Wer hat die Macht in Russland? Aktuelle Analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wer-hat-die-macht-in-russland/
Auszüge:
Von Lutz Brangsch
Putins Macht ist stabil, doch der Kriegskurs ist umkämpft und gerät vor allem von rechts unter Druck.
Eine Veränderung der Eliten scheint weit wahrscheinlicher als eine Bewegung von unten.

Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine stellt sich die Frage, was damit eigentlich politisch bezweckt wird. Damit eng verbunden ist die Frage, wer eigentlich hinter dieser Entscheidung stand und wer nicht. Inzwischen ist weitgehend klar, dass sie in einem relativ kleinen Kreis gefällt wurde. Selbst in wichtigen Think Tanks wie dem Europainstitut der Russländischen Akademie der Wissenschaften hatte man mit diesem Schritt offensichtlich nicht gerechnet, er wurde nicht einmal diskutiert.
Die Initiative kam aus Kreisen der Sicherheitsapparate – selbst das Außenministerium soll nicht einbezogen gewesen sein. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer eigentlich die einflussreichen politischen Akteure in Russland sind, was ihre Haltung und ihre Interessen in diesem Krieg sind und wer den Kriegskurs Putins herausfordern könnte.

Verschiebungen im Machtzentrum

Die entscheidenden intellektuellen Stichwortgeber*innen des Krieges gruppieren sich seit dem Beginn des Angriffs um die Hochschule für Ökonomie in Moskau (VŠĖ/ВШЭ), den Valdai-Club und Russland in der globalen Welt, einer Schwesterzeitschrift von Foreign Affairs.
Indem einige unmittelbar mit der Regierung verbundene Beratungsgremien neu besetzt wurden, hat das Machtzentrum sein Umfeld neu sortiert. Das Zentrum selbst hat sich jedoch nicht verändert. Es liegt über die gesamte Putin-Ära unverändert im Sicherheitsapparat. Freilich ist es auf Akteure in Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft angewiesen, die Entscheidungen vorbereiten, interpretieren und umsetzen und nicht zuletzt auch über die Finanzierung jeglicher Politik entscheiden.
Das Zentrum und sein Umfeld müssen nicht zwingend monolithisch sein. Doch aktuell sind keine wesentlichen Brüche sichtbar. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass das Machtzentrum in den letzten Jahren sein Umfeld von Elementen jeglicher Opposition weitgehend entblößt hat, durch Gesetze und Repression, durch ideologische Offensiven und durch erzwungene Emigration. Bereits zu Beginn der 2010er Jahre hatten die Oligarchen der 1990er Jahre ihren unmittelbaren politischen Einfluss weitgehend verloren.
Das Machtzentrum trägt seitdem klar staatsmonopolistischen Charakter und ist durch die Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Macht mit teilweise exorbitantem Reichtum gekennzeichnet. Die Oligarchen gingen, doch die Oligarchie blieb.

Unterschiedliche Kriegsziele

Was ebenfalls geblieben ist, sind die Hemmnisse für eine Belebung der nichtextraktiven Sektoren der Wirtschaft. Diese liegen innerhalb des Landes in der politisch-institutionell befestigten Macht des Finanzsektors und der Rohstoffwirtschaft begründet, außerhalb Russlands im Konkurrenzdruck der technologisch überlegenen Unternehmen, der die Entwicklung der innovativen Sektoren in Russland einschränkt. Aus dieser komplizierten Konstellation ergeben sich auch unterschiedliche Kriegsziele.
Weder geht es um ein großes, konservatives Russland als Selbstzweck noch um die Konservierung eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells. Das Modell des „Großen Russland“, der Konservatismus und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes werden zusammen als notwendig erachtet, um einen eigenständigen Entwicklungsweg beschreiten zu können. Es geht ums Ganze, um die Stellung Russlands in der Welt und seine ökonomische Basis jenseits von Gas, Öl und anderen Rohstoffen. Das ist der Kern des außen- wie innenpolitischen Handelns der Machteliten.
Nur unter diesem Gesichtspunkt wird verständlich, wie die verschiedenen Ansätze von Putins Politik zusammenhängen. Den innenpolitischen Konservatismus sehen die herrschenden Eliten als Mittel der Modernisierung, so absurd dies scheinen mag.

Modernisierung durch Repression

Die Veränderungen der russländischen Eliten folgen dieser Konstellation, sowohl im Machtzentrum wie auch in dessen Umfeld. Die Eliten sehen sich vor der Wahl zwischen einer Neubelebung des Jelzin-Gaidarschen Modells auf der einen Seite, das in der Konsequenz auf eine Abhängigkeit vom westeuropäisch-anglo-amerikanischen Akkumulationsregime mit seinen Konjunkturen hinausläuft, sowie einem konservativ-staatsmonopolistischen Modell auf der anderen Seite, das die antisozialen Aspekte des modernen Neoliberalismus ins Extrem treibt und Modernisierung durch Repression zu erzwingen versucht.

Dabei ist das System durchaus in gewissem Maße flexibel. Zu seinen Eigenarten zählt, , dass jede Richtung ihren „Sandkasten“ hat, ein eigenes Feld, auf dem sie sich frei bewegen kann, wenn sie nicht ausbricht. Das verwirrt westliche Kommentator*innen und führt zu einer eindimensionalen Wahrnehmung der Eliten in Russland, die den Einfluss einzelner Person regelmäßig überschätzt.
Alexander Dugin wird so zum „Hirn Putins“ erklärt, dabei ist er nur einer unter vielen Ideologen – einer, der zwar auffällt, aber seinen Status nur innehat, so lang er sich als nützlich erweist. Nützlich ist er, weil er an russisch-nationalistische Tendenzen anknüpft, die es bereits in den sowjetischen Eliten gegeben hat. Trotzdem ist er deshalb (bislang) ersetzbar. Denn die Doktrin eines russländischen, also auch die nichtrussischen Völker umfassenden Verbundes ist noch immer bestimmend. Das ist angesichts der territorialen Ausdehnung und der wachsenden Bedeutung der Regionen auch nachvollziehbar.

Die Kreise der Macht

Das spiegelt sich in der Struktur des russländischen Herrschaftssystems wider. Es stützt sich in seinem Zentrum hauptsächlich auf drei Machtsäulen: den Sicherheitsapparat, die ökonomischen Eliten der großen privaten und

Staatskonzerne sowie die Finanzwirtschaft und die Zentralbank. Damit wird

versucht, die Erhaltung eines autoritären politischen Systems mit dem Einsatz von finanzkapitalistischen Umverteilungsmechanismen und Ressourcen für die Reindustrialisierung des Landes zu verbinden.
Diese Ziele sind in sich widersprüchlich, insbesondere die neoliberal geprägte Finanzpolitik und die Anforderungen einer innovationsorientierten Industriepolitik sind schwer zu vereinbaren. Die gerade veröffentlichten Ziele der Zentralbankpolitik sehen für die kommenden Jahre keine Stimuli für eine Importablösung oder eine Förderung eigenständiger technologischer Produktionsketten vor.

In einem zweiten Kreis der Macht finden sich die regionalen Eliten. In ökonomischer Hinsicht zählt hierzu das Unternehmertum aus den aufstrebenden innovativen Sektoren, aus dem Agrarbereich und andere, aus verschiedenen Gründen marginalisierte Kapitalfraktionen sowie in einem dritten Kreis die Ideolog*innen verschiedener Richtungen, darunter auch die sogenannte „systemische Opposition“, d.h. die in der Duma vertretenen und sich ausdrücklich als Opposition verstehenden Parteien KPRF (die größte der sich kommunistisch nennenden Parteien in Russland) , Gerechtes Russland und die Liberaldemokraten.

Einen vierten Kreis bilden die Eliten in der Emigration, die sich in den letzten Jahren um Vertreter*innen der höchsten Stufen der russländischen Machthierarchie erweitert haben, deren zukünftiger politischer Einfluss jedoch völlig offen ist.

Konflikte um das „Wie weiter?“

Allerdings sind die Konsequenzen eines Krieges unberechenbar. Die Politik ging im Februar und März von einem schnellen Sieg Russlands aus. Der Krieg wurde zwar technisch und ideologisch vorbereitet, doch er war nie auf Dauer angelegt.
Große Teile der Eliten und der Gesellschaft wurden von diesem Krieg überrascht. Dass sich ein als Polizeiaktion konzipierter Schlag in einen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende verwandelt hat, und dass zugleich ein massives Sanktionsregime ausgebaut wurde, hat die Bedingungen in allen gesellschaftlichen Bereichen verändert.
Die im Exil lebende (und sehr geschäftstüchtige) Analytikerin Tatiana Stanovaja, die in Russland immer noch gut vernetzt scheint, berichtete unlängst von einem sich anbahnenden Streit über das „Wie weiter“ zwischen dem Machtzentrum aus reichen und einflussreichen Technokraten und dem nicht ganz so reichen und einflussreichen Teil der Eliten. Stanovaja sieht allerdings keinen der Akteure als zukünftige Friedenspartei. Der Streit drehe sich allein um die Frage, ob der Krieg forciert oder als begrenzter Krieg fortgeführt werden solle.

Der zentrale Machtzirkel scheint eine begrenzte Kriegführung beibehalten zu wollen. Seine Politik zielt darauf, eine Balance herzustellen zwischen der Stabilisierung der Front im Donbass, einer Forcierung der Importablösung und Erweiterung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu China, Indien und anderen „freundlichen“ Staaten sowie einer sozialen Befriedung nach innen.

Opposition auf Kriegskurs

Demgegenüber vertritt die Opposition überwiegend einen Kurs der Forcierung des Krieges. Nicht nur die Ultra-Konservativen vom Typ Dugin, sondern auch die „systemische“ Opposition fordern, den Krieg auszuweiten.
Im Bündnis mit zweifelhaften Personen wie Denis Pušulin, der den sozialen Protest im Donbas für seine persönlichen Ambitionen nutzen konnte, und Evgenij Prigožin, Milliardär und Chef der Wagner-Söldner, stehen sie für einen noch konsequenteren Kriegskurs.
Ob die Wagner-Söldner fähig sind, einen Putsch gegen Putin durchzuführen, wie in den Medien diskutiert wird, ist zweifelhaft. Allerdings könnte eine Revolte dieser Gruppierung gegen die Militärführung tatsächlich einen Bürgerkrieg auslösen, wenn etwa der tschetschenische Führer Ruslan Kadyrov weitere regionale Führer auf seine Seite ziehe sollte.
All das sind Planspiele mit rein spekulativem Charakter. Doch zwischen dieser Strömung und den russisch-nationalistisch-konservativen Kräften bestehen im Streben nach einem (unmöglichen) Sieg so viele Berührungspunkte, dass sie zu einem politisch wesentlichen Faktor werden könnte.

Zugleich hat die Regierung mit den Änderungen der Gesetze für „ausländische Agenten“ (also Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen sollen) und dem Anti-LGBT-Gesetz den Ultrakonservativen und russischen Nationalist*innen neue Handlungsspielräume verschafft und sie politisch aufgewertet. Die ideologischen Hardliner gewinnen gleichzeitig nicht nur in den Eliten in Russland, sondern auch in denen der Ukraine, der USA und der EU an Gewicht, was eine Lösung immer schwieriger werden lässt.

Kurios ist auch, dass die Führung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) tatsächlich die Auffassung vertritt, dass ein Sieg in der Ukraine letztlich den sozialistischen Umbruch herbeiführen würde. Der Führer der Linksfront und wichtige Bündnispartner der Partei, Sergej Udal’cov verstieg sich Ende März 2022 zu der Prognose, Ende Dezember werde zum 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR ein neuer Einigungsvertrag der ehemaligen Unionsrepubliken unterzeichnet werden.
Eine andere sich kommunistisch nennende Splittergruppe forderte, den Kaufvertrag zwischen den USA und Russland bezüglich Alaska rückgängig zu machen. Ob die Figuranten dieses obskuren Kurses das selber glauben oder nicht, ist hier nicht von Belang, doch sie führen einen Teil der Linken in Komplizenschaft mit dem Kriegskurs der Regierung. Allerdings wird diese Loyalität von der Regierung nicht honoriert. Immer wieder wird von Repressionen gegen Aktivist*innen aus dem Umfeld der KPRF und ihrer patriotischen Front berichtet, wenn sie für soziale und politische Rechte eintreten oder Bildungsveranstaltungen durchführen.

Ein unwägbarer Faktor in der gegenwärtigen Machtkonstellation sind die Regionen. Zwar haben die regionalen Eliten nicht an Macht gewonnen, doch ihre Bedeutung im politischen System ist gewachsen, bzw. es ist immer wichtiger geworden, sie politisch zu kontrollieren.
In den Regionen entscheidet sich, ob die vielen durch präsidiale Dekrete geforderten Maßnahmen zur Importablösung, zur Förderung innovativer Projekte, zur Förderung von Familien oder zur sozialen Absicherung tatsächlich erfolgreich umgesetzt werden.
So wird auf der einen Seite versprochen, die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Regionen zu stärken, gleichzeitig aber wird eine stärkere Zentralisierung politischer Macht diskutiert, etwa die Direktwahl der Bürgermeister*innen abzuschaffen.

Emigrierte Eliten gegen den Krieg?

Noch weniger berechenbar ist die Rolle der emigrierten ehemaligen Eliten. Es wäre naiv zu glauben, sie würden keine Bedeutung mehr haben. Eine enorme Zahl von Telegram-Kanälen und sonstigen Internetressourcen (die in Russland wenigstens über VPN erreichbar sind) nimmt auf die Formierung oppositioneller Strömungen in Russland Einfluss.
Die in Russland verbotenen Plattformen wie etwa Meduza versuchen aus dem Ausland oppositionelle Positionen am Leben zu erhalten. Gleichzeitig sind sie der Kanal, auf dem unzensierte Informationen aus Russland, wenn auch indirekt, in die Weltöffentlichkeit gelangen.
Die Verbindungen der Emigrant*innen zu ausländischen Medien, Regierungen und sicher auch Geheimdiensten, vor allem aber ihre starken Positionen im westlichen Wissenschaftsbetrieb beeinflussen das Verhältnis Russlands zum Rest der Welt und das Verhältnis wesentlicher politischer Akteure zu Russland. Allerdings ist völlig offen, inwieweit sie die Machtkonstellationen tatsächlich verändern können.

In den letzten Monaten haben vor allem zwei Kreise eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erreicht.
Bereits kurz nach Kriegsausbruch hatte Michail Chodorkowski ein Antikriegskomitee gegründet. Der Ex-Oligarch stammt aus dem Milieu der Profiteure der Schocktherapie der 1990er Jahre und versuchte Anfang der 2000er Jahre eine politische Alternative zu Putin aufzubauen. Er verlor den Machtkampf und emigrierte nach einer Haftstrafe. Chodorkowski forderte seine Mitstreiterinnen direkt nach Kriegsausbruch in einem sehremotionalen Videodazu auf, Widerstand zu leisten.
DasAntikriegskomitee umfasst neben Unternehmerinnen auch Journalistinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen und ist eng mit dem Navalny-Umfeld verbunden.
In Teilen der russländischen Öffentlichkeit werden deren Anhängerinnen als Verräterinnen betrachtet. Dennoch konnte diese neoliberale Opposition mit ihrem „Kongress des freien Russlands“, der im Frühherbst in Vilnius stattfand, wesentliche Teile der aktivistischen Antikriegsbewegung erreichen. Der Kongress war getragen vom Antikriegskomitee und konnte mit Rückendeckung und Unterstützung aus dem Europäischen Parlament sowie starker Präsenz von Politikerinnen aus Polen, Estland, Litauen und Lettland viele Emigrantinnen ansprechen. Es versammelte sich eine Vielzahl von Emigranten-Organisationen aus aller Welt, mit starker akademischer Verankerung.
Den Initiativen des Feministischen Widerstands gegen den Krieg, den Media-Partisanen, den Vesna und anderen, die in den sozialen Medien besonders präsent sind, wurde ein eigener Diskussionsraum geboten. Eine Vertreterin des Feministischen Widerstands kritisierte jedoch, die Versammlung erschiene ihr eher wie eine Unternehmenshauptversammlung und nicht wie ein Antikriegskongress. Sie fasst den Kongress als eine erste „Suche nach einer gemeinsamen Sprache“ zusammen.
Die Struktur der Teilnehmerinnen legt nahe, dass die neoliberale Opposition hier ihre Hoffnungen auf einen Putsch unter Beteiligung des Westens durch ein breites Bündnis fundieren will.

Obskur erscheint demgegenüber ein von Il’ja Ponomarjov Ende Oktober/Anfang November einberufener Kongress der Volksdeputierten. Ponomarjov war Mitglied der Duma und emigrierte 2014 im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des Anschlusses der Krim an Russland. Heute unterstützt er bewaffneten Widerstand gegen den Krieg in Russland und betreibt verschiedene Medienkanäle. An dem Kongress sollen vor allem ehemalige Abgeordnete und andere Politiker*innen aus Russland teilgenommen haben. Allerdings scheint die Resonanz gering zu sein.

Erneuerung der Eliten statt Wandel von unten

Auch wenn in den westlichen Medien immer wieder versucht wird, einen Zerfall der politischen Macht in Russland zu suggerieren, gibt es im Moment keine Anzeichen für eine schnelle Veränderung der Machtstrukturen. Die Oppositionsbewegung zu Putins Linie ist zerschlagen, die verschiedenen Gruppierungen in den Eliten sind kastenartig eingebunden und in hohem Maße von der Präsidialadministration abhängig, sodass sich ihre materielle Situation mit einem Umsturz kaum verbessern würde.
Die schon bei Kriegsbeginn dominierende fatalistische Haltung, es möge einfach irgendwie schnell vorbeigehen, motiviert nicht zum Putsch.*) Das Fehlen jeglicher diplomatischer Lösungsansätze des Konfliktes entzieht möglichen oppositionellen Bestrebungen zusätzlich jeden Boden. Diese Perspektivlosigkeit stabilisiert das System.
Aber es ist auch klar, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Immer noch sind die Person und der Präsident Putin untrennbar verbunden. Auch ein starker Apparat kann ihn nicht ohne weiteres ersetzen. Personalentscheidungen und Gesetze behindern zudem, dass Alternativen aufkommen, selbst solche, die die Politik fortschreiben würden.
Die von Putin vertretene Linie der Erneuerung Russlands als innovationsorientierte Industriemacht ist zudem offensichtlich kein geteiltes Ziel der russländischen Eliten. Die Logiken von Macht und Innovation blockieren sich gegenseitig.

Offen ist, wie sich ein Elitenwechsel vollziehen könnte. Die „alte Generation der Oligarch*innen“ wurde politisch ausgeschaltet und noch ist völlig offen, wie sich die neue Generation des Unternehmertums verhalten wird, die im Kielwasser der räuberischen Privatisierungen, durch eine Weiterführung der Schattenwirtschaft in der späten UdSSR oder auf „normal-kapitalistische“ Weise entstanden ist.
Politisch werden sie zurzeit von kleineren Parteien, etwa der Partei des Wachstums (Partija Rosta) vertreten. Da sie nicht mit den dominierenden oligarchischen Strukturen verbunden sind, fehlt es ihren Aktivitäten jedoch oft an Finanzmitteln. Sie dürften von den Sanktionen besonders betroffen sein, würden von einer forcierten Importsubstitution aber unter Umständen auch am meisten profitieren.
Sie gehören auch zu den Gruppen, die eine „Neue Industrialisierung 2.0“ oder auch „4.0“ unterstützen, wie sie von Teilen der akademischen Eliten gefordert wird.

All das deutet darauf hin, dass sich die unvermeidlich kommenden Umbrüche als Bewegung der Eliten abspielen werden und nicht als eine Bewegung des Volkes oder als eine Bewegung der vielfach gespaltenen Linken.
Dennoch bleibt die Unzufriedenheit von unten, weil Druck und Stagnation vor allem in der jungen Generation zu einer deutlichen Ablehnung des Systems führen.
Die Eliten, die den Krieg befürworten, versuchen in Reaktion darauf, Konformitätsdruck für den Regierungskurs herzustellen: über Symbolik, über patriotische Erziehung in Kindereinrichtungen und Schulen, über die Schaffung einer neuen Kinder- und Jugendorganisation und die Belebung patriotischer Inhalte in Kunst und Kultur.
Ob dies vor dem Hintergrund der angestauten Probleme in der russländischen Gesellschaft gelingen kann, ist allerdings zweifelhaft.

*:  Das gilt offensichtlich auch für einen Regierungswechsel in Deutschland.

Mein Kommentar: Die maßgeblichen Leute sind nicht in der Lage, dialektisches Denken anzuwenden.
Sie werden sich als rückwärtsgewandt, d.h. regressiv erweisen.
Aber wo bleibt das Progressive, das auch hier in D so verzweifelt gesucht wird ?

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Russland: Umsturz per Krise ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zu diesem Thema habe ich hier schon früher was eingestellt:
https://josopon.wordpress.com/2014/08/27/schockstrategie-unabhangiges-forschungsinstitut-sieht-die-hauptschuld-an-ukraine-krise-bei-m-westen-ein-russischer-abgeordneter-bekommt-paranoia/
Die Befürchtungen Evgenii Alexejewitsch Fedorows, der Umsturz werde schon im Herbst 2014 in St.Petersburg losgehen, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Noch steht das russische Volk mit großer Mehrheit hinter seiner Führung, wie das »Stratfor«-Chef George Friedman festgestellt hat.

Jetzt aber aktuell auf German Foreign Policy:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59023
Auszüge:

MOSKAU/BERLIN/WASHINGTON
(Eigener Bericht) – Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise in Russland treibt im Westen die Debatte über einen möglichen Umsturz in Moskau voran. Im Zentrum der Planungen stehen dabei die russischen Mittelschichten; Hintergrund ist, dass der Umsturz in der Ukraine, der als mögliches Modell für einen „Regime Change“ auch in Russland gilt, maßgeblich von den Mittelschichten des Landes herbeigeführt wurde.
Könne Moskau deren Einkommen und deren Lebensniveau nicht mehr garantieren, könnten sie der Regierung womöglich die Unterstützung entziehen, vermutet eine Expertin von der „European Foundation for Democracy“ aus Brüssel. Allerdings sei keinesfalls klar, ob ein Umsturz ein prowestliches Regime an die Macht bringen werde.
Beobachter weisen darauf hin, dass Putin zur Zeit nicht nur außergewöhnlich hohe Zustimmungswerte hat, sondern dass außerhalb der Metropolen auch in den Mittelschichten nationalistische, antiwestliche Vorstellungen dominierten. Ein Umsturz biete keine Erfolgsgarantie für den Westen.
Der russische Ex-Oligarch Michail Chodorkowski hat vor kurzem „revolutionäre“ Schritte in Aussicht gestellt – unter Abkehr von einem Machtwechsel „auf demokratischem, sanftem Weg“.
Weil der Westen den ökonomischen Druck auf Moskau aber inzwischen so stark erhöht, dass selbst eine Staatspleite nicht mehr völlig ausgeschlossen wird, drohen die Umsturzpläne sich gegen ihre Erfinder zu wenden: Russlands Kollaps träfe europäische Banken, die in Moskau Außenstände in dreistelliger Milliardenhöhe haben, und könnte die Wirtschaft der EU mit in die Krise reißen.

Die Mittelschichten als Ansprechpartner

Im Zentrum der gegenwärtigen Überlegungen, ob sich ein Umsturz in Russland herbeiführen lässt, stehen die Mittelschichten des Landes.
Dass ein Rückgriff auf diese zum Erfolg führen kann, hat zuletzt der Umsturz in der Ukraine bewiesen: Die „Orangene Revolution“ Ende 2004 wie auch die Majdan-Proteste im Winter 2013/14 wurden maßgeblich von ihnen getragen, wenngleich jeweils bestimmte Oligarchen-Fraktionen den Machtwechsel unterstützten und Anfang 2014 zusätzlich noch gewalttätige Spektren der extremen Rechten benötigt wurden, um die Regierung aus dem Amt zu jagen.
Die aufstrebenden urbanen Mittelschichten sind in Osteuropa allgemein oft in Richtung Westen orientiert, unterstützt beispielsweise durch Kontakte, die sich im Rahmen eines Auslandsstudiums ergeben haben. So konnten allein 2013 beinahe 3.800 Russen mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an deutschen Hochschulen studieren oder forschen.
Ihre oft dominierende kulturelle Orientierung in Richtung Westen tut ein Übriges, um die Mittelschichten auch russischer Metropolen zu bevorzugten Ansprechpartnern Berlins zu machen, das seine Beziehungen zu ihnen unter anderem über parteinahe Stiftungen und NGOs intensiviert.

Loyalität gegen Wohlstand

Unklar scheint zur Zeit, wie sich der aktuelle Machtkampf zwischen Russland und dem Westen auf die politischen Präferenzen der russischen Mittelschichten auswirkt. Diese sind vergleichsweise dünn und wurden während der Proteste gegen Putin im Winter 2011/12, die sie wesentlich trugen, auf – je nach Definition – zehn bis 15, maximal 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt.[1]
Eine im Mai veröffentlichte – umstrittene – Analyse des Soziologischen Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften bezog erstmals Staatsangestellte wie etwa Lehrer und Sozialarbeiter sowie Arbeiter in Staatsbetrieben in die Berechnung ein, weil deren Einkommen unter Putins Präsidentschaft erhöht worden waren; sie kam damit auf einen Anteil an der Bevölkerung von mehr als 40 Prozent. Die so definierten Mittelschichten seien in ihrer überwiegenden Mehrheit der Regierung gegenüber loyal – jedenfalls solange diese entsprechende Einkommen und damit einen annehmlichen Lebensstandard garantieren könne, hieß es in der Untersuchung.
Sei dies aber, etwa wegen einer Wirtschaftskrise, einmal nicht mehr der Fall, dann könnten sich die Mittelschichten rasch gegen die Regierung wenden.[2]
Dem stimmen auch westliche Think-Tanks ausdrücklich zu. Könne Moskau nicht mehr liefern, dann würden die Mittelschichten Putin wohl die Unterstützung entziehen, urteilt Anna Borshchevskaya, eine Expertin der Brüsseler „European Foundation for Democracy“.[3]

Breite Zustimmung zu Putin

Inwieweit das in absehbarer Zeit der Fall sein könnte, ist nicht ganz klar. Die Zustimmungswerte in der Bevölkerung für Putin liegen bei mehr als 80 Prozent; ein Teil der relativ wenigen Unzufriedenen fordert zudem keine prowestliche Politik, sondern einen härteren Kurs gegenüber dem Westen.
Hinzu kommt, dass die russischen Mittelschichten zur Zeit vor allem unter den westlichen Sanktionen leiden [4]; ob sie diese nun Putin ankreiden oder dem Präsidenten zugute halten, dass er die Krim wieder unter russische Kontrolle gebracht hat, ist ungewiss.
Barack Obama und Angela Merkel gelten Umfragen zufolge als die unbeliebtesten ausländischen Politiker.[5]
Einiges deutet darauf hin, dass bei der Mehrheit der Mittelschichten eine prowestliche Präferenz derzeit keineswegs gesichert ist. Bereits Ende 2013 hatte der Moskauer Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen), Jens Siegert, gewarnt, außerhalb der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg teilten die Mittelschichten die liberale Orientierung in Richtung Westen ohnehin kaum; ihre „politischen Vorlieben“ seien teilweise von einem „Führer-Kult“ geprägt, teilweise „deutlich nationalistischer gefärbt“.[6]
Auch bei der „European Foundation for Democracy“ heißt es, man dürfe nicht ausschließen, dass signifikante Teile der Mittelschichten, sollten sie sich von Putin abwenden, sich gegen die Demokratie wendeten und in einem „extremen russischen Nationalismus“ ihr Heil suchten.[7]
Der Westen müsse sich intensiv um die Mittelschichten bemühen.

Nicht demokratisch

Dabei wird die Perspektive eines Umsturzes inzwischen bereits öffentlich thematisiert. Anfang Dezember hat der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski, der Ende 2013 auch dank deutscher Vermittlung aus der Haft entlassen wurde, erklärt, er erwarte „mehr oder weniger“ ein „blutiges Ende des Putin-Regimes“. „Ein demokratisches Modell“, mit dem Putin als Präsident abgelöst werden könne, sehe er nicht: „Es braucht ‚revolutionäre‘ Massnahmen.“[8]
Mit Hilfe einer Übergangsregierung könne der Staat danach umgebaut werden; das „traue ich mir zu, denn ich bin ein Krisenmanager“, wird Chodorkowski zitiert. Danach könne es wieder Wahlen geben.

Zusammenbruch

Düstere Andeutungen hat letzte Woche zudem der prominente russische Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin in einer deutschen Wochenzeitschrift geäußert. Er sei „kein Freund von Revolutionen“, äußerte er, er könne sich jedoch „substanzielle Verbesserungen mit dem derzeitigen Regime“ kaum vorstellen: „Es wird einen Schnitt geben, eine ’nichtstationäre Periode‘ mit Absturz und einer langsamen Erholung.“[9]
Es gehe dabei um „eine Krise, den Zusammenbruch von Wirtschaft und Ordnung“: „Die Kriminalität wird ansteigen, es kann Zusammenstöße verschiedener Volksgruppen geben“. Ein dann an die Macht kommender Staatschef müsse „für Ordnung“ sorgen und „den Staat vor dem Zerfall bewahren“.

Drohender Rückschlag

Vor diesem Hintergrund verschärft der Westen seine Wirtschaftssanktionen und erhöht damit den ökonomischen Druck auf Moskau und auf die Mittelschichten, die zum Handeln getrieben werden sollen.
Allerdings zeigen sich klare Differenzen zwischen EU und USA. Während Washington eine signifikante Verschärfung anstrebt, hat die EU beschlossen, neue Strafmaßnahmen auf die Krim zu beschränken und ihre Wirksamkeit damit deutlich einzugrenzen.
Hintergrund ist, dass Berlin und Brüssel mittlerweile befürchten müssen, von noch exzessiveren Sanktionen selbst hart getroffen zu werden. Ökonomen schließen mittlerweile eine russische Staatspleite nicht mehr aus. Diese jedoch träfe nicht mehr nur deutsche Exporteure, deren Milliardenausfälle sich anderweitig kompensieren [10] oder doch zumindest noch einigermaßen verkraften ließen, sondern auch Großbanken in Deutschland und in anderen EU-Staaten.
Zum 30. Juni beliefen sich die russischen Auslandsschulden auf beinahe 173 Milliarden Euro, von denen 128 Milliarden Euro bei europäischen Banken aufgenommen worden waren. Deutschen Banken sei es zwar gelungen, ihre Außenstände in Russland von 15 Milliarden auf 13,3 Milliarden zu drücken; doch beliefen sich die russischen Kredite bei der Deutschen Bank und bei der Commerzbank noch auf jeweils mehr als fünf Milliarden Euro.[11]
Die Bank Austria sitze auf Forderungen von 14,2 Milliarden Euro, italienische Banken hätten Außenstände von 21 Milliarden Euro, französische Kreditinstitute verzeichneten 37 Milliarden Euro russische Schulden in ihren Bilanzen. Das Risiko eines fatalen Rückschlags der russischen Krise auf Deutschland und die EU gilt unter Fachleuten als erheblich. Aus diesem Grund hat mittlerweile auch US-Präsident Obama angekündigt, die neuen Sanktionen vorerst wohl nicht in Kraft zu setzen.

Mögliche Kurskorrekturen

Angesichts der Tatsache, dass die Umsturzbestrebungen die eigene Wirtschaft massiv zu schädigen drohen, wird in Berlin und Brüssel eine Kurskorrektur nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. „Niemand hat Interesse daran, dass die russische Wirtschaft in eine tiefe Depression stürzt“, hieß es am Mittwoch aus dem Umfeld der EU-Kommission.
„Wir haben kein Interesse an einer ökonomischen Desintegration Russlands“, erklärt der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, Karl-Georg Wellmann (CDU): Bei Bedarf könnten „die Sanktionen … sehr schnell zurückgefahren werden“.[12]
Dabei geht es freilich nicht darum, die Wirtschaft Russlands zu retten, sondern die eigenen Staaten vor schweren ökonomischen Schäden zu bewahren.

Weitere Informationen zum eskalierenden Konflikt zwischen dem Westen und Russland finden Sie hier: Die freie Welt, Urteil ohne Gericht, Wie im 19. Jahrhundert, Die syrische Kröte, Ein Ring um Russland, „Moskaus Drang nach Westen“, Eine Monroe-Doktrin für Osteuropa, Die neue nukleare Eskalationsdynamik, Die geplatzte Pipeline und Die Widersprüche der EU.

[1] S. dazu Deutsch-russische Widersprüche.
[2] Vladimir Ryzhkov: Putin Can’t Afford His Middle Class Base. www.themoscowtimes.com 07.07.2014.
[3] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin’s Approval Ratings Once Russia’s Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[4] Reinhard Lauterbach: Financial Attack. junge Welt 18.12.2014.
[5] Christian Schaudwet: „Germanija“ glänzt in Russland nicht mehr. www.noz.de 21.11.2014.
[6] Jens Siegert: Abseits von Moskau – die etwas andere Mittelschicht. Russland-Analysen Nr. 267, 22.11.2013.
[7] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin’s Approval Ratings Once Russia’s Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[8] „Putin hat sich selber in eine Sackgasse gebracht“. www.nzz.ch 05.12.2014.
[9] Wirtschaftskrise in Russland: „Putin wird sich bis zuletzt an die Macht krallen“. www.spiegel.de 11.12.2014.
[10] S. dazu Schlagkräftige Verbündete.
[11] Europäische Großbanken zittern um ihr Geld in Russland. www.welt.de 17.12.2014.
[12] Dietmar Neuerer: Deutsche Außenpolitiker bieten Russland Hilfe an. www.handelsblatt.com 17.12.2014.

Jochen