Die moderne Firma ist eine Diktatur

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das haben meine Patienten schon lange so erlebt:
https://www.zeit.de/arbeit/2019-02/elizabeth-anderson-unternehmenskultur-egalitarismus-diktatur
Dort auch wichtige Kommentare.
Wir leben in einer Demokratie und verlassen sie jeden Tag, wenn wir ins Büro gehen: Die Philosophin Elizabeth Anderson prangert die Arbeitswelt als Tyrannei an.
Interview: Bernd Kramer 14. Februar 2019, 13:26 Uhr

Auszüge:
ZEIT ONLINE:
Frau Anderson, leben wir in einer Diktatur?

Elizabeth Anderson:
Die meisten Amerikaner leben unter der Diktatur ihrer Arbeitgeber. Denken Sie an die #MeToo-Bewegung, die gezeigt hat, wie verbreitet sexuelle Belästigung im Büro ist. Für mich ist das aber nur die Spitze des Eisberges. Arbeitnehmer erleben am Arbeitsplatz alle möglichen Arten willkürlicher und ihre Würde verletzender Behandlungen.
In Europa mögen Arbeitnehmer besser geschützt sein, aber auch da gibt es sehr verletzbare Gruppen, die leicht zum Opfer werden können, etwa Zeitarbeiter.
Die moderne Firma ist eine Diktatur, eine private Regierung einiger weniger, die nicht gewählt sind, über viele, die keine Mitsprache haben.

ZEIT ONLINE: Aber ein Unternehmen ist etwas anderes als ein Staat. Führt der Vergleich nicht in die Irre?

Anderson: Sicher gibt es Unterschiede. Arbeitgeber können ihre Angestellten ganz offensichtlich nicht wie der Staat ins Gefängnis werfen.
Nichtsdestotrotz: Wir müssen verstehen, dass jede Organisation, die die Aktivitäten ihrer Mitglieder zu koordinieren hat, dafür eine Form der Regierung braucht.
Diese Regierung hat wie jede Regierung eine Verfassung, die demokratisch sein kann oder eben autoritär. Die meisten Firmen tendieren zu einer autoritären Verfassung.

ZEIT ONLINE: Mitarbeiter können immerhin kündigen, wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden sind.

Anderson: Es ist definitiv einfacher, ein Unternehmen zu verlassen als ein Land. Aber das allein reicht nicht aus, um die Rechte der Mitglieder einer autoritären Organisation abzusichern.
Denken Sie an die folgende Situation: Vor dem Ende des Kommunismus gab es innerhalb des Ostblockes zwar die Reisefreiheit. Wer emigrieren wollte, hatte damit aber ausschließlich die Wahl zwischen anderen kommunistischen Diktaturen.
Bei Unternehmen ist es ähnlich. Es gibt in den USA nur sehr wenige wirklich demokratische Firmen, in denen Mitarbeiter das Sagen haben oder zumindest umfangreiche Mitsprache. Die realistischen Exit-Optionen für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind andere Diktaturen.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir auf der Arbeit gewohnt sind, Dinge zu akzeptieren, die wir einem Staat niemals durchgehen lassen würden.

Anderson: Eine Firma hat selbstverständlich andere Anforderungen zu erfüllen als ein Staat. Die Arbeit der Angestellten muss so koordiniert werden, dass ein bestimmtes Produktionsergebnis oder eine bestimmte Dienstleistung erreicht wird.
Der Staat muss seine Bürger nicht für einen bestimmten Zweck koordinieren. Er muss im Wesentlichen die Freiheit der Bürger sicherstellen und dafür sorgen, dass sie einander nicht auf die Füße treten. Vieles läuft daher sehr indirekt.
Für das, was der Staat leistet, muss er nicht das Leben der Menschen acht Stunden am Tag engmaschig dominieren. Der Staat kann es sich also leisten, mit vergleichsweise sanften Eingriffen vorzugehen.

ZEIT ONLINE: Arbeitgeber nicht?

Anderson: Ihre Befugnisse über die Angestellten sind in der Regel weniger klar definiert und umfassender. Effiziente Arbeitsverträge sind unvollständig, sie spezifizieren nicht alles genau, was von einem Arbeitnehmer vielleicht einmal verlangt wird.
Während der Produktion können alle Arten von Eventualitäten auftreten, die nicht vorherzusehen sind und daher auch nicht im Detail im Arbeitsvertrag geregelt sind. Aber mit dieser Macht geht die Möglichkeit des Missbrauchs einher. Bosse können ihren Angestellten leicht alle möglichen Arten von Befehlen geben – selbst solche, die mit der eigentlichen Arbeit nicht mehr viel zu tun haben oder demütigend sind.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Anderson: In den Schlachtbetrieben in den USA arbeiten oft Immigranten, die kaum Englisch sprechen und einfach nur glücklich sind, einen Job zu haben. Eine sehr leicht ausbeutbare Gruppe. Einige Betriebe verboten den Schlachtarbeitern, während der Schichten die Toiletten zu benutzen. Die Arbeiter waren also gezwungen, in Windeln zum Dienst zu kommen. Das verletzt ihre Würde.

ZEIT ONLINE: Was Unternehmen dürfen, wird vom Staat reguliert – und der ist zumindest bei uns demokratisch. Sind diese Diktaturen damit nicht doch in irgendeiner Weise legitimiert?

Anderson: Es reicht nicht, dass wir Demokratie über der Unternehmensebene haben. Die staatlichen Behörden haben nur sehr begrenzte Kontrollmöglichkeiten in einem Land mit Tausenden und Abertausenden Firmen. Die Arbeitswelt ist so vielfältig und fragmentiert, dass die Arbeiterinnen innerhalb einer Firma eine Stimme brauchen. Zumindest in den USA ist das aber äußerst selten der Fall.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben: „Viele Geschäftsführer amerikanischer Firmen, die sich selbst für libertäre Individualisten halten, wären überrascht, sich als Diktatoren einer kleinen kommunistischen Regierung geschildert zu sehen.“ Wie kommt es, dass wir die Tyrannei am Arbeitsplatz übersehen? Warum reden wir, wie es in ihrem Buch heißt, so selten davon, wie die Bosse unser Leben beherrschen?

Anderson: Weil wir eine Idee freier Märkte bewahrt haben, die aus einer Zeit stammt, die mit der heutigen nicht zu vergleichen ist. Wir pflegen einen Liberalismus, der ein Überbleibsel einer früheren Ära ist und uns für die Gegenwart blind macht.
Für Adam Smith und andere Vordenker war der freie Markt ein Befreiungsprojekt, das sich gegen den Obrigkeitsstaat, Leibeigenschaft und das Monopol der Zünfte richtete. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, wirtschaftlich selbstständig zu werden.
Sein eigener Boss zu sein – das war das Versprechen des freien Marktes, nicht Lohnarbeit. Abraham Lincoln sagte einmal, wer sein Leben lang ein abhängiger Arbeiter bleibt, der habe auch einen irgendwie defekten, einen abhängigen Charakter.
Amerika fußt auf dem Traum universeller Selbstständigkeit. Die Amerikaner sollten ein Volk kleiner Farmer, Handwerker und Gewerbetreibender sein.
Eine Angestelltenexistenz war in diesem Gründungsmythos eigentlich nie vorgesehen.

ZEIT ONLINE: Sie gehen sogar so weit zu sagen, der freie Markt war einmal eine linke Idee.

Anderson: Absolut. Eine Gesellschaft selbstständiger Kleinunternehmer ist das Idealbild einer Gesellschaft von Gleichen. Niemand hat einem Boss zu gehorchen.
Auf dem Markt begegnen sich alle auf Augenhöhe.

„Richtet man den Fokus nur auf den Moment, in dem der Arbeiter und der Arbeitgeber den Vertrag unterzeichnen, erscheint es wie ein Geschäft unter Freien und Gleichen.“

ZEIT ONLINE: Warum ist davon so wenig geblieben?

Anderson: Die industrielle Revolution hat die Idee untergraben. Für Adam Smith als Vater des Wirtschaftsliberalismus war es noch unvorstellbar, dass es effizient sein könnte, bestimmte Waren im großen Stil und mit einer riesigen Armee abhängiger Arbeiter zu produzieren. Die Nadelfabrik, die er im Wohlstand der Nationen beschreibt, hat gerade einmal zehn Beschäftigte.
Mit der Industrialisierung konzentrierte sich die Produktion in Großunternehmen, die wirtschaftliche Selbstständigkeit wurde damit für viele unerreichbar.
Das hat sich allerdings nicht ausreichend in unseren politischen Diskursen abgebildet. Wir reden heute von freien Märkten wie zu Smiths Zeiten und übersehen dabei, was wirklich vor sich geht.
Die politische Rhetorik kennt immer nur zwei Alternativen: den freien Markt und die staatliche Kontrolle. Die Firma kommt kaum vor.
Dieses Bild verdeckt, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen.

ZEIT ONLINE: Müssten Sie als Egalitaristin sich nicht über die aufkeimende Gig Economy freuen? Statt Mitarbeiter anzustellen, verlassen sichUnternehmen wie Uberoder Amazon Flex auf Freelancer.

Anderson: Die Gig Economy schafft in meinen Augen lediglich ein neues Prekariat.

ZEIT ONLINE: Aber immerhin eines aus lauter Selbstständigen.

Anderson: Rein formell sind diese Menschen vielleicht selbstständig. In Wahrheit sagt ihnen der Arbeitgeber aber oft sehr genau, wie sie ihren Job zu machen haben.

ZEIT ONLINE: Ein großer Teil der Solo-Selbstständigen wäre ja tatsächlich lieber angestellt. So diktatorisch kann die Unternehmenswelt offenbar nicht sein, wenn viele dafür so bereitwillig ihre Freiheit aufgeben.

Anderson: Ein Angestelltendasein hat selbstverständlich Vorzüge, weil der Arbeitgeber sich zum Beispiel an den Kosten für die Sozialversicherung beteiligt.
Wenn das Leben als Selbstständiger prekär ist, ist die Diktatur nun einmal die attraktivere Alternative. Trotzdem bleibt sie eine Diktatur.

ZEIT ONLINE: Vielleicht taugt die Selbstständigkeit schlicht nicht als das linke Ideal, an das Sie in Ihrem Buch erinnern wollen. Statt der Diktatur eines Chefs wären die Menschen dem Markt ausgeliefert, der ebenfalls willkürlich, ungerecht und unvorhersehbar sein kann – kurz: im Ergebnis auch ziemlich diktatorisch.

Anderson: Ich befürworte nicht blind die ursprüngliche vorindustrielle Vision freier Märkte. Sie hat zweifellos viele Fehler. Eine vollkommen unregulierte Marktwirtschaft würde auch für viele kleine Selbstständige eine prekäre Situation bedeuten.
Damit Kleinbauern durch eine Missernte nicht in den Ruin getrieben werden, bräuchte es eine Absicherung. Der Staat müsste in einer Gesellschaft der Selbstständigen für Sicherheit und einen stabilen wirtschaftlichen Rahmen sorgen.
Umgekehrt verdamme ich auch nicht grundsätzlich die Arbeit als Angestellter in einem Unternehmen. Viele Menschen arbeiten gerne mit Kollegen zusammen und wünschen sich stabile soziale Beziehungen, sie wollen nicht heute Aufträge für diesen und morgen für jenen machen.
Und es gibt viele gute Gründe, eine Volkswirtschaft in Unternehmen zu organisieren.

ZEIT ONLINE: Muss man es nicht einfach als Tausch betrachten? Menschen arbeiten bereitwillig unter der Kontrolle eines anderen, dafür sind sie geschützt gegen die ständigen Unwägbarkeiten und Launen des Marktes.

Anderson: Ja, aber wie weit geht dieser Tausch? Wie viel Macht muss einem Chef dafür zugebilligt werden?

ZEIT ONLINE: Ökonomisch geantwortet: Je mehr er mir bezahlt, desto mehr Macht darf mein Chef im Gegenzug über mich ausüben.

Anderson: Und warum beobachten wir dann das Gegenteil? Je mehr Macht Unternehmen über einen Mitarbeiter ausüben kann, desto schlechter ist im Prinzip auch die Bezahlung.
Die Machtposition des Arbeitgebers drückt beides: den Lohn und die Freiheit der Angestellten. In der Praxis gibt es kein Entweder-oder.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie die Tyrannei am Arbeitsplatz eindämmen wollen?

Anderson: Für Amerika wäre es an der Zeit, etwas von Ihnen in Deutschland zu lernen. Eine Form gemeinsamen Managements von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wie im deutschen Modell der Mitbestimmung halte ich für sehr sinnvoll.

ZEIT ONLINE: Der Anteil der Unternehmen mit einem Betriebsrat sinkt hierzulande aber, 2000 waren es 17, inzwischen sind es nur noch 9 Prozent.
Die Demokratie am Arbeitsplatz scheint eine ziemlich brüchige Sache zu sein, nicht nur in den USA.

Anderson: Ich glaube, aus der Geschichte des Egalitarismus kann man eine allgemeine Lehre ziehen: Die Bewegungen für mehr Gleichheiten kommen sehr oft nur in kleinen Schüben, die schnell wieder verebben. Es braucht eine Graswurzelbewegung, und deren Engagement aufrechtzuerhalten, kostet enorm viel Kraft und Mühe. Lässt die Aufmerksamkeit nach, haben Arbeitgeber es leicht, sich politisch zu organisieren und ihre Macht zurückzugewinnen.

Elizabeth Anderson: Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: "Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)".
Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor.
Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: „Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“. © privat

 

Jochen

Reiche und Arme haben nichts miteinander zu tun – Abschottung in den USA genau wie hier

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Selten mal ein so aktuelles und unverdrehtes Interview in der WELT:
http://www.welt.de/politik/ausland/article140753869/Reiche-und-Arme-haben-nichts-miteinander-zu-tun.html
Putnam-Our_KidsAuszüge:
Der amerikanische Traum steckt in einer tiefen Krise, sagt der US-Politikwissenschaftler Robert Putnam. Wer in eine arme Familie geboren wird, hat kaum mehr Chancen auf Aufstieg.
Doch woran liegt das?

Von Clemens Wergin

Robert Putnam macht die unsichtbaren Dinge sichtbar. Der bekannte Politikwissenschaftler richtet sein Echolot auf die amerikanische Gesellschaft, er erkennt und beschreibt Veränderungen in großen Linien. Im Jahr 2000 hat Putnam in „Bowling alone“ den Trend zur Vereinzelung in Amerika beschrieben.
Sein gerade erschienenes Buch „Unsere Kinder. Der amerikanische Traum in der Krise“ liest sich nun wie eine Gebrauchsanweisung für die Rassenunruhen von Ferguson und Baltimore, wo Schwarze Misshandlung durch Polizeibeamte erfahren haben.

Zehn Jahre lang haben Putnam und sein Team Daten gesammelt und individuelle Lebensgeschichten gesucht, um zu verstehen, was in Amerikas Unterschicht falsch läuft.
Sie haben versucht zu ergründen, warum die Chancengleichheit zwischen Arm und Reich immer mehr abnimmt – egal ob es sich um Schwarze, Hispanics oder Weiße handelt.
Seine Antworten hat Putnam am Dienstag auch mit Obama in Harvard diskutiert. Uns erklärte er vorher, was er dem US-Präsidenten sagen wird.

Professor Putnam, Sie haben erforscht, woran der amerikanische Traum scheitert. Haben die Antworten etwas mit Baltimore zu tun?

Ich stimme mit Präsident Obama überein, der die tiefer liegenden Ursachen in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit sieht. Natürlich gibt es in Baltimore auch spezifische Probleme, insbesondere die Beziehungen zwischen den Schwarzen und der Polizei. Das ist ein Rassenproblem (Link: http://www.welt.de/140430425) , das zu lange gegärt hat.
Bei dem größeren Thema jedoch, über das ich in „Our Kids“ schreibe, geht es nicht allein um ein Rassen-, sondern vor allem um ein Klassenproblem. Das ist auch ein wichtiger Hintergrund für das, was in Baltimore passiert ist und was auf andere Teile Amerikas genauso zutrifft.

Klassenzugehörigkeit entscheidet heute in Amerika also mehr über Erfolg oder Scheitern als die Hautfarbe(Link: http://www.welt.de/140364910) ?

Es gibt ein Thema, bei dem Rasse noch immer das bestimmende Merkmal ist: Gerechtigkeit im Strafverfolgungssystem. Darum ging es ja in erster Linie in Baltimore. Auch hier spielt die Schichtzugehörigkeit eine Rolle, es ist aber in erster Linie eine Rassenfrage. ber in vielen anderen Bereichen ist Klasse heute wichtiger als Rasse.
Ich möchte jedoch nicht so verstanden werden, als seien die Rassenprobleme in Amerika alle gelöst und als könnten wir uns nun allein auf die Frage von Klassenunterschieden (Link: http://www.welt.de/140240964) konzentrieren.

In Baltimore ist viel von dem zu beobachten, was sie als Diagnose sehen: Sich auflösende Familienverhältnisse, abwesende Väter, Kinder, die ohne Leitplanken und Autoritäten aufwachsen. Inwiefern gilt das über Baltimore hinaus?

Es ist traurig! Viel zu wenige Amerikaner sind sich bewusst, wie tief der Graben zwischen reichen und armen Kindern inzwischen geworden ist. Und mit reichen Kindern meine ich nicht die Kids von Bill Gates, sondern Kinder aus Bildungshaushalten.
Und mit armen Kindern meine ich nicht die ärmsten der Armen, die untersten ein Prozent, sondern das untere Drittel.
Dieser Graben zwischen dem oberen und dem unteren Drittel der Gesellschaft ist auf eine Weise gewachsen, die die Amerikaner schockiert, wenn sie davon erfahren.
Das ist der Grund, warum ich über so viele echte Lebensgeschichten geschrieben habe. Ich wollte meinen Mitbürgern so lebendig wie möglich schildern, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern schrieb gerade in der Washington Post(Link: http://www.washingtonpost.com/posteverything/wp/2015/04/30/heres-one-way-baltimore-teens-are-worse-off-than-poor-youths-in-nigeria-and-india/) , dass viele Kinder in Armenviertel unter einem posttraumatischem Stresssyndrom leiden, das vergleichbar ist mit dem von Armeeveteranen. Welchen Einfluss hat das auf die Entwicklung der Kinder?

Das Niveau von dem, was manche Entwicklungspsychologen „toxischer Stress“ nennen, ist unter armen Kindern sehr hoch. Das gilt für die großen städtischen Gettos, aber genauso für Arme in kleinen Städten.
Toxischer Stress – etwa mit Gewalt bedroht zu werden, missbraucht zu werden oder unter einem Mangel an Essen oder Kleidung zu leiden, wenn Eltern betrunken oder high sind oder wenn eines der Familienmitglieder im Gefängnis ist – löst eine chemische Kettenreaktion aus, die die Entwicklung des Gehirns behindert und seine grundlegende Struktur verändert. Das kann lebenslange Lernschwierigkeiten zufolge haben, kann die physische und mentale Gesundheit beeinträchtigen.

Sie wuchsen in den 50er- und 60er-Jahren in Port Clinton bei Ohio in einem sehr viel egalitäreren Amerika auf. Was hat sich seitdem verändert?

Erst einmal vorausgeschickt, um Missverständnissen vorzubeugen: In mancher Hinsicht ist es heute besser, sowohl in Port Clinton als auch im ganzen Land.
Rassenzugehörigkeit ist heute eine weit weniger wichtige Trennungslinie als damals.
Und es gibt große Fortschritte, was die Perspektiven von Frauen anbelangt im Vergleich zu jener Zeit, in der ich aufgewachsen bin.
Aber was die Frage der sozialen Klassen anbelangt, ist das etwas anderes.
Die Kinder mit verschiedenem Klassenhintergrund spielten früher alle zusammen, gingen zusammen zur Schule und zusammen zur Kirche, und sie waren bemerkenswert gut sozial integriert. Sie waren im selben Footballteam, dort spielten nicht nur die reichen Kinder. Und es war auch nicht so, dass allein die reichen Kinder die Chance hatten, in der Schule erfolgreich zu sein.
Aber selbst in dieser winzigen Stadt hat sich das verändert. Reiche und arme Leute leben nun in unterschiedlichen Vierteln, die Kinder haben nichts mehr miteinander zu tun.

Ihre Leben berühren sich nicht mehr.

Ja. Und was die Aufstiegschancen anbelangt, die waren bei armen Kindern in meiner Jugend fast so groß wie bei den reichen Kindern. Das hat sich in Port Clinton komplett verändert.
Reiche Kinder und ihre Familien können sich den Zerfall im Leben der armen Kinder kaum vorstellen.
Als ich aufwuchs, betrachteten meine Eltern und andere Eltern alle Kinder in der Stadt als „unsere Kinder“, egal ob reich oder arm, deshalb auch der Titel meines Buches.
Der fundamentale Verlust einer gemeinsamen Identität und gemeinsamer gegenseitiger Verantwortung, das ist meiner Ansicht nach die tiefere Ursache für diesen Wandel.

Die Leute fühlen sich also nicht mehr verantwortlich dafür, auch den Kindern anderer Eltern zu helfen oder sich um sie zu kümmern?

Das ist richtig. Sie fragen mich natürlich nach den USA und nicht nach Deutschland, weil ich darüber nicht geschrieben habe. Aber man könnte durchaus auch die Frage stellen, ob es in Europa ähnlich ist, ob gebürtige Dänen oder Deutsche die armen Flüchtlingskinder aus Nordafrika oder dem Nahen Osten als „unsere Kids“ betrachten.
Mein Eindruck nach Besuchen in mehreren nord- und südeuropäischen Ländern ist jedoch, dass es dort ein ähnliches Problem gibt.
Ich möchte das nicht als billige Kritik verstanden sehen. Ich versuche nur, einem deutschen Publikum zu verdeutlichen, was ich meine, wenn ich sage: Wir sehen diese Kinder nicht mehr als unser aller Kinder an.

Es gibt auch einen erheblichen Graben, was die Stabilität der familiären Verhältnisse angeht. Amerika erlebte in den 70er-, 80er-Jahren eine Scheidungswelle, seitdem ist die Scheidungsrate in der Mittelklasse jedoch fast zur alten Werten zurückgekehrt. In der Unterschicht nehmen die Scheidungen jedoch weiter zu. Warum?

Darüber gibt es eine große Debatte. Fehlende Stabilität in der Familie ist sehr schlecht für die Entwicklung von Kindern und der wachsende Graben bei den Familienverhältnissen ist ein wichtiger Grund für die auseinandergehende Schere bei Aufstiegschancen von armen und reichen Kids.
Die Debatte über die Ursachen lässt sich auch an den Reaktionen auf mein Buch ablesen.
Konservative sagen: Putnam zeigt auf, dass die Chancenungleichheit von kulturellen Veränderungen herrührt, mit dem Wohlfahrtsstaat und der Permissivität der 60er-Jahre zu tun hat.
An den kulturellen Erklärungen ist manch Wahres dran, aber nicht annähernd so viel, wie viele Konservative denken.
Auf der anderen Seite sagen die Linken, dass der Grund in der langen Phase der wirtschaftlichen und Einkommensstagnation zu suchen ist, die vor allem Männer aus der Arbeiterklasse betrifft. Und natürlich ist auch das teilweise wahr. Ich hoffe jedoch, dass wir uns nicht in einer ideologischen Debatte verheddern. Am Ende sollten wir uns vor allem Sorgen um die Kinder machen.

Wenn Familien zerbrechen, könnte man meinen, dass die Menschen sich anderswo Hilfe suchen: in Kirchen, bei Nachbarn und informellen Netzwerken.
Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Häufig ist die Großmutter der einzige Anker für Kinder.

Das ist so, aber Großmütter können natürlich die Defizite im Zusammenhalt der Gemeinschaft, auch was Kirchen oder andere Gemeinschaftsinstitutionen anbelangt, nicht alleine ausgleichen. Die Bürgergesellschaft war historisch sehr wichtig für Amerika – das geht bis auf Tocqueville zurück. Und deshalb ist ihr Niedergang, besonders in der Arbeiterklasse, so viel gravierender, als er es wäre, wenn wir uns nicht so stark auf die Zivilgesellschaft gestützt hätten.

Was kann Amerika tun, um der Unterschicht wieder eine faire Chance auf den amerikanischen Traum zu geben?

Es braucht politische Entscheidungen, etwa von der Bundesregierung oder lokalen Regierungen oder zivilen Institutionen wie Kirchen, um die Situation zu verbessern. Die größte Hürde besteht darin, dass Amerika erkennt, wie groß das Problem tatsächlich ist.
In der Geschichte haben Amerikaner Probleme wie dieses behoben. Es gibt bestechende Parallelen zwischen der Not heute und der Not der 1890er-Jahre bis etwa um 1900.
Das wurde damals „gilded age“ genannt, und es ist kein Zufall, dass unsere heutige Periode manchmal als zweites goldenes Zeitalter bezeichnet wird.

Wie kam es damals zur Veränderung?

Es dauerte etwa 20 Jahre. Es war eine spannungsgeladene Zeit sozialer und politischer Mobilisierung, als die Amerikaner sich ziemlich plötzlich der Probleme von Reichtum und Armut bewusst wurden und entschieden, etwas zu ändern. Ende des 19. Jahrhunderts war der Sozialdarwinismus die vorherrschende Philosophie. Sie dominierte das Denken in derselben Art, wie der extreme Individualismus die amerikanische Gesellschaft heute beherrscht. Diese Phase ging zu Ende, nachdem ein eingewanderter dänischer Journalist, Jacob Riis, ein Buch geschrieben hatte mit dem Titel „Wie die andere Hälfte lebt“. Er beschreibt die Verwahrlosung von Wohnblöcken in der Lower East Side von New York. Das Buch war nicht der einzige Grund für die Wende, aber Historiker denken, es hat eine große Rolle gespielt.

Weil es Empathie geschaffen hat für die andere Hälfte?

Genau. Nun will ich nicht sagen, dass ich selbst ein Jacob Riis bin. Aber es ist das Genre, in dem „Our Kids“ geschrieben wurde und das Ziel, das hinter der Verwendung all dieser detaillierten individuellen Schicksale steckt.
Ich möchte mehr Leute da oben überzeugen, dass sie ein Interesse an den Kids da unten haben sollten. Als den Amerikanern das Problem damals bewusst wurde, begannen sie ziemlich schnell, Lösungen zu entwickeln.
Eine der interessantesten war die Erfindung der kostenlosen weiterführenden Schule, der High School. Das brachte dem Land einen Schub durch Humankapital. Die amerikanische Arbeiterschaft war dadurch in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts weit besser ausgebildet als anderswo, und das ist ein Faktor, der den Wohlstand Amerikas in dieser Periode erklärt. Diese Reform gab reichen und armen Kindern ähnliche Aufstiegschancen. Dazu bedurfte es dessen, was Tocqueville „aufgeklärtes Eigeninteresse“ nennt: Reiche bezahlten für die Bildung anderer Leute Kinder und realisierten, dass das besser für alle sein würde. Ich glaube, Amerika könnte heute eine ähnliche kulturelle Veränderung herbeiführen.

Was ist heute das Äquivalent für die High School?

Frühkindliche Bildung von 0 bis 4 Jahren wäre ein wichtiger Beitrag, um mehr Chancengleichheit herzustellen.
Ich denke auch, dass wir sehr viel mehr Energie und Geld für das Community College aufwenden sollten.

So ähnlich wie das duale System in Deutschland, die Berufsausbildung?

Absolut. In diesem Bereich können wir sehr viel von Deutschland lernen. Aber die wichtigste Veränderung besteht darin, den seit 50 oder 60 Jahren anhaltenden Niedergang in der gemeinschaftlichen Solidarität umzukehren.
Ich denke nicht, dass das von heute auf morgen passiert. Aber das ist die langfristige Perspektive, die wir haben sollten, wenn wir über Baltimore nachdenken.

Aber was würden Sie einer alleinerziehenden Mutter in Baltimore raten, die ihren Kindern heute schon eine Chance geben will?

Ich würde ihr sagen, es ist sehr wichtig, dass sie ihren Kindern beständige, persönliche Zuwendung schenkt. Das schließt etwa mit ein, den Kindern jeden Tag vorzulesen.
Wir wissen, dass diese Art von aktiver, stetiger Anteilnahme mächtige Wirkung entfaltet.
Das klingt natürlich etwas blöd von jemandem wie mir. Für mich mit meinen Enkeln und für meine Kinder, die ihren Kindern vorlesen, ist das einfacher, weil wir nicht in Armut leben.
Es soll also nicht so rüberkommen, als würde ich der armen Mutter ihre Defizite vorwerfen.
Aber es ist tatsächlich so, dass arme Eltern ihren Kindern helfen wollen, aber dass sie dazu nicht in der Lage sind.
Teilweise aus wirtschaftlichen Umständen, oder weil es an Vorbildern mangelt, die ihnen ermöglichen würden, bessere Eltern zu sein.
Das gilt gleichermaßen für die armen weißen Mütter wie für die armen schwarzen und hispanischen Familien.
Ich würde also einer armen weißen Mutter in den Appalachen denselben Rat geben wie der schwarzen Mutter in Baltimore.

Jochen