der Stasi angesetzt sind …

In Erwartung ihrer Ergebnisse können wir bereits zwei Schlußfolgerungen über die Annexion der DDR ziehen. Zum Einen können sich die deutschen Staats- und Regierungschefs gratulieren: In den neunziger Jahren gewinnt ihr Land seine zentrale Position zurück; die Europäische Union beschleunigt ihre politische und geldpolitische Integration nach den Grundsätzen der deutschen Strenge. Der Vertrag von Maastricht, ein spätes Ergebnis des deutschen Einigungsvertrags, wird Millionen von Arbeitslosen in Europa kosten.
Die andere Bilanz trägt die Farbe der Ernüchterung. Im Austausch für politische Freiheiten und Infrastrukturentwicklung wurde die ostdeutsche Bevölkerung mit einem Stein um den Hals in die Fluten des Kapitalismus geworfen.
Das Paradox der Vereinigung, so wird 1998 der frühere DDR-Regimegegner Edelbert Richter feststellen, ist, dass die Ostdeutschen gleichzeitig in die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft integriert wurden, dass sie aber weitgehend von dem ausgeschlossen wurden, was ihre wesentliche Grundlage darstellt, nämlich Arbeit und Eigentum (20). „
Die ehemals industrielle und exportorientierte Wirtschaft der ehemaligen DDR ist heute abhängig von der Inlandsnachfrage und den vom Bund gewährten Sozialtransfers. Für die Arbeitgeber hat die Annexion einen positiven Kreislauf ausgelöst: Öffentliche Transfers in die neuen Bundesländer finanzieren Waren und Dienstleistungen westlicher Unternehmen und wandeln sich in Gewinne um.
„Wahrlich“, gab im Jahr 1996 der ehemalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) zu, „die fünf Jahre des ‚Aufbaus-Ost’ (21) haben das größte Bereicherungsprogramm für die Westdeutschen dargestellt, das jemals irgendwo ins Werk gesetzt wurde. Das ist es auch, dessen jeden 9. November die besitzende Klasse in Westdeutschland gedenkt.“

Rachel Knaebel & Pierre Rimbert,Journalisten, Berlin.

(1) 1990 von Bundeskanzler Helmut Kohl formuliert.

(2) Zitiert von Sonia Combe, Loyalität um jeden Preis. Der gestrandete „echte Sozialismus“, The Edge of Water, Lormont, 2019.

(3) Zitiert von Ralph Hartmann, Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland, Ost Edition, Berlin, 2008.

(4) Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, DVA, Stuttgart, 1991.

(5) Vladimiro Giacché, Der Zweite Anschluss. Die Annexion der DDR, Editions Delga, Paris, 2015.

(6) Thilo Sarrazin, „Die Entstehung und Umsetzung von Konzept der deutschen und Wirtschafts Währungsunion“ in Theo Waigel und Manfred Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten Ferenczi bei Bruckmann, München 1994.

(7) Christa Luft, Zwischen WEnde und Ende, Aufbau, Berlin, 1991.

(8) Zitat von Vladimiro Giacché, The Second Anschluss, op. cit.

(9) Richard Schröder, Der wichtigste Irrtümer über die deutsche Einheit, Herder, Freiburg im Breisgau, 2007.

(10) Der Spiegel, Hamburg, 19. Dezember 1994. Angesichts der Inflation entsprechen 1000 Mark im Jahr 1990 heute etwa 300 Euro.

(11) Marcus Böick, Die Treuhand. Idee-Praxis-Erfahrung, 1990-1994, Wallstein Verlag, Göttingen, 2018.

(12) Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar (Hrsg.), Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Agenda Verlag, Münster, 1996.

(13) Marcus Böick, Die Treuhand, op. cit.
(14) Ebenda.

(15) „Beschlußempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses“ Treuhandanstalt „(PDF), Bundestag, Berlin, 1994.

(16) Die Welt, Berlin, 2. Oktober 2010.

(17) Ralph Hartmann, Die Liquidatoren, aaO. cit.

(18) Zitiert von Marcus Böick, Die Treuhand, op. cit.

(19) Dirk Laabs, Der Deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand, Pantheon Verlag, München, 2012.

(20) Zitiert von Fritz Vilmar und Gislaine Guittard, Das verborgene Gesicht der deutschen Einheit, L’Atelier, Paris, 1999.

(21) Zitat von Vladimiro Giacché, The Second Anschluss, op. cit. Der Aufbau Ost bezieht sich auf das Finanzierungsprogramm der neuen Bundesländer.

Schock-Strategie_Naomi_Klein*: Naomi Klein beschrieb diesen Prozess u.a. in der Anwendung auf die zusammengebrochene UdSSR

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die gute und einfühlsame Übersicht Der Anspruch des Unerfülltenvon Daniela Dahn hinweisen: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1126694.daniela-dahn-der-anspruch-des-unerfuellten.html

Ihr Fazit:

daniela dahn

Es gibt Erfahrungen, die nicht einfach umsonst gewesen sein sollen. Die Möglichkeiten, vermögend zu werden oder große Erbschaften zu machen, waren in der DDR genauso begrenzt wie die, großen Luxus zu kaufen. Das war nicht nur ein Nachteil. Es erleichterte den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und sparte Zeit und Lebensenergie, die man in Freundeskreise investieren konnte. Es ersparte den Familien erbitterte gerichtliche Erbstreitigkeiten, wie ich sie heute staunend verfolge. Die Zweitrangigkeit von Geld war unser Kapital. Mit dieser Diagnose durfte ich nach der Währungsunion zunächst nicht auf allzu viel Zustimmung hoffen. Der Weg ins Paradies schien mit der D-Mark gepflastert.

Niemand konnte sich dem Geldfokus entziehen. Schließlich hatte jeder den berechtigten Anspruch, nun endlich das gesunde Obst zu genießen, den zeitsparenden Geschirrspüler, den gerade erst aufgekommenen Computer. Auch Autos, Immobilien, Trüffel begannen zu locken. Problematisch wurde es erst, als klar wurde, da ist nichts, was sich nicht verzollen und zur Ware machen lässt: Informationen. Algorithmen. Kampagnen. Gesundheit. Bildung. Beziehung. Liebe. Einfluss. Kunst. Krieg. Freiheit. Demokratie. Alles käuflich. Und damit toxisch.
Ich fühle mich den Alt-89ern zugehörig, vertraut mit dem Demokratischen Aufbruch, der einst gemeint war, und dem demokratischen Abbruch, der ihm folgte. Ich versuche Argumente aufzugreifen von denen, die zu wenig gehört werden – die Ostdeutschen, die Frauen, die Friedensbewegten, die Kapitalismusattackierenden, die Antifa, die Geflüchteten, die Putin- und Naturversteher.

Gern spielte man in den letzten Jahren auf den hauptstädtischen Bühnen Becketts »Endspiel«. Da ließ sich gut munkeln: Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.

Vorsicht vor reichen Weltverbesserern – Sie können so großzügig wirken – bis man merkt, was sie uns eigentlich wirklich verkaufen.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

 

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Anand Giridharadas

Mal einen wirklich guten Artikel bei Friedrich Ebert’s  gefunden:
https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/vorsicht-vor-reichen-weltverbesserern-2952/
Auszüge:

„Verändert die Welt“ ist seit langem schon der Ruf der Unterdrückten.

Aber in den letzten Jahren haben auch die Reichen den Wunsch nach Veränderung für sich vereinnahmt.

„Verändert die Welt. Verbessert die Lebensbedingungen. Erfindet etwas Neues”, heißt es demnach auch in den Einstellungsmaterialen der Unternehmensberatung McKinsey.
„Lehnt euch zurück, entspannt euch und verändert die Welt“, lesen wir in einem Tweet des Weltwirtschaftsforums, das die Konferenz von Davos veranstaltet.
Eine Anzeige von Morgan Stanley ruft uns zu: „Bringen wir das Kapital auf, um die Dinge zu bauen, die die Welt verändern.“
Möchte WalMart einen Software-Ingenieur einstellen, sucht das Unternehmen nach „dem Willen, die Welt zu verändern“.
Und Mark Zuckerberg schreibt auf Facebook: „Will man die Welt verändern, ist das Beste, was man heute tun kann, ein Unternehmen zu gründen.“

Dabei denkt man zunächst: Reiche, die etwas verändern wollen – wie großzügig!
Bis man dann bedenkt, dass Amerika nicht das wäre, was es ist, wenn wir der Art von Veränderung, die uns diese Gewinner verkauft haben, nicht auf dem Leim gegangen wären: nämlich falscher Veränderung.

Wir können tatsächlich echte Veränderung erreichen, aber dazu brauchen wir aggressive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer.

Falsche Veränderung ist nicht schlecht, aber sie ist für Feiglinge. Es ist eine Art von Veränderung, die von den Mächtigen toleriert werden kann.
Mit dieser Veränderung sind die Schuhe, die Socken oder die Einkaufstasche gemeint, die du gekauft hast. Die Welt zu verändern,das haben dir auch diese fabelhaften Privatschulen versprochen – und nicht die gerecht finanzierten öffentlichen Schulen für alle.
Das Versprechen besteht in „Lean-In-Circles“ zur Ermächtigung von Frauen – und nicht in allgemein zugänglichen Vorschulen.
Es verheißt „Impact Investing“ als alternative Geldanlage – und nicht die Abschaffung des US-Steuerschlupflochs bei der Gewinnbeteiligung.

Natürlich stimmt es, dass die weltbewegenden Initiativen der Gewinner des Marktkapitalismus die Kranken heilen, die Armen bereichern und Leben retten.
Tatsächlich geben die amerikanischen Eliten etwas an die Gesellschaft zurück. Aber sogar damit versuchen sie meist, das System aufrecht zu erhalten, das viele der Probleme, die sie lösen wollen, erst verursacht hat – und ihre Hilfsbereitschaft ist Teil der Art, wie sie dies durchziehen. Also sind ihre guten Taten Komplizen eines größeren Schadens, auch wenn dieser kaum sichtbar ist.

Was von ihrer „Veränderung“ ausgenommen ist, ist unsere Wirtschaft, deren Profite nach oben fließen und bei den Gewinnern landen.
Das durchschnittliche Vorsteuereinkommen des obersten amerikanischen Prozents hat sich seit 1980 mehr als verdreifacht, das der obersten 0,001 Prozent sogar mehr als versiebenfacht.
Gleichzeitig stagnierte das Durchschnittseinkommen der unteren Einkommenshälfte der Amerikaner laut einem Artikel der Ökonomen Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman bei rund 16 000 Dollar.

Die US-amerikanischen Eliten monopolisieren zwar den Fortschritt, aber Monopole können gebrochen werden. Wir können tatsächlich echte Veränderung erreichen, aber dazu brauchen wir aggressive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer. Wir müssen Einkommen umverteilen und die Ausbildung und Gesundheit erschwinglicher machen.
Aber solche Maßnahmen könnten die Gewinner teuer zu stehen kommen.
So haben sie ein starkes Interesse daran, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie innerhalb des Systems Hilfe leisten können – innerhalb dieses Systems, das für die Gewinner so nützlich ist.

Oder haben Michael E. Porter, Professor an der Harvard Business School, und sein Mitverfasser Mark R. Kramer etwa Recht, wenn sie sagen: „Unternehmen, die sich wie Unternehmen verhalten und nicht wie gemeinnützige Geldgeber, sind die mächtigste Kraft zur Bewältigung unserer drängenden Probleme“? Dann sollten wir die Unternehmen doch lieber nicht zu sehr einschränken, oder?

Dies ist die Art, wie die Gewinner von ihrer eigenen Wohltätigkeit profitieren: So können sie Veränderung umdefinieren und sie damit entschärfen.

Nehmen wir David Rubenstein, einen Mitgründer des Private-Equity-Unternehmens Carlyle Group. Er ist ein Milliardär, der, wie er es ausdrückt, „patriotische Philanthropie“ praktiziert.
Als im Jahr 2011 ein Erdbeben das Washington-Denkmal beschädigte und der Kongress nur die Hälfte der 15 Millionen Dollar Reparaturkosten finanzierte, steuerte Rubenstein den Rest bei.
„Die Regierung hat nicht mehr die Ressourcen, die sie einst hatte“, erklärte er. „Jetzt müssen die Privatleute einspringen.“

Trump ist das, was wir bekommen, wenn wir den Reichen vertrauen, das zu reparieren, zu dessen Zerstörung sie selbst beigetragen haben.

Und dieses Einspringen scheint ein Ausdruck von Großzügigkeit zu sein – bis man erfährt, warum die Regierung eigentlich so knapp bei Kasse ist: Ein Grund dafür ist Rubenstein selbst.
Er und seine Kollegen setzen seit langer Zeit ihren Einfluss dafür ein, das Steuerschlupfloch bei der Gewinnbeteiligung zu schützen, das für die Akteure im Private-Equity-Bereich enorm profitabel ist.
Würde dieses Schlupfloch gestopft, könnte dies der Regierung innerhalb von zehn Jahren 180 Milliarden Dollar einbringen – genug, um dieses Denkmal viele tausend Mal zu reparieren.

So läuft Rubenstein Gefahr, als Mann zu gelten, der Amerika aussaugt. Gutes zu tun gibt ihm hingegen ein nützliches Image als Patriot, der ehemalige Präsidenten interviewt und Vorträge über den dreizehnten Verfassungszusatz hält.

Das Unternehmen Walmart wird schon seit langem beschuldigt, seine Arbeitnehmer zu schlecht zu bezahlen.
Berühmt wurde der Fall, als der Einzelhandelsriese von der Verbraucherschutzorganisation Americans for Tax Fairness beschuldigt wurde, er koste die Steuerzahler jedes Jahr Milliarden von Dollar: Er bezahle „seinen Angestellten so wenig, dass viele von ihnen auf Lebensmittelmarken, Gesundheitszuschüsse und andere steuerfinanzierte Programme zurückgreifen müssen.“
Das Unternehmen wehrt sich gegen diese Kritik und beruft sich auf die Arbeitsplätze, die es schaffe, und die Steuern, die es zahle.

Als in der New York Times vor einigen Jahren eine Walmart-kritische Kolumne veröffentlicht wurde, stellte David Tovar, ein Sprecher des Unternehmens, eine redigierte Version des Textes in einen Unternehmensblog.
Neben einen Abschnitt darüber, wie die Erben der Walton-Familie durch halsabschneiderische Methoden mindestens 150 Milliarden Dollar Reichtum angehäuft haben, schrieb Tovar: „Möglicher Zusatz: Größte Unternehmensstiftung in Amerika. Gibt jedes Jahr über eine Milliarde Dollar an Cash oder Sachspenden.“

Das 150-Milliarden-Dollar-Vermögen oder die Tatsache, dass ein größerer Teil davon als Löhne hätte ausgezahlt werden können, leugnet Tovar nicht.
Statt dessen scheint er anzudeuten, diese Tatsachen könnten durch Wohltätigkeit ausgeglichen werden.

Vor einigen Jahren gründeten einige Unternehmer im kalifornischen Oakland eine Firma namens Even.
Ihr ursprünglicher Plan war, die stark schwankenden Einkommen der amerikanischen Arbeiterklasse zu stabilisieren – mit einer App. Diese sollte – für ein paar Dollar in der Woche – das Geld der Betreffenden, wenn sie genug davon hatten, in einen virtuellen Sparstrumpf stecken, und es dann in knappen Zeiten wieder zur Verfügung stellen.
„Wollen Sie sich so fühlen, als hätten Sie zum erstem Mal in ihrem Leben ein Sicherheitsnetz? Dann ist Even die Antwort“, behauptete das Unternehmen.

Diese Idee ist nicht nur deshalb zweifelhaft, weil sie lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Das Problem ist auch, dass sie unsere Vorstellung von Veränderung verwässert. Sie setzt eine App mit einem Sicherheitsnetz gleich.

Falsche Vorstellungen über Veränderung und ihre schlimmen Folgen haben den Weg für einen Präsidenten namens Donald Trump bereitet.
Er profitierte von dem Gefühl, das amerikanische System sei manipuliert und die etablierten Eliten nutzten es zu ihren Gunsten aus.
Und dann leitete er diese Wut auf perfide Weise auf diejenigen Amerikaner um, die am meisten darunter leiden.
Indem er von hohlen Ideen über falsche Veränderungen profitierte, wurde er, was er ist – ein reicher Mann, der sich selbst als besten Beschützer der Unterdrückten stilisiert, und der vorgibt, die Veränderungen, die er anstrebt, hätten nichts mit seinen eigenen Interessen zu tun.

Trump ist das, was wir bekommen, wenn wir den Reichen vertrauen, das zu reparieren, zu dessen Zerstörung sie selbst beigetragen haben.

2016 standen Trump und viele der Elite-Weltverbesserer, über die ich hier schreibe, politisch auf unterschiedlichen Seiten. Aber diese Eliten und der Präsident haben eines gemeinsam: den Glauben, wir sollten die Welt nicht selbst verändern, sondern dies ruhig ihnen überlassen. Sie stellen den amerikanischen Grundsatz der Selbstverwaltung in Frage.

Eine erfolgreiche Gesellschaft ist eine Fortschrittsmaschine, die Innovationen und vorteilhafte Entwicklungen in einen gemeinsamen Aufstieg verwandelt.
Aber die amerikanische Maschine ist kaputt. Die Innovationen fliegen uns nur so zu, aber der Fortschritt rinnt uns durch die Finger. Und dies können auch tausend weltverbessernde Initiativen nicht ändern.
Stattdessen müssen wir die grundlegenden Systeme reformieren, die es den Menschen ermöglichen, anständig zu leben – die Systeme, die entscheiden, auf welche Schulen unsere Kinder gehen, ob Politiker auf Sponsoren oder auf die Bürger hören, ob Menschen ihre Krankheiten behandeln lassen können und ob sie genug Geld verdienen (und dies verlässlich genug, um die Möglichkeit zu haben, Pläne zu machen und Kinder zu bekommen).

Viele Gewinner erkennen ihre Rolle, die sie bei der Unterstützung eines schlechten Systems spielen, sehr klar. Sie könnten davon überzeugt werden, dass das Problem an der Wurzel gepackt werden muss, um es gemeinschaftlich zu lösen. Dies allerdings bedeutet höhere Steuern, geringere Gewinne und weniger Häuser für sie.
Um die Welt zu verändern, reicht es nicht aus, etwas zurückzugeben. Es bedeutet auch, etwas aufzugeben.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

(c) The New York Times 2018

Anand Giridharadas arbeitet als politischer Analyst für NBC News und MSNBC und als Gastwissenschaftler am Arthur L. Carter Journalism Institute der New York University. Sein aktuellstes Buch „Winners Take All-The Elite Charade of Changing the World“ ist vor Kurzem erschienen.

Jochen

Flüchtlinge willkommen – als Spielball der Ausbeutung und auf Kosten der Armen!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Flüchtlinge und ALG2-Empfänger sollen gegeneinander ausgespielt werden.
Da freut sich der perspektivlose Langzeitarbeitslose, dass es unter ihm noch welche gibt, auf die er treten kann.
Leider gehört auch das zu den weit verbreiteten menschlichen Verhaltensweisen.
Und das lässt sich noch dazu in die Produktion und Profitmaximierung einbinden:
http://www.heise.de/tp/artikel/46/46072/

Sahra Wagenknecht Wagenknecht2015-09hat dazu heute auch im Bundestag Stellung bezogen, s. weiter unten. 

Es ist schon unglaublich, wie sich das miteinander verzahnt !

Auszüge:

Twister (Bettina Hammer) 23.09.2015

Damit Asylbewerber möglichst schnell in den ökonomischen Verwertungskreislauf eingefügt werden können, sollen Mindestlohn und ALG II aufgeweicht werden

Die Beziehung zwischen der Unternehmensberatung McKinsey und der Bundesagentur für Arbeit ist schon länger recht eng.
Bereits 2012 durfte Frank-Jürgen Weise, Chef der BA, sich für McKinsey lobend über das deutsche Jobwunder äußern[1].
In einem längeren Aufsatz beweihräucherte sich der BA-Chef quasi selbst und sprach davon, wie die BA von einem aufgeblasenen zaudernden Etwas (bloated laggard) zum schlanken, besten Dienstleister (lean, best-in-class provider service) geworden sei.

Zu einer Zeit, als sich die Empfänger von ALG II eher fatalistisch in ihr Schicksal fügten (auch wenn dies falsche Bescheide und dergleichen mehr bedeutete), wurde die Agenda 2012 sowie der Umbau einer Behörde für Hilfesuchende zur Agentur für Kunden noch einmal von der BA selbst gefeiert. Für die weiteren Jahre, so schrieb Weise damals, müsse dafür gesorgt werden, dass der Arbeitsmarkt auf „plötzliche, dramatische Schocks“ reagieren könne. Die ansteigende Wankelmütigkeit des Marktes müsse so ausgeglichen werden.

Bereits 2005 hatte sich McKinsey über einen Auftrag der BA freuen können, der dem Unternehmen ca. 20 Millionen einbrachte (was der Rechnungshof rügte).
Dass nunmehr erneut die BA und McKinsey Hand in Hand agieren[2], ist daher mindestens bemerkenswert.

Frank-Jürgen Weise, weiterhin Chef der BA, ist nun zusätzlich Chef des Bundesamtes für Migration. Dies allerdings ist verwunderlich, bedenkt man, dass die Aufgaben des Chefs der BA nicht wirklich weniger geworden sind. Weise hat bereits angekündigt, dass die Aufgaben der beiden Ämter miteinander eng verzahnt werden sollen.
Und hier trifft man erneut auf McKinsey: Die Unternehmensberatung soll helfen, die Asylverfahren zu beschleunigen[3].
Beruhigend wird angemerkt, dass dies zunächst unentgeltlich geschehen soll – doch gerade der Hinweis, dass ein Unternehmen wie McKinsey, das seit langem eng mit der BA zusammen agiert, nun plötzlich auf Gelder verzichtet, wirft Fragen auf.

Einen Sinn ergibt diese Ankündigung, wenn man sie im Zusammenhang mit den derzeitigen Meldungen des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V. (IfO) sieht. Das Institut unter der Präsidentenschaft von Hans-Werner Sinn plädiert derzeit dafür, dass der Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro für „Flüchtlinge“ abgesenkt werden soll[4], damit diese „Low Performer“ trotz mangelnder Produktivität möglichst schnell in den Arbeitskreislauf eingegliedert werden können.

Gleichzeitig plädiert es auch gegen eine Anhebung der Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger.
Ein solche Anhebung, so heißt es, sei abzulehnen, weil diese die Arbeitsbereitschaft der Einwanderer verringern könnte:

„Eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze in der gegenwärtigen Situation ist mit Nachdruck abzulehnen, weil dies die Anreize der Immigranten, Arbeit aufzunehmen, verringern und zu zusätzlichen fiskalischen Lasten führen würde.“

Die Asylmigranten sind vom Problem zur willkommenen Spielfigur im großen Spiel um Profit geworden

Die gesamte Pressemitteilung liest sich wie eine Forderung, die Migranten möglichst schnell und egal zu welchem Preis als günstige Arbeitskräfte einzusetzen.
Dabei ist auch der soziale Friede innerhalb der Bevölkerung für das IfO offensichtlich entweder Fremdwort oder aber schlichtweg ein zu ignorierender Faktor.

Dieser soziale Frieden ist bereits seit langem in Gefahr und seit Beginn der Flüchtlingskrise zeigt[5] sich besonders deutlich, dass Bevölkerungsgruppen gegen andere agieren, auch wenn beide letztendlich ökonomisch gesehen bereits ganz unten angelangt sind: Ossis aus den Plattenbauten sind gegen Asylanten, Geringverdiener wenden sich gegen ALG II-Empfänger, ALG II-Empfänger sehen sich alleingelassen.

Eine Meldung darüber, dass die geplante Erhöhung von 5 Euro monatlich für die ALG II-Empfänger wegen der Flüchtlingsproblematik ausfällt, wäre eine Botschaft, die diese Gräben weiter verbreitern und die derzeit angespannte Situation weiter eskalieren lassen würde. Davon abgesehen ist es eher unwahrscheinlich, dass die Menschen, die jetzt als „Flüchtlingsproblem“ zusammenfasst werden – nämlich Einwanderer über das Asylrecht und Kriegsflüchtlinge -, von einer nicht stattfindenden Erhöhung von 5 Euro monatlich abschrecken lassen würden.

Die Logik, die das IfO hier anwendet, ist nicht nur kaum nachvollziehbar, sie ist auch menschenverachtend, wenn sie darauf setzt, dass denen, die ohnehin schon mit einem soziokulturellen Existenzminum auskommen müssen, jegliche Erhöhung dieses Minimums verweigert wird, um andere Menschen vor einer Flucht vor der Armut abzuschrecken – es handelt sich hier eher um einen Versuch, den Asylbewerberansturm zu nutzen, um der ärmsten Bevölkerungsschicht eine Verbesserung ihrer Lage zu verweigern.

Bei einer Absenkung des Mindestlohns für Asylmigranten müssten ergänzende ALG II-Gelder gezahlt werden, die sich aus Steuergeldern speisen. Bedenkt man, dass diejenigen, die am Existenzminimum leben, kaum die Möglichkeit haben, von Steuerschlupflöchern etc. zu profitieren, sondern (unter anderem über die Mehrwertsteuer) am Einkommen gemessen prozentual hoch belastet werden, dann zahlen das letztendlich die Verlierer dieser Lohnabwärtsspirale.

Die Asylmigranten sind vom Problem zur willkommenen Spielfigur im großen Spiel um Profit geworden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verbrämt das (anders als andere Medien) nicht, wenn sie die bisherigen Errungenschaften des Arbeitsschutzes wie Mindestlohn, Hürden für Zeitarbeit und Werksverträge als Unzugänglichkeiten für den Arbeitsmarkt bezeichnet[6], die Flüchtlingen schaden. Heike Göbel schreibt dort offen:

Es ist zur fixen Idee von Schwarz-Rot geworden, dass Arbeit allein nicht genügt, sondern dass es ‚gute Arbeit‘ sein muss. Die Standards legt die Politik fest, in immer irrwitzigeren Höhen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte dieser Wahn ein Ende haben?

Es wird weiter zum Sturm auf den Sozialstaat geblasen – und die Ökonomen und Vertreter der „Arbeit um jeden Preis“-Dogmen haben sich Flüchtlinge als neues Spielzeug in ihrem Spiel um Macht, Profit und Rendite auserkoren.

Linksfraktionsvize Sahra Wagenknecht hat der Bundesregierung vorgeworfen, die Integration von Flüchtlingen auf Kosten von Sozialschwachen in Deutschland zu finanzieren:

„Denn nicht die Wohlhabenden, sondern vor allem die Ärmeren werden betroffen sein, wenn zur Finanzierung von Integration andere Budgets gekürzt werden. Nicht die Wohlhabenden, sondern die Ärmeren wohnen in den Wohngebieten, in denen auch die Flüchtlinge nach Wohnungen suchen werden, und es ist keine irrationale, sondern eine sehr realistische Angst, dass dann dort die Mieten weiter steigen.

Seit Jahren werden in diesem Land kaum noch Sozialwohnungen gebaut. Viele Gemeinden haben ihren Wohnungsbestand privaten Renditejägern überlassen. Öffentliche Investitionen in guten und erschwinglichen Wohnraum sind seit Jahren überfällig. Mit jedem ankommenden Flüchtling wird das dringlicher.

Und natürlich sind es auch nicht Spitzenverdiener, sondern diejenigen im ohnehin viel zu großen Niedriglohnsektor, die es zu spüren bekommen werden, wenn Unternehmen Flüchtlinge für Lohndumping missbrauchen. Auch das könnten Sie verhindern: durch Erhöhung des Mindestlohns und Abschaffung der Ausnahmen, durch Verbot von sachgrundloser Befristung, Leiharbeit und dem Missbrauch von Werkverträgen.

Es ist die Verantwortung der Politik, dafür Sorge zu tragen, dass die Integration nicht zu einer neuen Welle von Lohndumping und Sozialabbau führt. Denn wer das zulässt, nährt genau die Ängste und Ressentiments, die rechten Hasspredigern den Boden bereiten. Ist ihnen Ihre schwarze Null wirklich so heilig, dass sie dafür in Kauf nehmen, braune Nullen beim Stimmenfang zu unterstützen? Ich finde das unerträglich.

Zumal sie ja noch nicht mal Schulden machen müssten. Ohne ihre absurde Steuerpolitik, ohne all die Steuergeschenke für die oberen Zehntausend, ohne Ihre Untätigkeit bei der Verhinderung von Steuerflucht hätten Bund, Länder und Kommunen heute ganz andere Spielräume.

Die wirklich teuren Flüchtlinge, das sind nicht die, die vor Krieg und Terror fliehen. Die wirklich teuren, das sind die Steuerflüchtlinge, das sind die Konzerne und reichsten Familien, die mit tausend Tricks die öffentliche Hand in Deutschland jedes Jahr um bis zu 100 Milliarden Euro prellen.

Sorgen Sie für eine ordentliche Besteuerung der großen Vermögen und machen Sie die Grenzen dicht für Steuerflüchtlinge, statt die Kosten für die Integration ausgerechnet auf den Teil der Bevölkerung abzuwälzen, der durch ihre Politik schon in den letzten Jahren ständig an Wohlstand verloren hat.

Nur wenn das Gefühl, es geht bei uns gerecht zu, sich wieder einstellt, nur dann werden „wir es schaffen“, die Integration zu leisten und die Willkommenskultur zu erhalten.“[7]

Anhang – Links

[1] http://www.mckinsey.com/insights/public_sector/behind_the_german_jobs_miracle

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/46/46058/

[3] http://www.fr-online.de/flucht-und-zuwanderung/bamf-holt-unternehmensberatung-mckinsey-soll-fluechtlingsamt-beraten,24931854,31865664.html

[4] http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/presse/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen-Archiv/2015/Q3/pm-20150920_sd18_fluechtlinge.html

[5] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45889/

[6] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/kommentar-fluechtlinge-fuer-die-rente-13816239.html

[7] http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2194.die-wirklich-teuren-fluechtlinge-sind-die-steuerfluechtlinge.html

Jochen

Erinnerungen an die Zukunft: Kommentar einer Arbeitsamtsmitarbeiterin 2005

Dieser in der taz am 29.08.2005 erschienene Beitrag ist von einer erschütternden Zukunftsweitsicht.
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/08/29/a0180
Er ist es wert nachgelesen zu werden. Im Pronzip braucht er nur eine einzige Ergänzung, um aktuell zu sein.
Auszüge:

Produktion von Parias

 Bericht aus den Eingeweiden der Arbeitsagentur

VON GABRIELE GOETTLE

„Was für ein glücklicher Tag für alle Arbeitslosen.“ Peter Hartz

Die Vorläufer der Arbeitsämter wurden im Aufwind der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung bereits Ende des 19. Jahrhunderts von der ersten Frauenbewegung gegründet.
Ziel war die Berufsförderung von Frauen und Hilfe für die Arbeitslosen. Staatliche Arbeitslosenpolitik realisierte sich erst 30 Jahre später:

1927 wurde die Reichsanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung gegründet, um das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern.

1933 Gleichschaltung d. Reichsanstalt, Abschaffung d. freien Berufswahl zu Gunsten d. „Lenkung der Arbeitskräfte“, (Einführung v. Arbeitsdienst usw.)

1938 Einführung d. Arbeitspflicht. Nach Kriegsbeginn waren die Arbeitsämter auch i. d. überfallenen und besetzten Ländern für Rekrutierung, Organisation u. Verteilung der Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft im Reich zuständig.

1952 Neugründung der Bundesanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung.

1969 Mit d. Verabschiedung d. Arbeitsförderungsgesetzes (mehr Dienstleistungsbehörde) Umbenennung i. Bundesanstalt für Arbeit (mit neuem roten Logo A)

2004 Im Rahmen der Umsetzung d. „3. Gesetzes f. moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV) Umbenennung u. Umorganisierung d. Anstalt in eine Bundesagentur für Arbeit. Kürzung d. Leistungsdauer aus d. Sozialversicherung, Zusammenlegung v. Arbeitslosengeld u. Arbeitslosenhilfe zum Alg II (einer knapp bemessenen Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau) für alle Langzeitarbeitslosen; Abschaffung d. freien Berufswahl; Zumutbarkeit jeder Arbeit bis an die Grenze zur Sittenwidrigkeit; 1-Euro-Arbeitspflicht; Anwendung repressiver Mittel mit Zwangscharakter. Härtester Sozialeinschnitt i. d. Nachkriegsgeschichte.

Von den 15 (bis auf eine Frau) männlichen Mitgliedern der Hartz-Kommission, die dieses Gesetzeswerk erarbeitet haben, waren mehr als die Hälfte Wirtschaftsmanager.
McKinsey war auch dabei.

Frau K. ist Beamtin, Anf. 60, und arbeitet in einer Arbeitsagentur in einem der alten Bundesländer. Sie möchte aus nahe liegenden Gründen hier anonym bleiben.

„Sie haben angedeutet, dass Sie zahllose schlechte Erfahrungen seit der Einführung von Hartz IV gemacht haben?“
Frau K. sagt heftig: „Nein, ich mache nicht zahllose, ich mache vor allem eine grundsätzliche, hässliche Erfahrung, und das ist die der Würdelosigkeit. Die ist quasi schon per Gesetz so angelegt und zusätzlich wird sie dann noch durch schlecht qualifizierte Kollegen verschärft.
Dem Arbeitslosen ist seine Würde aberkannt worden … das schlägt natürlich auch auf uns zurück, ich habe eine richtige Wut im Bauch! Und da stehe ich nicht alleine.
Aber es sind hauptsächlich die Älteren, die, so wie ich, vor der Pensionierung stehen, die noch die alte BA- Haltung vertreten, also die Haltung aus den 70er-Jahren, wo sich die BA wirklich noch gekümmert hat um die Arbeitslosen. Und auch in den Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit hatten die Vermittler diese – ich will mal sagen – solidarische Einstellung.
Aber seit eine Reform nach der anderen durch die Behörde jagt, seit es immer mehr um die Verschönerung der Statistik geht, um betrügerische Manipulationen, siehe Jagoda usf., weht bei uns ein ganz anderer Wind. Heute ist es so, dass wir ganz unmittelbar zu Mittätern beim Sozialraub gemacht werden.
Das Ganze wird als größte Arbeitsmarktreform Deutschlands angepriesen, von zwei Millionen neuer Arbeitsplätze war die Rede, ,fördern und fordern‘ lautet die Devise.
Wo gefördert wird in diesem Land, haben wir gesehen, als gleichzeitig mit Hartz IV die 3. Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen wurde. Unten jedenfalls wird ,gefordert‘.

Das Ganze ist zugleich auch eine Vereinigung von zwei Behörden, sozusagen, denn durch den Kompromiss sind die Kommunen mit ins Boot genommen worden.
Das hat natürlich zu enormen zusätzlichen Kosten und Chaos geführt. Mitarbeiter aus den Sozialämtern und viele Mitarbeiter aus der Arbeitsagentur wurden für Hartz IV in die neu geschaffenen ARGEs (Arbeitsgemeinschaften zur Grundsicherung für Arbeitssuchende, oder Arbeitsgemeinschaft SGB II) umgesetzt, dazu kamen noch mal 3.000 Hilfskräfte aus den kurz vor der Pleite stehenden ehemaligen Betrieben, Telekom, Deutsche Bahn, Deutsche Bundespost, da gibt’s ja einen riesigen Beamtenpool, für den man bisher keine Verwendung hatte, nach der Privatisierung. Und so kam es, dass ein beamteter Starkstromtechniker aus Wuppertal plötzlich in Berlin als Sachbearbeiter auftauchte, nach einer Kurzschulung.
In den ARGEs besteht das Riesenproblem vor allem darin, zwei Arbeitskulturen aus zwei unterschiedlichen Behörden zusammenzuführen. Das hat es ja noch nie gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik, dass kommunale und Bundesbehörden zusammengeführt werden.
Und wie es bei Beamten ist, einer kämpft gegen den anderen, die eine Arbeitskultur kämpft gegen die andere, angefangen mit der Frage, wie man eine Akte führt, und wer das Sagen hat. In den Händen der BA war das Ganze ja eine glasklare, professionelle Angelegenheit. Damit ist es vorbei.

Die Zeit vom Juni bis Dezember 2004 war der reinste Horror, die Bearbeitung der ersten Anträge auf Alg II, also auf das Arbeitslosengeld II. Es musste in großer Geschwindigkeit gearbeitet werden, Anträge durchsehen, sind alle Unterlagen vorhanden – das ist ja ein 16-seitiger Antrag, zu dem vielfältige Unterlagen beizubringen sind.
Und die Auflage aus Berlin: Am 3. Januar müssen überall die Gelder auf den Konten sein, damit kein politisches Desaster entsteht! Unter diesem Zeitdruck ist unheimlich schlampig gearbeitet worden, es gab 15 Prozent und mehr Ablehnungen. Innerhalb der BA gab es eine heftige Leistungskontrolle, täglich wurde Statistik geführt über die Antragsbearbeitung.
Es wurden Sonderschichten eingeführt, auch Wochenendarbeit, und es gab diese irrsinnigen Probleme mit der Software, die ja bis heute nicht läuft. Also, dass der Laden nicht vollkommen zusammenbrach, ist nur den Mitarbeitern zu verdanken. Und ein kleiner Teil ist hoch motiviert, der denkt trotz aller Überlastung an die Leute draußen.
Ein Hardliner in der Behörde, der kann diesen Übergangszustand nutzen für Härte und Strenge und zum Vorführen der Kunden – wir nennen die Arbeitslosen nämlich Kunden.
Die wohlmeinenden unter den Kollegen können, in aller Stille, die gesetzlichen Vorschriften im Sinne des Kunden auslegen. Die Machtbefugnis ist erschreckend groß.
Also der Punkt ist, und das muss man einfach sagen, der Charakter eines Mitarbeiters entscheidet unter Umständen über Leben und Tod, er kann einen Suizid auslösen.
Er kann jemanden depressiv machen oder einen potenziellen Gewalttäter durch Demütigungen zu einer tickenden Zeitbombe machen. Er hat die Macht, Schicksale zu erzeugen.
Und der andere Punkt ist der Druck, unter dem diese ganze Angelegenheit steht, auch unter dem Druck, die Wahrheit zu verheimlichen. So entsteht ein scharfer Korporationsgeist, wie bei der Polizei, Kritik wird nicht geduldet. Das ist unerträglich! Der politische Druck wird, ausgehend von Berlin, auf die Spitze der Behörde ausgeübt und von da weitergegeben, bis ganz nach unten, bis zum Kunden letztendlich. Und der schweigt und ist erschüttert.

Jeder, der mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann, gilt als ,erwerbsfähig‘, das ist sozusagen ein Hauptbestandteil von Hartz IV. Und dadurch, dass es für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger keine Sozialhilfe mehr gibt, sondern Alg II, wurden plötzlich ca. 90 Prozent der Sozialhilfeempfänger, auf einen Schlag sozusagen, zu erwerbsfähigen Arbeitslosen.
Man war stolz auf den Rückgang der Zahl an Sozialhilfeempfängern um 90 Prozent.
Dass durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe natürlich die Arbeitslosenstatistik enorm steigen wird, hat man offenbar nicht erwartet. Da gab’s Geschrei.
Man wollte einfach nicht sehen, die Leute waren ja schon vorher arbeitslos! Es hat aber keinen interessiert, sie waren ja unsichtbar, zu Lasten der Kommunen.
Dazu kommt die Masse der Leute, also der Arbeitslosen, die bisher Arbeitslosenhilfe bezogen haben -Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wurden ja nach SGB III abgehandelt – also die bekommen jetzt auch Alg II. Nur für die Anspruchsberechtigten gibt es weiterhin Arbeitslosengeld I nach SGB III, aber die Anspruchsdauer hat sich stark verringert – auch hier hat man eine dicke Salamischeibe abgeschnitten im Rahmen der Umverteilung von unten nach oben.
Ausgenommen sind für eine Übergangszeit die über 58-Jährigen, sofern sie nach Paragraf 428/SGB III unterschrieben haben, das heißt, sie konnten Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe zu „erleichterten Bedingungen“ beziehen, also Urlaubsanspruch, keine Meldepflicht, keine Eigenbemühungen usw., und dafür müssen sie a) zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente gehen und b) als ,Arbeitssuchende‘ weiterhin den Vermittlungsservice der Agentur in Anspruch nehmen, das ist nur so pro forma.
Worum es eigentlich geht, die sind dadurch außen vor, die zählen nicht mehr als Arbeitslose, sondern nur noch als Arbeitssuchende. Das ist der statistische Trick, die fliegen aus der Statistik raus! Dann kommen noch dazu all diejenigen, die in einer Trainingsmaßnahme sind, Leute in Fortbildung und Umschulung.
Die dritte Gruppe, die aus der Statistik verschwindet, ist die mit den 1-Euro-Jobs, der ,Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung‘ Paragraf 16 Abs. B SGB II, wie die Euro-Jobs im Amtsdeutsch heißen – oder auch nur Arbeitsgelegenheiten, Aktiv-Jobs, Zusatz-Jobs, es gibt bundesweit keine Sprachregelung. 200.000 Arbeitslose wurden bereits in 1-Euro-Jobs vermittelt, 600.000 sollen es werden, bundesweit.

Bevor ich näher auf die 1-Euro-Jobs eingehe, möchte ich kurz noch was zum Alg II sagen, nur so zum Grundverständnis. Also die Regelleistung beträgt 345 Euro in den alten Bundesländern einschließlich Berlin Ost, und 331 Euro in den neuen Bundesländern, für einen Singlehaushalt. Diese Kosten trägt der Bund. Die Kosten für die Unterkunft, die maximal 50 Quadratmeter, bei selbst genutzten Eigentumswohnungen 120 Quadratmeter, haben darf für eine Einzelperson, werden von den Kommunen getragen – bis auf die Ausnahmen der Optionskommunen, die noch beides machen. Die Kosten der Unterkunft setzen sich aus Miete und Heizkosten zusammen, plus der üblichen Betriebskosten. Die Kaltmiete soll den Betrag von 245 Euro nicht überschreiten. Die Kosten für Haushaltsstrom und Warmwasserzubereitung sind übrigens in der Regelleistung von 345 Euro bereits enthalten, was ja eigentlich eine Wohnung mit Bad überflüssig macht. Ist ein Bad angemessen? Das müssen Sie selbst entscheiden.
Angemessen ist eines der meistgebrauchten Wörter. Angemessen im Vergleich wozu? Das Wort ist aus der Sozialhilfe mitübernommen worden.
Angemessen ist für jeden Langzeitarbeitslosen künftig der Haushalt eines Sozialhilfeempfängers, weil er dem Alg II zugrunde gelegt wurde. Im Moment gibt es noch zahlreiche Erleichterungen, Zusatzleistungen, Übergangsregelungen, aber ab 2006 ist das vorbei, dann wird es ernst.
Man hat zwar beteuert, man wolle Härten vermeiden, aber gerade die Härten sind ja das Grundprinzip der ,Arbeitsmarktreform‘, die Privatisierung der sozialen Risiken ist auf dem Weg!
Und Alg II ist ja keine Versicherungsleistung, sondern eine steuerfinanzierte … Fürsorgeleistung will ich es mal nennen, ein Almosen eigentlich.
Und Fürsorgezöglinge bzw. Almosenempfänger dürfen sich nicht wundern, wenn sie hart rangenommen werden. Eines der vier Kriterien für Alg II ist ,Hilfsbedürftigkeit‚.
Ein ,EHB‘, also ein erwerbsfähiger Hilfsbedürftiger, der um Almosen ansucht, kann sich nicht gleichzeitig hinstellen und sagen, ich möchte also weiter als Kunstpädagoge arbeiten, das habe ich studiert … Ja soll denn die Allgemeinheit Ihre luxuriösen beruflichen Erwartungen finanzieren, diese Zeiten sind vorbei, Sie müssen sich jetzt schon auch die Finger schmutzig machen, wie jeder andere auch! So. Das zum Beispiel meinte ich mit der Würdelosigkeit.
Also der Hebel, an dem die ganze Sache psychologisch funktioniert, ist ,Hilfsbedürftigkeit‘ und ,Almosenempfänger‚, mit diesem moralischen Druck stopft man den Leuten das Maul.

Also man bekommt diese Sozialleistung nur dann, wenn man hilfsbedürftig ist, und zwar mit der Auflage, diese Hilfsbedürftigkeit durch egal was – wenn nicht aufzuheben, dann wenigstens zu mindern, sozusagen als Gegenleistung, denn es gehört sich einfach so. Zumal es für alle erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen ja auch noch die ,soziale Absicherung‘ gibt.
Auf der Basis der Mindestbeiträge wird von der BA Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung abgeführt, was natürlich das Problem endlos nach hinten verlängert.
In den Job-Centern, in den ARGEs weiß man natürlich genau, dass es, außer für ein paar gesuchte Fachkräfte, keine Arbeitsstellen gibt. Also wird der Kunde, ohne Ansehen der Person sozusagen, in eine Maßnahme nach Paragraf 16 Abs. 3 SGB II gesteckt, in eine Arbeitsgelegenheit, den 1-Euro-Job, beziehungsweise wird in der Behörde gern vom Aktiv-Job oder Zusatzjob gesprochen.
Bleiben wir bei 1-Euro-Jobs, es handelt sich hier um subventionierte Arbeitsverhältnisse, wirklich sinnvoll daran ist lediglich die Sache ,Zusatzjobs und Bildung‘, also wo junge Leute, oft ohne Hauptschulabschluss und Arbeitserfahrung, gefördert werden und rauskommen aus der Lethargie des Nichtstuns. Für viele andere Kunden stellt es sich als 1-Euro-Arbeitsdienst dar.
Als pure Maßnahme. Die so genannten Maßnahmeträger sind meist die Kommunen, Kirchen, Vereine, Wohlfahrtsverbände, Archive, Denkmalpflege, Umweltschutz usw., die können bei den Job-Centern Arbeitskräfte anfordern, für all die Tätigkeiten, die zwar wichtig und notwendig sind, aber auf Grund des Niederganges dieser Republik schlicht und einfach nicht mehr finanziert wurden und sich selbst überlassen waren.
Es gibt so eine Positiv-negativ-Liste – diese Arbeiten sollen nach dem Gesetz ja ,zusätzlich‘ sein und keinen regulären Arbeitsplatz gefährden oder ersetzen – da wurde, in Absprache mit den Handwerkskammern, Unternehmerverbänden, der Wirtschaft, den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden eine Liste erstellt, welche Beschäftigung als Zusatzjob in Frage kommt, und welche nicht. Es gibt nur wenige, die nicht in Frage kommen. Das Kriterium ,im öffentlichen Interesse‘ und ,gemeinnützig‘ lässt sich ja beliebig ausdehnen.
Aus der Arbeitslosenarmee wird so unter der Hand eine Billiglohn-Reservearmee, so wie die Wirtschaft sie braucht. Wir machen dann also mit dem Kunden eine so genannte Eingliederungsvereinbarung über den Zusatzjob, die gilt für 6 Monate, kann verlängert werden, 30 Wochenstunden sollen nicht überschritten werden, damit noch, man höre, Zeit bleibt für Bewerbungen. Und das Schöne, sobald die alle in so einem Zusatzjob sind, gelten die nicht mehr als arbeitslos, sie sind nur ,Arbeitssuchende‘ und werden somit aus der Statistik rausgenommen.

Und damit das auch wirklich klappt, hat man Zumutbarkeitsregelungen erlassen, also zumutbar ist jedem Erwerbsfähigen jede Arbeit, auch bei stark untertariflicher Entlohnung bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit. Zumutbar für reguläre Jobs ist Mobilität bis in ein anderes Bundesland, auch Pendelzeiten bis zu drei Stunden täglich sind zumutbar, wenn Arbeit dadurch zu bekommen ist. Die 1-Euro-Jobber, die den Zumutbarkeitsregelungen besonders unterworfen sind, dürfen als kleinen Anreiz die volle Summe des Zuverdienstes behalten, während die Zuverdienstregelung sonst bei maximal 30 Prozent liegt.
Falls aber das Zuckerbrot nicht zieht, dann haben wir ja noch die Peitsche in Form der Sanktionen, die regelwidrigem Verhalten und unverschämtem Anspruchsdenken ein Ende machen. Wer zum Beispiel die Eingliederungsvereinbarung verweigert, dem wird sie per Verwaltungsakt festgesetzt und es kommt zu einer 30-prozentigen Leistungskürzung.
Bis 100 Prozent bei weiteren Weigerungen. Jugendlichen wird rigoros alles gestrichen. Kosten für Unterkunft und eventuellen Mehrbedarf (bei Diabetes usw.) bleiben erst mal unberührt, schon um Obdachlosigkeit zu verhindern. Jede Strafe gilt für drei Monate. Es können Sachleistungen, Lebensmittelscheine beantragt werden, aber das wird dem Kunden nicht unter die Nase gehalten, wer’s nicht weiß, muss verzichten. Also es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, eine Arbeit zu verweigern, außer Sie sind physisch oder psychisch krank, sind also nicht diese Mindestzeit von drei Stunden täglich erwerbsfähig, dann wird das erst mal überprüft, die Behörde hat einen eigenen medizinischen und psychologischen Dienst, da haben Sie sich vorzustellen zur Untersuchung.
Und egal, was an Gutachten von Hausärzten usw. existiert, was an Befunden vorliegt, Sie werden von diesem medizinischen Dienst überprüft und begutachtet. Befindet man Sie als erwerbsunfähig, sind Sie ein Fall fürs Sozialamt, das gibt es für die Nichterwerbsfähigen ja nach wie vor; und für ältere und alte Frauen zum Beispiel, die ganz fürchterlich kleine Renten bekommen, die alle bekommen ,Sozialgeld‘, so heißt es jetzt.

Ich möchte noch hervorheben, dass der typische Alg-II-Empfänger, der EHB, der erwerbsfähige Hilfsbedürftige, längst nicht mehr der stark tätowierte Kunde ist, der mit der Bierflasche in der Warteschlange steht, nein, das ist die Krankenschwester, die Kindergärtnerin, die Verkäuferin, das ist der Industriekaufmann, der kleine Selbstständige. Denn es trifft vermehrt auch den Mittelstand, und zunehmend kommen auch Führungskräfte und Akademiker, die alle dem gleichen Ritual unterworfen werden. Und diese Gruppe ist natürlich von Hartz IV besonders getroffen, denn das gehörte bisher eher nicht so zu den Lebenserfahrungen in diesem sozialen Milieu.
Also stellen Sie sich eine Führungskraft vor, die durch eine Übernahme oder eine Fusion plötzlich ausgebootet wurde, und weil er schon zu alt war, auch keinen Posten mehr gefunden hat. Also die Tür geht auf und da kommt dieser typische erfolgreiche Businessman, wie man ihn von Bildern kennt, der kommt herein, Anfang 50, seit eineinhalb Jahren arbeitslos, jemand, der niemals mit der Bahn zur Arbeit gefahren ist – aber Sie können sich ebenso gut einen Journalisten, einen Arzt oder Juristen denken – und der Mann hat natürlich ein entsprechendes Auto, die entsprechende Wohnung, war vielleicht Kunstliebhaber oder bibliophil, hat kleine Schätze, die entsprechende Wohnung, den entsprechenden Lebensstandard, zwei Kinder auf der Uni, geschieden. Und dieser Mann muss nun einen Antrag auf 345 Euro im Monat stellen, und alles offen legen, alles vorlegen! Er weiß, seit dem 1. Mai gibt es kein Bankgeheimnis mehr. Er hat eine 150 Quadratmeter große Luxuswohnung zur Miete. Er hat Zeitungs- und Buchabos, er geht aus, ins Theater, in die Oper usw., das alles konnte er als Empfänger von Arbeitslosengeld und auch bei der abgestuften Arbeitslosenhilfe zahlen, denn er bezog den Höchstsatz. Mit Hartz IV ist das vorbei. Nun sind all seine Bilder, seine wertvollen Gegenstände und Besitztümer ,in Geld messbare Güter‘, die zu berücksichtigen sind bei der Anrechnung aufs Vermögen, die auf dem ,ortsüblichen Markt‘ veräußert werden müssen. ,Angemessener‘ Hausrat kann behalten werden, also Gegenstände, die zum Wohnen und zur Haushaltsführung ,nötig und üblich‘ sind.
Unter 58 dürfen Sie ein frei verfügbares Vermögen von 200 Euro pro erreichtem Lebensjahr haben, was drüber geht, wird auf die Gesamtbedarfssumme angerechnet. Ein ,angemessenes‘ Auto darf man behalten (Wiederverkaufswert von höchstens 5.000 Euro), Aktien, Fondsanlagen usw. müssen aufgelöst und verwertet werden, auch wenn Verluste entstehen. Also unser Mann wird zuerst sein Vermögen aufbrauchen müssen, wenn das auf null ist, dann würde sein Anspruch wieder aufleben. Das ist natürlich der Moment, wo den Leuten die Tränen in die Augen treten.

Ich will Ihnen die prekäre Lage eines Alg-II-Empfängers mal ganz kurz vor Augen führen, von den 345 Euro bleiben nach Abzug der Heißwasser- und Stromkosten, nach Abzug von Fahrtkosten, Bank- und Praxisgebühren, Grundgebühr für Telefon usw. kaum noch nennenswerte Beträge übrig für Lebensmittel, Tabak, Schwimmbad, Friseur. Da können Sie alles streichen, Zeitung, Bücher, Kultur, Kino, Essen gehen, Kleidung, den schnellen Internet-Zugang, Ihr Auto sowieso. Alg-II-Empfänger mit zu teuren Wohnungen haben ein halbes Jahr Zeit zum Umziehen, irgendwo an den Stadtrand oder in eine Hinterhauswohnung. Also das ist kein Leben, mitten im gesellschaftlichen Reichtum, den diese Herren der Hartz-Kommission ja ganz selbstverständlich und im Übermaß für sich in Anspruch nehmen.
Nein, das ist staatlich verordnetes Vegetieren, jenseits vom normalen – noch normalen – gesellschaftlichen Leben. Was dabei herauskommt, ist die Produktion von Parias. Das ist dem Mittelstand und den gebildeten Schichten immer noch nicht klar, dass die Maßnahmen auch sie erfassen können, deshalb wundert mich eigentlich die Ruhe im Lande.

Sie fragen mich, weshalb ich Ihnen das alles eigentlich erzähle? Die Antwort ist ganz einfach: Ich gehöre zu der Generation, die gelernt hat, dass man zum Unrecht nicht schweigen darf, so wie es die Generation unserer Eltern weitgehend getan hat. Und ich habe schon viel zu lange geschwiegen!
Das Problem ist ja nicht neu, das ging ja schon los, als die Massenarbeitslosigkeit unübersehbar wurde, und keiner von uns durfte den Begriff in den Mund nehmen, ich glaube, damals waren es zwei Millionen, am Ende der Ära Schmidt. Und verdoppelt hat Kohl. Schröder hat größtenteils geerbt und die Sache nun vollends in den Sand gesetzt. Die Rot-Grünen hatten die Chance, was wirklich Modernes zu tun: Einführung eines existenzsichernden, bedingungslosen Grundeinkommens. Das Geld ist da und wird verpulvert. Für den Erhalt von vorsintflutlichen Privilegien. Seit 30 Jahren gibt es keine Demokratie mehr. Auch das fing unter Schmidt schon an, dass ein kanzlerdiktatorischer Staat durchgezogen wird, dass die Verfassung permanent unterhöhlt wird, durch höchstrichterliche Beschlüsse in Karlsruhe, die die Krisenentscheidungen einer der drei Gewalten immer wieder verfassungsmäßig absegnen. Auch das, was der Bundespräsident jetzt zu den vorgezogenen Wahlen gesagt hat, war windelweiches Absegnen. Gleichzeitig gibt der Staat durch Privatisierung viele seiner ureigenen Aufgaben auf, ohne sich legitimieren zu müssen, wozu er denn eigentlich noch da ist in Form einer schwerfälligen, teuren, ineffizienten Bürokratie und Behördenqualle. Es gibt Gerüchte, dass sich die hohen Herren von Gerling und Allianz in Nürnberg die Klinken in die Hand geben, es geht um die Privatisierung der Arbeitslosenversicherung, um die Privatisierung der Bundesagentur letztlich. Zu all dem darf man einfach nicht schweigen, es belastet mich. Ich bin ja nicht gerade eine Revolutionärin, aber ich habe eigentlich ein ganz klares, nennen wir’s mal ,christlich-protestantisches‘ Weltbild, und da geht es zentral um so was wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität.

Und deshalb sehe ich natürlich jeden Tag rot, wenn so eine gewaltige Fehlentscheidung wie Hartz IV von uns Beamten durchgeboxt werden soll. Wir wissen genau, es gibt keine Arbeitsplätze, aber ich stehe unter dem Leistungsdruck, bestimmte Vermittlungszahlen, pro Vierteljahr, pro Halbjahr, pro Jahr zu erbringen. Also bin ich auf das Wohlverhalten, die Fügsamkeit des Kunden total angewiesen. Und dieses Wohlverhalten erzeuge ich, indem ich meinerseits Druck ausübe, oder, was fast noch schlimmer ist, indem ich den Kunden wie einen Menschen behandle. Was aber eigentlich anzustreben ist, er muss vermittelt werden. Und da gibt es eben die ,vermittlungsrelevanten Merkmale‘, die datenmäßig erfasst werden. Es gibt Schlüsselkennziffern, mit denen auch jedes Gespräch, das stattfindet, festgehalten wird, und hinter so einer Kennziffer steht zum Beispiel, ich habe dem Kunden einen Vermittlungsvorschlag für einen Zusatzjob ausgedruckt, damit ist der Tatbestand ,Vermittlungsangebot‘ bereits erfüllt und geht in die Statistik ein, der nächste Schritt ist natürlich, dass der Kunde auch in die Maßnahme eingeschleust wird und aus der Arbeitslosenstatistik verschwindet. Und unsere Auflage ist nun, so viel wie möglich vermittlungsrelevante Merkmale zu erzeugen, denn bis zum 30. 12. sollen alle unter 25 in einer Maßnahme drinstecken, und die über 25 sollen auch vermittelt werden, wie soll das gehen? Achtzig Prozent der Arbeit, die wir täglich machen, geht in die Bewältigung von Verschlüsselung, in die Herstellung der Statistik! Dabei sollen wir uns ,intensiv‘ um die Arbeitslosen kümmern, Fakt ist aber das reinste Chaos in den Jobcentern bundesweit. Gedränge, Schlangen, lange Wartezeiten, überlastete und genervte Sachbearbeiter, verschwundene Akten und Unterlagen, kaum Auskunft, dauernd besetzte Telefonleitungen.

Es gibt so genannte Taktzeiten. In den ,Kundenzentren‘, zu denen bis Ende 2005 alle Arbeitsagenturen verwandelt werden sollen – sieht dann aus wie bei den Banken – sind nur noch drei Minuten vorgesehen, in denen der Kunde abgefertigt sein muss. Für Antragsteller gibt es noch 15 bis 30 Minuten, für den Erstantrag, für 16 Seiten! Wenn’s absehbar ist, er braucht länger, dann nach Hause schicken mit Merkzettel über das, was fehlt, und: ,Der Nächste bitte!‘. Aller Druck, alles, was die Behörde grundsätzlich nicht fähig ist zu leisten, wird gnadenlos auf den Kunden abgewälzt. Und es entsteht auch dadurch so eine brutale Überheblichkeit, die in den internen Gesprächen immer wieder zum Vorschein kommt: Keiner von denen will in Wirklichkeit arbeiten, die wollen nur die Kohle, alles notorische Arbeitsverweigerer, ja wissen denn die Arschlöcher immer noch nicht, dass jede Arbeit zumutbar ist? Bei mir haben die nichts zu lachen, da heißt es fordern! Das ist so der Tenor, und leider muss ich sagen, sind dabei die Frauen die Schlimmeren, zu 80 Prozent bestimmt. Aber es gibt eben auch die andere Seite, die Kritischen, und das werden immer mehr nach dem ersten Schreck über den völligen Umbau der Bundesanstalt. Es ist einfach nicht zu übersehen, was los ist, was vor sich geht. Das Ganze ist ja von Wirtschaftsleuten nach wirtschaftlichen Kriterien kreiert worden, es soll unternehmerisch gedacht und gehandelt werden, marktorientiert. Der Bismarck’sche Sozialversicherungsstaat wird in einen Almosenstaat verwandelt, die sozialversicherten Arbeitslosen in ein Heer von Almosenempfängern und billigen Dienstleistungssklaven. Die können ja keinen ,sozialen Frieden‘ mehr gefährden.

Und was uns, die BA betrifft, unser Unternehmensauftrag ist offiziell Arbeitsvermittlung. Aber nicht die Vermittlung von Arbeit ist das Ziel.
Das eigentliche Unternehmensziel ist der Selbsterhalt der Behörde – wie überall – wenn möglich, die Vergrößerung der Behörde durch bürokratische Mastkuren.
Denn eigentlich macht sie primär eins: Sie macht Statistik. Ihr Auftrag ist, eine positive Statistik zu produzieren. Und so wird sie ganz automatisch zu einer Maschinerie des Betrugs und Selbstbetrugs.
Mit einem riesigen Apparat an Personal, Material, Geld, Gebäuden, Kunden, Fragebögen, Akten kümmern wir uns energisch um die Verbesserung der Arbeitslosenstatistik.
Was ja der reinste Wahnsinn ist, angesichts von inzwischen über sechs Millionen Arbeitslosen – also ich rechne über den Daumen gepeilt die herausgerechneten Arbeitslosen wieder mit rein. Solche Zahlen hatten wir das letzte Mal 1933 und wir wissen, wozu sie geführt haben.
Aber darüber darf nicht gesprochen werden, auch nicht intern, höchstens mal im kleinen Kollegenkreis, oder mal privat mit Kolleginnen, das grenzt nämlich an Hochverrat, und deshalb ist das Thema einfach tabu.
Es ist doch ein Skandal, dass kein einziger von den entscheidenden Leuten es wagt, sich hinzustellen und zu sagen: Okay, wir ziehen das jetzt rigoros durch und wir machen das, weil wir es so haben wollen, nicht weil mit Hartz IV Arbeitsplätze entstehen. Basta! Das wagt keiner.
Das mit den versprochenen Arbeitsplätzen ist natürlich eine Illusion. Es gibt keine Arbeitsplätze und es wird auch keine geben. Nie mehr!
Keiner kennt dieses Dilemma besser als die Behörde.

Das ist die aktuelle Anmerkung: Es gibt mittlerweile diese Arbeitsplätze.
Prekäre Arbeitsplätze, die dann wieder aufgestockt werden müssen.

Jochen